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HEINRICH RICKERT
Zwei Wege der Erkenntnistheorie
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"Jede  Theorie  und jede Erkenntnis ruht auf der Geltung von Werten und diese theoretischen Werte hat die Erkenntnistheorie, gerade weil sie die Theorie der Theorie ist, als Werte zu behandeln."

"Wir dürfen nie vergessen, daß die Erkenntnistheorie nur als die Wissenschaft von dem, was nicht ist, bestimmt werden darf."

"Der Sinn des Urteilsaktes ist die Bejahung eines Sollens. Das darf gewiß nicht so verstanden werden, daß das Urteilen den Sinn eines ethischen Tuns erhält, wohl aber muß man das Erkennen seinem Sinn nach als ein "praktisches" Verhalten in der weitesten Bedeutung des Wortes bezeichnen, als ein Stellungnehmen zu einem Wert und das ist wichtig, denn damit verliert das Erkennen im Ganzen unseres Leben seine Ausnahmestellung."

"Identität und Widerspruchslosigkeit sind, wie die Logik dartun kann, transzendente Werte."

"Diese Art Entgegensetzung von  theoretisch  und  praktisch  ist überhaupt schief, sobald man die Erkenntnistheorie als Wertwissenschaft verstanden hat."

VI.
Die Vorzüge des zweiten Weges

Nachdem dies klar gestellt ist, können wir uns der Frage zuwenden, was diese Wissenschaft für das Problem des Gegenstandes der Erkenntnis zu leisten vermag, um dann endlich zu sehen, wie ihr Verfahren sich zu dem der Transzendental-Psychologie verhält. Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Suchen wir nach jenem Etwas, wonach die Erkenntnis mit ihren Formen sich zu richten hat, so scheint die Wissenschaft von den theoretischen Werten uns eine unzweideutige Antwort zu geben. Die Formen der wirklichen Erkenntnis haben den Formen des transzendenten Sinnes zu entsprechen. Jene theoretischen Werte also, die unbedingt gelten, sind der transzendente Gegenstand. Indem das Denken mit seinen Formen sich nach ihnen richtet, wird es zur Erkenntnis. Die allgemeinste Form war der positive Sinn überhaupt. Das Denken muß also, um mehr als bloßes Denken zu sein, in jedem Fall einen transzendenten Sinn denken. Dieser Sinn als allgemeinster theoretischer Wert ist die allgemeinste Erkenntnisform. Wir scheinen so ohne jede Rücksicht auf die Begriffe der Anerkennung und der Evidenz den Gegenstand gefunden zu haben und wir sind dabei zu genau demselben Resultat gekommen, wie auf dem ersten Weg, als wir vom Urteil und dem Notwendigkeitsgefühl, das es begleitet, ausgingen. Die Vorzüge, welche dieser Weg vor dem ersten hat, treten schon dadurch ins hellste Licht. Wir brauchen nur an die frühere Charakterisierung des transzendental- psychologischen Verfahrens zu denken. Die Voraussetzung, die es machen mußte, um den immanenten Sinn deuten zu können und die dort nur stillschweigende und unbewiesene Voraussetzung war, ist jetzt ausdrücklich klargestellt und begründet: der Gegenstand der Erkenntnis ist der transzendente Wert. Dem transzendental-logischen Weg haftet aus diesem Grund keiner der Mängel an, die mit dem transzendental-psychologischen Verfahren notwendig verknüpft waren.

Ja, man kann noch mehr sagen. Wir sind strenggenommen nicht zu genau demselben Resultat wie früher gekommen, sondern wir haben sogar eine viel bessere und wissenschaftlich strengere Formulierung für den Begriff des Gegenstandes der Erkenntnis erreicht. Der erste Weg führte uns zu einer Forderung und diese Forderung wurde dann gedeutet, als ein transzendentes  Sollen.  Der zweite Weg führte uns direkt zu einem transzendenten  Wert.  Dieser Begriff des Wertes aber gibt den Gegenstand der Erkenntnis erst in seiner Reinheit. Wert und Sollen fallen nicht einfach zusammen. Das Sollen ist nicht der reine Wert. Es bedeutet das Nichtseiende als ein Gebot und bezieht es dadurch auf ein Sein, auf ein Subjekt, von dem es Gehorsam, Anerkennung und Unterordnung verlangt. Das aber ist eine ganz sekundäre, ja irreführende Beziehung. Nur der Wert, der vollkommen in sich ruht, der als solcher ganz unabhängig ist von jeder Beziehung auf ein Sein und vollends auf ein Subjekt, an das er sich wendet, ist der transzendente Gegenstand: das Wesen des Transzendenten geht ganz auf in seiner unbedingten Geltung. Es fragt nicht,  für  wen es gilt. Die Transzendenz des Wertes besteht geradezu in diesem in sich Ruhen und es heißt daher den Begriff des Wertes trüben, wenn man ihn nicht frei denkt davon, daß er ein Sollen für Subjekte ist, die ihn anerkennen.

