tb-1A. KastilNelsonFries    
 
LEONARD NELSON
Rechtslehre und Politik
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"Ein Naturgesetz drückt die eindeutige Bestimmtheit eines Geschehens durch ein anderes Geschehen aus. Steht daher alles Geschehen unter Naturgesetzen, so hängt das, was geschieht, nicht vom Wert des Geschehens ab und es gibt keine notwendige Bestimmtheit eines Geschehens durch seinen Wert. Es bleibt vielmehr nach Naturgesetzen zufällig, ob das, was dem Ideal nach geschehen sollte, in der Natur wirklich geschieht."

"Der Rechtszustand kann daher nur dadurch verwirklicht werden, daß ein Wille, der über eine aller anderen Gewalt in der Gesellschaft überlegene Gewalt verfügt, sich seine Verwirklichung zum Zweck macht."

"Die Einrichtung des Staates ist dann in Widerstreit mit der Idee des Rechts, wenn wir voraussetzen, daß die Einzelnen im Staate der Willkür des Machthabers unterworfen sind, wenn wir also von der Vorstellung ausgehen, daß die Regierung - und das heißt: der Wille des Machthabers in der Gesellschaft, durch dessen Privatinteresse bestimmt wird, kurz, wenn wir davon ausgehen, daß in der Gesellschaft eine despotische Regierung besteht."

"Nicht dem gewaltlosen Recht, wie man träumt, sondern gerade der rechtlosen Gewalt würde die Aufhebung des Staates das Feld freigeben. Ein in der Natur notwendige Geltung des Rechts ist nur durch den Staat möglich."

"Das Rechtsideal verlangt gleiche Möglichkeit für alle, ihr Interesse zu befriedigen und also gleiche Möglichkeit der Bildung."

Über Rechtsgesetz und Rechtszustand

Der Grundbegriff der formalen Rechtslehre und damit der Rechtslehre überhaupt ist der Begriff des Rechts.  Recht  ist die praktische Notwendigkeit der gegenseitigen Beschränkung der Freiheitssphären in der Wechselwirkung der Personen.

Rechte sind daher nur durch Pflichten definiert; denn Pflicht ist nichts anderes, als die praktische Notwendigkeit der Beschränkung des freien Beliebens. Sie bestimmen aber den  Inhalt  der Pflicht und zwar bestimmen sie ihn hinsichtlich des Verhältnisses des Verpflichteten zu anderen Personen, wiefern er mit solchen in Wechselwirkung kommt, welche Personen dann insofern ihrerseits die Berechtigten heißen oder, wie wir auch sagen, "ihm gegenüber ein Recht haben." Rechte bestehen also nur vermöge eines zugrunde liegenden Gesetzes und zwar eines praktischen Gesetzes, nämlich eines solchen, durch das jene Beschränkung, die wir im Begriff des Rechts denken, praktisch notwendig wird. Dieses Gesetz nennen wir das  Rechtsgesetz. 

Das Rechtsgesetz ist also ein Gesetz der Beschränkung des freien Beliebens des einen und anderen in ihrem gegenseitigen Verhalten, kurz, in der Gesellschaft. Ein Zustand der Gesellschaft, der den Anforderungen des Rechtsgesetzes genügt, heißt  Rechtszustand. 

In diesem Zusammenhang läßt sich noch eine andere praktisch bedeutsame Folgerung ziehen. Da sich die Materie des Rechts, wie wir wissen, nach den Umständen bestimmt, so muß sie auch mit diesen variieren. Hierin liegt wiederum durchaus kein Widerspruch zum Prinzip der Allgemeingültigkeit des Rechts. Denn dieses verlangt nur, daß unter gleichen Umständen die gleiche Rechtsfolge gilt. Wie nun jede positive Gesetzgebung, die in irgendeiner Gesellschaft gelten soll, eine Mannigfaltigkeit von Umständen regeln soll, so muß sie andererseits dem Umstand Rechnung tragen, daß die Gesamtheit der einen Gesellschaftszustand charakterisierenden Umstände dem Wechsel unterworfen ist, woraus dann folgt, daß mit dem Wechsel dieses gesellschaftlichen Zustandes auch die positive Gesetzgebung selbst wechseln muß, um mit der Idee des Rechts im Einklang zu bleiben. Jede wirkliche positive Gesetzgebung ist daher ihrem Inhalt nach einer beständigen Entwicklung unterworfen, um ihre Aufgabe als Rechtsordnung erfüllen zu können. Und auch das steht nicht im Widerspruch zum Prinzip der Allgemeingültigkeit des Rechts. Denn der Wechsel im Inhalt der Gesetzgebung ist hier nur die Folge des Wechsels der Umstände, für die die Gesetzgebung gelten soll.


