tb-1K. B.-R. AarsW. OstwaldG. SchillingE. CassirerB. Schmid     
 
HEINRICH RICKERT
Die Philosophie des Lebens
- Darstellung und Kritik der
philosophischen Modeströmungen unserer Zeit -

[ 4/6 ]

    VorwortEinleitung
I. Das Leben als Modebegriff
II. Die modernen Lebensphilosophen
III. Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebensphilosophie
IV. Lebensform und Lebensinhalt
V. Das biologistische Prinzip
VI. Älterer und neuerer Biologismus
VII. Kritik des biologistischen Realitätsprinzips
VIII. Kritik des biologistischen Wertprinzips
IX. Der Kampf gegen das System
X. Leben und Kultur
XI. Das Recht der Lebensphilosophie

"Früher war die Physik in der Philosophie Mode, heute ist es die Biologie. Die Moden wechseln, aber das Prinzip bleibt dasselbe: der Teil soll das Ganze bedeuten. Jede Tendenz, die darauf hinauskommt, ist gleich unphilosophisch."

"Der Dualismus von Wirklichkeit und Begriff ist niemals aufzuheben. Seine Überwindung würde zugleich die Wissenschaft selbst überwinden."

"Sie sehen den kleinsten Begriffssplitter im fremden Auge, und an den eigenen Begriffsbalken denken sie nicht."

"Wer nur lebt, lebt sinnlos."



Siebentes Kapitel
Kritik des biologistischen Realitätsprinzips

  Grau, teurer Freund, ist  alle&  Theorie."
        - Mephistopheles -

Jetzt überschauen wir den Biologismus, soweit er den Anspruch erhebt, das allgemeine Prinzip für die Philosophie zu geben, und können ihm kritisch gegenübertreten. Die ältere Richtung ziehen wir dabei nur so weit heran, als sie noch in die neuere hineinspielt. In der Hauptsache kommt es auf die eigentliche Modeströmung, d. h. auf den antimechanistischen Biologismus an. Doch halten wir uns nicht an so extreme Ausgestaltungen wie SCHELERs Philosophie des Krieges. Damit würden wir uns die Kritik leicht machen. Einzelheiten werden überhaupt nur gelegentlich als Beispiele wichtig. Es gilt, die prinzipiell begrifflichen Fundamente dieser Lebensphilosophie prinzipiell und systematisch zu prüfen, und zu diesem Zweck trennen wir weiter die Seinsfragen von den Wertfragen, obwohl in der Philosophie unserer Tage die Scheidung nur selten konsequent durchgeführt wird. Warum sie von fundamentaler Wichtigkeit ist, wird immer deutlicher werden.

Wir beginnen mit den Seinsproblemen und fragen zunächst, ob eine allein mit biologischen Begriffen arbeitende Philosophie in dem Sinne "Philosophie" genannt werden darf, daß sie  universale&  Erkenntnis der  realen  Welt bedeutet.

Wird auch nur die Frage so gestellt, dann sollte man meinen, könne die Antwort nicht schwerfallen. Die Biologie beschränkt sich ihrem Wesen nach auf einen  Teil  des Weltganzen, wo sie vom "Leben" redet. Sie muß das als Spezialwissenschaft. Sie handelt nicht vom Leben überhaupt oder von den Erlebnissen in der Bedeutung des Wortes, daß alles in sie eingeht, was für uns da ist. So allein erreicht sie die Bestimmtheit ihrer Begriffe, die sie als Wissenschaft nicht entbehren kann.

Unter philosophischen Gesichtspunkten ist diese Art der Bestimmtheit jedoch teuer erkauft. Der Teil der Welt, auf den sie sich beschränkt, wird nie etwas anderes als ein Teil werden. Innerhalb der Biologie als Spezialwissenschaft besteht darüber wohl auch kein Zweifel. Der Biologismus als Philosophie dagegen möchten den Teil zum Ganzen machen. Setzt er damit nicht das Ganze zum Teil heraub, verfährt also unphilosophisch, falls man unter Philosophie die universale Wissenschaft vom Weltganzen versteht?

Mit Rücksicht auf diese Frage bedeutete die Aufzeigung des biologistischen Prinzips schon eine Kritik. Gewiß hat diese Lebensphilosophie im Unterschied von den rein intuitiven Formen ein wissenschaftliches Prinzip. Aber gerade in ihm scheint eine unphilosophische Tendenz zu stecken. Um zu einer umfassenden Philosophie zu kommen, werden wir uns  keiner  Spezialwissenschaft anvertrauen. Die Beschränkung auf biologische Begriffe führt zum spezialistischen Universalismus. In dieser Hinsicht scheint der Biologismus neuerer Richtung nicht allein mit dem Historismus, sondern auch mit dem mechanistischen "Monismus" auf einer Linie zu stehen, also gerade der von ihm bekämpften Weltanschauung nicht prinzipiell überlegen. Ist eine biologisch orientierte und zugleich universal gerichtete Philosophie nicht ein Widersinn in sich?

Schon das würde vielleicht genügen, um diese Form der Lebensphilosophie im Kern zu erschüttern. Sie ist keine Lebens philosophie.  Der echte Philosoph des Lebens sollte für das  umfassende  Leben gegen die Einseitigkeit und Enge des antimechanistischen Biologismus eintreten.

Aber man kann glauben, daß damit allein die Frage noch nicht entschieden sei. Dürfen wir nicht von dem Teil der Welt, den die Biologie behandelt, auf das Weltganze  schließen?  Ja,  müssen  wir nicht gerade die biologischen Kategorien zu Weltkategorien erweitern, um so zum Wesen allen Seins vorzudringen? Das behauptet doch die Lebensphilosophie neuester Richtung: nur das unmittelbar erlebte Sein ist wahrhaft  real.  Alles unmittelbar Erlebt aber ist  lebendig.  So verbindet sich das  Lebensprinzip  mit dem  Wirklichkeitsprinzip.  Das erst entscheidet. Daher kann die reale Welt nur als lebendige Welt verstanden werden.

So scheint die Verwendung von Lebensbegriffen, die der Wissenschaft vom lebendigen Leben, also der Biologie entnommen sind, zum Aufbau einer Weltwissenschaft voll gerechtfertigt.

Wir kommen damit auf die Gedanken zurück, die bei Feststellung des allgemeinen biologistischen Prinzips erörtert wurden. Die Lebensformen, welche die Biologie kennen lehrt, nimmt die intuitiv gerichtete Lebensphilosophie in ihren Dienst, um mit ihnen ihr Verlangen nach Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit der Erkenntnis zu befriedigen, und das kann man verstehen. Die Mechanik gibt von dem, was wir unmittelbar als real erleben, in der Tat weniger, als die Biologie. Insofern darf man auch sagen, daß die mechanistische Philosophie das unmittelbare Erlebnis "tötet". Die biologischen Begriffe stehen der Unmittelbarkeit des Realen, das wir selber  sind  und daher am sichersten als Realität erfassen,  näher  und scheinen daher besser geeignet, das Wesen der Erlebniswirklichkeit, welche die eigentliche Wirklichkeit ist, wissenschaftlich zu begreifen.

Deshalb ist mit dem einfachen Hinweis darauf, daß die Biologie eine Spezialwissenschaft sei, in der Tat noch nichts gegen die biologistische Lebensphilosophie entschieden. Sie will ja nicht bei der Biologie als Spezialwissenschaft stehen bleiben, sondern die von ihr herausgearbeiteten Lebensformen so benutzen, daß sie damit die reale Welt in ihrer Totalität als unmittelbar lebendig und so erst wahrhaft real erfaßt.

Es kommt darauf an, zu verstehen, daß auch dies Unternehmen auf einer Unklarheit über das Wesen des biologischen Denkens beruht.

Freilich zeigen die verschiedenen Disziplinen, welche die Welt erforschen, eine mehr oder weniger große Lebens- und Wirklichkeitsnähe. Daß in den Begriffen der Mathematik keine Spur von "lebendigem" und "wirklichem" Leben ist, falls die Worte in einer der üblichen Bedeutungen genommen werden, leuchtet ein. So wenig Berührung mit dem realen und lebendigen Leben wie diese Wissenschaft haben nicht alle Disziplinen. Im Vergleich zu ihr besitzen schon Naturwissenschaften wie Physik und Chemie mehr Wirklichkeits- und damit mehr Lebensgehalt, und auch das ist richtig, daß die Biologie dem realen Leben nocht näher kommt.

Der Unterschied aber zwischen den einzelnen Teilen der Naturwissenschaften kann nicht als prinzipiell, sondern nur als  graduell  gelten. Die Naturwissenschaften bleiben, um zunächst nur das hervorzuheben, mit ihren  allgemeinen  Begriffen dem in seiner unmittelbaren und anschaulichen realen Lebendigkeit stets  individuellen  Leben alle fern. Wie weit das ursprüngliche, erlebte wirkliche Leben von der Wissenschaft überhaupt erfaßt wird, lassen wir zunächst noch dahin gestellt. Die Naturwissenschaften führen jedenfalls  alle  zu einer mehr oder weniger großen Wirklichkeits- und Lebensferne (1). Je mehr daher die Lebensphilosophie sich an den Begriffen einer Naturwissenschaft orientiert, desto mehr widerspricht sie damit ihrer eigenen Tendenz, die auf Lebendigkeit und Realität als Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit gerichtet ist.

Die moderne Lebensphilosophie mißversteht sich selbst, und zwar das Beste in sich, wenn sie zu Begriffen der Biologie greift. Darin steckt nämlich ihr tiefster Gedanke, daß den "Verstandesbegriffen" die Fülle der realen Erlebnisse in ihrer Mannigfaltigkeit, und damit die eigentliche Wirklichkeit, für immer unzugänglich bleiben muß. Vermag aber der Biologismus daran etwas Wesentliches zu ändern? Sind seine Begriffe nicht Verstandesbegriffe? Erfaßt er mit ihnen, weil sie Lebensbegriffe sind, auch prinzipiell mehr unmittelbar Reales, als mit anderen Begriffen der Naturwissenschaft?

Er braucht, auch wenn er die mechanistische Auffassung der Auslese und Anpassung bekämpft, doch immer Begriffe der Biologie, d. h. naturwissenschaftliche Begriffe, und diese sind alle Begriffe des Verstandes, gleichviel, ob sie den Begriffen der Mechanik näher oder ferner stehen. Alles bio-logisieren heißt zugleich alles logisiern. Wie will man das bezweifeln? Das sagt nicht nur das Wort. Die Biologie nimmt nicht das reale Leben, wie es unmittelbar erlebt wird, als Wirklichkeit in den Inhalt ihrer Begriffe auf. Das kann sie als Wissenschaft nicht. Sie "tötet" es, um in der Sprache der intuitiven Lebensphilosophie zu reden, und zwar tötet sie es genau so weit, wie sie es begreift, und sie ist nur so weit Wissenschaft, als sie es begreift. Der Biologe hat zwar ein anderes  Material,  als der Physiker oder der Chemiker, und er bearbeitet gewiß dessen spezifische Verschiedenheiten gegenüber der sogenannten toten Natur. Arbeitet er aber darum auch mit einer anderen, mehr intuitiven  Methode Vermag er dem unmittelbaren Leben und damit dem wahrhaft Realen nicht allein graduell, sondern prinzipiell näher zu kommen? Wie will er das erreichen, so lange er Begriffe des Verstandes verwendet?

Es bedeutet eine Selbsttäuschung, wenn man glaubt, dadurch, daß man die Begriffe der einen Naturwissenschaft durch die einer anderen ersetzt, erfasse man im Begriff das unmittelbar erlebte Leben und damit die eigentliche Realität, also das Wesen der realen Welt. Dem Leben der Organismen kommt die Biologie gewiß näher, als der Mechanismus es vermag, aber die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des realen lebens erlebt man in  keiner  Naturwissenschaft. Man "erlebt" überall nur den Gehalt der Begriffe, und der ist nicht lebendig und nicht real, wie die unmittelbare Wirklichkeit des Lebens. Auch der Biologie verfertigt, um mit BERGSON zu reden, Konfektionskleider, die keinem Lebewesen passen, weil sie jedem Lebewesen passen sollen. Auch er arbeitet nicht "nach Maß", und er kann es als Naturforscher nicht. Er bleibt dem Leben als dem Realen im Prinzip so fern, wie andere Naturforscher. Das Leben begreifen, heißt nicht die unmittelbare Realität des Lebens erfassen.

