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LUDWIG SCHÜTZ
Der Hypnotismus
[4/6]
    I. Allgemeines über den Hypnotismus
II. Die Erscheinungen des Hypnotismus
III. Natürlichkeit des Hypnotismus
IV. Verwerflichkeit des Hypnotismus

"Angesichts der ganz geringfügigen Mittel, durch welche der Hypnotismus mit all seinen so seltsamen Erscheinungen zustande gebracht wird, sollte man fast auf den Gedanken kommen, daß es bei Erregung und Erzeugung desselben, wie man zu sagen pflegt, nicht mit rechten Dingen zugeht, daß vielmehr übermenschliche, ja vielleicht sogar diabolische Kräfte dabei im Spiel sind und er selbst daher für etwas Übernatürliches gehalten werden muß."

"Einige Leute sind besonders leicht geneigt, im Schlaf Antworten zu geben, wenn eine Person, die in ihrem Gedächtnis einen hervorragenden Platz einnimmt, mit ihnen redet - wie etwa das Kind zur Mutter oder Schlafkameraden zueinander. Recht leicht entwickeln sich Gespräche, wenn der Wachende auf den im Sprechen des Schlafenden ausgedrückten Gedankengang eingeht und sich dadurch gewissermaßen in das Bewußtsein des Schlafenden einschleicht."

III. Natürlichkeit des Hypnotismus

50. Angesichts der ganz geringfügigen Mittel, durch welche der Hypnotismus mit all seinen so seltsamen Erscheinungen zustande gebracht wird, sollte man fast auf den Gedanken kommen, daß es bei Erregung und Erzeugung desselben, wie man zu sagen pflegt, nicht mit rechten Dingen zugeht, daß vielmehr übermenschliche, ja vielleicht sogar diabolische Kräfte dabei im Spiel sind und er selbst daher für etwas Übernatürliches gehalten werden muß. Es fragt sich also, ob dem in Wirklichkeit so sei oder ob trotz alledem keine Nötigung vorliegt, übernatürliche Ursachen als Quelle für den Hypnotismus anzunehmen. Eine Erscheinung kann nun schon an sich, d. h. in ihrer Substanz nach den Charakter des Übernatürlichen tragen, dann nämlich, wenn sie als solche alles dasjenige, was sonst die Naturdinge mit ihren Kräften erzeugen und hervorzubringen vermögen, übersteigt, wie z. B. das Hindurchgehen eines Menschen durch verschlossene Türen oder das Rückwärtsschreiten und Stillstehen der Sonne. Es besitzt sodann eine Erscheinung, welche zwar an sich und ihrer Substanz nach nichts Übernatürliches darstellt, auch dann noch einen übernatürlichen Charakter, wenn sie zu den natürlichen Mitteln und Ursachen, durch welche sie anscheinend zustande gebracht wird, in gar keinem Verhältnis steht, sondern über deren Wirksamkeit weit hinausragt, wie z. B. die plötzliche Umwandlung von Wasser in Wein durch einen Akt des Willens oder die plötzliche Heilung eines Fieberkranken durch Aussprechen eines Wortes. Trifft aber bei einer Erscheinung weder das eine, noch das andere zu, so muß sie, wie sonderbar und seltsam sie auch sonst auftreten mag, für eine natürliche gehalten und als solche bezeichnet werden. Wie verhält sich denn nun inbezug auf die zwei genannten Merkmale der Hypnotismus? Er erscheint als etwas ganz Natürliches sowohl seiner Substanz, als auch seiner Ursache nach.


1. seiner Substanz nach

51. Der Hypnotismus hat, wie sich zeigen wird, in all seinen einzelnen Erscheinungen mit anderen Vorkommnissen des Menschenlebens, welche zweifelsohne etwas Natürliches darstellen, eine so frappante Ähnlichkeit, daß man wohl nicht umhin kann, beide der Substanz und Wesenheit nach zu identifizieren; ja, von vielen hypnotischen Erscheinungen steht es positiv fest, daß sie andere Erscheinungen des menschlichen Lebens, an deren natürlichen Charakter niemand zweifelt, der Substanz und Wesenheit nach ganz gleich sind. Professor BERNHEIM erklärt daher auch ganz allgemein, daß nichts in der Hypnose geschieht, was nicht auch einmal im wachen Zustand vorkommen kann. Ist das der Fall, so leuchtet ohne weiteres ein, daß der Hypnotismus seiner Substanz nach etwas Natürliches ist und insofern ganz gewiß nicht auf das Eingreifen übernatürlicher Kräfte und Ursachen zurückweist. Es kommt nunmehr darauf an, im einzelnen nachzuweisen, daß die Erscheinungen des Hypnotismus anderen Erscheinungen im menschlichen Leben, welche sicherlich einen natürlichen Charakter besitzen, entweder zum Verwechseln ähnlich oder gar ihrer Natur und Wesenheit nach identisch sind.