Über die Verwirklichung des Rechtszustandes

Im Begriff der Natur liegt, daß das, was in ihr geschieht, nach Naturgesetzen geschieht. Ein Naturgesetz drückt die eindeutige Bestimmtheit eines Geschehens durch ein anderes Geschehen aus. Steht daher alles Geschehen unter Naturgesetzen, so hängt das, was geschieht, nicht vom Wert des Geschehens ab und es gibt keine notwendige Bestimmtheit eines Geschehens durch seinen Wert. Es bleibt vielmehr nach Naturgesetzen zufällig, ob das, was dem Ideal nach geschehen sollte, in der Natur wirklich geschieht. Der in der Natur eintretende Erfolg bestimmt sich nicht nach dem Ideal, sondern nach einem anderen, rücksichtlich des Ideals zufälligen Geschehen. Mit anderen Worten: Es gibt in der Natur keine Kausalität nach Zwecken, in dem Sinn, daß das Geschehen durch den Wert seines Erfolges bestimmen würde. Sondern was in der Natur geschieht, ist bedingt durch die hinsichtlich des Wertes zufällige Verteilung der Kräfte in der Natur. Nicht der überwiegende Wert, sondern die überwiegende Kraft gibt in ihr den Ausschlag. Nur die  Vorstellung  des Wertes des Erfolges kann diesen in der Natur herbeiführen, nicht aber unmittelbar der Wert selber. Die Vorstellung des Wertes eines Erfolges kann aber das Eintreten dieses Erfolges nur insofern bewirken, als sie Wirksamkeit in der Natur hat wie irgendein anderes Geschehen auch. Also nur mittelbar bestimmt die Vorstellung des Wertes den Erfolg, nämlich nur durch das Mittel der Kraft, die sie auf dieses Ziel richtet. Die durch die Vorstellung eines Wertes bestimmbare Kraft ist der Wille. Nur der Wille also hat in der Natur Kausalität nach Zwecken, aber das auch nur unter der Bedingung, daß er über die erforderliche Macht verfügt, um alle ihm entgegenwirkenden Kräfte zu überwinden.

Wenden wir dies nun auf das Problem der Möglichkeit des Rechtszustandes, d. h. eines die Geltung des Rechtsgesetzes sichernden Zustandes der Gesellschaft.

Alle Gesellschaft ist in der Natur nur als Wechselwirkung durch äußere Naturkräfte möglich; d. h. sie ist nach Naturgesetzen als ein Verhältnis der  Gewalt  bestimmt und nicht als ein solches des Rechts; so daß es von Natur aus nur zufällig ist, wenn der Erfolg, den die Gewalt herbeiführt, dem entspricht, was die Geltung des Rechtsgesetzes erfordert. Sollte es anders sein, so müßte das Rechtsgesetz selbst als Naturgewalt wirken und zwar als eine aller anderen Gewalt in der Gesellschaft überlegene Gewalt; denn Gewalt kann nur durch Gewalt beschränkt und nur durch überlegene Gewalt gelenkt werden. Die notwendige Geltung des Rechtsgesetzes ist ein Ideal, das in der Natur ohne Wirksamkeit bleibt, an dessen Stelle vielmehr nur die  Vorstellung  des Ideals als  Antrieb  Kausalität besitzen, d. h. auf seine Realisierung hinwirken kann, indem sie den Willen bestimmt, seinerseits eine hinreichende Gewalt als wirkende Kraft aufzubieten, um die rechtlose Gewalt in der Gesellschaft unwirksam zu machen.