Wir müssen noch weiter gehen. Keine Naturwissenschaft von den Organismen wird auf die Dauer mit Begriffen auskommen, die denen der übrigen mechanisch orientierten Naturwissenschaften  widersprechen.  Damit zerstörte sie jede einheitliche Auffassung des Naturganzen und käme zu einem sehr unphilosophischen Naturbegriff. Davon war schon die Rede. Vollend ist die Erweiterung der biologischen Kategorien zu Weltallkategorien, die das Wesen der Wirklichkeit erfassen sollen, abzulehnen, und damit wird das Prinzip der biologistischen Lebensphilosophie in Frage gestellt.

Zum Teil verdankt vielleicht der moderne Biologismus den Anschein von "Lebendigkeit" dem Umstand, daß er wissenschaftlich noch ungeklärte biologische Begriffe benutzt, deren Hauptbedeutung in einer Reaktion gegen die voreilige darwinistische Mechanisierung besteht. Je klarer die Theorien der Biologie naturwissenschaftlich herausgearbeitet werden, je mehr sie "erklären", d. h. je besser logisch und begrifflich sie durchdacht sind, um so deutlicher wird werden, daß auch sie zu den Leistungen des "tötenden" Verstandes gehören und daher niemals den Anspruch erheben dürfen, die lebendige Welt in ihrer unmittelbaren, anschaulichen und ursprünglichen Wirklichkeit zu erfassen. Das ist eben  keinem  Zweige der Naturwissenschaft gegeben.

Was von seiten der Lebensphilosophie gegen die Physik geltend gemacht wird, daß sie sich von den unmittelbar realen Erlebnissen entfern, trifft also im Prinzip auch die Biologie, und so untergräbt der Biologismus mit seiner Kritik der "Wissenschaft" sein eigenes Wirklichkeits-Fundament. Früher war die Physik in der Philosophie Mode, heute ist es die Biologie. Die Moden wechseln, aber das Prinzip bleibt dasselbe: der Teil soll das Ganze bedeuten. Jede Tendenz, die darauf hinauskommt, ist gleich unphilosophisch. Der Kern der realen Welt, das "ens realissimum", wird man weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege ergreifen. Auch die Ansprüche des Biologismus, Wirklichkeitsphilosophie zu sein, sind hinfällig. Das begriffene Lebewesen ist nicht realer, als die begriffene "tote" Natur. Der Stein ist ebenso wirklich, wie der Mensch.

Doch damit ist das, was wir aus der biologistischen Lebensphilosophie lernen können, nicht in jeder Hinsicht erledigt. Gerade die Verknüpfung des Biologismus mit dem intuitiven Prinzip zeigt, daß eine noch weiter reichende Unklarheit ihren Tendenzen zugrunde liegt. Wir haben den Punkt schon bei der Kritik der intuitiven Lebensphilosophie gestreift. In diesem Zusammenhang müssen wir noch einmal darauf zurückkommen.

Es ist nicht nur kein biologisches, sondern überhaupt kein wissenschaftlich haltbares Ideal, die Wirklichkeit als Wirklichkeit in ihrer "Lebendigkeit" erkennen zu wollen, falls man unter Lebendigkeit und Wirklichkeit die Unmittelbarkeit, Anschaulichkeit und Ursprünglichkeit versteht. Unlebendigkeit und Unwirklichkeit ist mit den Produkten nicht allein der generalisierenden Naturwissenschaft, sondern mit denen  jeder  Wissenschaft verknüpft.

Alles, was wir erkennen, entfernen wir damit von uns als der lebendigen Realität, so daß wir es nicht mehr als real Lebendiges unmittelbar erleben. Es gibt keine Wissenschaft ohne  begriffliches Denken,  und das gerade ist der "Sinn"  jedes  Begriffes, daß er die Dinge in einen Abstand vom unmittelbaren wirklichen Leben bringt. Das lebendigste Objekt, worauf irgend ein Erkennen sich richtet, hört auf, real zu leben, wo weit es begriffen ist. Der Dualismus von Wirklichkeit und Begriff ist niemals aufzuheben. Seine Überwindung würde zugleich die Wissenschaft selbst überwinden. Ihr Wesen beruht auf der Spannung zwischen unmittelbar erlebtem oder wirklichem Leben und der Theorie des Lebens oder der Wirklichkeit.

Diesen Gegensatz haben Lebensphilosophen wie BERGSON überzeugend zum Bewußtsein gebracht, soweit es  die  Wissenschaften betrifft, die sie bekämpfen zu müssen glauben. Sie sind aber auf halbem Wege stehen geblieben. Als wissenschaftliche Menschen sollten sie den Kampf gegen die Physik als mangelhafte Wirklichkeitswissenschaft aufgeben, denn es wird ihnen nie gelingen, eine Wissenschaft, die sich von ihr an Wirklichkeitsgehalt  prinzipiell  unterscheidet, an ihre Stelle zu setzen. Sie sehen den kleinsten Begriffssplitter im fremden Auge, und an den eigenen Begriffsbalken denken sie nicht.

Statt darüber zu klagen, was die Wissenschaft  nicht  vermag, sollte man zu verstehen suchen, was sie denn eigentlich kann, obwohl sie niemals die Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren und ursprünglichen Lebendigkeit begreift, genauer: was sie leistet, und worauf ihre Bedeutung beruth, gerade  weil  sie das, was die Lebensphilosophen von ihr verlangen, nicht erst versucht, wo sie ihr eigenes Wesen verstanden hat.

Die positive Seite der Frage nach dem Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis geht uns in diesem Zusammenhang nichts an. Hier ist nur zu zeigen, daß die Lebensphilosophie, falls sie Wissenschaft vom unmittelbar erlebten Leben sein und damit universalistisch das Wesen alles Realen erfassen will, einem Phantom nachjagt, einem Ziel, das nicht nur unerreichbar ist, sondern dessen Erreichung keine theoretische Bedeutung hätte, selbst wenn man es erreichen könnte.

Warum die Biologie sich von der Physik und Chemie nur graduell unterscheidet, haben wir gezeigt. Wir müssen jetzt, um zur vollen Klarheit zu kommen, zunächst noch einen Schritt in derselben Richtung weitergehen.

Es gibt Wissenschaften, welche die Biologie als Lebensnähe oder Lebensgehalt und damit an Wirklichkeitsgehalt übertreffen. Zu ihnen gehört die Geschichte. Sie will in der Tat die lebendige individuelle reale Gestaltung, sei es des Einzelnen oder der Masse, so weit erfassen, wie das dem Erkennen überhaupt möglich ist. Aber auch sie muß, weil sie als Wissenschaft das reale Leben begrifflich bearbeitet, das lebendige Leben "töten". Nur  relative  Lebens- und Wirklichkeitsnähe ist ihr beschieden. Das Leben selbst erfaßt nicht einmal die Biographie, von der man es ihrem Namen nach am meisten glauben könnte. Kurz, es wird nie gelingen, Erkenntnis zu finden, deren Inhalt sich mit dem unmittelbar erlebten und insofern realen Leben deckt, und das heißt: es wird nie möglich sein, in logisch oder wissenschaftlich verständlichen Sätzen vom Leben zu reden, in deren Sinn das Leben selbst eingegangen ist, denn Worte müssen, um logisch verständlich zu sein, allgemeine "Bedeutungen" haben, und diese sind immer Begriffe.

Auch wenn man das Wort Begriff meiden wollte, hülfe das nichts. Der Inhalt einer wissenschaftlich verständlichen Wortbedeutung ist stets etwas anderes, als der Inhalt der unmittelbar erlebten Wirklichkeit. Darüber täuscht nur die Vieldeutigkeit des Wortes "Leben" hinweg. Nicht alles, was wir "erleben", ist lebendig und real. Wenn wir Begriffe oder wissenschaftliche Wortbedeutungen erleben, wird Unlebendiges und Irreales erlebt. Begriffe vom Lebendigen sind keine lebendigen Begriffe.

Wir kommen damit wieder auf das zurück, was wir bei der Kritik der intuitiven Lebensphilosophie von den Lebensformen sagten. Gewiß gibt es Begriffe nicht nur vom Starren, sondern auch vom Fließenden. Aber die Begriffe werden nicht fließend, sondern bleiben starr, selbst wenn sie Begriffe vom Fließenden sind. Sonst wären sie keine Begriffe. Für diese Wahrheit, von deren Verkennung ein großer Teil der modernen Lebensphilosophen "lebt", können wir uns auch auf einen Lebensphilosophen wie SIMMEL berufen. Er steht hier wieder über den Modeströmungen, denn er weiß, daß der Begriff als Form sich nie ändert, also nie real lebt. Form ist ihm "das zeitlos Invariable". Sie entreißt das von ihr geprägte Materialstück der Kontinuität des Nebeneinander und des Nacheinander, gibt ihm einen eigenen Sinn, dessen Grenzbestimmtheit mit der Strömung des Gesamtseins, wenn sie wirklich stauungslos ist, nicht zusammen zu bringen ist (2).

Hat man den Satz verstanden und eingesehen, daß er für jeden Begriff gilt, der in Wahrheit ein Begriff ist, so ergibt sich daraus zugleich noch etwas Weiteres. Da alles Denken der Form oder des Begriffes bedarf, so kommt auch der Versuch, das Leben in seiner Unmittelbarkeit als  metaphysisches  Weltprinzip zu denken, auf einen unlösbaren Widerspruch hinaus.

Der Metaphysiker will doch ebenfalls über das Leben denken, wenn er Metaphysik treibt, und dabei muß er das Leben, gerade falls es das Weltprinzip sein soll, in eine  Form  bringen. Ja er muß, will er überhaupt vom Leben theoretisch verständlich reden, einen Begriff davon bilden, also das Leben in seiner unmittelbar erlebten Wirklichkeit töten. Gewiß ist der Mechanismus nicht das "Wesen" der realen Welt, aber "das Leben" ist es auch nicht. Die biologistische Lebensmetaphysik erklärt das allein für wahrhaft real, was unmittelbar erlebt wird. Deshalb soll das All der Welt "Leben" heißen. Daß nur unmittelbar Erlebtes real sei, kann man wohl sagen, aber dann muß man, um konsequenz zu bleiben, weitergehen und hinzufügen: was als Realität unmittelbar erlebt wird, kann nie erkannt werden. Also gibt es keine Metaphysik des Lebens.

Das bloße Erleben des Lebens ist kein Erkennen des wirklichen Lebens. Alles Erkennen bedeutet ein Abrücken des zu Erkennenden vom Leben, ein Verlegen in eine Sphäre, in der es kein unmittelbar reales Leben mehr gibt. Es ist nicht einzusehen, wie die biologistisch orientierte Metaphysik des Intuitionismus hiervon eine Ausnahme bilden sollte. Alle ihre irrationalistischen Gedanken, die den Abstand von Begriff und Wirklichkeit zum Bewußtsein bringen und zum Teil sehr interessant sind, richten sich gegen sie selbst. Warum bleibt sie nicht konsequent? Dann müßte sie sich selbst vernichten. Das Leben als das unmittelbar Reale läßt sich nur erleben. Es spottet als unmittelbares Leben jedem Erkenntnisversuch.

Diese Einsicht mag man nun freilich auch eine "Erkenntnis" des Lebens und der Realität nennen, aber falls die Metaphysik des Lebens nichts anderes sagen will, als dies, dann ist sie zugleich in dem einen einzigen Satz beschlossen: die unmittelbar erlebte, also wahrhaft reale Welt ist das Leben. Jede weitere Ausbildung einer solchen "metaphysischen" Wahrheit würde zu einer begrifflichen Bearbeitung des realen Lebens und damit zu seiner "Tötung" führen.