52. Um mit der  Hypnose  selbst zu beginnen, sie nur als Zustand aufgefaßt, so gehen freilich die Ansichten der Fachgenossen über das Wesen derselben, wie schon früher gesagt wurde, bis jetzt noch auseinander. Die einen halten die Hypnose für eine  Neurose,  die anderen für eine  Psychose,  die meisten aber für eine besondere Art des gewöhnlichen  Schlafes,  obgleich freilich auch das eigentliche Wesen der Neurose wie der Psychose, ja selbst des Schlafes bis heute immer noch nicht genau erforscht und festgestellt ist. Nichtsdestoweniger halten sie alle miteinander die Hypnose nach für eine natürliche Erscheinung und müssen sie auch dafür halten, weil dieselbe mit der Neurose und mit der Psychose, namentlich aber mit dem gewöhnlichen Schlaf offenbar eine sehr große Verwandtschaft hat und jede dieser Erscheinungen ja etwas rein Natürliches darstellt. Freilich führen die zuständigen Vertreter des Hypnotismus einzelne und auch wichtige Unterschiede auf, welche in der Tat konstatieren, daß die Hypnose keine gewöhnliche Neurose oder Psychose und auch kein gewöhnlicher Schlaf ist, sondern nur eine besondere Art des einen oder des anderen, aber die angegebenen Unterschiede berühren, wenn man sie näher anschaut, weder das Wesen der Hypnose, noch das Wesen einer von jenen drei Erscheinungen, mit denen sie in Vergleich gebracht wird. Ausnehmend klar geht das aus den Worten hervor, mit denen Professor BERNHEIM die Hypnose definiert, indem er sagt:
    "Die Hypnose ist ein  besonderer psychischer Zustand,  der künstlich hervorgerufen werden kann und der die suggestive Empfänglichkeit ... erweckt und steigert."
Denn wenn die Hypnose bloß ein Zustand erhöhter Suggerierbarkeit ist und in dieser vermehrten Suggestibilität vorzugsweise das  Typische  der Hypnose gelegen ist, um mit Dr. MOLL zu reden, andererseits aber eine Suggestion auch im gewöhnlichen Schlaf, ja selbst im Wachzustand möglich ist, so leuchtet ein, daß Hypnose und gewöhnlicher Schlaf sich nicht dem Wesen, sondern allenfalls nur dem Grad nach voneinander unterscheiden. Ist das aber der Fall, so ist die Hynose wie der Schlaf der Substanz nach eine natürliche Erscheinung. Und das nämliche gilt von der Hypnose gegenüber der gewöhnlichen Neurose oder Psychose, von denen sie sich ja immerhin unterscheiden mag.

53. Was zweitens  die in der Hypnose zutage tretenden  und mit ihr ursächlich irgendwie zusammenhängenden  Erscheinungen  anlangt, so unterliegt es gar keinem Zweifel, daß sie ebenfalls anderen Vorgängen des menschlichen Lebens, welche außerhalb der Hypnose stattfinden und ganz gewiß einen natürlichen Charakter besitzen, nicht bloß außerordentlich ähnlich und deshalb sehr nah verwandt, sondern oft sogar dem Wesen nach mit ihnen völlig identisch sind. Und daraus folgt, daß auch die gedachten hypnotischen Erscheinungen ihrer Substanz nach den Charakter des Natürlichen tragen müssen. Das trifft nun, um die hypnotischen Erscheinungen in derselben Ordnung, in welcher sie früher aufgeführt worden sind, zu besprechen, zunächst bei den hypnotischen Erscheinungen  auf vegetativem Gebiet  zu. Zu- und Abnahme der Körpertemperatur, des Appetits, der Verdauung, des Stoffwechselns und der Stoffausscheidung, Schweiß-, Speichel- und Tränenabsonderung. Anschwellung der Haut- und Bildung von sogenannten Brandblasen oder Brandwunden sind ja dem Wesen und der Substanz nach einander gleich, mögen sie während einer Hypnose und im Zusammenhang mit ihr oder ohne eine solche stattfinden. Kommen sie aber außerhalb der Hypnose zustande, so sind sie ganz und gar etwas Natürliches. Dann tragen sie auch in der Hypnose, wenigstens ihrer Substanz nach, den Charakter des Natürlichen.

54. Nicht anders verhält es sich auch mit den hypnotischen Erscheinungen, die man  auf dem Gebiet der Bewegung  beobachtet hat. Die unwillkürlichen Bewegungen, nämlich die vasomotorischen, sowie die spontanen Atmungstätigkeiten und die Bewegungen der Pupille, wie sie in der Hypnose vorkommen, haben mit den entsprechenden Bewegungen, welche im normalen Leben des Menschen stattfinden, Natur und Wesenheit gemeinsam. Dasselbe gilt auch von den willkürlichen Bewegungen, wenn sie in der Hypnose veranlaßt werden, mögen es nun sogenannte Hemmungs- oder Erregungserscheinungen sein, sogar von denjenigen, welche unter ihnen am meisten hervorragen, nämlich von der Katalepsie und Lethargie, sowie von den Nachahmungsautomatismen. Die hypnotische Katalepsie gleicht ganz genau der spontanen oder pathologischen Katalepsie, einer Krankheit oder dem Sympton einer Krankheit, in welcher man den Gliedmaßen eines Menschen ebenfalls jede beliebige Stellung geben kann und hat deshalb auch von ihr den Namen erhalten. Die hypnotische Lethargie hat schon mit dem tiefen natürlichen Schlaf eine überaus große Ähnlichkeit, viel mehr noch mit einer unter dem Namen Lethargie bekannten Krankheit, aus welcher das künstliche Aufwecken nur schwer oder gar nicht möglich ist und am meisten mit der sogenannten Narkolepsie, einer Krankheit, welche aus periodischen Anfällen von Schlafsucht besteht und zuweilen auch als  morbus hypnoticus  bezeichnet wird. Und auch die Nachahmungsautomatismen in der Hypnose haben ihre täuschenden Ähnlichkeiten mit natürlichen Erscheinungen des Menschenlebens. Etwas ihnen Ähnliches ist schon das Gähnen eines Menschen, welches andere fast unwiderstehlich zur Nachahmung veranlassen kann. Die sprechendsten Ähnlichkeiten aber liefern gewisse Krankheiten. So kommt bei den Malaien eine Krankheit vor, in welcher der Patient,  Lata  genannt, alle möglichen Bewegungen, die ihm jemand vormacht, nachahmt. Eine gleiche Krankheit gibt es im Staate Maine in Nordamerika, wo sie als  Jumping  und in Sibirien, wo sie als  Miryachit  bezeichnet wird. Da nund die genannten Bewegungs-Erscheinungen des gewöhnlichen Menschenlebens etwas Natürliches sind, so müssen auch die auf dem Gebiet der örtlichen Bewegung vorkommenden hypnotischen Erscheinungen, welche jenen so äußerst ähnlich, ja wesensgleich sind, ebenfalls, ihrer Substanz nach wenigstens, in das Reich des Natürlichen gehören.