Der Rechtszustand kann daher nur dadurch verwirklicht werden, daß ein Wille, der über eine aller anderen Gewalt in der Gesellschaft überlegene Gewalt verfügt, sich seine Verwirklichung zum Zweck macht. 

Das ist der Untersatz für die Ableitung des Prinzips der formalen Staatspolitik. Wir nehmen ihn aus dem bloßen Begriff einer Gesellschaft in der Natur und bedürfen für ihn also keinerlei empirischer Behauptung, wie eine solche schon in der Voraussetzung der Existenz einer Gesellschaft in der Natur läge.

Die Unterscheidung des Begriffs der Gewalt von dem der rechtlosen Gewalt genügt daher, um das Problem der Möglichkeit des Staates aufzulösen. Und sie weist uns zugleich auf die einschränkende Bedingung hin, von der in der Tat die rechtliche Möglichkeit des Staates abhängt.

Die Einrichtung des Staates ist nämlich allerdings dann in Widerstreit mit der Idee des Rechts, wenn wir voraussetzen, daß die Einzelnen im Staate der Willkür des Machthabers unterworfen sind, wenn wir also von der Vorstellung ausgehen, daß die Regierung - und das heißt: der Wille des Machthabers in der Gesellschaft, durch dessen Privatinteresse bestimmt wird, kurz, wenn wir davon ausgehen, daß in der Gesellschaft eine despotische Regierung besteht. Denn  despotisch  heißt eine solche Regierung, die die Gesellschaft der Willkür des Machthabers und also seinem Privatinteresse unterwirft. Despotismus kann in der Tat, seinem bloßen Begriff zufolge, nicht die rechtliche Form einer Gesellschaft sein. Denn er ist nichts anderes, als die Form einer durch rechtlose Gewalt beherrschten Gesellschaft. Unter der Voraussetzung des despotischen Charakters der Regierung besteht also wirklich der behauptete Widerspruch mit der Idee des Rechts. Aber es ist eine durch nichts begründete Voraussetzung, daß eine Regierung notwendig despotisch sein müßte.

Es genügt also, um die vorliegende Paradoxie aufzulösen, den Begriff des  Staates  von dem der  Despotie  zu unterscheiden. Zum Staat gehört allerdings die Unterwerfung der Gesellschaft unter eine Regierung. Aber es fragt sich erst, ob diese eine despotische ist. In Wahrheit widerspricht es sich nicht, daß die Stärke der Gewalt entscheidet und doch zugleich das Recht gilt. Beides trifft nämlich zusammen, wenn der durch die Gewalt herbeigeführte Erfolg übereinstimmt mit dem, was das Recht fordert. Und so verhält es sich wirklich, wenn die Geltung des Rechts den Zweck bildet, dem die Gewalt als Mittel dient.

Die Regierung wird entweder durch den Privatzweck des Machthabers bestimmt - dann entsteht Willkürherrschaft: Despotismus. Oder sie wird bestimmt durch den öffentlichen Zweck des Rechts, d. h. durch den Zweck, das allgemeine Rechtsgesetz in der Gesellschaft geltend zu machen. Dann wird die Gewalt zur öffentlichen Gewalt, d. h. zu einer solchen, die im Dienst öffentlicher Zwecke steht und nicht im Dienst von Privatzwecken eines Machthabers.

Es kann also durch die Gewalt das Recht herrschen und das geschieht, wenn der Wille des Machthabers sich diesen Erfolg zum Zweck macht.

Ja, das Recht ist mit der Gewalt nicht nur vereinbar, sondern sogar auf sie angewiesen. Es kann nur dadurch herrschend werden, daß die überwiegende Gewalt in den Dienst dieses Zwecks tritt.