Ja sogar damit, daß man sie auf den einen Satz einschränkt, ist der Lebensmetaphysik noch zu viel zugestanden. Nicht einmal die Behauptung, alles unmittelbar erlebte, also wahrhaft reale Sein sei Leben, erfaßt das Reale in seiner Ursprünglichkeit, denn schon dadurch, daß wir das, was wir unmittelbar erleben, "Leben" oder "Lebenswirklichkeit"  nennen,  und nun, statt das Leben zu erleben, theoretisch diese Bedeutung des Wortes. "Leben" erleben, hört das, was wir dabei erleben, auf, unmittelbar erlebtes Leben zu sein. Jede theoretisch verständliche Bezeichnung nimmt dem Leben seine unmittelbar reale Lebendigkeit. Es kommt durch den Namen "Leben", den wir theoretisch verstehen, in die Sphäre des Begriffs und ist getötet. Das bloße Erleben des realen Lebens ist stumm geboren und kann nie eine Sprache finden. Das "Wesen" der realen Welt muß, um seine Unmittelbarkeit und Realität nicht zu verlieren, anonym bleiben.

Diese Einsicht hat gewiß ihren Wert. Doch bringt sie uns nur zum Bewußtsein, wie fern  alle  Erkenntnis vom realen Leben abliegt. In dem Augenblick, in dem wir mit dem Erkennen,  beginnen,  hören wir auf, nur zu leben oder nur Lebendiges und unmittelbar Reales zu erleben. Keine Lebenslehre, keine Philosophie des Lebens enthält das reale Leben selbst. Philosophie fängt, ebenso wie andere Wissenschafteffn, immer erst an, wenn man sich das unmittelbar reale Leben als etwas fremdes gegenübergestellt hat und so selber dem realen Leben fremd, also unlebendig geworden ist. Gerade durch den Hinweis auf die Unmittelbarkeit des Lebens wird der Antagonismus zwischen Wissenschaft und wirklichem Leben deutlich, wobei wir noch ganz davon absehen, daß "Realität" oder "Wirklichkeit" selbst nur Erkenntnisformen sind und als solche nicht zum realen oder wirklichen Leben gehören. In dieser transzendentalphilosophischen Hinsicht wollen wir den Gedanken, wie unmöglich es ist, beim Philosophieren über das Leben sich auf das Leben zu beschränken, nicht ausführen. Das würde uns zu weit von aller Lebensphilosophie der Zeit weg zu den zeitlosen philosophischen Problemen bringen.

Es genügt, wenn wir feststellen: die Anklagen der Lebensphilosophie gegen den Begriff kommen auf eine Halbheit hinaus. Gewisse Arten von Begriffen werden in ihrer Unlebendigkeit durchschaut. Andere übernimmt man völlig unkritisch. Man mache doch Ernst mit der Einsicht, daß  alle  Begriff das reale Leben nicht so enthalten, wie man es erlebt, und daher auch nicht die unmittelbare Lebenswirklichkeit erfassen. Dann wird man den hoffnungslosen Versuch aufgeben, das Leben, wie es erlebt wird, in irgendeine Erkenntnis aufzunehmen. Die Lebensphilosophie sollte vor allem vor ihrer eigenen Tür fegen, d. h. ihre eigenen Begriffe auf ihren Lebens- und Wirklichkeitsgehalt prüfen. Sie macht denselben Fehler, den sie bei anderen rügt, und sie kann nicht anders, als diese Fehler machen.

Aber es  ist  kein Fehler. Der Fehler besteht darin, daß man darin einen Fehler sieht und ihn innerhalb irgend einer Philosophie für vermeidlich hält. Wer das lebendige Leben erleben will und so das "Wesen" der realen Welt finden (oder wie man es sonst nennen mag, denn auf Namen kommt es beim Leben nicht an, die bedeuten nur beim Erkennen etwas), der muß die Wissenschaft aufgeben und die Welt in ihrer Realität für unerkennbar erklären. Das aber wäre ebenso wie die biologistische Erkenntnistheorie, die das Erkennen in den Dienst des Nutzens stellt, ein Rückfall in jenes Stadium, in dem der theoretische mensch noch nicht existierte, und in dem man die Welt nur erlebte. Das kann man also nicht als philosophischen "Fortschritt" preisen.

Allerdings ist gewiß nicht ausgemacht, daß das theoretische Verhalten das wertvollste von allen und dementsprechend die Wissenschaft das höchste Kulturgut oder gar das höchste Gut überhaupt sei. Vielleicht ist es ein "Einwand" gegen die Wissenschaft, daß sie den Menschen so weit vom lebendigen und unmittelbar realen Leben entfernt. Die Anhänger mancher Lebensphilosophie sind nicht nur der Wissenschaft, sondern  aller  Kultur wegen ihrer Lebensferne feindlich gesinnt. Aber ob sie recht haben, geht uns in diesem Zusammenhänge nichts an, denn wissenschaftlich könne sie nie "recht" haben. Wissenschaftlich kann ihr Einwand gegen die Wissenschaft nicht sein. Alle Wissenschaft ist notwendig etwas wider das bloße Leben in seiner unmittelbaren Realität. wer nach Wahrheit sucht, bleibt nicht beim lebendigen Leben allein, gleichviel ob er intuitive Lebensmetaphysik oder eine andere Wissenschaft treibt.

Über das Wirklichkeitsprinzip des Biologismus und seine Verbindung mit dem Lebensprinzip ist nicht mehr viel zu sagen. Es fehlt an einen Wirklichkeitsprinzip,  auf Grund dessen verständlich wird, wie das Leben in seinem realen Sein erkannt werden soll. Von vornherein wiesen wir auf den engen Zusammenhang zwischen Biologismus und Intuitionismus hin. Schon die Erinnerung an einen Denker wie BERGSON würde genügen, um diese Beziehung außer Frage zu stellen. Der Biologismus hat sich, falls man mit dem Versuch, ihn zu einer umfassenden Wirklichkeitslehre und damit zu einer Weltanschauung auszubauen, Ernst macht, so gestaltet, daß das reale Leben nur noch das unmittelbar Erlebte bedeutet, und damit ist der Biologismus in Intuitionismus aufgelöst. Das nimmt ihm vielleicht den Lebenszauber, der für Viele an ihm haftet, und gerade das war notwendig. Man muß den modernen Intuitionismus gründlich entzaubern, damit klar wird, wie wenig die  Philosophie  des Lebens mit ihm anfangen kann, und das geschieht am besten im Anschluß an die biologistische Lebensphilosophie, in der alle Fäden zusammenlaufen.

Zum Zweck der Entzauberung sei endlich noch eine Bemerkung hinzugefügt. Wir haben von einem "Phantom" gesprochen, dem der mit dem Intuitionismus verbündete Biologismus nachjagt, und das er niemals erreichen wird. Phantome behalten jedoch für manche etwas Verlockendes, und so wird man vielleicht immer von Neuem versuchen, das Ziel, sich der unmittelbar erlebten Erlebniswirklichkeit zu bemächtigen, dennoch auf irgend einem Wege zu erreichen. Daher sei ausdrücklich hinzugefügt, daß die Unmöglichkeit des Erreichens nur für den  erkennenden  Menschen behauptet werden soll. Sobald wir nicht mehr zu erkennen wünschen, ist das Ziel, welches der intuitive Biologismus sich steckt, so wenig unerreichbar, daß vielmehr jeder von uns es in jeder wachen Minute seines Lebens erreicht hat, ohne sich dabei besonders anzustrengen. Er erlebt die Lebenswirklichkeit fortwährend intuitiv. Er braucht sich nur diesem Erleben ausschließlich hinzugeben und sich dabei durch keines Gedankens Blässe ankränkeln zu lassen, dann befindet er sich dauernd in dem Zustande der reinen Intuition, die unmittelbar mit dem realen Leben eins wird (3), und falls jemand daran seinen Spaß findet, soll ihm das unbenommen sein.

Aber auf diesem Wege kommt man gewiß nicht zur Philosophie. Theoretisch hat dieses reine Erleben entweder gar keine Bedeutung, oder es ist als erste Vorstufe für das Erkennen anzusehen. Doch schon als Vorstufe ist es nicht mehr  rein  intuitiv. Es regt dann zum Fragen an und jede Frage führt vom intuitiven Erleben fort. Auch wird der Erkennende zum mindesten etwas "Neues" anschauend erleben wolle, das er noch nicht kennt. Um aber das Neue vom Alten, bekannten zu unterscheiden, bedarf er eines Prinzips der Auswahl und ist damit ebenfalls aus der gepriesenen Intuition heraus, denn Auswählen gehört wie Fragen zu dem bösen Denken, welches das intuitive Erleben tötet.


Achtes Kapitel
Kritik des biologistischen Wertprinzips

  "Dies eine fühl ich und erkenn' es klar,
Das Leben ist der Güter höchstes nicht.""

        - Chor in Schillers Braut von Messina -

Doch das alles betrifft nur die eine Seite der Lebensphilosophie, ihren Anspruch, das  reale Sein  der Welt als Leben zu begreifen oder vielmehr nicht zu begreifen, sondern intuitiv zu erfassen, und wenn man auch eingesehen hat, daß hier ein Erkenntnisziel aufgestellt wird, das kein  Erkenntnisziel ist, so bleibt doch in der Biologie als Wissenschaft der Unterschied des Lebendigen und des Toten erhalten. Daher kann man glauben, auf ihn lasse sich nach wie vor eine Lebensphilosophie stützen, sobald sie nur darauf verzichtet, das "Wesen" des Weltalls einheitlich zu ergründen, und sich auf ein Verständnis des  menschlichen  Lebens beschränkt.

Das vitale Leben allein zeigt im Gegensatz zum Toten den Unterschied des Aufblühens und Verwelkens. Darin scheint der Maßstab für eine Würdigung nicht nur des natürlichen, sondern auch des Kulturlebens zu stecken, wie es zum Ausdruck kommt im Staat und in der Kunst, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft, in der Familie und in der Religion. So bleibt die Frage bestehen: ist es möglich, die echten Werte den Lebenswerten gleichzusetzen und damit die Grundlage für das Verständnis des Sinnes, den unsere Kultur besitzt, der Wissenschaft vom Leben zu entnehmen?

Wollen wir zu einer prinzipiellen Entscheidung auch darüber kommen, so müssen wir die naturwissenschaftlich begründete  Kulturphilosophie des Biologismus ebenfalls mit Rücksicht auf ihre wissenschaftliche Struktur durchschauen. Ihre allgemeinste Voraussetzung ist offenbar die, daß eine Naturwissenschaft überhaupt imstande sei, uns in Wertfragen theoretisch zu orientieren. Ist diese Ansicht gerechtfertigt? Nur durch eine Antwort hierauf können wir zur prinzipiellen Klarheit über den Biologismus kommen. An ihr hängt die Entscheidung über das biologistische  Wertprinzip. 

Vielleicht wird man geneigt sein, die Frage zu bejahen, und zwar auch dann, wenn man von der Biologie im Besonderen absieht. Es liegt z. B. auf der Hand, daß die Physik dem Techniker Normen gibt, die er für seine Arbeit braucht. Ist eine Brücke über einen Fluß zu bauen, die eine bestimmte Last zu tragen hat, so muß man sich an die Physik wenden. Sie sagt, wie man beim Bauen verfahren soll. Warum ist das möglich? Die Physik konstatiert doch nur, was ist, oder lehrt Kausalzusammenhänge kennen. Sie zeigt: dieser Vorgang hat notwendig diesen Effekt. Darin liegt von Normgebung nicht das Geringste. Nur vom Müssen ist die Rede, und das scheint sogar jedes Sollen sinnlos zu machen.