55. Ferner gibt es sowohl im Wach-, als im Schlafzustand des Menschen natürliche Erscheinungen, denen die hypnotischen Erscheinungen  auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung  nicht bloß überaus ähnlich, sondern dem Wesen nach geradezu gleich sind. Und das sind ebensowohl natürliche Jllusionen oder Sinnestäuschungen, als natürliche Hyper- und Anästhesien. So ist z. B. bei jemandem, der im frühen Alter sein Augenlicht verlor, späterhin der Tastsinn sehr verfeinert, so daß er die Nähe von Personen oder Gegenständen durch Vermittlung der Luft merken kann; bei jemandem, der noch nüchtern ist und mehr noch bei einem Kranken, ist der Geruchssinn gewöhnlich viel empfindsamer; und jemand, der aus einem dunklen Raum heraus auf eine beleuchtete Stelle schaut, sieht viel schärfer und deutlicher. Auch von solchen, welche sich in einem Haschischrausch befanden, wird berichtet, daß bei ihnen der Gesichts- und der Gehörsinn sehr geschärft gewesen ist, ja daß einer derselben einmal mit dem einen Ohr ein Gespräch und mit dem anderen Musik gehört hat. Andererseits ist es bekannt, daß z. B. durch allzuhäufiges Morphium-Spritzen der Gehörsinn eines Menschen für längere oder kürzere Zeit beeinträchtigt wird. - Inbesondere ist es aber der Sinn für Gemeingefühle, welcher auf natürliche und künstliche Weise in seiner Tätigkeit gesteigert und auch vermindert werden kann. So wird z. B. die Schmerzempfindung an einer Stelle des Körpers, die entzündet ist, durch die Entzündung erheblich vergrößert, während sie durch Einatmen von Chloroform oder Äther oder anderer Narkotika ganz aufgehoben wird. Ja, schon bei großer Aufregung verspürt man kleinere Verletzungen oder Stöße gar nicht. Ein Notar war z. B. eine ganze Nacht hindurch beim Brand seines Hauses damit beschäftigt, seine Papiere zu retten. Er lief mit bloßen Füßen über den Kies, ohne davon oder von der Kälte etwas zu spüren. - Und was die natürlichen Jllusionen oder Sinnestäuschungen betrifft, so verwechselt z. B. jemand im Wachzustand, wenn er die Augen geschlossen hält, nach einigem Hin- und Her-Probieren fast regelmäßig den ihm vorgesetzten roten und weißen Wein; ein Fieberkranker findet oft süß, was sauer schmeckt oder umgekehrt; das vorbeitreibende Eis eines Flusses, auf dessen Ufer wir stehen, scheint uns, wenn wir eine Zeit lang starr darauf schauen, auf einmal still zu stehen, während wir den Eindruck haben, daß wir uns selbst daran vorbeibewegen; und ein fahrender Eisenbahnzug, in dem wir uns befinden, scheint uns, wenn wir die Augen schließen, auf einmal die entgegengesetzte Fahrrichtung einzuschlagen. Hierher gehört auch ein ganz merkwürdiger Fall, den der Londoner Physiologe Dr. CARPENTER so erzählt:
    "Eine junge Dame wurde infolge des Todes ihres Lieblingsbruders zur Somnambulen und zwar entstand der Somnambulismus bei ihr nicht, wie das gewöhnlich der Fall ist, zur Zeit des Schlafes, sondern im wachen Zustand. Sie sprach beständig von ihrem Bruder, wiederholte alle Umstände seiner Krankheit und zeigte sich teilnahmslos gegen alles, was ihr mitgeteilt wurde und in keiner Beziehung zu diesem Vorfall stand. Bei einer Gelegenheit hielt sie den Gemahl ihrer Schwester für den ihr entrissenen Bruder; sie bildet sich ein, er kommt vom Himmel her zu Besuch und knüpft unter diesem Eindruck eine lange Unterhaltung mit ihm an. Abgesehen vom hauptsächlichsten Irrtum ihres Geistes war diese Unterhaltung vollständig vernünftig ... Ihre Augen waren offen und doch erkannte sie in diesem Zustand niemanden, nicht einmal ihre eigene Schwester, die freilich, was erwähnt werden muß, zur Zeit der letzten Krankheit ihres Bruders nicht zuhause gewesen war."
Daraus aber, daß die hypnotischen Erscheinungen, welche auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung vorkommen, mit den soeben aufgeführten drei Arten natürlicher Erscheinungen die Substanz und das Wesen gemeinsam haben, folgt mit Notwendigkeit, daß auch die letzteren ihrer Substanz nach natürliche Erscheinungen sind.