Durch den Staat wird also die Geltung des Rechts so wenig ausgeschlossen, daß vielmehr im Gegenteil die  Anarchie d. h. Regierungslosigkeit, unvermeidlich zur Willkürherrschaft führt und also ihrerseits die Sicherheit des Rechts ausschließt. Denn in der Natur herrscht notwendig Gewalt. Die stärkere Gewalt unterwirft sich in ihr die schwächere und es fragt sich allein, ob das Spiel der Gewalt dem Zufall überlassen bleiben oder ob sie in den Dienst des Rechts gezogen werden soll. Eine andere Alternative besteht in der Natur, wo faktisch die Macht entscheidet, nicht. Es steht nicht in unserer Wahl, die Gewalt herrschen zu lassen oder uns ihr zu entziehen - wir müßten uns denn über alle Natur erheben. Ziehen wir also die Gewalt nicht in den Dienst des Rechts, so wird notwendig Unrecht herrschen oder das Recht doch nur zufällig hier und da in Erscheinung treten. Nicht dem gewaltlosen Recht, wie man träumt, sondern gerade der rechtlosen Gewalt würde die Aufhebung des Staates das Feld freigeben. Ein in der Natur notwendige Geltung des Rechts ist nur durch den Staat möglich.

Wir müssen hier freilich den Begriff des Staates von dem der Regierung trennen. Die Regierung ist nur der Vollstrecker der Staatsgewalt; sie lenkt die Gewalt, durch die der Staat verwaltet wird. Die philosophische Idee des Staates fordert nichts anderes, als daß die höchste Gewalt in der Gesellschaft im Dienst des Rechts steht. Ziehen wir aber die Gewalt in den Dienst des Rechts, so kann durch ihre Ausübung kein Unrecht geschehen. Die Gewalt wird hier vielmehr nur angewendet, um das Recht durchzusetzen, das ohne sie in der Natur nicht geschützt wäre. Die Gewalt dient dann also nicht dem Privatinteresse dessen, der die Regierungsgewalt innehat; es herrscht im Staat nicht die Willkür des Machthabers, sondern das Gesetz.

Der Fehler des Anarchismus entsteht, wie man sieht, durch eine Verkennung des Untersatzes unserer Abteilung des Staates. Dieser Untersatz sagt uns nämlich gerade, daß wir gar nicht die Wahl haben, ob in der Gesellschaft die Gewalt herrschen soll oder nicht - woraus dann folgt, daß wir nur  die  Wahl haben, ob in der Gesellschaft rechtlose Gewalt herrschen oder durch die Gewalt das Recht herrschend werden soll. Womit denn bereits die Notwendigkeit des Staates ausgesprochen ist.

Der politische Anarchismus dagegen setzt voraus, daß es in unserer Wahl stünde, ob die Gewalt herrscht oder nicht. Er übersieht also, daß sich in der Gesellschaft wie in der Natur überhaupt nach Naturgesetzen bestimmt, was in ihr geschieht, daß also der Erfolg in ihr nur von der Größe der wirkenden Kraft abhängt, und daß wir allein die Wahl haben zwischen einem Gesellschaftszustand, in dem die Entscheidung der Gewalt dem rechtlosen Zufall überlassen bleibt und einer Gesellschaftsform, in der der Wille, der die höchste Gewalt innehat, sich die Geltung des Rechts zum Zweck macht, wo also die Gewalt als öffentliche Gewalt in den Dienst des Rechtes tritt. Diese Form der Gesellschaft nennen wir den Rechtsstaat.


Das Rechtsideal als Prinzip der Kulturpolitik

Das Rechtsideal verlangt gleiche Möglichkeit für alle, ihr Interesse zu befriedigen und also gleiche Möglichkeit der Bildung. Dieses Prinzip bestimmt unmittelbar eine Aufgabe für die Gesetzgebung, insofern nämlich, als die Möglichkeit der Bildung von äußeren Bedingungen abhängt, die ihrerseits dem Einfluß des menschlichen Willens unterliegen. Diese Einschränkung müssen wir auch hier dauernd im Auge behalten, um uns vor utopistischen Mißdeutungen des Prinzips der Kulturpolitik zu schützen. Nur auf die äußeren Bedingungen der Möglichkeit der Bildung läßt sich das Rechtsideal anwenden. Denn nur durch sie kann der eine vom Verhalten des anderen abhängig werden. Man kann nicht in einem anderen Sinne die gleiche Möglichkeit der Bildung für alle zu einer politischen Aufgabe machen. Denn zu welcher Bildung der einzelne gelangt, das hängt nicht allein von den Einrichtungen und dem gegenseitigen Verhalten der Menschen in der Gesellschaft ab, sondern auch von der individuellen Fähigkeit und Bereitschaft des einzelnen selber. Von dieser aber abstrahieren wir hier, wenn wir von der gleichen Möglichkeit der Bildung als einem politisch anzustrebenden Ideal sprechen.