Trotzdem kann die Physik dem Techniker, der Maschinen zu bestimmten Zwecken bauen will, sagen, was er dabei tun soll. Die Verhältnisse von Ursache und Effekt lassen sich in Gedanken umkehren. Man geht vom Effekt aus und fragt nun nach den Bedingungen, die vorhanden sein müssen, um ihn zustande zu bringen. Die Gesamtheit der Bedingungen schließt sich dann mit Rücksicht auf den Effekt zu einer Einheit zusammen. So entsteht aus dem kausalen Verhältnis ein konditionales, wie wir es nennen wollen, und eine bestimmte Art von Einheit, in der die Bedingungen stehen. Auch diese Begriffe sind allerding von Elementen, die zur Normgebung dienen können, noch frei. Jetzt aber tritt etwas Neues, nämlich der Wille des Technikers hinzu. Er setzt einen bestimmten Effekt als "Zweck", d. h. verknüpft mit ihm einen Wert und sofort verwandeln sich für ihn die Bedingungen, welche die Physik als notwendig zur Erreichung des Effektes kennen lehrt, in Mittel, die er anwenden soll, um seinen Zweck zu verwirklichen. Aus dem Zusammenhang, der zuerst ein kausaler war, dann ein konditionaler wurde, ist ein  teleologischer  geworden und die konditionale Einheit der Bedingungen muß nun ebenfalls eine teleologische Einheit sein. Für jeden, der den Zweck will, haben die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel normative Bedeutung.

Damit ist die Struktur einer auf die Naturwissenschaft gegründeten und Normen aufstellenden Technik klar. Man muß nur, was meist nicht geschieht, die drei verschiedenen Arten des Zusammenhangs, der in den kausalen, in den konditionalen und in den teleologischen Verhältnissen steckt, auseinanderhalten und darf besonders nicht glauben, daß durch bloße Umkehrung des kausalen Verhältnisses in ein konditionales, ohne Hinzufügung von etwas Neuem, schon ein teleologisches Verhältnis entsteht. Der Zweck kommt in die konditionalen Verhältnisse der Technik immer erst durch den Willen des Menschen hinein. Nur er setzt Zwecke und verwandelt dadurch die Bedingungen in Mittel, aus denen sich Normen ableiten lassen. Die Physik selbst kennt Zwecke nicht und ist daher außerstande, für sich Normen zu geben. Das geht, falls es noch nicht klar sein sollte, auch daraus hervor, daß zur Erreichung des Wertlosen oder des Wertfeindlichen die Lehren der Naturwisssenschaft ebenso die Mittel an die Hand geben, wie zur Realisierung von Gütern, an denen Werte haften.

Von einer Begründung irgendwelcher Lebensziele durch die Physik selbst darf also nicht gesprochen werden, und man tut dies wohl auch nicht. Nur falls man in der naivsten Weise Zweck und Mittel miteinander verwechselte oder die Werte, die an bestimmten, von Menschen gesetzten Zwecken haften, für Werte hielt, die den zu ihrer Verwirklichung notwendigen Mitteln selbst zukommen, könnte man hier zweifeln. Es genügt eine elementare Überlegung, um einzusehen, daß der Wert einer technisch noch so vollkommenen Maschine ausschließlich von dem Wert abhängt, den der Mensch ihren Leistungen beilegt, und daß es daher ohne Rücksicht auf menschliche Wertsetzungen keinen Sinn hat, von technischer "Vollkommenheit" zu reden.

Liegt es nun aber bei der Gewinnung von Normen aus einer Naturwissenschaft überall so, wie bei der auf die Physik gestützten Technik? Die Biologisten werden zwischen Physik und Biologie gerade mit Rücksicht auf den Zweckgesichtspunkt einen prinzipiellen Unterschied machen, der sogleich zutage tritt, wenn wir das Verhältnis der Technik zur Physik mit dem Verhältnis der Therapie zu den organischen Naturwissenschaften vergleichen. Der Arzt entnimmt die Normen, die er braucht, der Biologie, und tut er dies nicht, ohne erst Zwecke in ihre Begriffe hineinzutragen? Er lernt von ihr die Bedingungen des lebendigen oder gesunden Lebens kennen, und diese werden für ihn doch unter allen Umständen zu Mitteln, die er anwenden soll. Liegt also die Fähigkeit der biologischen Disziplinen zur Normgebung nicht auf der Hand?

Der Biologe behandelt Organismen in ihrer Entwicklung. Nur dadurch gewinnt er überhaupt ein eigenes Gebiet. Sowohl "Organismus" als auch "Entwicklung" sind Begriffe, die die Physik nicht kennt. Jeder Organismus nämlich ist ein Ganzes, dessen Teile Bedingungen dieses Ganzen sind, und er besitzt insofern eine konditionale Einheit: nur durch das Zusammenwirken seiner verschiedenen Teile in einer bestimmten Richtung "lebt" er und ist er überhaupt ein "Organismus". Stehen aber seine Teile im Dienst des Ganzen, so sind sie Mittel zu dessen Erhaltung, und es ist also der Begriff des Organismus notwendig auch der einer teleologischen Einheit. Ebenso heißt Entwicklung stets mehr als eine Reihe von rein kausalen Veränderungen. Die Veränderungen weisen auf das Endstadium als Ziel gedacht wird, ebenfalls Mittel, die zu ihm hinführen. Die biologische Entwicklung ist also, ebenso wie der Organismus, ein teleologischer Begriff. So sieht man, daß die Biologie, auch als reine Naturwissenschaft, in der Tat des teleologischen Momentes nicht entbehren kann. Ein "mechanischer Organismus" ist ein Widersinn, falls unter Mechanismus das verstanden wird, was jede Teleologie begrifflich ausschließt. Organismus kommt von Organon, d. h. Werkzeug her, und das Wort hat eine eminent teleologische Bedeutung.

Daraus scheint dann aber auch weiter zu folgen: wo in der Wissenschaft Zwecke als Zwecke behandelt werden, da gelten die Werte, um derentwillen die Dinge Zwecke sind, und dann gelten auch die Mittel, die zu ihrer Verwirklichung dienen, als Normen. Man braucht somit nur die Zwecke der Lebewesen und die Bedingungen ihrer Erreichungen festzustellen, so kann man auch die Mittel angeben, die als natürliche Normen gelten müssen. Noch besser als vorher verstehen wir jetzt, warum man daraus, daß z. B. die Entwicklung der Organismen durch die natürliche Auslese bestimmt ist, versucht hat, Normen für die Gestaltung des Lebens abzuleiten. Was sich als Mittel für die teleologische Entwicklung der Lebewesen nachweisen läßt, muß dadurch zugleich normative Bedeutung erhalten. Es scheint also das Prinzip einer biologistischen Kulturphilosophie glänzend gerechtfertigt.

Trotzdem liegt auch diesen Gedanken eine prinzipielle Unklarheit zugrunde, und zwar beruht sie, wie so häufig bei weitverbreiteten Ansichten, auf der Zweideutigkeit eines Wortes, die wir bisher absichtlich nicht haben hervortreten lassen. Man redet bekanntlich von Teleologie, weil Zweck auf griechisch Telos heißt. Eine gewisse Art von Teleologie in der Biologie ist nun, wie wir sahen, zweifellos unentbehrlich. Aber Telos heißt nicht nur Zweck, sondern bedeutet auch Ende oder Resultat, und nur wenn es Zweck heißt, ist es ein Wertbegriff, den man zur Ableitung von Normen brauchen kann. Der Begriff des Endes dagegen ist wertfrei und zu jeder Normgebung ungeeignet. Deshalb hängt alles daran, ob die Biologie das "Telos" nur als "Ende" oder auch als "Zweck" nicht entbehren kann.

Die Entscheidung ist wohl nicht allzu schwer. Wir sahen bei Feststellung des Verhältnisses von Physik und Technik: die kausale Betrachtung läßt sich umkehren, und das heißt nichts anderes, als: man geht vom Ende oder Resultat zurück auf dessen Bedingungen. Diese schließen sich dann zu einer konditionalen Einheit zusammen. Eine solche vermag nun in der Tat die Biologie nicht zu entbehren, wenn sie von Organismen oder von Entwicklung spricht, während die Physik ohne sie auskommen kann, ja auskommen muß, wenn sie rein kausal verfahren will. Das unterscheidet also die Biologie prinzipiell von der Physik. In dieser ist zwar eine solche Umkehrung auch möglich. Man kann z. B. die Geschwindigkeit eines fallenden Steines vom Ende her ansehen als "Entwicklung" der Geschwindigkeit, die er bei seinem Aufschlagen erreicht. Aber das ist physikalisch eine willkürliche Betrachtung. In der Biologie dagegen sind die Glieder eines Organismus notwendig als Bedingungen des Ganzen gedacht, und ebenso besteht jede Entwicklung aus einer Reihe von Vorstufen, die notwendig sind, wenn das Endstadium erreicht werden soll. Insofern steckt die konditionale Einheit in den biologischen Begriffen selbst, und nennt man nun das Ende "Telos", dann verfährt also die Biologie, die von Organismen und Entwicklung redet, auch als reine Naturwissenschaft in der Tat teleologisch.

Aber aus welchem Grunde betrachtet man dieses biologische Telos als "Zweck", d. h. als etwas, an dem ein Wert haftet, und das deshalb sein soll? Zu einer Wertung der konditionalen Einheiten, als welche sie die Organismen und Entwicklungen auffassen muß, hat die Biologie, solange sie Naturwissenschaft bleiben will, kein Recht. An dem, was sie Telos nennt, haftet kein Wert und die zur Erreichung dieses Telos notwendigen Bedingungen sind daher auch nicht Mittel von normativer Bedeutung. Vielmehr entsteht, genau wie bei der physikalisch begründeten Technik, ein Zweck immer erst durch den wertenden Willewille.htmln des Menschen. Von einem solchen Willen aber muß die Biologie schon deswegen absehen, weil sie Körperwissenschaft ist. Man kann gewiß sagen, das Ende soll gewollt werden, weil Werte, die gelten, daran haften. Aber diese Werte gehen die Biologie nicht das Geringste an. Wie sollte sie als Naturwissenschaft eine Wertgeltung und Zwecksetzung begründen? Wir sehen also: das Wort Telos hat uns irregeleitet, wenn wir glauben, es bestünde auch mit Rücksicht auf Werte und Zwecke ein prinzipieller Unterschied zwischen Physik und Biologie. Beide Wissenschaften verfahren, richtig verstanden, völlig wertfrei. Beide liefern daher für sich allein auch keine Normen. Die Unterschiede zwischen Physik und Biologie sind in diesem Zusammenhang unwesentlich.

Angedeutet sei nur noch, daß das  wertteleologische Moment, wie man, um Verwechslungen mit der wertfreien Teleologie vorzubeugen, sagen kann, auch aus einem andern Grunde nicht zum Kennzeichen des Biologischen im Gegensatz zum Physikalischen gemacht werden darf. Jede Maschine, die zu einem bestimmten Zweck erfunden ist und diesen Zweck erreicht, ist ebenfalls ein durch und durch wertteleologischer Zusammenhang. Trotzdem ist in ihr von irgend etwas Lebendigem keine Rede, sondern sie läßt sich restlos als totes Gebilde erklären. Sie ist ein in den Dienst von Zwecken gestellter Mechanismus, dessen mechanischen Zusammenhänge nun nicht nur konditional, sonder auch wertteleologisch aufgefaßt werden. Das, was die Organismen physikalisch unerklärlich macht, kann also nicht ein wertteleologisches Moment sein. Es sind vielmehr, wie hier nicht weiter zu zeigen ist, gewisse, den physikalischen Begriffen gegenüber irrationale Elemente in den Organismen, die uns hindern, sie als Maschine zu verstehen, und das hat für das Wertproblem keine Bedeutung.