56. Weiterhin lassen sich  auf dem Gebiet der Phantasie  natürliche Erscheinungen, nämlich Halluzinationen oder Sinnesvorspiegelungen, nachweisen, mit welchen die während der Hypnose auftretenden Halluzinationen die Art und Wesenheit gemeinsam haben. So hat z. B. jemand, welcher an Säuferwahnsinn leidet, eine natürliche Halluzination im Wachzustand, wenn er auf der Decke seines Bettes Spinnen oder andere widerwärtige Tiere herumkriechen sieht und nach ihnen greift; die Phantasie zaubert ihm in diesem Fall auf die wahrgenommenen Bettdecke Vorstellungen oder Bilder dieser Tiere so lebhaft hin, daß er die Bilder für Wirklichkeit hält. Auch durch den Genuß von Opium und Haschisch entsteht ein rauschartiger Zustand, in welchem sehr lebhafte natürliche Halluzinationen stattfinden, während gleichzeitig der Gebrauch der Vernunft zuweilen vollständig bleibt. - Professor FINLAY beschreibt die Halluzinationen infolge des Opiumgenusses so:
    "Auf einmal verschwindet das Elend dieser wirklichen Welt und der Träumer lebt eine Zeit lang in einer Welt feenhaften Zaubers, indem seine Verstandestätigkeit überreichen Stoff zur Betätigung in den reizenden Phantasiegebilden findet, welche in schillernder Fülle sich vor ihm entfalten. Bei einem anderen stellt die zaubermächtige Phantasie Schreckgestalten vor die Augen des Geistes und unterwirft die Seele dem Paroxysmus [Ausbruch - wp] von Furcht und Pein, ja versetzt sie in solche Angst und Not, als wären die eingebildeten Geister und Grabdämonen nicht unwirkliche Traumgestalten."
Er teilt auch eine Beschreibung mit, welche der Pariser Psychiater BRIERRE de BOISMONT von dem durch Haschischgenuß erzeugten rauschartigen Zustand einiger französischer Herren entwirft und die lautet so:
    "Es war ein sonderbares Schauspiel, zu sehen, wie sich diese Männer wie Tollhäusler benehmen. Ihre Gespräche waren unzusammenhängend, ihre Handlungen widersinnig. Einer äußerte dem anderen, sie wollten ein Auge und ein Ohr hergeben für eine zweite Zunge, um sich über alles, was sie empfanden, äußern zu können. Sie erklärten, sie wüßten, daß sie wahnwitzige Opfer einer sonderbaren Tollheit sind. Gelegentlich zogen sie dann ihre Uhren heraus und nannten die Stunde und gaben ganz vernünftige Antworten uf die an sie gerichteten Fragen, um dann wieder ihre Selbstgespräche, teils mit Bewußtsein, teils im Delirium fortzusetzen. Ihre Begriffe von Zeit und Raum waren auffallend verwirrt. So sah Herr D. vor einen Augen die Steine des Pantheons von Neapel, wie sie von den Bauleuten an ihre Stelle gehoben wurden und beschrieb bis aufs kleinste die Bilder und Landschaften, welche seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Gehör- und Gesichtssinn waren sehr scharf geworden. Die Erinnerung an vergangene Ereignisse konnte so lebhaft werden, daß sie diese wie wirkliche Wesen vor ihr geistiges Auge führten. Nichts aber bewies, daß sie die Fähigkeit besessen haben, die Gedanken anderer zu lesen und nichts konnten sie sich vorstellen, was sie nicht vorher schon gesehen hatten. Die ganze Zeit waren sie sich ihrer Worte und Handlungen vollständig bewußt, vermochten aber nicht dem Drang zu widerstehen, laut zu lachen, zu tanzen und alle die Torheiten, die ihnen durch den Kopf zogen, auch wirklich zu vollführen."
Eine höchst auffallende Halluzination aber, welche ohne Genuß irgendeines die Phantasie anregenden Mittels des öfteren stattfand, hatte, wie Professor FINLAY ebenfalls mitteilt, ein gewisser de QUINCEY. Dieser glaubte nämlich,
    "daß ihn häufig ein faulender Leichnam besucht und sich neben ihn ins Bett legt oder ihm beim Lesen eines Buches über die Schultern schaut und ihn mit seinem pestartigen Atem fast erstickt oder der zu ihm käme, gefolgt von einer Reihe scheußlicher Skelette, die sein Zimmer in ein Beinhaus verwandelten."
Und einen ganz ähnlichen Fall berichtet Dr. CARPENTER so:
    "Ein Staatsanwalt war beauftragt, die Ausgrabung einer Kindesleiche zu überwachen, da gegen die Mutter der Verdacht vorlagt, ihr Kind vergiftet zu haben. Als man den Sarg hob, behauptete der Staatsanwalt, den Verwesungsgeruch deutlich wahrzunehmen; dabei wurde es ihm so übel, daß er in Ohnmacht fiel. Bei Eröffnung des Sarges fand man ihn aber leer."
Haben nun aber die Halluzinationen mit den angeführten Halluzinationen des Wachzustandes, die doch einen natürlichen Charakter tragen, Substanz und Wesenheit gemeinsam, so versteht es sich ganz von selbst, daß auch jene ihrer Substanz nach etwas Natürliches sein müssen.

57. Ferner hat man  auf dem Gebiet des Gedächtnisses  - dieses Wort wird hier in seinem weiteren Sinn genommen - nicht bloß natürliche Erscheinungen konstatiert, denen die hypnotische Amnesie oder Hyperamnesie, sondern auch solche, denen das in der Hypnose vorkommende sogenannte doppelte Gedächtnis oder die suggerierten Erinnerungstäuschungen ganz genau gleichen. Dabei ist freilich unterstellt, daß Amnesie und doppeltes Gedächtnis im vollen Sinne des Wortes wirklich vorkommen, was, wie sich später zeigen wird, im Grunde gar nicht der Fall ist. Natürliche Erscheinungen von der ersten Art sind z. B. folgende: Eine italienische Marchese namens SOLARI, welche in ihrer Kindheit französisch gelernt hat, es später aber wieder verlernt hatte, vergaß, wie G. H. SCHUBERT erzählt, im Fieber auf einmal all ihr italienisch und sprach wieder ganz geläufig französisch. Und wie oft kommt es vor, sei es im Wach-, sei es im Schlafzustand, daß jemand auf einmal etwas einfällt, was er seit vielen Jahren anscheinend gänzlich vergessen hatte. Im Gegensatz dazu hat man auch oft beobachtet, daß Kranke, welche mit einem hitzigen Fieber ans Bett gefesselt sind, ihre eigenen Angehörigen nicht mehr erkannten, sie also vergessen hatten und daß Somnambulen die Erinnerung an dasjenige, was sie während ihres eigentümlichen Zustandes getan hatten, nach Aufhören desselben vollständig entschwunden war, ähnlich wie jemand an die Träume eines tiefen Schlafes, in welchem er dieses und jenes gesprochen hat, sich beim Erwachen nicht mehr erinnert.