Den Unterschied zwischen Wert und Sollen hat MÜNSTERBERG bis zu einem schroffen Gegensatz gesteigert. Er will durch die "Philosophie der Werte" die Philosophie des Sollens überwinden. Denselben Unterschied hebt LASK scharf hervor, zeigt aber zugleich den Zusammenhang zwischen Wertgeltung und Norm: (1)
    "Zum Fordern oder zur Norm  wird  uns das Gelten, wenn wir sein Wesen nicht rein und unabgelenkt für sich betrachten, sondern insgeheim gleichzeitig zu einer ihm hingegebenen Subjektivität hinschweifen."
Also auch demnach ist der Gedanke des Sollens dem Wert "an sich" gegenüber abgeleitet und sekundär und da nun für die Erkenntnistheorie doch alles auf die transzendente Geltung des Gegenstandes ankommt, so muß sie dieses Hinschweifen vermeiden, darf also nur von einem Wert, der gilt, aber nicht von einem Sollen sprechen.

Freilich, das wird sich nicht leugnen lassen und das ist besonders MÜNSTERBERG gegenüber zu bemerken, der Wert  wird  sofort zum Sollen, sobald man ihn auf ein erkennendes Subjekt bezieht. Dann tritt er diesem als Regel, als Norm gegenüber, nach der das Subjekt sich zu richten hat. Aber gerade dieser Gedanke, so kann man sagen, zieht den Wert aus seiner transzendenten Höhe, aus seiner reinen Geltung herab und raubt ihm etwas von seiner theoretischen Würde. Diese Betrachtung verschiebt besonders den Schwerpunkt der Erkenntnistheorie als Wissenschaft in unzulässiger Weise. Sie nimmt dieser Wissenschaft, die die Theorie der Theorie sein soll, ihren rein theoretischen und daher ihren eigentlichen wissenschaftlichen Charakter. Sie macht aus ihr eine "normative Disziplin" oder gar eine Kunstlehre des Denkens und davor muß sich die Erkenntnistheorie hüten. Eine Kunstlehre ist keine Wissenschaft, sondern höchstens die Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse. HUSSERL hat mit Recht nachdrücklich hervorgehoben: (2) normative Disziplinen brauchen ein rein theoretisches Fundament. Auf dieses allein kommt es dann an. Die Umwandlung der Werte in Normen für den wirklichen Erkenntnisprozeß ist keine wissenschaftliche Aufgabe mehr. Norm- und Regelgebung ist Sache der Technik. Also auch deshalb muß man sagen: die Erkenntnistheorie hat es als reine Wissenschaft nicht mit einem Sollen, das sich an ein Sein wendet, sondern nur mit einem Reich des reinen "Gedankens", des transzendenten Sinnes zu tun. Schon deshalb ist der transzendental-logische Weg dem transzendental-psychologischen, der uns zu einem Sollen führt, vorzuziehen.

Was ist hierüber zu sagen? Es läßt sich nicht leugnen, daß in diesen Gedanken Richtiges enthalten ist und daß das transzendental-logische Verfahren Vorzüge aufweist. Gehen wir vom wirklichen Erkennen aus, so bleiben wir gewissermaßen an diesem psychischen Prozeß kleben. Der Gegenstand, der Sinn, der Wert wird nicht frei. Er bleibt bloße Norm für den Menschen und alles scheint anthropomorphistisch gefärbt. Wir müssen uns klar machen, daß der Sinn hoch über allem Menschlichen, also auch über allen Urteilen und Akten der Anerkennung liegt.

Und dazu kommt noch etwas Besonderes. Um den Begriff der Wertwissenschaft vor Mißverständnissen zu schützen, wird man vielleicht am besten tun, den Begiff einer normativen Wissenschaft, in taktischem Interesse gewissermaßen, fallen zu lassen. Die Angriffe, welche sich gegen den Begriff der Norm als eines nicht theoretischen Begriffes richten, dürfen nicht auch den Begriff des theoretischen Wertes zu treffen scheinen. Man muß vor allem zeigen, daß die Frage, ob das Logische im "idealen Sein" oder im Normativen zu suchen ist, auf einer falschen Alternative beruht. Es gibt noch ein Drittes: den theoretischen in sich ruhenden Wert. Es ist also in der Tat eine scharfe Trennung zwischen Norm und Wert notwendig, gerade mit Rücksicht darauf, daß heute auch die Wertwissenschaft mit dem Argument bekämpft wird, jede normative Disziplin ruhe auf einem "theoretischen Fundament" und ein solches Fundament zu bauen, das allein sei die wissenschaftliche Aufgabe der Erkenntnistheorie. Dieses Argument kann sich nur gegen den Begriff der normativen Disziplin und gar nicht gegen den Begriff der reinen Wertwissenschaft richten. Im Gegenteil, das "Fundament" für Normen läßt sich nur von einer Wertwissenschaft legen. Aus Seinswissenschaften sind nie Normen abzuleiten, die eine mehr als bedingte, vom Willen bestimmter Individuen abhängige Geltung haben: technische Regeln gelten nur für den, der einen bestimmten Zweck will und einsieht, daß er auch die Mittel wollen muß. Das hat mit Logik gar nichts zu tun. Gewiß setzt also jede normative Disziplin rein theoretische Ergebnisse voraus, die für sich nicht Norm- und Regelgebung sind, aber ebenso gewiß ist, daß die theoretischen Grundlagen einer normativen Disziplin Werte sind und daß lediglich aufgrund der *Geltung dieser Werte die Norm beanspruchen kann, das Denken zu regeln. Theoretisch und Wert sind, wie wir gesehen haben, eben gar keine Gegensätze. Jede "Theorie" und jede Erkenntnis ruht auf der Geltung von Werten und diese theoretischen Werte hat die Erkenntnistheorie, gerade weil sie die Theorie der Theorie ist, als Werte zu behandeln. Die Normgebung folgt daraus dann eigentlich von selbst und insofern kann man sie im Vergleich zur reinen Wertwissenschaft sekundär nennen. Wird das Sollen nur als die aus dem Wert  abgeleitete  Regel für das Urteilen verstanden, dann ist in der Tat das Wort  Wert  die bessere, ja die einzig richtige Bezeichnung für den Gegenstand der Erkenntnis.