Das Prinzip der Kulturpolitik wird uns also bestimmt durch die Aufgabe, allen die gleiche Möglichkeit der Bildung zu sichern, soweit diese nicht abhängt von der ursprünglichen Bildungsfähigkeit des einzelnen einerseits und der Verteilung des Eigentums andererseits.

Da das Interesse an der Bildung in Bezug auf die daraus wachsenden Rechtsansprüche nicht nach dem faktischen Bedürfnis abgewogen werden kann, sondern nur nach der Bedeutung, die seine Befriedigung für den einzelnen gemäß dem Ideal der Bildung hat, so folgt, daß auch das aus diesem Interesse sich ableitende  Recht  vom faktischen Bedürfnis des einzelnen abhängig ist. Dieser Umstand berührt die  Unveräußerlichkeit  des Rechts auf die gleiche Möglichkeit der Bildung. Das heißt er hat zur Folge, daß es unmöglich ist, sich dieses Rechts durch faktische Einwilligung in seine Verletzung, zu entäußern. Das ist, wie wir alsbald sehen werden, ein Satz von bedeutender Tragweite hinsichtlich seiner politischen Konsequenzen. Zu seinem Beweis bedarf es keiner Voraussetzungen über den Inhalt des Ideals der Bildung selbst. Denn er folgt aus dem bloßen Begriff eines solchen.

Wollen wir nun aber die kulturpolitischen Aufgaben des Rechtsstaates in einer für die Anwendung hinreichend bestimmten Weise feststellen, so müssen wir die  Inhaltsbestimmung  des Ideals der Bildung hinzunehmen. Denn je nachdem, wie der Inhalt des Ideals der Bildung bestimmt wird, ergeben sich sehr entgegengesetzte Konsequenzen.

Wir bestimmen den Inhalt des Ideals der Bildung durch den Begriff der  vernünftigen Selbstbestimmung.  Hieraus ergibt sich sogleich die Konsequenz, daß das wahre Interesse des einzelnen unmittelbar nur durch Selbsttätigkeit befriedigt werden kann. Es verlangt also in gesellschaftlicher Hinsicht für jeden die äußere Möglichkeit zu solcher Selbsttätigkeit. Ich nenne das Ideal des Gesellschaftszustandes, in dem die Einzelnen über diese äußere Möglichkeit der Selbstbestimmung verfügen, kur das  Ideal der Freiheit

Durch die Anwendung des Rechtsideals auf das Ideal der Freiheit erhatlen wir das rechtliche Postulat, das das Prinzip der Kulturpolitik bildet. Dieses Postulat lautet:  Durch das öffentliche Gesetz soll die gleiche äußere Möglichkeit für alle, zur Bildung zu gelangen, gesichert und die geistige Freiheit eines jeden gegen künstliche Bevormundung geschützt werden.  Ich nenne nämlich "künstliche" Bevormundung jede solche, die nicht selbst rechtlich notwendig ist. Aus der Anwendung des rechtlichen Prinzips der Freiheit auf das Ideal der Freiheit folgt daher das Recht, nicht künstlich bevormundet zu werden.


Über das Recht der Geistesfreiheit

Wir wenden uns jetzt also gegen die Scheingründe, die auch bei Anerkennung und gerade bei Anerkennung des Ideals der Geistesfreiheit noch für das kirchenpolitische Toleranzprinzip als Stütze dienen können.