Was weiterhin die natürlichen Erscheinungen betrifft, welche dem sogenannten doppelten Gedächtnis in der Hypnose dem Wesen nach gleichen, mit anderen Worten der Erscheinung, daß jemand während einer Hypnose sich nur an das erinnert, was in einer voraufgegangenen Hypnose und im Wachzustand and, was im vorangegangenen Wachzustand vorgekommen ist, so ist bekannt, daß sich jemand an Dinge, welche ihm zeitlich und örtlich schon fern liegen, mit Leichtigkeit erinnert, die betreffenden Dinge also unmittelbar aneinander reiht und anderes in der Erinnerung überspringt, wenn er im Augenblick etwas wahrnimmt oder ihm etwas ins Gedächtnis zurückkehrt, das ans sich oder in seinen Umständen mit jenen Dingen große Ähnlichkeit hat; denn auch ein Hypnotisierter erinnert sich an solches, was er in einer früheren Hypnose erlebte, nur dann, wenn ihm der Hypnotiseur genau dasselbe, wie früher oder wenigstens ganz ähnliches suggeriert. Einen besonderen hierhier gehörigen Fall erzählt der englische Professor BEATTIE, indem er schreibt:
    "Ich kenne einen Geistlichen, welcher, nachdem er vor etwa sechzehn Jahren von einem Schlaganfall wieder genesen war, alles dasjenige vergessen hatte, was in den letzten vier Jahren vorangegangen war; was sich aber vor diesen Jahren ereignet hatte, das wußte er alles noch sehr wohl. Die Zeitungen von jenen vier letzten Jahren vorgegangen war; was sich aber vor diesen Jahren ereignet hatte, das wußte er noch sehr wohl. Die Zeitungen von jenen vier letzten Jahren schafften ihm daher sehr viele Unterhaltung; denn beinahe alles überraschte ihn darin, zumal da in diese Periode einige sehr wichtige Begebenheiten fielen, wie die Thronbesteigung des jetzigen Königs und viele Siege des letzten Krieges. Nach und nach erlangte er, teils durch eigene Erweckung des Gedächtnisses, teils durch Unterricht das Verlorengegangene wieder."
Endlich haben auch die in der Hypnose eingegebenen Erinnerungstäuschungen und zwar sowohl die negativen als auch die positiven, an natürlichen Erscheinungen des gewöhnlichen Menschenlebens ihr getreues Ebenbild. Eine  negative  Erinnerungstäuschung, welche ganz gewiss etwas Natürliches ist, findet z. B. in all denjenigen Fällen statt, in denen man sich an etwas früher Erlebtes oder Kennengelerntes, etwa an eine Begebenheit oder an eine Person, im Augenblick nicht erinnert und auch vielleicht darauf schwören würde, daß man das Betreffende niemals erlebt oder kennen gelernt habe, gleich nachher aber, sei es von selbst, sei es durch Nachhilfe anderer, sich dessen genau entsinnt, dasselbe also auch unstreitig im Gedächtnis aufbewahrt hatte; und solche Fälle kommen doch wohl in jedem Menschenleben vor. Und  positive  Erinnerungstäuschungen von natürlicher Art und Wesenheit haben z. B. diejenigen, welche in einem Opium- oder Haschischrausch befangen sind; denn an den Reden derselben hat man, wie vorhin schon hervorgehoben wurde, die Beobachtung gemacht, daß ihr Gedächtnis in Bezug auf Zeit und Ort auffallend verwirrt war und zuweilen Dinge als erlebt darstellte, die er niemals erlebt und erfahren haben konnte. Auch im vollkommenen Wachzustand gibt es bei einzelnen Menschen positive Erinnerungstäuschungen von natürlichem Charakter und zwar sowohl bei solchen, welche ein selbst erdichtetes Erlebnis so oft erzählen, daß sie schließlich nicht mehr unterscheiden können, ob es sich dabei um Wahrheit oder um Dichtung handelt, als auch bei solchen, gewöhnlich hysterischen Personen, welche freilich mit Bewußtsein und Absicht um keinen Preis eine Lüge sagen würden, aber bei ihrer lebhaften und flatterhaften Einbildungskraft oftmals meinen, das von ihnen Ersonnene und Erzählte wirklich erlebt zu haben. Ja, solche Erinnerungstäuschungen kann man bei stark suggerierbaren Personen, mögen sie sich im Wachzustand oder im Zustand des natürlichen Schlafes befinden, sogar durch Suggestion erzeugen. Am Ende ist es nur nötig, derartigen Personen selbst oer in ihrer Gegenwart anderen Personen einen Vorgang, welcher nicht stattgefunden hat, als wirklich vorgekommen mit großer Bestimmtheit zu erzählen. So schreibt Professor BERNHEIM:
    "Ich habe vor natürlichen Schläfern oft folgenden Versuch gemacht. Ich erzähle vor ihnen einer anderen hypnotisierten Person mit lauter Stimme, daß sich am Vorabend im Saal eine fiktive Szene abgespielt hat. Ein betrunkener Kranker hätte sich mit dem Wärter gezankt, eine blutige Schlägerei sei daraufhin entbrannt usw. Beim Erwachen glaubt der Hypnotisierte an die Wahrheit der Erzählung. ... Erwecke ich nun aber die natürlichen Schläfer und frage sie, was am Vorabend geschehen ist, so erzählen mir einige unter ihnen die Szene mit allen Einzelheiten; auch sie glauben daran."
Und an einer anderen Stelle erzählt er folgenden Fall:
    "Ich finde einen meiner Kranken eingeschlafen; er leidet an chronischer Myelitis [Entzündung des Rückenmarks - wp] , wurde schon oft hypnotisiert, ist suggerierbar und halluzinationsfähig mit Amnesie beim Erwachen. Ich beeinflusse ihn im natürliche Schlaf und sage ihm: "Ich weiß ganz gut, warum Sie jetzt schlafen; Sie haben heute Nacht nicht geschlafen. Ihr Nachbar von Nr. 11 hat Sie gestört; er hat gehustet und gesungen und dann hat er das Fenster aufgemacht; später hat er das Feuer gerichtet und einen solchen Lärm geschlagen, daß alle Kranken aufgewacht sind." Einigen Minuten später wecke ich ihn auf. Er reibt sich die Augen, glaubt spontan erwacht zu sein und erinnert sich an nichts. Ich sage ihm dann: "Schlafen Sie denn den ganzen Tag?" "Nein", antwortet er, "aber ich habe heute Nacht nicht geschlafen." "Warum nicht?" "Nr. 11 war krank, er hat gehustet und gestöhnt, ich weiß nicht recht, was er gemacht hat, er hat auch wie im Delirium gesungen. Schließlich hat er das Fenster geöffnet und das Feuer gerichtet." "Ist das wahr, haben Sie das gehör?" "Ganz gewiß, alle im Saal haben es gehört." Ich lasse ihn dieses Thema weiter verarbeiten und schaffe neue, nicht während des Schlafs erzeugte Erinnerungsbilder. "Und haben die anderen Kranken nichts gesagt? Was hat Nr. 5 gesagt?" Nr. 5 hat ihm gesagt, er soll das Fenster schließen und nicht solchen Lärm machen. Dann haben sie sich Grobheiten gesagt; Nr. 5 ist aufgestanden, auf ihn losgegangen und sie haben sich geschlagen." "War die Schwester da?" "Die Schwester hat sie nicht zur Ruhe bringen können." "Dann ist wohl der Direktor gekommen? Haben Sie ihn in seinem Schlafrock gesehen?" "Er war im Schlafrock da und hat ihnen gesagt, daß er heute beiden die Tür weisen werden." "Das ist ja alles nicht wahr, Sie haben nur geträumt." "Ich habe es nicht geträumt, weil ich ganz wach war. All die anderen Kranken können es Ihnen auch sagen." Ich befrage der Reihe nach die anderen vollkommen wachen Kranken im Saal. Von vierzehn hatten sieben den Vorfall gehört und gesehen; sie waren überzeugt, daß er wirklich geschehen ist, die Szene war ihnen vollkommen gegenwärtig. Diese sieben waren suggerierbare, bereits früher hypnotisierte Personen. Ein Paralytiker ohne psychische Störung, mit ziemlich gut erhaltender Intelligenz, nicht boshaft und darum auch nicht der Simulation verdächtig, erzählte mir mit seiner langsamen, eintönigen Stimme, was vorgefallen war. "Sie haben davon sprechen gehört", sage ich ihm, "aber Sie haben doch nichts gesehen!" "Ich habe es ganz deutlich gesehen", sagte er, "ich habe ja nicht geschlafen." "Wieviel Uhr war es denn?" "Es war zwischen zwölf und ein Uhr Nachts." "Wer hat denn angefangen?" "Nr. 11, der solchen Lärm gemacht und das Fenster geöffnet hat." "Haben Sie den Direktor gesehen?" "Der Herr Direktor ist im Schlafrock gekommen, ist zum Bett von Nr. 11 gegangen und hat gesagt, daß er beiden heute die Tür weisen wird." Ein anderer erzählte mit den Vorfall zwischen den beiden Kranken mit einer Fülle von Einzelheiten und einer Natürlichkeit, daß man auf die reine Wahrheit geschworen hätte. Der Kranke von Nr. 11, der als die Ursache des ganzen Lärms angesehen wurde, erinnerte sich, da er weniger suggerierbar ist, als die anderen, an nichts; die retroaktive Halluzination war bei ihm nicht gelungen.
Sind nun aber alle Erscheinungen, welche auf dem Gebiet des Gedächnisses während der Hypnose vorkommen, auch außerhalb der Hypnose nachweisbar und haben sie im letzteren Fall den Charakter des natürlichen, so besitzen sie einen solchen auch in der Hypnose, wenigstens ihrer Substanz nach.