Aber damit ist das letzte Wort in dieser Sache doch noch nicht gesprochen. Ist es, wenn wir auf das  Ganze  der Erkenntnistheorie blicken, wirklich  nur  ein Vorzug des zweiten Weges, daß er die Beziehung auf das wirkliche Erkennen ganz ignoriert? Das ist die letzte Frage, die wir noch beantworten müssen, um über das Verhältnis der beiden erkenntnistheoretischen Wege zu einander Klarheit zu gewinnen.


VII.
Transzendental-Logik und Transzendental-Psychologie

Zunächst könnte man ganz im Allgemeinen fragen, ob der Begriff eines transzendenten Wertes, der von  jeder  Beziehung auf einen Akt der Anerkennung oder auf ein Urteil, das zu ihm Stellung nimmt, frei ist, wirklich gebildet werden kann. Die Ausdrücke, die wir für das Nichtseiende haben, lassen diese Beziehung mehr oder weniger anklingen. Bei den Worten Wert, Sinn, Geltung tritt sie gewiß zurück. Ausdrücke wie Forderung, Norm, Regel heben sie mehr hervor und ebenso enthält auch das Wort Sollen in der üblichen Bedeutung einen Imperativ, der sich an ein Subjekt richtet. Aber gerade dieses Wort hat auch einen großen Vorzug, nämlich den, daß es den Gegensatz zum Sein unzweideutig macht und deswegen habe ich es gewählt. Wir dürfen nie vergessen, daß die Erkenntnistheorie nur als die Wissenschaft von dem, was nicht ist, bestimmt werden darf. Unter Wert verstehen wir auch etwas, was Sollen nie bedeuten kann, nämlich eine wertvolle Wirklichkeit, ein "Gut" und diese Bedeutung muß sorgfältig vom Begriff des Gegenstandes der Erkenntnis fern gehalten werden. Sonst geraten wir in eine platonisierende Wertmetaphysik. Und, auch wenn wir unter Wert nur ein Nichtseiendes verstehen wollen, so bleibt es andererseits doch zweifelhaft, ob wir beim Gebrauch des Wortes Wert das Hinschweifen zu einer ihm hingegebenen Subjektivität ganz vermeiden können, oder ob im Ausdruck "transzendenter Wert", wenn er verständlich sein soll, nicht vielmehr nur das Wort  transzendent  die Beziehung auf ein Subjekt ablehnt, das Wort  Wert  aber im Grunde genommen doch immer soviel wie Wert  für  ein Subjekt bedeutet, wobei dieses Subjekt dann freilich nicht als Individuum, sondern als ein Subjekt überhaupt in Betracht kommt. Doch diese Frage würde sich nur durch näheres Einghen auf den absichtlich beiseite gelassenen Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts entscheiden lassen und sie ist hier, wo wir das Verhältnis von transzendental-psychologischem und transzendental-logischem Verfahren klar stellen wollen, nicht von Ausschlag gebender Wichtigkeit. Wir können uns auf das Verhältnis des Gegenstandes zu den wirklichen Akten der Erkenntnis beschränken.