Für uns ist der Unterschied zwischen Biologie und Physik jedenfalls nur in der Hinsicht wichtig, daß die Technik bei ihrer Normgebung für den Bau von Maschinen die physikalischen Kausalreihen erst in konditionale Zusammenhänge verwandeln muß, um dann wertteleologische Zusammenhänge aus ihnen zu machen, während die Therapie in der Biologie selbst schon konditionale Reihen fertig vorfindet. So entsteht der Schein, als stünden biologische Begriffe auch der Wertteleologie näher. Aber dieser Schein trügt. Die Verbindung es Endeffekts mit einem Wert, also die Zwecksetzung und die daraus hervorgehend Verwandlung der Bedingungen in wertvolle Mittel, ist nicht nur in der Technik, sondern auch in der Therapie ausschließlich Sache des Willens. Dort wertet der Wille Maschinen, hier wertet er das Leben oder die Gesundheit. Ohne ihn gäbe es weder Technik nocht Therapie. Die Normgebung auch des Arztes liegt daher gänzlich außerhalb der biologischen Naturwissenschaft. Nicht von dieser, sondern allein vom Willen des Menschen, der Leben und Gesundheit wertet, wird sie getragen. Damit ist aber dem Biologismus jede Stütze genommen, auf Grund deren er den Anspruch erheben kann, Normen für die Lebensgestaltung aufzustellen, oder den Sinn des Lebens aus dem Leben selbst auf Grund der Biologien zu deuten.

Ja, wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Die Biologie enthält nicht nur kleine Faktoren, welche sich zur Normgebung eignen, sondern jede Verbindung ihrer konditionalen Zusammenhänge mit Werten ist dem Geiste gerade der modernen Biologie als Wissenschaft durchaus entgegengesetzt und gehört nur noch dem vorwissenschaftlichen Zustande an. Daß ein Lebewesen das Leben als Gut schätzt, und daß der Mensch das menschliche Leben wertet, das ist freilich "selbstverständlich". Durch diese Zwecksetzungen, die jeder ohne ausdrückliche Besinnung darauf, gewissermaßen triebartig vollzieht, sind daher überall die konditionalen Zusammenhänge der Lebewesen in wertteleologische verwandelt worden, und als solche treten sie nun dem Forscher entgegen, wenn er ihre wissenschaftliche Untersuchung beginnt. Er erscheint zunächst fraglos, daß die biologische Entwicklungsreihe eine Fortschrittsreihe ist, weil sie zum Menschen hinführt, daß es "höhere" und "niedere" Tiere gibt, je nachdem sie dem Menschen näher oder ferner stehen usw. Von diesem vorwissenschaftlichen Standpunkt aus werden dann ganz naiv auch die gewaltigen "Errungenschaften" angestaunt, die das Leben vom Bazillus bis zum Menschen durch den natürlichen Entwicklungsgang "aus sich selbst heraus" zustande gebracht hat. Das biologische Gebiet ist also für den Menschen von vornherein mit lauter Wertakzenten gewissermaßen übersät, und das ist vom Standpunkte des  wollenden  Menschen aus, der sich selbst als Zweck setzen muß, nur konsequent. Wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Er wird daher das ganze Gebiet des Biologischen in einen wertteleologischen Zusammenhang mit seinem eigenen, von ihm gewerteten Leben bringen.

Aber die naturwissenschaftliche Biologie hat mit diesen Wertgesichtspunkten so wenig zu tun, daß es vielmehr ihre Aufgabe ist, mit all den naiv anthropomorphistischen Schätzungen und werteleologischen Begriffsbildungen gründlich aufzuräumen. Sie verdankt einen großen Teil ihrer Erfolg in der Neuzeit gerade der immer weiter fortschreitenden Ausscheidung von Werten und Zwecken. Besonders interessant ist für die Beurteilung des Biologismus hier wieder der Begriff der "Auslese" oder "Zuchtwahl", wie man auch sagt. Er hat ursprünglich einen praktischen, wertteleologischen Sinn, wie schon die Wortbedeutungen verraten. DARWIN hatte beobachtet, wie Tierzüchter durch zielbewußte Auslese die Organismen in einer gewollten Richtung stark verändern können. So war die Variationsmöglichkeit festgestellt. Bei einer wissenschaftlichen Erklärung der allmählichen Veränderung in der Natur jedoch, wo kein zwecksetzender Wille die Auslese besorgt, mußte er jedes Zielbewußtsein und damit jeden Zweckgesichtspunkt ausschalten, also die "Auslese" durch einen von jedem Zweckgedanken freien Begriff ersetzen, dem er dann den Namen der "natürlichen" Auslese gab.

Gleichviel, ob er recht hatte: es sollte dieser Begriff im Gegensatz zur zielbewußten künstlichen Auslese verständlich machen, wie ohne jeden Zweck Gebilde zustande kommen, die trotzdem vom Standpunkt ihres bewußten Willens notwendig als zweckmäßig aufgefaßt werden. Die natürliche Auslese darf mit anderen Worten gerade  nicht  "Auslese", d. h. nicht zielbewußte Auslese sein. Nur wenn man an die Entstehung der DARWINschen Theorie denkt, wird verständlich, warum trotzdem das teleologisch klingende Wort und andere Ausdrücke wie "Nutzen", "Anpassung" usw. beibehalten worden sind. Die Befreiung von jeder Teleologie bleibt der Sinn dieser Lehre. Sie will eigentlich sagen, die Organismen sind so geworden, wie sie mit kausaler Notwendigkeit werden mußten. Erst nachdem sie da sind, wird ihr Sein von ihnen selbst als Zweck gesetzt, und nun  nachträglich,  durch die erörterte Umkehrung, von ihnen der rein kausale Zusammenhang zuerst in einen konditionalen und endlich in einen wertteleologischen verwandelt. Oder: nicht wegen ihrer Zweckmäßigkeit sind die Organismen gerade so, wie sie nun einmal sind und können sich in diesem ihrem Dasein so erhalten, sondern: weil sie so geworden sind, wie sie sind, und sich deshalb auch so erhalten können, werden sie von sich selbst in diesem ihnen wertvollen Dasein als zweckmäßig aufgefaßt. Das ist der Gedanke, in dem alle teleologischen Zusammenhänge in der Sache selbst schwinden und die kausalen allein übrig bleiben sollen. Der Zweck wird aus den biologischen Objekten in die wertende Auffassung des Menschen verlegt, wo er die kausale Forschung nun nicht mehr stört.

Trotzdem hat man gerade die Auslese in wertteleologischem Sinne zur naturwissenschaftlichen Begründung von Kulturzielen verwenden wollen. Das läßt die Klarheit mancher Darwinisten über das Wesen ihrer eigenen Prinzipien in einem merkwüridgen Licht erscheinen, und mit den antidarwinistischen Biologisten steht es in dieser Hinsicht nicht anders. Richtig allein ist dies. Falls die biologische Entwicklung durch die "natürliche" Auslese bedingt ist, also ohne jeden Zweck oder Nutzen oder Wert zustande kommt, so ergibt sich daraus, daß sie eben nicht als natürliche Fortschrittsreihe angesehen werden darf, denn Fortschritt ist ein Wertbegriff und setzt ein wertvolles Ziel voraus, dem die Reihe sich allmählich annähert. So hat überall die konsequent naturwissenschaftliche Betrachtung die Wert- und Zweckbegriffe verdrängt. Die moderne Biologie stellt den Menschen in eine Reihe mit den übrigen Lebewesen. Sie  nimmt  ihm also seine Ausnahmestellung als "Höhepunkt", soweit er nur ein Lebewesen ist, und das andere, wodurch der Mensch diese Ausnahmestellung vielleicht verdient, geht sie nichts an.

Aus demselben Grunde bilden endlich auch die Begriffe des aufsteigenden und des niedergehenden Lebens vom biologischen Standpunkt aus keinen Wertgegensatz, und gesund und krank sind nicht mehr rein biologische Begriffe, falls man darunter Wert und Unwert versteht. Wenn der Mensch krank ist, leben die Bazillen und wenn die Bazillen sterben, wird der Mensch gesund. Es ist gewiß Sache des menschlichen Willens, hier Partei zu ergreifen und die menschliche Gesundheit als Zweck zu setzen. Dann kann nicht das Leben, sondern nur der Tod der Bazillen der Zweck sein, und es wird also durchaus nicht alles Leben als Gut gesetzt.

Der naturwissenschaftlichen Biologie liegt solche Parteinahme fern. Was lebt und was stirbt, das gilt ihr ganz gleich. Für sie sind Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit verschiedene Tatsachen, nicht Träger von Wert und Unwert. Alle Wertsetzungen sind von ihrem Standpunkte vielmehr ebenso "kindlicher" Anthropomorphismus wie der Glaube, die Erde sei für die Menschen da, und die Tiere und Pflanzen hätten, "von Natur" den Zweck, dem Menschen zur Nahrung zu dienen. Wenn vollends, wie das oft geschieht, die heftigsten Gegner aller Naturteleologie zugleich für Naturfortschritt schwärmen und damit einen so eminent wertteleologischen Begriff zur Grundlage ihrer "naturwissenschaftlichen" Weltanschauung machen, dann ist das eine nicht mehr zu überbietende Konfusion.

So sehen wir von neuem: Gerade die grundlegenden Gedanken des Biologismus als Kulturphilosophie schweben nicht nur haltlos in der Luft, sondern stehen im schroffen Widerspruch zum echt naturwissenschaftlich biologischen Denken.

Der Biologie als Naturwissenschaft die Fähigkeit zur Wertsetzung und Normgebung absprechen, heißt nicht etwa, wie manche Biologien zu glauben scheinen, diese Wissenschaft herabsetzen. Im Gegenteil, es heißt sie auf dieselbe wissenschaftliche Höhe heben, auf der die Physik und die Chemie schon seit langer Zeit stehen. So lange die Biologie ihre naturwissenschaftlichen Theorien mit Wertsetzungen vermengt, kann sie über ihre Prinzipien nicht zur Klarheit kommen. Der Streit um Mechanismus und Teleologie bleibt dann unfruchtbar. Nur der Umstand, daß Prinzipen der Biologie zu "philosophischen" Prinzipien gemacht wurden und eine ganze "Weltanschauung" aufbauen sollten, erklärt es, daß nicht jedem Biologen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung von Naturbegriffen und Wertbegriffen und die Sinnlosigkeit einer biologischen Normgebung schon längst klar geworden ist. Der Mißbrauch biologischer Begriffe zu "philosophischen" Zwecken hat auf die Biologie selbst ungünstig zurückgewirkt. Früher gab es solche Verwirrungen sogar in der Physik. Auf NEWTONs Gravitationsgesetz wollte man auch ethische Normen gründen. Das nimmt heute wohl niemand mehr ernst. Der Denkfehler, der dabei gemacht wurde, war im Prinzip genau derselbe, der heute dazu führt, die biologischen Begriffe der "natürlichen Auslese" oder des "Kampfes ums Dasein" oder der Lebenssteigerung und der Machtentfaltung zur Beurteilung des sittlichen Lebens zu benutzen. Es wird hoffentlich bald die Zeit kommen, in der beide Arten von Versuchen uns gleich absurd erscheinen.

Damit ist jedoch unser Problem nicht in jeder Hinsicht erledigt. WIr müssen noch eine andere Frage stellen. Hat die Wertung des Lebens oder gar seine Gleichsetzung mit dem höchsten Gute, wenn sie auch auf jede naturwissenschaftlich- biologisch Begründung verzichten muß, nicht vielleicht noch ein anderes Fundament? Behält es insbesondere nicht einen guten Sinn, von Lebenswerten zu reden, die zur Grundlage der Kulturwerte zu machen sind? Erst mit der Beantwortung dieser Frage können wir über das Verhältnis der Kultur zum Leben über die gesamte Philosophie des Biologismus zu voller Klarheit kommen.

Gewiß läßt sich das Leben als ein Gut setzen, an dem ein Wert haftet. Aber oft steckt hinter solchen Wertungen des Lebens etwas anderes, das allein die Wertung trägt. Das Leben als solches wird dann nicht gewertet. Daher kommen Ansichten dieser Art für uns nicht in Betracht. Wir fragen nur, ob das Leben als bloßes Leben Wert hat, ohne daß irgend etwas anderes ihm Wert verleiht, oder ob es gar als höchstes Gut anszusehen ist, an dem der Wert aller anderen Güter gemessen werden kann. Nur die Antwort hierauf kann über das Recht einer biologischen Weltanschauung entscheiden.