58. Endlich kann man auch  auf geistigem Gebiete  des Menschen natürliche Erscheinungen ausfindig und namhaft machen, welche zu den entsprechenden Erscheinungen in der Hypnose die getreuesten Seitenstücke bilden und deshalb beweisen, daß auch die letzteren ihrer Substanz nach einen  natürlichen  Charakter tragen. Gemeint sind aber unter den Erscheinungen der letzteren Art auf Seiten der Vernunft die außerordentliche Steigerung ihrer Tätigkeit, sowie die Veränderung der Persönlichkeit und auf Seiten des Willens die vorübergehende Steigerung seiner Tätigkeit, sowie die eingegebenen Befehlshandlungen. Was die natürlichen Erscheinungen anlangt, welche als die passendsten Gegenstücke zu den gedachten hypnotischen Erscheinungen  auf dem Gebiete der Vernunft  betrachtet werden können, so sind es folgende. Ein gewöhnlicher Somnambuler steht zuweilen im Schlaf auf, geht an seinen Schreibtisch und arbeitet da ein wissenschaftliches Problem ganz richtig aus, an dessen Lösung er sich viele Tage im Wachzustand umsost versucht hatte, bekundet also in seinem eigentümlichen Schlaf eine auf natürliche Weise gesteigerte Verstandestätigkeit.
    "In unseren Träumen", sagt Professor FINLAY, "führen wir häufig Unterhaltungen, die eine beträchtliche Übung des Denkens erfordern; wir halten Vorträge oder hören sie an, wir treiben Poesie oder hören sie vortragen. Von DANTE wird erzählt, er habe den Plan zu seiner  Divina Comedia  zur Schlafenszeit erdacht. VOLTAIRE verfaßte einen Teil seiner Henriade im Traum. Der physiologe BURDACH kam träumend auf einen der vorzüglichsten Punkte seiner wissenschaftlichen Theorie."
Auch in diesen Fälle tritt offenbar eine natürliche Steigerung der Vernunfttätigkeit zutage. Und natürliche Erscheinungen, in denen die sogenannte Verwandlung oder Veränderung der Persönlichkeit stattfindet, gibt es viele im gewöhnlichen Traumleben der Menschen. Im Traum sieht sich der Mensch zunächst einmal oft mit seiner Person in das Stadium eines früheren Lebens zurückverwandelt.
    "Bekanntlich", sagt Dr. MOLL, "träumen viele Leute besonders häufig, daß sie sich im Abiturexamen befinden, selbst wenn viele Jahrzehnte seit demselben vergangen sind."
Hierher gehört als Beispiel auch der merkwürdige Traum des Direktors der Kranken- und Irrenanstalt zu Bremen namens "SCHOLZ, den er selbst näher beschreibt:
    "Nach schweren körperlichen Ermüdungen und einem geistig wie gemütlich sehr anstrengenden Tag begab ich mich, nachdem ich noch die Uhr aufgezogen und auf das Nachttischchen gelegt hatte, zu Bett und schlief bei noch brennender Lampe sofort ein. Alsbald befand ich mich auf hoher See an Bord eines mir bekannten Schiffes. Ich war wieder jung und stand am Ausguck. Ich hörte das Meer rauschen und goldene Lichtwellen umwogten mich. Wie lange ich so gestanden hatte, weiß ich nicht; aber es war eine unendliche Zeit. Da änderte sich die Szene. Ich war an Land und meine längst verstorbenen Eltern kamen, mich zu begrüßen; sie führten mich zur Kirche, wo lauter Orgelton erklang. Ich freute mich, wunderte mich aber zu gleicher Zeit, dort meine Frau und meine Kinder zu sehen. Der Geistliche bestieg die Kanzel und predigte; aber ich konnte nichts verstehen, da die Orgel immer noch gespielt wurde. Ich faßte nun meinen Sohn an der Hand, um mit ihm den Kirchturm zu besteigen; aber wiederum verwandelte sich die Szene. Statt neben meinem Sohn, stand ich neben einem mir früher bekannten, in Wirklichkeit längst verstorbenen Offizier. Ich bin als Militär-Arzt beim Manöver und wundere mich eben darüber, daß unser Major ein so jugendliches Aussehen hat, als ganz in meiner Näher unvermutet eine Kanone abgefeuert wird. Erschrocken fuhr ich in die Höhe, wache auf und merke, daß der vermeintliche Kanonenschuß im Öffnen der Schlafstubentür, durch die jemand getreten war, seine Erklärung findet. Wahre Ewigkeiten hatte ich in diesem Traum durchlebt; aber als ich auf der Uhr nachsah, war seit dem Einschlafen nicht mehr, als - eine Minute vergangen, viel kürzere Zeit, als man zum bloßen Erzählen des Traums braucht."
So scheint sich der Mensch im Traum zuweilen in eine ganz andere Person umgewandelt zu haben. Ein Beispiel der Art erzählt Dr. MOLL mit den Worten:
    "Ein Offizier, der HANNIBAL sehr verehrte, erzählte mir, daß er im Glauben, HANNIBAL zu sein, des Nachts eine imaginäre Schlacht geschlagen habe. Ein anderer Herr ist noch ein wenig unbescheidener, ihm genügt HANNIBAL nicht; er träumte einmal des Nachts, daß er der liebe Gott sei und die Welt regiert."
Aber nicht bloß im Traum, auch im Wachzustand kommt bei einzelnen Menschen die eingebildete Verwandlung der Persönlichkeit vor, nämlich bei Irr- oder Wahnsinnigen. Von solchen bedauernswerten Bewohnern der Irrenhäuser hält sich zuweilen der eine z. B. für den Kaiser NAPOLEON I. oder für den König eines großen Reiches, der eine enorme Flotte auf dem Meer hat, ein anderer für den Papst zu Rom, welcher mit der Tiara auf dem Haupt einem Konzil vorsteht, wieder ein anderer für Gott den Vater, der für einen Besucher der Irrenanstalt zuerst den ganz vernünftigen, ja intelligenten Führer spielt und sich dann bei der Vorstellung eines Irren auf einmal selbst als Irrer entpuppt, indem er sagt, derselbe halte sich für Gott den Sohn und das könne er doch nicht sein, weil er selbst Gott Vater sei und jenen gar nicht kennt. Auch ist es bekannt, daß sich ein Irrer zuweilen für ein Tier hält, etwa für einen Hahn und dann kräht oder für einen Hund und dann bellt und auf allen Vieren geht.