Selbstverständlich bleibt es auch dabei wichtig, streng zwischen dem in sich ruhenden Wert einerseits und der ausdrücklich auf das wirkliche Erkennen bezogenen Norm oder Regel andererseits zu unterscheiden. Aber wenn wir eingesehen haben, daß Wert und Norm sich  nur  so unterscheiden, dann wird es doch, abgesehen von jenem Kampf gegen Mißverständnisse des Begriffes der Wertwissenschaft, den wir angedeutet haben, schließlich zu einer Frage von untergeordneter Bedeutung, ob wir den Gegenstand der Erkenntnis einen transzendenten Wert oder ein transzendentes Sollen nennen. Auch der Ausdruck transzendentes Sollen paßt auf eine bloß abgeleitete Regel nicht. Dieser Begriff schließt ebenfalls die vom Subjekt unabhängige Geltung ein und deckt sich insofern völlig mit dem Begriff des transzendenten Wertes. Das aber entscheidet, denn es kommt hier doch vor allem darauf an, daß der Gegenstand einerseits nicht wirklich und andererseits transzendent ist. Ob wir da Wert oder Solen sagen, scheint nebensächlich. Nicht nebensächlich ist dagegen etwas anderes, woraus Bedenken entstehen können, ob man gerade in der Erkenntnistheorie Wert und Forderung ganz auseinanderreißen darf. So lange man nämlich vom transzendenten Wert im allgemeinen redet, mag man an den Begriff einer Forderung gar nicht denken. Handelt es sich dagegen um die Formulierung der transzendenten Werte im Einzelnen, so wird das schwer sein und gerade deswegen brauchen wir nicht nur einen Ausdruck, der den Gegenstand der Erkenntnis in seinem "an sich" bezeichnet, sondern auch einen, der genau denselben Gegenstand in seiner Beziehung auf das wirkliche Erkennen meint. So wird der Begriff des transzendenten Sollens für die Erkenntnistheorie unentbehrlich. An Beispielen läßt sich das leicht zeigen. *Identität und *Widerspruchslosigkeit sind, wie die Logik dartun kann, transzendente Werte. Sie gelten als Voraussetzungen des positiven Sinnes unbedingt und sind unter keinen Seinsbegriff zu bringen. Wie soll man aber einen "Satz der Identität" und einen "Satz des zu vermeidenden Widerspruchs" bilden, als logische "Gesetze", ohne die logischen Werte auf das wirkliche Denken zu beziehen und ohne dabei dann auch den Begriff des Sollens zu verwenden? Es stehen uns zur Aufstellung von "Gesetzen" nur zwei Formen zur Verfügung. Entweder wir sagen: es  ist  so, oder wir sagen: es  soll  so sein. Auch das Wort  gelten  ändert daran nichts, denn sobald die Geltung auf das wirkliche Denken bezogen wird, gilt der Wert  für  dieses Denken und "gelten für" schließt bereits ein Sollen ein. Ist nun etwa nur ein "dies ist so" rein theoretisch und wissenschaftlich und enthält jedes "dies soll so sein" schon ein nichttheoretisches oder gar technisches Moment? So liegt die Sache nicht. Ein "rein theoretischer Satz" in diesem engen Sinne wäre keine adäquate Formulierung für eine erkenntnistheoretische Einsicht. Die *Logik gibt eben keine theoretische "*Erkenntnis" von der Art, wie die Seinswissenschaften sie geben, sondern sie deckt nur die Voraussetzungen aller Seinserkenntnis annehmen. Rein "theoretische" Formulierungen der Sätze der Identität und der Widerspruchslosigkeit würden wir alle Sätze von der Form: dies  ist  so, die Werte der Identität und der Widerspruchslosigkeit ja bereits voraussetzen und deshalb können diese Formulierungen nicht klar zutage treten lassen, was von entscheidender Wichtigkeit ist, nämlich, daß es sich hier um wertwissenschaftliche Einsichten handelt und daß an den wertwissenschaftlichen Sätzen, die diese Einsichten formulieren, auch in rein formaler Hinsicht schon ein ganz anderer transzendenter Sinn haftet, als an den seinswissenschaftlichen.

Also, um in unzweideutiger Weise zum Ausdruck zu bringen, daß Widerspruchslosigkeit und Identität theoretische  Werte  sind, haben wir nun die Formulierung, die man "*praktisch" nennen kann und die eine Norm für das Denken aufstellt. Vor solchen "praktischen" Sätzen braucht sich auch die Theorie der *Theorie, also die am meisten theoretische von allen Wissenschaften nicht zu fürchten. Diese Art Entgegensetzung von "theoretisch" und "praktisch" ist überhaupt schief, sobald man die Erkenntnistheorie als Wertwissenschaft verstanden hat. Sie ist gewachsen auf einem Boden, auf dem das theoretische das gänzlich wertfrei Gebiet war und alles, was sich auf Werte bezog, mit dem Ethischen in Zusammenhang gebracht wurde. Der Begriff des theoretischen Wertes, den wir nicht entbehren können, hebt die Voraussetzungen auf, unter denen diese schroffe Gegenüberstellung von theoretisch und praktisch im alten Sinne ihre Berechtigung besaß. Gewiß müssen wir nach wie vor auf das Allerschärfste zwischem theoretischem Wert und den im engeren Sinne praktischen oder ethischen Wert scheiden. Die Lehre vom "Primat der praktischen Vernunft" darf nicht so verstanden werden, als ob das Erkennen eine sittliche Tat sei und noch weniger kann das praktische  Verhalten  den Primat vor dem transzendenten Sinn oder Wert haben, da der *Sinn das logische Prius  jedes  Seins, als auch jedes "Verhaltens" ist. Deshalb lassen sich auch die theoretischen Werte nicht aus einem überindividuellen Willen ableiten. Der Wille ist als etwas Seiendes dem Sinn gegenüber logisch immer sekundär. Er "ist" nur, wenn der Sinn des Satzes, daß er ist, transzendent gilt, ein unbedingter Wert ist. So ruht logisch das Sein jedes Willens auf dem Wert. und auch überindividuell kann ein Wille, wenn darunter nicht eine gänzlich problematische metaphysische Wirklichkeit gemeint ist, nur insofern genannt werden, als er nicht bedingte, sondern unbedingte überindividuelle Werte will, so daß daher auch in dieser Hinsicht der transzendente Wert dem überindividuellen Willen logisch vorangeht. Es steht also gewiß der theoretische Wert vollends vor jedem sittlichen Willen und man kann höchstens die wirkliche Erkenntnis von einem Willen zur Wahrheit abhängig machen, aber niemals den Wahrheitswert auf den Willen stützen. Doch das alles darf uns nicht hindern, hervorzuheben, daß das Theoretische, insofern es Wert ist, zum Praktischen in der weitesten Bedeutung des Wortes gehört. Denn so allein wird klar, daß der alte *Gegensatz von theoretisch und praktisch, aufgrund dessen das Theoretische den Primat vor  allen  Werten behauptete, verschwinden muß. Versteht man den Primat des Praktischen als den Primat des Wertes, dann bleibt er unanfechtbar und erst nachdem man diesen Primat des Wertes festgestellt hat, kann man sich der selbstverständlich nicht minder wichtigen Aufgabe zuwenden, den Begriff des ethischen Wertes als eine besondere  Art  des Praktischen gegen den Begriff des Theoretischen als eine andere Art abzugrenzen und so jeder Wertvermischung vorzubeugen.