Wenn man hier im Urteil noch schwankt, so liegt das wohl daran, daß bisher noch kein ernsthafter Versuch gemacht worden ist, die Bejahung der Frage wirklich zu begründen. Es mag freilich vielen "selbstverständlich" scheinen, daß das Leben als bloßes Leben ein Gut ist. Aber das genügt nicht. Wir müssen hier ausdrücklich Klarheit schaffen und zu diesem Zwecke daran denken, welch eine unübersehbare Fülle von Lebendigem es gibt. Dann leuchtet sofort ein: es ist einfach unsinnig, zu sagen, alles habe Wert, bloß weil es lebendig ist. Nur eine bestimmte  Art  des Lebendigen kann als die wertvolle einer anderen Art als der minder wertvollen oder als der wertfeindlichen gegenübergestellt werden. Welche Art aber wertvoll ist, kann uns das Lebendige selbst niemals verraten. Auch die Ausdrücke aufsteigendes und niedergehendes Leben sind als Namen für Wert und Unwert nichtssagend. Es kommt stets darauf an,  welches  Leben im Aufsteigen begriffen ist und  welches  im Niedergange sich befindet. Sonst wissen wir nicht, ob eine Wertsteigerung oder eine Wertminderung vorliegt. Das Aufsteigen des einen Lebens kann eminent wertfeindlich oder umgekehrt das Niedergehen des andern eminent wertvoll sein. Das Leben als das im Sinne der Biologie Lebendige ist genau ebensowenig ein Wertbegriff, wie das erlebte Erlebnis. Auch wenn man sich auf menschliches Leben beschränkt, was übrigens biologisch schon ein Akt der Willkür wäre, kommt es doch allein auf die Art des Lebens an. Daß jeder Mensch in allem, worin er lebendig ist, Wert habe, kann niemand im Ernst behaupten.

Das läßt sich noch deutlicher zum Ausdruck bringen, wenn wir statt "Leben", an dem mancherlei unkontrollierbare Gefühlstöne haften, "Vegetieren" sagen. Dazu haben wir in diesem Zusammenhang ein gutes Recht, denn bloßes Leben oder lebendig sein ist nichts anderes als Vegetieren. Freilich kann auch das Vegetieren Wert erhalten durch die Lust, die damit verbunden ist, und es wäre unrecht, irgend einem Menschen die Freude, die er an seinem bloßen Leben hat, ohne Not zu verkümmern. Aber einmal handelt es sich dabei um subjektive und individuelle Wertungen, die nicht zur Grundlage für Kulturwerte gemacht werden können: die Freude am bloßen Leben ist eine Privatangelegenheit dieser oder jener Stunde. Und außerdem wird in der Lebensfreude doch nicht das Leben selbst, sondern die Lust gewertet, die an ihm haftet. Daß beide immer zusammenfalle, kann niemand glauben, noch läßt sich sagen, welch ein Quantum von Unlust der Lust des vegetativen Daseins gegenübersteht, um so eventuell Lust und Unlust gegen einander abzuschätzen, und dadurch einen Lebenswert herauszurechnen. Jedenfalls wird man zugeben: das Vegetieren ist der Güter höchstes nicht. Dann aber sollte man auch einsehen, daß das Leben als solches noch nicht als Gut gelten kann. Es bedeutet gar nicht, wenn ich bloß lebendig bin. Der Wert meines Lebens hängt allein von der Art meines Lebens oder von der Besonderheit meiner Erlebnisse ab.

Damit aber müssen dann auch alle jene Behauptungen verschwinden, die darauf hinauslaufen, daß der Wert der Wahrheit, der Sittlichkeit und der Schönheit und dementsprechend die Bedeutung der Kulturgüter, an denen diese Werte haften, also der Wissenschaft, der Kunst und des sozialen Lebens auf Lebenswerte zurückzuführen oder alle Kulturwerte nur Steigerungen und Verfeinerungen der Lebenswerte seien. Wenn die bloße Lebendigkeit für sich betrachtet wertindifferent ist, so kann auch ihre Steigerung und Verfeinerung, ohne Hinzunahme eines neuen Faktors, nicht zu Werten und Gütern führen. Aus nichts wird nichts. Ja, die Worte "Steigerung" und "Verfeinerung" verlieren ihren Sinn, wenn nicht das Leben als solches schon Wert hat. Den Gedanken, Kulturwerte auf Lebenswerte zu stützen, müssen wir in jeder Hinsicht aufgeben. Wohl mag es vorkommen, daß jemand Kunst und Wissenschaft nur treibt, um zu "leben". Aber dann wertet er die Lust des Lebens, nicht das Leben selbst, und außerdem kann man doch nicht behaupten, daß, wer so handelt, seine Lebensbestimmung erfüllt. Es bleibt eine sinnlose Phrase, daß der Sinn des Lebens das Leben selber sei.

Blicken wir mit dieser Einsicht noch einmal auf die Mannigfaltigkeit der sozialpolitischen Ideale zurück, welche die Lebensphilosophie aufgestellt hat, so wird die Buntheit dieses Bildes jetzt leicht verständlich. Wollte man fragen, welche von den einander bekämpfenden vier Richtungen die wahre ist, so kann die Antwort nur lauten: sie sind, soweit sie sich auf biologische Begriffe stützen, alle falsch. Die verschiedenen, angeblich aus der Biologie abgeleiteten Kulturideale standen längst fest, ehe sie mit den biologischen Begriffen auch nur in Berührung gebracht waren. Die Buntheit des aufgezeigten Bildes findet darin ihre Erklärung, daß die biologischen Prinzipien unter sozialethischen Gesichtspunkten völlig indifferent sind. Deswegen kann man sie zur Rechtfertigung und Begründung jedes beliebigen sozialpolitischen Zieles benutzen. Aus den Begriffen der Biologie läßt sich nichts ableiten, was Maßstab des Wertes oder Unwertes der Dinge ist. Diese Begriffe sind deswegen mit  allen  Werten verträglich und daher zur Begründung  keines  ethischen Gedankens brauchbar, gerade weil sie biologische Begriffe sind.

Es bedarf keiner längeren Ausführungen, um das im einzelnen zu zeigen. Wer im Gesetz der Auslese ein Naturgesetz und in diesem zugleich ein Fortschrittsgesetz sieht, muß jeden gesellschaftlichen Zustand als das anerkennen, was sein soll. Tut er das nicht, so begeht er gerade den Fehler, den der Biologismus bekämpft: er stellt seine individuellen menschlichen Wünsche dem Leben entgegen, anstatt sich vom Leben tragen zu lassen. Das Leben allein soll ja die Lehrmeisterin im Ideal sein, und das Leben bringt überall das Gute hervor. Man kann vom biologistischen Standpunkt niemals, wie NIETZSCHE und die Sozialisten, eine Jahrhunderte lange menschliche Kulturentwicklung in ihren Ergebnissen verurteilen. Wer das tut, hebt damit die menschliche Kultur aus dem Leben heraus und gesteht zu, daß in ihr die Lebensformen und Lebensgesetze nicht maßgebend gewesen sind. Er versündigt sich damit also gegen seine eigenen biologischen Prinzipien. Ist die Sklavenmoral oder die Nächstenliebe nicht Menschenprodukt? Ist der Kapitalist nicht angepaßt? Warum soll der Mensch seine erworbenen Eigenschaften nicht vererben oder als Erbkapitalist das ihm Vererbte auf seine Nachkommen übertragen? Die Vererbung erworbener Eigenschaften wird freilich in der Biologie bestritten, aber die Vererbung ererbter Eigenschaften gehört zu den unentbehrlichen Begriffen jeder modernen Biologie. Wie kann ein Biologist den Erbkapitalismus als widernatürlich bezeichnen?

Es ist nicht nötig, die Beispiel zu häufen. Wenn alles Leben ist und das Leben nie irrt, so hat der Versuch, die Welt zu bessern oder Werte umzuwerten, keinen Sinn. Er kann nur als eine lächerliche Überhebung des kleinen Menschengeistes angesehen werden, der noch immer nicht gelernt hat, sich dem Leben zu fügenf. Die einzige mögliche Konsequenz aus dem Satz, daß Lebensgesetze Fortschrittsgesetze und Lebensformen Wertformen sind, ist die wirtschaftliche Dokrtin des "laissez faire", und was die sozialen Ideale des Biologismus anbetrifft, so ist daher unter allen Biologisten der radikale Individualist SPENCER der einzige, der als konsequent gelten kann. Leider wird man das Ideal, die wirtschaftliche Entwicklung sich selbst zu überlassen, nur in sehr beschränktem Sinn ein Ideal nennen können, und außerdem ist es nicht gerade eine neue Weisheit, die der Biologismus damit verkündet.

Aber auch SPENCER ist nicht völlig konsequent, und zwar liegt seine Inkonsequenz wieder genau an der Stelle, wo er zur Aufstellung eines Ideals zu kommen sucht, nämlich wo er die Demokratie preist. Er denkt sich den biologischen Entwicklungsprozeß abgeschlossen und sieht das Ziel der Menschheit in einem Zustand der Ruhe. Der Kampf ums Dasein soll also die Tendenz haben, sich selbst aufzuheben, oder das Ausleseprinzip soll dazu führen, daß keine Auslese mehr nötig ist. Ein Komplex von Individuen, unter denen keines das andere überragt, lebt dann in vollendeter Harmonie. Es wird sehr schwer sein, diese demokratischen Ideale auch nur mit den darwinistischen Prinzipien in Einklang zu bringen. Man braucht SPENCERs Biologie nicht zu bekämpfen, um seine Ethik als inkonsequent zu verstehen. Sie ist auf keine Biologie zu stützen, auch auf die DARWINs nicht. Die Selektionstheorie setzt ein Variieren der Individuen voraus. Warum sollte dies jemals verschwinden? So lange aber wie die Variationen nicht aufhören, muß der Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese gerade in darwinistisch ethischem Interesse ebenfalls fortdauern, denn wenn in der Gesellschaft auch alle biologisch ungünstigen Formen erhalten bleiben, wird die Menschheit notwendig immer mehr degenerieren.

In ihrem Kamp gegen SPENCERs Ethik haben also die anti-darwinistischen Biologisten mit aristokratischen Tendenzen gewiß recht. Nur in dauerndem Kampf und in dauernder Herrschaft des Stärkeren über die Schwächeren werden die schlechter angepaßten Individuen durch die natürliche Auslese beseitigt. Doch läßt sich auch hieraus kein sittliches Ideal gewinnen, denn jedes beliebige Individuum, das am besten sich durchzusetzen versteht, muß unter biologischen Gesichtspunkten auch als ethisch vollkommen gelten. Auf Grund welcher Mittel die einzelnen Menschen oder die Gruppen herrschen, ist vom biologistischen Standpunkt aus ganz gleichgültig. Über den Wert entscheidet in einer konsequent biologistischen Ethik allein der Erfolg, und eine biologistische Sozialpolitik muß daher jeden gesellschaftlichen Zustand billigen.

Ein Ideal aufzustellen, welches die Richtschnur unseres Handelns sein soll, hat im Rahmen des Biologismus überhaupt keinen Sinn. Was gut ist, kommt notwendig von selbst, ja es ist in jedem Augenblick genau so weit erreicht, wie es dem Leben möglich und notwendig war. Der Biologismus führt demnach zu einem radikalen Optimismus. Er macht die Aufstellung von Zielen und das Streben nach ihrer Verwirklichung überflüssig. Da alles Lebensentwicklung ist, ist auch alles Fortschritt. Sein und Sollen können sich niemals trennen. "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig", sagte HEGEL. Was lebendig ist, das ist vernünftig, muß der Biologismus sagen. Dort wird das Wirkliche zum Vernünftigen, hier das Vernünftige zum Lebendigen gemacht. So kommen wir zum Hegelianismus, freilich mit umgekehrten Vorzeichen. Jedenfalls: wer fragt, was er tun soll, hat die biologischen Grundbegriffe noch nicht verstanden. Er soll nichts tun. Die einzige ethische Konsequenz des Biologismus ist ein absoluter Quietismus.