59. Nun sind natürliche Erscheinungen, welche als Seitenstücke von ganz derselben Art neben die hypnotischen Erscheinungen  auf dem Gebiet des Willens  gestellt werden können, folgende: Zunächst sind es die vielen natürlichen Steigerungen der Willenstätigkeit im Wachzustand, welche genau auf dieselbe Weise, wie die in der Hypnose, zustande gebracht werden, nämlich durch Suggestion. Oder ist es nicht eine tagtägliche Erscheinung des Lebens, z. B. jemand von selbst (Autosuggestion) oder durch Zureden eines anderen (Allosuggestion) auf bessere Gedanken kommt und infolge dieser Gedanken zu einem energischen Willensentschluß, sein Leben zu ändern, sich aufrafft und emporschwingt? In zweiter Linie sind es diejenigen natürlichen Willenstätigkeiten, welche nicht mit Freiheit, sondern spontan und zufolge eines äußeren Einflusses verrichtet werden, so daß sie den eingegebenen Befehlshandlungen hypnotisierter Personen ganz genau gleichen. Und da macht es keinen Unterschied, ob man sich diese Befehlshandlungen als intra- oder als posthypnotische denkt, weil ja, wie vorher ausdrücklich hervorgehoben wurde, die sogenannten posthypnotischen Befehlshandlungen im Grunde doch immer während einer teilweise fortdauernden oder wiedererwachenden Hypnose stattfinden. Eine der Willenstätigkeiten von der zweiten Art ist z. B. schon das Sprechen und Antworten, zu dem man jemanden während seines gewöhnlichen oder somnambulen Schlafes veranlaßt; denn durch diese Einwirkung wird es ja zu einer Art eingegebener Befehlshandlung. In Bezug hierauf schreibt Professor BERNHEIM:
    "Man kann manchmal dahin gelangen, die Aufmerksamkeit eines gewöhnlichen Schläfers, ohne ihn zu wecken, auf sich zu ziehen und dann kann man mit ihm sprechen und Antworten von ihm erhalten. Die Mutter, die am Abend ihr Kind eingeschlafen findet, spricht mit ihm, fragt es: "Willst du etwas trinken?" Oft antwortet das Kind, trinkt mit geschlossenen Augen. Beim Erwachen erinnert es sich an nichts. Nach dem Beispiel von General NOIZET und LIÉBEAULT gelingt es mir oft, einen Kranken, der noch nie hypnotisiert worden ist, im natürlichen Schlaf zu beeinflussen; ich spreche mit ihm, indem ich ihm suggeriere, weiter zu schlafen. Manchmal erwacht er; aber ein anderes Mal schläft er mit geschlossenen Augen weiter und antwortet mir dabei doch; ich erziele bei ihm all die Phänomene, wie bei den Hypnotisierten. Eine meiner Versuchspersonen erzählte mir, daß er gewohnt gewesen sei, mit seinem Bruder zusammen zu schlafen und daß dieser ihn oft während des Schlafes ausgefragt und Antworten von ihm erhalten habe, so daß sein Bruder sich das zunutze machte, um ihm Geheimnisse zu entlocken, die er ihm im wachen Zustand nicht gesagt hätte und die ihm anvertraut zu haben er sich beim Erwachen nicht erinnern konnte."
Zur Ergänzung des Vorstehenden möge es dienen, was Dr. MOLL über das Antworten im natürlichen Schlaf schreibt; es heißt:
    "Besonders leicht sind nach den Erfahrungen anderer und auch nach den meinigen einige Leute geneigt, im Schlaf Antworten zu geben, wenn eine Person, die in ihrem Gedächtnis einen hervorragenden Platz einnimmt, mit ihnen redet; wie das Kind zur Mutter oder Schlafkameraden zueinander. Recht leicht entwickeln sich Gespräche, wenn der Wachende auf den im Sprechen des Schlafenden ausgedrückten Gedankengang eingeht und sich dadurch gewissermaßen in das Bewußtsein des Schlafenden einschleicht. Eine mir bekannte Dame A. träumt laut sprechend von einer Person X. Der mit Frau A. schlafende Gatte erhält von ihr Antworten, sobald er redet, als ob er X. sei; tut er das nicht und spricht als ihr Gatte, so wird er ignoriert."
Und was das Reden und Antworten im somnambulen Schlaf betrifft, zu dem man jemanden, wenn man es geschickt anfängt, veranlassen kann, so erzählt ein gewisser HEINRICH van HEER von einem Somnambulen, der von Kindheit an sein treuer Kamerad gewesen war, unter anderem das:
    "Nachdem er sich mit einer ausgezeichneten Frau verheiratet hatte, stand er oft des Nachts auf, nahm das Kind aus der Wiege und trug es im Haus umher. Seiner ihn begleitenden Gattin erzählte er dann alles, was er sonst vor ihr geheimhielt und beantwortete jede Frage wahr und aufrichtig. Nachher wunderte er sich darüber, wie sie seine Geheimnisse erfahren konnte. Seine Gatting versuchte ihn oft, wenn er aufstehen wollte, durch Umarmungen und Bitten im Bett zu halten, aber vergebens, er forderte sie vielmehr auf, mitzugehen oder zog sie mit sich fort."
Zu den in Rede stehenden natürlichen Tätigkeiten gehören ferner willkürliche Bewegungen des Körpers oder der Gliedmaßen, welche schlafenden Menschen auf Befehl ausführen; sie sind schon natürliche Befehlshandlungen im eigentlichen Sinn des Wortes.