Da steht uns zunächst der sophistische Einwand im Weg, daß die Geistesfreiheit faktisch unverletzlich sei, da die Gedanken nicht erzwungen werden können, sondern stets nur äußere Handlungen. Dem zu antworten, ist nun leicht. Ob die Beschränkung der Freiheit durch physischen Zwang oder ob sie durch Künste der Überredeung bewerktstelligt wird, das macht für ihre Widerrechtlichkeit keinen Unterschied. Was die Würde des Menschen fordert, ist, seine Gedanken selbsttätig zu entwickeln und ihnen gemäß zu leben. Hierzu bedarf er äußerer Bedingungen oder wenigstens der Abwesenheit äußerer Hemmungen. Niemand soll dem anderen künstlich solche Hemmungen auferlegen dürfen. Die und dies allein ist das richtig verstandene Recht auf Geistesfreiheit.

Es ist wohl zu unterscheiden von jenem angeblichen Recht der Gewissensfreiheit, das nichts anderes verlangt, als die Möglichkeit, sich in seinen Entschlüssen durch die eigene Überzeugung von der Pflicht bestimmen zu lassen, welches auch der Inhalt und der Ursprung dieser Überzeugung sein mag. Diese Freiheit ist in der Tat schlechthin unverletzlich. Hier handelt es sich nicht darum, sondern um die Freiheit, sich seine Überzeugung frei, nur gemäß der eigenen Einsicht,  bilden  und nach ihr sein Leben gestalten zu können. Diese Freiheit kann in der Tat verletzt werden, indem man den Menschen die Bedingungen entzieht, ohne die sie nicht zur selbsttätigen Entwicklung ihrer Vernunft und einem dementsprechenden Leben gelangen können.

Folgt nun hieraus für den Staat die Notwendigkeit, sich aller Eingriffe in das geistige Leben des Volkes zu enthalten? Ich behaupte: nein, und erinnere, um das klar zu machen, an das, was wir bei der Erörterung der Vertragsfreiheit früher festgestellt haben. Wie dort, so liegt es auch hier. Gibt es ein Recht auf Geistesfreiheit, wie wir behaupten, so müssen wir fordern, daß das Staat dieses Recht schützt, daß er also allen Institutionen entgegentritt, die darauf abzielen, das Volk oder einen Teil des Volkes unter künstliche Bevormundung zu bringen und daß er sich hiervon nicht durch das Bedenken zurückhalten läßt, daß er dazu die von diesen Institutionen für ihre Wirksamkeit beanspruchte Freiheit beschränken muß.

So wenig die wirschaftliche Freiheit durch ein bloßes Nichteingreifen des Staates gesichert ist, so wenig auch die Geistesfreiheit. Wir müssen lernen, die Konsequenzen, die wir dort als notwendig erkannt haben, auch hier zu ziehen. Es ist eine Inkonsequenz, dem Staat die Befugnis zu geben, sich des Rechts der wirtschaftlich Unterdrückten anzunehmen, ihm aber zugleich die Befugnis abzusprechen, das Recht der geistig Unterdrückten zu schützen. Hier müssen wir also dem Dogma von der Neutralität des Staates entgegentreten.

Der besondere Schein des Rechts, den die Ablehnung von Staatseingriffen hier für sich hat, entsteht nur dadurch, daß man im geforderten Rechtszwang eine Art der künstlichen Bevormundung zu erblicken meint. Daher die Vorstellung, als bilde ein solcher Eingriff des Staates seinerseits einen Verstoß gegen das unveräußerliche Geistesrecht. Man übersieht, daß der verlangte Zwang sich gerade aus der Notwendigkeit ableitet, einen solchen Verstoß  auszuschließen  und daß durch ihn also nur die Freiheit der Befriedigung eines  widerrechtlichen  Interesses vom Staat beschränkt wird. Sich gegen solchen Zwang auf das Recht der Geistesfreiheit zu berufen, ist daher hier so wenig angebracht, wie irgendsonst die Berufung auf ein Recht der Freiheit, wo es sich um einen Zwang Verbrechern gegenüber handelt.

Ein Eingreifen des Staates durch Ausnahmegesetze und Polizeiwillkür, wie es dem Postulat der Gesetzlichkeit aller Regierungsmaßnahmen widerstreiten würde und also auch eine Parteinahme der Regierung für oder wider die Anhänger bestimmter wissenschaftlicher oder religiöser Lehrmeinungen als solcher, werden wir freilich hier wie überall zu verwerfen haben.