Auch der Umstand, daß in dieser besten aller möglichen Welten sehr viele Individuen höchst unzufrieden sind, beweist dagegen gar nichts, sondern läßt sich vielmehr gerade nach biologistischen Prinzipien leicht erklären. In den Klagen der Mißvergnügten kommen die biologisch ungünstig Variierten zu Wort. Ihre Unzufriedenheit ist das Sympton der mangelhaften Angepaßtheit, und solange die individuellen Variationen nicht aufhören, muß es immer Unzufriedene geben. Sie werden auch immer ihre schlecht angepaßte Konstitution zum sittlichen Ideal erheben und es als Unrecht empfinden, daß das Leben über sie hinwegschreitet. Haben sie jedoch erkannt, daß das Lebensgesetz das Fortschrittsgesetz ist, so müssen sie aufhören, zu jammern, ja vielmehr die Weisheit des Lebens bewundern, die in ihnen schlecht angepaßte Variationen ausmerzt.

Daß jemand hieran auch im Handeln festhält, ist freilich nicht wahrscheinlich. So wird der mangelhaft Angepaßte, auch wenn er die richtige Einsicht hat, praktisch stets ein Fremdling im Leben bleiben. Dieser Zwiespalt zwischen Wissen und Wollen kann ihm unerträglich werden, und dann muß er entweder alles Wissen zu vergessen suchen oder wieder in eine jener veralteten, unlebendigen Weltanschauungen zurückfallen, die sich unlebendige Werte erträumen. So erklärt die neue Weltweisheit zugleich, warum die alte nicht ausstirbt, und warum sich immer wieder Menschen finden, die ihre individuellen Wünsche den Entwicklungsgesetzen des Lebens entgegenstellen.

Selbstverständlich liegt diesen Bemerkungen nichts ferner, als die Absicht, zu den bisherigen biologistischen Weltanschauungen eine neue hinzuzufügen. Nur daß es unmöglich ist, auf dem Boden des Biologismus Ideale zu gewinnen, mögen sie "demokratisch" oder "aristokratisch", individualistisch oder sozialistisch sein, sollte aufgrund der allgemeinen Kritik des biologistischen Wertprinzips gezeigt werden.

Doch die Anhänger der Lebenswerte werden sich vielleicht hiermit noch immer nicht zufrieden geben. Jeder körperlich "normale", d. h. durchschnittlich beschaffene Mensch liebt das Leben. Die Begriffe des aufsteigenden und niedergehenden Lebens, wird man sagen, enthalten einen nicht wegzudisputierenden Wertgegensatz, der auch für die Philosophie von Wichtigkeit sein muß. Zunächst will freilich jeder nur seine eigene Gesundheit, und das kann man für eine Privatangelegenheit erklären, welche die Philosophie nichts angeht, Doch man darf dies Wollen nicht  nur  für Privatsache halten, denn es lassen sich daraus allgemeine Grundsätze ableiten. Oder ist es etwa kein allgemein gültiges Lebensziel, das Leben gesund, natürlich, frisch, ursprünglich zu machen?

Es gibt, so kann man das weiter ausführen, eine weitverbreitete "Jugendbewegung", die klare Lebensideale auf ihre Fahne schreibt. Sie vertraut ihrer Jugend, weil diese Lebendigkeit, d. h. Gesundheit, Frische, Kraft und Ursprünglichkeit verkörpert. In solchen Begriffen steckt nicht allein ein Sein, sondern zugleich ein Sollen, und was die Hauptsache ist, das natürliche Ideal, das so gewonnen wird, erweist sich als fruchtbar für die gesamte Lebensführung. Aus dem Lebensprinzip heraus wendet man sich gegen die allzu intellektualistische oder die ästhetisierende Bildung, weil diese das Leben tötet. Man verurteilt die große Stadt und ihre Schule, weil hier kein ursprüngliches, frisches, gesundes Leben gedeiht. Man zieht hinaus in die freie Natur und will den Sinn für das Wandern erwecken, weil das den Menschen wahrhaftig lebendig macht. Man kämpft gegen Alkohol und Nikotin, weil diese das aufsteigende Leben untergraben. Sind das etwa nicht begründete Lebensziele, und darf man sich daher wundern, wenn die Lebensphilosophie besonders auf die Jugend ihren Zauber und ihre Wirkung ausübt? Dagegen kommen Überlegungen wie die hier vorgetragenen nicht auf. Muß in der Lebensphilosophie nicht auch ein berechtigter theoretischer Kern stecken, da sie sich für die Lebenshaltung und Gestaltung so brauchbar erweist? Das theoretisch völlig Grundlose könnte sich nicht bewähren.

Auch darauf sei schließlich noch eingegangen. Gewiß wäre es töricht, solche Bestrebungen wie die Jugendbewegung gering zu schätzen, ja geradezu absurd, der Gesundheit, der Frische, der Kraft oder der Ursprünglichkeit des Lebens jeden Wert abzusprechen. Man wird es vielmehr gut verstehen, wenn jemand gegenüber manchen Kulturschäden sagt: wir müssen vor allem lebendig, d. h. gesund, natürlich, frisch und ursprünglich werden. Das ist die Hauptsache. Das andere wird von selber kommen, falls nur erst dies Fundament gelegt ist. Vollends nach der entsetzlichen Lebensvernichtung, die für SCHELER die Bevölkerungspolitik katexochen darstellt, muß mancher glauben: können wir nur erst wieder  leben,  dann dürfen wir auch vertrauen, daß es aufwärts gehen muß bei einem lebenskräftigen Volk. Daß das im praktischen Leben ein brauchbarer Standpunkt ist, läßt sich nicht bezweifeln.

Aber ebenso gewiß ergibt sich daraus noch kein Standpunkt für die Philosophie. Das "Andere", das angeblich von selber kommt, wenn wir nur erst lebendig sind, ist gerade das, was für das philosophische Nachdenken über das Leben zur Hauptsache wird. Ja gerade in den Sätzen, daß Lebendigkeit im Sinn der Gesundheit und Ursprünglichkeit und Frische das Fundament sei, wird es geradezu ausgesprochen: im Leben haben wir ein Mittel zu sehen für jenes Andere. Nur weil man das Andere des Lebens davon erhofft, preist man die Lebendigkeit. So bestätigen diese Gedankengänge, falls sie richtig verstanden werden, lediglich das, was wir sagen wollen. Zur vollen Klarheit gebracht, wenden sie sich gegen jede Lebensphilosophie, die dem Leben selbst Werte zu entnehmen versucht. Der Wert, der hiernach dem Leben bleibt, haftet ja nicht am Leben selbst, sondern wird abhängig gemacht von anderen Werten, und er gilt daher nur, wenn die andern Werte gelten.

Es ist also zweifellos richtig: Leben ist Bedingung aller Kultur, und alle lebensfeindlichen Tendenzen, wie z. B. das Ideal absoluter Keuschheit bei TOLSTOI, sind insofern zugleich kulturfeindlich. Aber ebenso gewiß ist das Leben als bloße Lebendigkeit  nur  Bedingung. Nicht in einem Eigenwert, sondern in einem Bedingungswert haben wir den eigentlich so zu nennenden "Lebenswert". Auf ihn läßt sich kein Biologismus als Weltanschauung stützen. Nicht einmal das ist richtig, daß ein besonders lebendiges Leben Bedingung einer besonders hohen Kultur ist. Wer daher das Leben als Bedingung preist, entfernt sich damit von jeder biologistischen Lebensphilosophie, d. h. er verzichtet darauf, Kulturwerte als bloße Lebenswerte zu verstehen.

So wird vollends klar: wer nur lebt, lebt sinnlos. Allein die Möglichkeit, aufgrund von Eigenwerten, die  nicht  Lebenswerte sind, dem Leben Wert zu verleihen, bleibt übrig. Gerade weil das Leben Bedingung  aller  Verwirklichung von Gütern mit daran haftenden Werten ist, kann es keinen Eigenwert haben. Es erhält Wert erst immer dadurch, daß wir mit Rücksicht auf in sich ruhende Eigenwerte aus ihm ein Gut machen.

Im praktischen Leben mag man das vergessen. Da gilt der Satz, daß erst das Fundament und dann das Haus zu bauen ist. Es wird daher auch Zeiten geben, in denen für den Praktiker die Frage nach der Lebendigkeit des Lebens alle anderen Fragen in den Hintergrund drängt. Die Philosophie aber will theoretisch über das Leben nachdenken, und sobald sie das tut, muß sie nach jenem "Anderen" fragen, um zu wissen, in den Dienst welcher Zwecke das Mittel des gesunden, frischen und ursprünglichen Lebens tritt. Sie sucht Klarheit über den Plan des Hauses. von hier aus ist erst zu beurteilen, wie das Fundament beschaffen sein muß, damit es das Haus zu tragen vermag. Das sollte auch denen deutlich werden, die die Jugendbewegung und andere Bestrebungen wegen ihres Betonens der Ursprünglichkeit und der Lebendingkeit des Lebens lieben. Mit der Frage nach dem theoretischen Wert der Lebensphilosophie hat das nichts zu tun.

Man muß sogar noch einen Schritt weiter gehen. Lebendigkeit ist ein Minimum, das wir verlangen, wenn wir uns recht verstehen, nicht das Maximum, und nur wo das Minimum bedroht ist, tritt es in den Vordergrund des Interesses. Von hier aus begreifen wir die Überschätzung des bloßen Lebens vielleicht am besten als geboren aus einer Lebensnot. Aus ihr darf man keine philosophische Tugend machen. Das aber hat NIETZSCHE getan. Seine persönliche Lebensliebe hatte ihre tiefste Wurzel wohl darin, daß er selbst schwer krank war und unsäglich am Leben litt. Nur scheinbar ist das paradox. Dem Kranken mußte es als heroisch gelten, das Leben zu bejahen. So wurde für ihn die Lebendigkeit zum Gut aller Güter. Er pries den Willen zur Macht, weil er selbst so wenig Macht hatte. "Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen." Dies Wort trifft auf keinen mehr zu, als auf NIETZSCHE selbst. Sollte alle moderne Lebensbegeisterung und Vitalitätsverherrlichung sich vielleicht als Symptom der Lebensschwäche enthüllen? Schätzen wir vielleicht nur deshalb das bloße Leben so hoch, weil wir es bedroht sehen und instinktiv fühlen, daß mit dem Fundament auch "das Andere" in Gefahr ist, das wir darauf bauen wollen?

Es ist nicht notwendig, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Schon jetzt muß klar sein: auch der engere Lebensbegriff des Biologismus ist noch immer viel zu weit und unbestimmt, um zur Grundlage einer Lebensanschauung zu taugen. Das Gras, welches auf der Düne emporwächst, unterscheidet sich von dem Sand, aus dem es entsteht dadurch, daß es kräftig und lebendig gedeiht, während Weizen dort verkümmern würde. Die Qualle, die im Meer schwimmt, hebt sich ebenso vom Wasser aber, in dem sie sich bewegt und gedeiht prächtig, während der Mensch dort elend zugrunde gehen müßte. Ist darum das Wachsen des Grases und die Bewegung der Qualle, bloß weil sie lebendiges, sich entwickelndes, sich ausdehnendes Leben sind, unter den Begriff der Lebensgüter zu bringen? Kein Mensch wird das behaupten. So aber ist  jede  bloße Lebendigkeit nicht deswegen erstrebenswert, weil sie Lebendigkeit im Sinne von Lebenssteigerung und Machtentfaltung ist. Diese einfache Wahrheit versetzt dem Wertprinzip des modernen Biologismus wissenschaftlich den Todesstoß. Wo wir zum Leben Stellung nehmen, kennen wir immer noch etwas anderes, das nicht aus dem bloß aufsteigenden Leben selbst kommt.