Zu den in Rede stehenden natürlichen Tätigkeiten gehören ferner willkürliche Bewegungen des Körpers oder der Gliedmaßen, welche schlafende Menschen auf Befehl ausführen; sie sind schon natürliche Befehlshandlungen im eigentlichen Sinn des Wortes. Sagt z. B. eine Mutter ihrem schlafenden Kind, es solle sich auf die andere Seite legen, so kommt es zuweilen vor, daß es sich im Weiterschlafen umdreht. Und winkt jemand einem Somnambulen mit der Hand, so folgt dieser nicht selten dem Winkenden, wie die Magnetnadel dem Magneten. Endlich gibt es aber auch eigentliche Handlungen des Menschen von rein natürlichem Charakter, welche den eingegebenen Befehlshandlungen der Hypnotisierten ganz genau gleichen. Von dem oben erwähnten Kranken, der noch nie hypnotisiert worden war, berichtet Professor BERNHEIM, er habe bei ihm im natürlichen Schlaf alle die Phänomene erzielt, welche bei einem Hypnotisierten geglückt sind, so muß er darunter also auch eingegebene Befehlshandlungen gemeint haben. Und außerdem nennt er solche auch ausdrücklich, indem er schreibt:
    "Bei einigen natürlich schlafenden Personen kann ich den passiven Traum in einen aktiven verwandeln. Ich spreche mit dem Schläfer, ohne ihn aufzuwecken, suggeriere ihm eine Halluzination oder eine Handlung und sage ihm, daß er aufstehen und diese oder jene Sache sehen, diese oder jene Handlung ausführen soll. Und gewisse Personen gehorchen dieser Suggestion; ich habe ihren Traum in Handlung umgesetzt; ich habe sie im natürlichen Schlaf auf dieselbe Weise, wie im künstlich hervorgerufenen Schlaf zu Somnambulen gemacht."
60. Demnach gibt es unter den hypnotischen Erscheinungen keine einzige Art, welche an und für sich, d. h. ihrer Substanz und Wesenheit nach betrachtet, nötigte, sie für etwas Übernatürliches zu halten, im Gegenteil, sie präsentieren sich in der besagten Hinsicht alle als etwas rein Natürliches. Wie nun aber, wenn die in Rede stehenden Erscheinungen zu den natürlichen Mitteln und Ursachen, durch welche sie anscheinend zustande gebracht werden, in gar keinem Verhältnis stünden, sondern über die Tragweite ihrer Wirksamkeit weit hinausreichten? Wäre das wirklich der Fall, so kämen jene Erscheinungen ohne das Eingreifen und Mitwirken einer ihnen übergeordneten, also einer übernatürlichen Ursache sicherlich nicht zustande und wären dann insofern doch etwas Übernatürliches. Wenn man indessen die früher angegebenen Mittel, die Hypnose wie die hypnotischen Erscheinungen zu erzeugen, näher prüft, so stellt sich mehr und mehr heraus, daß sie nicht bloß dem Anschein nach, sondern auch in Wirklichkeit die bewirkenden Ursachen des Hypnotismus in all seinen Erscheinungen sind, daß man wenigstens mit Bezug auf keine einzige derselben das kontradiktorische Gegenteil des Gesagten beweisen kann. Und dann darf man den ganzen Hypnotismus auch seiner Ursache nach für etwas Natürliches ausgeben.
LITERATUR - Ludwig Schütz, Der Hypnotismus, Philosophisches Jahrbuch, Bd. 9, Fulda 1866