Doch die Beantwortung dieser Fragen reicht bereits über die Erkenntnistheorie hinaus und betrifft allgemeine "Weltanschauungsprobleme". Hier haben wir es mit der Frage nach der Beziehung des transzendenten Wertes auf den wirklichen Akt des Erkennens nur insoweit zu tun, als sie mit dem Verhältnis von Transzendental-Logik und Transzendental-Psychologie zusammenhängt und wir müssen, um unsere Gedanken zum Abschluß zu bringen, endlich noch zeigen, warum die transzendental-logische Behandlung der Probleme innerhalb der Erkenntnistheorie für sich allein nicht genügt.

Sehen wir einmal ganz davon ab, ob der transzendente Wert ohne jede Beziehung auf den Akt des Erkennens gedacht werden kann, nehmen wir sogar an, es ließen sich die Ergebnisse der transzendentalen Logik auch anders als "normativ" wirklich eindeutig und adäquat formulieren, achten wir also nur auf das Reich des transzendenten Sinnes und seine Formwerte, wie sie in sich ruhen, tritt nicht gerade dadurch ein Mangel dieser rein transzendental-logischen Betrachtungsweise am deutlichsten zutage? Es bleibt dann doch ganz unverständlich, welche Bedeutung die transzendenten Werte für das wirkliche Erkennen besitzen sollen. Wir haben einen Gegenstand, aber wir wissen nicht, wie dieser Gegenstand erkannt wird. Als reiner Wert ist das Transzendente von allem Erkennen durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Die Wahrheit thront dann in jenseitiger Hoheit. Der Sinn der wahren Sätze "gilt" zeitlos, aber er gilt für niemanden. Wir können niemals an ihn heran, wir können keine Sätze bilden, an denen dieser Sinn haftet.

Vielleicht meint man, daß das eine Schwierigkeit ist, um die sich die Erkenntnistheorie ebensowenig zu kümmern braucht, wie der Physiker danach fragt, auf welchem Weg er zu einer Erkenntnis der Farben kommt. Wir sagten früher: der Optiker ignoriert mit Recht den Umstand, daß er die Farben wahrnimmt und daß sie ihm nur in der *Wahrnehmung gegeben sind. Er hält sich allein an die "Sache". Warum soll es die Erkenntnistheorie nicht ebenso machen und sich nur um die logischen Werte in ihrer Transzendenz kümmern? Der Vergleich paßt jedoch nicht. Zunächst darf die Erkenntnistheorie sich überhaupt nicht auf den Gegenstand der Erkenntnis beschränken, sondern sie muß auch die Frage nach der Erkenntnis des Gegenstandes beantworten. Aber, auch abgesehen davon, sind die beiden Fragen überhaupt nur vorläufig voneinander trennbar. Die Antwort auf die eine ist nur dann eine wirkliche Antwort, wenn sie implizit schon eine Antwort auf die andere enthält und umgekehrt. Ich kann nicht wissen,  was  der Gegenstand der Erkenntnis ist, wenn ich nicht auch weiß,  wie  ich diesen Gegenstand erkenne. Der Begriff des Gegenstandes der Erkenntnis verliert ohne den Begriff der Erkenntnis des Gegenstandes seinen Sinn. Das Transzendente wird erst zum "Gegenstand", wenn es ein Gegenstand  für  das Erkennen ist, wenn es dem Denken so entgegensteht, daß dieses sich nach ihm richten kann. Deshalb muß die transzendentale Logik sich auch noch dem Problem der Erkenntnis des Gegenstandes zuwenden.