So bleibt es dabei: das Leben ist der Güter höchstes nicht. Freilich sind solche Zitate mit Vorsicht zu gebrauchen. man kann ihnen andere entgegenstellen. GOETHE sagt: "Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an." Daraus scheint ein Glaube an das Leben zu sprechen, der kein "Anderes" zur Lebensberechtigung braucht. Da wir SCHILLER zitiert haben, dürfen wir auch nicht sagen, das Wort Leben hatte zu GOETHEs Zeiten eine andere Bedeutung, als in der modernen Lebensphilosophie, und man könne sich deswegen in diesem Zusammenhang nicht auf GOETHE berufen. Dasselbe würde dann auch von SCHILLER gelten. Abgesehen davon läßt sich GOETHE in der Tat als Vorläufer der modernen Lebensphilosophie bezeichnen. Genau zu sagen, in welchem Sinn das möglich ist, würde hier zu weit führen. Deswegen unterlassen wir  jede  Berufung auf "Autoritäten" und weisen nur darauf noch hin, daß man sogar dem Wort GOETHEs zustimmen kann, ohne sich dadurch zum Biologismus zu bekennen. Damit, daß wir das Leben zu etwas Anderem in Beziehung setzen, ist ja nicht gesagt, daß nur die vom Leben  ablösbaren  Resultate Bedeutung haben.

Wie wenig mit dem Biologismus anzufangen ist, zeigt sich endlich an dem Verhältnis, in dem die neuere Richtung zu der älteren in Bezug auf den Begriff des Lebenskampfes steht. Auch die neuere Richtung denkt nicht daran,  alles  aufsteigende Leben zu bejahen, wie sie es nach ihrem biologistischen Prinzip müßte. Jeder Lebenskampf ist ein Kampf des Lebens mit dem Leben. Die Parteien, die mit einander kämpfen, steigen beide auf und zeigen Lebensdrang, denn dadurch allein, daß sie aufsteigen und empor wollen, kommt es zum Kampf. Die eine unterliegt und geht eventuell zugrunde. Ist der Ausgang ein Gottesurteil? so müßte der konsequente Biologist sagen Im Zeitalter der Technik wäre diese Auffassung eines Kampfes oder eines Krieges jedoch sinnloser denn je. So kommt der Biologismus ohne Parteinahme für eine besondere Art des Lebens nicht aus und zeigt damit, daß er seinem eigenen Prinzip nicht vertraut.

Das kann man an NIETZSCHEs Gedanken leicht zum Bewußtsein bringen. Er wußte, daß im Kampf ums Dasein nicht immer die Herrenmenschen siegreich sind, sondern stets in Gefahr schweben, von der großen Masse der Sklaven überwältigt zu werden. Darum mochte er DARWINs Kampf ums Dasein nicht leiden. Mit seinem Wertbewußtsein wendete er sich gegen ihn als ein angebliches Vehikel des Fortschritts. Doch kommt auch dieser Kampf als Tatsache vor. Das bestreitet NIETZSCHE nicht. Ausdrücklich erklärt er, der Kampf ums Dasein laufe "leider umgekehrt aus als die Schule DARWINs wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen (!)  dürfte:  nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen  nicht  in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, - das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger ... DARWIN hat den Geist vergessen, (das ist englisch), die Schwachen haben mehr Geist ..."

Steckt darin nicht eine schlagende Widerlegung jeder biologistischen Lebensphilosophie? Wenn die Schwachen über die Starken siegen, mit welchem Recht nennt man sie noch die Schwachen? Haben sie nicht, wo sie die angeblich Starken zu besiegen vermögen, gezeigt, daß sie die eigentlich Starken sind? Das Leben, das sich durchzusetzen vermag, wird der konsequente Biologismus immer als das starke, aufsteigende Leben bezeichnen müssen.

Wenn NIETZSCHE trotzdem gegen die Menge der angeblich Schwachen für die einzelnen, angeblich Starken Partei ergreift, so wendet er einen anderen Maßstab an als den des aufsteigenden, starken Lebens. Er trägt Werte, die ihm vorher feststehen, von außen an das Leben heran. Wir wissen auch, welche es sind. Wir brauchen nur an seine geistige Herkunft erinnern. Sein aristokratischer Individualismus war ursprünglich nicht biologisch begründet, sondern hinter ihm steht das romantische Prinzip, das SCHOPENHAUER verächtlich von der Fabrikware der Natur reden läßt. Auch in dieser Hinsicht ist NIETZSCHE Romantiker geblieben. Er liebt den großen Einzelnen, besonders das Genie. Das Volk ist ihm ein Umweg, auf dem die Kultur zu den Wenigen kommt. Das bestimmt in Wahrheit seine Weltanschauung. Erst nachträglich wird sie antidarwinistisch-biologistisch zu rechtfertigen versucht. Der konsequente Biologist müßte immer für das siegreiche Leben, eventuell also für die Vielen eintreten. So beweist gerade NIETZSCHE, daß die Lebendigkeit des Lebens sich zum Verständnis seiner Werte in keiner Weise eignet. Der Romantiker in ihm durchbricht die biologistische Fessel, die er sich selbst angelegt hat, und klagt - ein sonderbarer Lebensphilosoph - schließlich "das Leben" an, daß es seine Güter vernichtet! Es ist ihm also doch wohl nicht immer lieber, als seine Weisheit.

Auch das Preisen des Willens zur Macht ist ohne jedes theoretische Fundament. Was will NIETZSCHE einwenden, wenn ein Mann wie der von ihm hoch verehrte JAKOB BURCKHARDT unter Berufung auch SCHLOSSER erklärt, "daß die Macht an sich böse" sei, oder sagt: "Der Stärkere ist als solcher noch lange nicht der Bessere. Auch in der Pflanzenwelt ist ein Vordringen des Gemeineren und Frecheren hie und da erweisbar"? (4) Kann NIETZSCHE den Historiker der Renaissance, von dem er so viel gelernt hat, deswegen zu den Sklaven zählen? Mit dem biologischen Begriff des aufsteigenden Lebens ist hier nichts zu machen. Da steht Werturteil gegen Werturteil. Das aber bedeutet: die Basis dieser Lebensphilosophie ist ein Akt der Willkür. NIETZSCHE würde das vielleicht nicht bestritten haben. "Ob ich ein Philosoph bin? Aber was liegt daran?" Mit NIETZSCHE allein haben wir es jedoch nicht zu tun. Seinen Anhängern, die aus seiner Lebensprophetie einen Lebensphilosophie machen wollen, ist ins Bewußtsein zu bringen, daß diesem Versuch jedes theoretische Fundament fehlt.

So kommen wir auch beim Biologismus zu demselben Resultat wie beim Intuitionismus des Erlebnisses: es fehlt an einem wissenschaftlich-philosophischen Prinzip sogar dann, wenn man sich auf eine Deutung des menschlichen Lebens beschränkt. Wohl hebt der Biologismus das lebendige Leben aus der Fülle der Erlebnisse überhaupt heraus und bestimmt damit den Begriff des Lebens. Das ist sein Vorzug gegenüber dem vagen Erlebnisgerede. Aber auch ihm fehlt das Prinzip der Auswahl, um sinnvolles und sinnloses Leben von einander zu scheiden. Auch er ist daher, wie die Erlebnisphilosophie und der Historismus der Lebensphilosophie, in Gefahr, in der Fülle des Lebens zu ersticken. Aus dem Lebenschaos wird ein Lebenskosmus nur durch einseitige partiklare Betrachtung, also kein Kosmos, der diesen Namen verdient, keine Weltanschauung, und mit Rücksicht auf die Lebensanschauung, d. h. die Wertprobleme, kommt der Biologismus über ein Wertchaos nicht hinaus. Gerade die Herausarbeitung des Wertkosmos aber wäre seine Aufgabe, falls er den Anspruch, wissenschaftliche Klarheit über die Lebensanschauung zu geben, erfüllen wollte. Es bleibt schließlich dabei, daß jeder das lebendig nennt, was er liebt, und unlebendig oder tot, was er nicht leiden mag. Verzichtet man überhaupt darauf, sinnvolles und sinnloses Leben zu scheiden, so verzichtet man damit zugleich auf jede Lebensanschauung, und das wird gerade der lebendige Mensch nicht wollen.

ZARATHUSTRA spricht: "Ihr habt den Weg vom Wurm zum Menschen gemacht, und vieles ist in Euch noch Wurm." Ist das ein Resultat reiner Lebensphilosophie? Gewiß nicht. Versteht man unter der Beschwörung: bleibt der Erde treu, das Verlangen, daß wir uns an das bloße Leben halten, so wird man nicht sagen dürfen, daß im Menschen vieles  noch  Wurm ist, sondern daß niemals aus ihm etwas anderes, als Wurm werden kann und soll. Bei dem Versuch, sich auf das Leben zu beschränken, muß der konsequente Lebensphilosoph zu einem Ergebnis kommen, welches sich in die Worte FAUSTs kleiden läßt:
    Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
    Dem Wurme gleich ich, der den Staub durchwühlt,
    Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
    Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt."
Für den Biologisten besteht die trostlose Alternative: Gott oder Wurm. Und Götter sind wir nicht.

Aber Würmer sind wir auch nicht, so gewiß wir zu erkennen vermögen, daß Vieles in uns noch Wurm ist. Kein Wurm versteht sich als Wurm. Sich als Wurm  erkennen,  heißt: mehr als Wurm  sein,  und jede Philosophie ist daher gerichtet, die das, worin wir nicht Wurm sind, nicht zu verstehen vermag. Der Biologismus ist dazu außerstand. Sein aufsteigendes Leben hilft bei dem Versuch einer Deutung des Lebens nichts. Soll das Aufsteigen nicht leere Phrase sein, so muß man die Werte kennen, an denen Aufstieg und Niedergang des Lebens zu messen sind. Lehnt man das ab, so bleibt an der Philosophie des aufsteigenden Lebens nicht viel Philosophie. Sie ist dann, so heftig ihre Vertreter sich dagegen sträuben mögen, lediglich eine der vielen Formen des Skeptizismus und Nihilismus. Das zeitgemäße Lebensgewand sollte darüber niemanden täuschen, der Klarheit der Begriffe anstrebt.

Das Wertproblem, auf das wir stoßen, verfolgen wir in positiver Richtung nicht weiter. Nur daß wir überhaupt zu einem Wertproblem kommen, ist hervorzuheben. Im übrigen beschränken wir uns auf das Negative. Schon dies deutet darauf hin, daß wir über die Philosophie des bloßen Lebens hinausgetrieben werden zu einer Lebensanschauung, die das Leben zu etwas anderem, als dem Leben selbst in Beziehung setzt und daher mehr als reine Lebenslehre ist.

Auch hier zeigt sich, wie bei der Kritik der intuitiven Lebensphilosophie: Leben ist das eine, über das Leben philosophieren ist das andere. Philosophie des Lebens kann niemals nur Leben sein. Diese Einsicht ist Voraussetzung für ein Interesse an den philosophischen Lebensproblemen. Damit gewinnt auch die Negation positive Bedeutung. Das Leben ist zuerst einmal  fragwürdig  zu machen, d. h. man muß sehen, daß aus ihm selbst eine Antwort auf die Lebensfragen nicht zu gewinnen ist. Darüber hilft die Liebe zum Leben nicht hinweg. Das, worin die Lebensphilosophie unserer Zeit ihre Stärke sucht, die Beschränkung auf das Leben selbst, ist auch mit Rücksicht auf die Wertprobleme gerade das, worin sie als Philosophie des Lebens scheitern muß.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens - Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) Ausführlich habe ich diesen Gedanken, der hier nur angedeutet werden kann, begründet in meinem Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896 - 1902, 2. Auflage 1913
    2) Vgl. GEORG SIMMEL, Lebensanschauung, Seite 17
    3) Insofern hat FRITZ MÜNCH recht, wenn er in seinem lesenswerten Buch über Erlebnis und Geltung (1913) von der "Welt als Dösnis" spricht. Was SCHELER dagegen vorbringt, trifft nicht den Kernpunkt.
    4) Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, Seite 33 und 265