Aber wo überhaupt in einer Gesellschaft das Urteil der wissenschaftlich Gebildeten zu hinreichender Klarheit gereift ist und zwischen Religion und Pfaffentum unterschieden gelernt hat, da besteht auch ein Rechtsanspruch der Bürger, nicht im Namen der Religion durch künstliche Maßregeln in geistiger Knechtschaft gehalten zu werden. Und es gibt unzweifelhaft nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht des Staates, solchem Unwesen entgegenzusteuern. Nur Eigennutz oder Schwäche kann eine Regierung bestimmen, das zu unterlassen. Das Schlagwort der Toleranz wird hier nur zum Deckmantel geduldeter oder mitverschuldeter Unrechtlichkeit. Wo es in einem Staat als selbstverständlich gilt, Diebe, Urkundenfälscher und Giftmischer kraft des Gesetzes unschädlich zu machen, da sollte der [kirchliche - wp] Seelenmord nicht als staatlich geschütztes Gewerbe betrieben werden dürfen.


Zwang zur Rechtlichkeit

Was nun die  Methoden  der Kriminalpolitik betrifft, wobei wir vorderhand nur den Zweck der Verhinderung der Verbrechen betrachten wollen, so kann man hier zunächst an solche  pädagogischer  Natur denken. Dies ist eine Angelegenheit der Schulpolitik. Auf diese Methode kann sich aber der Staat in kriminalpolitischer Hinsicht nicht beschränken. Sie würde in Hinsicht auf diesen Zweck einerseits zu viel und andererseits zu wenig leisten. Zu viel, sofern es für die Geltung des Rechts nur auf die Legalität des Handelns ankommt, nicht aber auf dessen Moralität, d. h. auf seinen Bestimmungsgrund. Zu wenig, da wir hier ja gerade danach fragen, wie das Recht da geltend werden kann, wo der gute Wille der Einzelnen nicht hinreicht, um sie von der Übertretung des Gesetzes zurückzuhalten und wo sich also auch durch Erziehung dieser Fall nicht hat ausschließen lassen. Ganz zu schweigen davon, daß die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen, ja schon deren Anwendbarkeit überhaupt, zu ihrer Sicherung bereits den Gebrauch anderweitiger Machtmittel (wie z. B. des Schulzwangs) voraussetzt.

Daher wird hier eine andere Methode notwendig, um die Legalität des Verhaltens der einzelnen zu sichern. Diese kann nur das Mittel des  Zwanges  sein, d. h. äußeer Einwirkungen, die die Legalität des Verhaltens vom guten Willen unabhängig machen. Wir müssen aber hier zweierlei Arten des Zwanges wohl unterscheiden:  physischen Zwang,  der in unmittelbarer Anwendung von Gewalt besteht und  psychischen Zwang,  wie er in der Anwendung von solcher für den Fall der Übertretung des Gesetzes besteht. Durch den psychischen Zwang wird dem Antrieb zur Begehung des Verbrechens ein Antrieb zu seiner Unterlassung entgegengesetzt, wobei es nur darauf ankommt, daß dieser Gegenantrieb und also die als Folge des Verbrechens zu befürchtende Interessenverletzung hinreichend stark ist, um das auf seine Begehung eines Verbrechens doch immer nur eine endliche Stärke haben kann, so daß man nie im voraus gewiß sein könnte, ob er hinreichen wird, um jeden noch so starken Antrieb, der sich auf die Begehung des Verbrechens richten kann, aufzuwiegen. Daher bliebe, um jede Möglichkeit des Verbrechens mit Sicherheit auszuschließen, nichts anderes übrig, als eine Anwendung von physischem Zwang, derart, daß die Möglichkeit willkürlichen Handelns in der Gesellschaft überhaupt aufgehoben wird. Das heißt aber nichts anderes, als daß es notwendig wäre, die Gesellschaft selbst aufzuheben, da nur unter dieser Bedingung kein Unrecht geschehen  könnte. 