Aber kann sie das? Sie hat, gewiß mit Recht, diese Frage vorläufig ignoriert und sich auf den Gegenstand beschränkt. Diese Beschränkung hat sie dann mit Notwendigkeit dazu geführt, von einem Gegenstand zu sprechen, zu dem das erkennende Subjekt gar keine Beziehungen mehr besitzt. Der erste Schritt auf diesem Weg bestand in der Abtrennung des psychischen Seins vom Sinn, des Denkaktes vom Gedanken. Darauf und nur darauf, daß diese Trennung vollzogen wurde, beruhte die Eigenart der Untersuchung und alle ihre Vorzüge entstammten diesem radikalen Schnitt zwischen Wert und Wirklichkeit. Diese Vorzüge aber haben ihre Kehrseite. Es muß klar sein, daß eine Untersuchung, deren Nerv die Trennung bildet, außerstande ist, wieder eine Verbindung zwischen Gegenstand und Erkenntnis herzustellen. Und damit ist dieses Verfahren als prinzipiell einseitig und unvollständig erwiesen. Damit ist seine Ergänzungsbedürftigkeit dargetan. Es müßte, um vollständig zu werden und ein System der Erkenntnistheorie zu geben, von den in sich ruhenden und transzendenten Werten einen Weg zurück zum psychischen Prozeß des Erkennens finden, aber es hat sich selbst schon durch den ersten Schritt, der eine unüberbrückbare Kluft zwischen Sein und Wert herstellte, diesen Rückweg ein für allemal abgeschnitten. Will man auch das Problem der Erkenntnis zum Gegenstandes lösen, so kann man nie rückwärts vom Gegenstand zur Erkenntnis, sondern nur vorwärts von der Erkenntnis zum Gegenstand schreiten. Damit aber werden wir wieder auf den ersten, transzendental- psychologischen Weg hingewiesen. Wir können den Akt des Erkennens nicht dauernd ignorieren. Der erste Weg, der von ihm ausgeht, mag seine Mängel haben, aber er ist, wenn die Verbindung von Gegenstand und Erkenntnis hergestellt werden soll, doch nicht zu entbehren. Es ist vielleicht nicht der "erste" Weg, aber als "zweiter" Weg ist er auch notwendig.

Und schließlich sind seine Mängel wirklich so groß, daß dem transzendental-psychologischen Verfahren wissenschaftliche Berechtigung abgesprochen werden muß? Ja, lassen sich diese Mängel nicht vielmehr gerade dadurch beseitigen, daß dieses Verfahren mit dem rein logischen zusammengeht? Wir wollen diese Frage gesondert, zunächst für den Begriff der Evidenz und dann für den des Urteilsaktes zu beantworten versuchen.

Es bleibt natürlich dabei, daß eine psychologische Analyse des Evidenzgefühls uns niemals dessen transzendente Bedeutung erschließen könnte. Aber wenn wir einmal vorausgesetzt haben, daß es irgendeinen transzendenten Gegenstand gibt und das muß jede Erkenntnistheorie tun, dann ist es nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, nach dem Wahrheitskriterium zu fragen, um so die Erkenntnis des Gegenstandes zu verstehen. Gewiß, es läßt sich nicht weiter "erklären", wie eine Forderung auftreten kann, die einerseits an ein Gefühl gebunden ist und andererseits doch unabhängig von jedem Sein transzendent gelten soll. Aber daraus folgt gar nicht, daß das Evidenzgefühl als Wahrheitskriterium zum Relativismus und zur Aufhebung des Erkenntnisbegriffes führt. Gibt es denn ein anderes Kriterium für die Wahrheit unserer Urteile, als einen psychischen Zustand? So lange ein solches nicht-psychisches Kriterium nicht gefunden ist, muß es dabei bleiben, daß das "subjektive" Gefühl der Notwendigkeit eine "transsubjektive" Notwendigkeit verbürgt. Dafür eine "Erklärung" zu verlangen, hat keinen Sinn. Erklärungen, wie andere Wissenschaften sie geben, bewegen sich immer innerhalb des Seins und können nie das Verhältnis des Seins zum transzendenten Sinn betreffen. Die Erkenntnistheorie hat genug getan, wenn sie zeigt, daß die eigentümliche Doppelseitigkeit der Evidenz eine schlechthin unvermeidliche Annahme ist, weil jeder Versuch, diese Annahme zu bestreiten, sich für die Richtigkeit seiner Urteile doch auch auf irgend ein immanentes Wahrheitskriterium berufen müßte und daher immer schon das voraussetzen würde, was er bestreiten möchte, nämlich, daß ein psychischer Zustand transzendente Geltung verbürgt. Man kann natürlich bestreiten, daß die Evidenz, als psychischer Zustand betrachtet, ein Gefühl ist. Man kann auch das  Wort  Evidenz gänzlich vermeiden, ja, man mag schließlich sogar sagen, es sei nicht richtig, daß das Erkennen immer Urteilen sei und daher der Urteilsnotwendigkeit bedürfe. Das alles wird trotzdem an der entscheidenden Frage nicht das Geringste ändern, denn man wird doch nicht leugnen, daß das Erkennen, wenn es auch gewiß mehr als ein psychischer Prozeß ist, zugleich doch immer  auch  ein psychischer Prozeß ist und daß in diesem psychischen Sein irgendetwas sich finden lassen muß, was das "mehr" verbürgt. Diese Voraussetzung kann schließlich auch das transzendental - logische Verfahren nicht entbehren. Wir mögen vom psychischen Akt des Denkens absehen und nur den davon unabhängigen Sinn ins Auge fassen, so haben wir es doch immer mit dem Sinn eines wahren Satzes zu tun, den man "verstehen" kann und das schließt ebenfalls die Annahme ein, daß der die Wahrheit verstehende Mensch ein immanentes Kriterium dafür besitzt, ob an den Worten ein positiver transzendenter Sinn haftet. Sobald man das aber zugegeben hat, legt man ebenfalls einem psychischen Zustand eine Bedeutung bei, die ihn zu mehr als einem bloß psychischen Zustand macht, man deutet in ihn einen Sinn hinein, den er als psychischer Zustand nicht hat. Man konstruiert also auch einen immanenten Sinn des Psychischen. Ist es überflüssig, daß die Transzendental-Psychologie diesen immanenten Sinn als unvermeidliche Voraussetzung jedes wirklichen Erkennens zum ausdsrücklichen Bewußtsein bringt? Gewiß nicht. Die transzendental - psychologische Lehre vom immanenten Sinn der Evidenz ist ein unentbehrliches Stück der Erkenntnistheorie, so weit diese von der Erkenntnis des Gegenstandes handelt.

Wenden wir uns nun zur transzendental-psychologischen Analyse des Urteilsaktes, so ist auch sie gewiß nur dadurch möglich, daß wir das Urteil von vornherin zu seinem transzendenten Gegenstand in Beziehung setzen. Insofern also ruht dieses Verfahren auf einer petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] und in dieser Hinsicht ist daher der zweite Weg vorzuziehen. Sieht man aber hiervon ab, so ergibt sich, daß die transzendental-psychologische Analyse des Urteilsaktes ebenfalls durchaus nicht überflüssig ist, sondern in der Erkenntnistheorie eine Lücke ausfüllt, die sich auf andere Weise nicht ausfüllen läßt. Man mag mit einer transzendental-logischen Überlegung die Erkenntnistheorie beginnen. Als ihr Ergebnis hat man dann den transzendenten Wert auf der einen, den immanenten psychischen Denkakt auf der anderen Seite. Aber, wie kommt das Sein zum Sinn, die Wirklichkeit zum Wert? Das können wir nur versthen, wenn wir zwischen das Transzendente und das Immanente ein Mittelreich setzen dürfen, eben jenes Reich des immanenten Sinnes, von dem wir gesprochen haben und dann bliebe es dabei: der Sinn des Urteilsaktes ist die Bejahung eines Sollens. Das darf gewiß nicht so verstanden werden, daß das Urteilen den Sinn eines ethischen Tuns erhält, wohl aber muß man das Erkennen seinem Sinn nach als ein "praktisches" Verhalten in der weitesten Bedeutung des Wortes bezeichnen, als ein Stellungnehmen zu einem Wert und das ist wichtig, denn damit verliert das Erkennen im Ganzen unseres Leben seine Ausnahmestellung. Es rückt dadurch in eine Linie mit dem ethischen und auch mit dem ästhetischen Verhalten, die ebenfalls ein solches Stellungnehmen bedeuten, wie sehr sie sich in anderer Hinsicht auch vom Erkennen unterscheiden mögen. Der transzendente Wert setzt sich für das Denken notwendig in ein Sollen um, das durch Bejahen anzuerkennen ist. Gewiß kann man sagen, daß erst dann, wenn dieses Verhalten selbst dem Menschen zur "*Pflicht" gemacht wird, man in das Gebiet des "Praktischen" komme, die Bejahung für sich dagegen ein rein theoretischer Akt sei. Aber dann nimmt man das Wort praktisch wieder in jener engeren Bedeutung, die es den anderen Arten des Stellungnehmens entgegensetzt. Hier handelt es sich nur darum, den Sinn des Erkennens so zu verstehen, daß er im Gegensatz zum passiven Schauen ein aktives Anerkennen von Werten ist. Und noch aus einem andern Grund muß das Erkennen als "praktisch" bezeichnet werden und seine Verwandtschaft mit dem sittlichen Wollen hervorgehoben werden. In beiden Fällen gelten die Werte, zu denen Stellung genommen wird, "kategorisch" unbedingt. In beiden Fällen wird ein Wert allein um des Wertes willen anerkannt. In beiden Fällen ist die Anerkennung "autonom", also in der praktischen Bedeutung des Wortes "frei". Die Konstatierung dieser logischen Autonomie und Freiheit des Urteilsaktes, die selbstverständlich nichts mit Ursachlosigkeit zu tun hat, ist nicht nur für die allgemeinen Weltanschauungsfragen, sondern auch für die Erkenntnistheorie selbst von entscheidender Bedeutung. Denn nur durch die Aufzeigung dieses immanenten Erkenntnissinnes wird verständlich,  wie  allein das Denken sich den transzendenten Gegenstand zu eigen zu machen und zum Erkennen zu werden vermag. Mit dem Begiff der freien Anerkennung des Sollens um des Sollens, des Wertes um des Wertes willen baut die Transzendental-Psychologie die Brücke zwischen den beiden von der transzendentalen Logik getrennten Welten. Als praktisch "freie" Wesen und nur als solche bringen wir die Welt der transzendenten Werte in unseren Besitz. Das bedeutet die Lehre vom immanenten Sinn des Urteilsaktes, die die Transzendental-Psychologie uns gibt.