Die Frage, ob wirklich auf diese Weise der Rechtszustand herbeigeführt wäre, wird durch die Rechtslehre verneint. Die Möglichkeit des Unrechts wäre dadurch allerdings ausgeschlossen. Dies ist aber nicht hinreichend für den Rechtszustand. Denn zu einem solchen gehört, gemäß dem Prinzip der rechtlichen Freiheit, die Möglichkeit rechtlichen Handelns, nämlich die Möglichkeit, für die unter dem Rechtsgesetz stehenden vernünftigen Wesen, aus eigenem Antrieb das Unrecht zu meiden.

Daher ergibt sich hier die notwendige Grenze der Anwendung des Zwanges. Und sie ergibt sich, wie man sieht, unmittelbar aus dem Zweck seiner Anwendung selbst. Dieser verlangt, daß der Zwang nicht die Grenzen der rechtlich notwendigen Freiheit überschreitet. Er darf also nicht die Möglichkeit des rechtlichen Handelns selbst aufheben. Diese Beschränkung der Zwangsanwendung wäre freilich nicht möglich, wenn wir von einer allgemeinen  Pflicht  der Regierung zur Ausschließung des Unrechts ausgehen könnten. Ist diese Aufgabe aber nur von der Modalität des Ideals, so ergibt sich von selbst, daß sie nur mit Rücksicht auf besondere Bedingungen und nicht ohne die aus diesen entspringenden Einschränkungen lösbar ist.

Die a priori notwendige Einschränkung für die Anwendung des Zwangs zur Durchsetzung des Rechts besteht also darin, daß der Zwang  notwendig  ist zur Ausschließung eines Verbrechens, d. h. daß durch ihn nur die Freiheit  widerrechtlichen  Handelns ausgeschlossen wird, so daß es, um Zwang anzuwenden, allemal erst des Beweises bedarf, daß eine solche Notwendigkeit vorliegt.

Hieraus folgt zunächst, daß  physischer  Zwang in seiner Anwendung beschränkt ist auf den Fall seiner Notwendigkeit zu Verhinderung eines  bestimmten  Verbrechens. Er darf also nicht angewendet werden als allgemeine Methode der Prävention, d. h. um im voraus nur für den unbestimmten Fall der  Möglichkeit  eines Verbrechens dieses auszuschließen.

Es folgt aber daraus zugleich die rechtliche Möglichkeit des  psychischen  Zwangs zur Ausschließung möglicher Verbrechen. Denn durch die Androhung von Strafe für den Fall eines Verbrechens wird derjenige, der aus eigenem Antrieb das Verbrechen unterläßt, überhaupt nicht betroffen. Es wird dadurch also in der Tat nur der Verbrecher in seiner Freiheit beschränkt. Die von diesem Zwang ausgehende Beschränkung der Freiheit ist keine andere, als diejenige, die sich der einzelne durch die Erfüllung seiner Pflicht selbst auferlegen würde und der sich zu unterwerfen daher für ihn rechtlich notwendig ist. Sie überschreitet also nicht die Grenzen der rechtlichen Freiheit.

Man ersieht hieraus, daß nicht die Strafe, sondern die Strafandrohung das Wesen der aus dem formalen Prinzip der Kriminalpolitik entspringenden Maßnahmen ist. Denn diese bestehen im Zwang zur Rechtlichkeit durch Strafandrohung, nicht aber etwa in der Abschreckung von Verbrechen durch Strafvollziehung. Diese wäre Anwendung von Gewalt zur Verinderung künftiger Verbrechen. Hinsichtlich dieser ist aber der Verbrecher noch gar nich als solcher gekennzeichnet. Die Rücksicht auf sie könnte also die Strafe nicht rechtfertigen. Würde sie aber gebraucht, um  andere  von der Begehung des Verbrechens abzuschrecken, so würde der Verbrecher durch sie zum bloßen Mittel für die Zwecke anderer gemacht.

Erst wenn die Strafe anderweitig gerechtfertigt ist, kann sie innerhalb der dadurch bestimmten Grenzen auch zur Abschreckung gebraucht werden.
LITERATUR - Leonard Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, Leipzig 1920