Wenn man ihre Aufgabe so versteht, so wird man ihrem Verfahren auch nicht mehr den Vorwurf der prinzipiellen Unklarheit und Zwiespältigkeit machen. Gewiß, sie hat es fortwährend sowohl mit dem wirklichen Denkakt, als auch dem transzendenten Gegenstand zu tun, indem sie beide aufeinander bezieht. Das kann man dann auch eine Zwiespältigkeit nennen, aber diese eigentümliche Betrachtungsweise hängt mit ihrer Vermittlerrolle notwendig zusammen und wenn sie so als notwendig erkannt ist, dann ist sie auch gerechtfertigt. Dabei läßt sich nicht leugnen, daß es schwierig ist, für die Ergebnisse der Transzendental-Psychologie eindeutige Formulierungen zu finden und daß etwas guter Wille dazu gehört, diese Untersuchungen nicht falsch zu verstehen, insbesondere nicht als Psychologismus oder als Metaphysik zu mißdeuten. Autoren, die um jeden Preis "kritisieren" wollen, weil ihnen zum positiven Schaffen die Begabung fehlt, werden daher hier ein ergiebiges Feld für ihre Tätigkeit finden. Aber das darf gewiß nicht entscheidend sein und wenn die Untersuchung auf das transzendente Sollen als eine unentbehrlich Annahme und ebenso auf den Unterschied von Sein und Sinn des Urteils mit Nachdruck hinweist, so müßten sich Mißverständnisse wohl vermeiden lassen.

Trotzdem bestehen vielleicht noch Bedenken über den Wert der transzendental-psychologischen Analyse und zwar gerade in Bezug auf ihre Fähigkeit, zwischen der Welt der theoretischen Werte und den psychischen Erkenntnisakten eine Brücke zu schlagen. Man kann diesen Zweifel sehr radikal damit begründen, daß hier die Erkenntnistheorie auf ein Problem stößt, das sich überhaupt nicht lösen läßt. Sinn und Sein, Wert und Wirklichkeit, Transzendentes und Immanentes schließen einander begrifflich aus. Über diesen Dualismus kommt daher keine Philosophie hinweg, auch durch den Begriff einer autonomen Wertanerkennung nicht. Wie die zwei Reiche zu einer Einheit werden, das können wir nie verstehen. Zwar,  daß  die Einheit besteht, ist nicht zu leugnen, denn alles Erkennen wäre ohne sie sinnlos, aber sie bleibt ewig ein Rätsel, ein Wunder, das jeder Erklärung spottet. Die Erkenntnistheorie muß sich daher darauf beschränken, ein System der transzendenten Werte aufzustellen und sich im übrigen mit dem Faktum der Erkenntnis begnügen. Wie das Transzendente immanent wird, danach darf sie gar nicht fragen.

Ist das wirklich das letzte Wort? Es ist schon zuzugeben, daß wir hier auf den Punkt gestoßen sind, der schon manchen Denker veranlaßt hat, auf ein Begreifen der Welt zu verzichten und entweder ganz zu resignieren oder für das Überbegreifliche eine überrationale Erkenntnisfähigkeit anzunehmen, d. h. sich einer überwissenschaftlichen "*Intuition" anzuvertrauen. Die Notwendigkeit für einen solchen Verzicht aber besteht ebensowenig, wie das Recht zu solchen Überschwenglichkeiten. Man verkennt, daß jenes Rätsel und Wunder lediglich dem Wesen unserer Reflektion sein Dasein verdankt und darum mit einem Einblick in das Wesen dieser Reflektion aufhören muß, ein Rätsel zu sein. Alles Begreifen macht ein Trennen des ursprünglich Verbundenen nötig. So entstehen aus den Einheiten die Zweiheiten und die Begriffe können als verschiedene Begriffe natürlich nie zusammenfallen, sondern müssen immer getrennt bleiben. Aber weil  zwei  Begriffe nicht  ein  Begriff sind, dürfen wir doch nicht glauben, wir stünden vor einem Welträtsel. Trotzdem ist dieser Glaube weit verbreitet. Ein Beispiel aus einem anderen Gebiet der Philosophie mag ihn verdeutlichen. Die Wissenschaft spaltet die unmittelbar gegebene Wirklichkeit, indem sie sie unter ein System rein quantitativer Begriffe bringt und darauf den nicht quantifizierbaren Rest natürlich einem anderen Begriffssystem unterwerfen muß. Wir nennen dann das *Quantifizierbare "physisch", das nicht Quantifizierbare "psychisch" und wundern uns nun, daß diese einander selbstverständlich ausschließenden Begriffswelten nur dualistisch und nicht monistisch zu denken sind. Wir quälen uns dann vergeblich mit Begriffen, wie "psycho-physische Kausalität" und "psycho-physischer Parallelismus", um den Gegensatz der Begriffe zu überbrücken, also aus zwei Begriffen einen zu machen. (3)

Nicht genau ebenso, aber analog liegen die Verhältnisse beim Dualismus von Sein und Sinn. Er ist das notwendige Produkt jeder Reflektion über die Erkenntnis. Wir erkennen und werden dabei der Wahrheit inne. Da haben wir die Einheit von Sein und Sinn unmittelbar, da "erleben" wir sie. Aber freilich, schon indem wir konstatieren, daß "wir" "sie" haben und erleben, müssen wir die unmittelbare Einheit zerstören und in einen wirklichen Erkenntnisakt und dessen nicht wirklichen Gegenstand spalten. Diese Scheidung ist mit der Bildung des Begriffes vom Erkennen notwendig verknüpft. Wir dürfen daher nicht eimal sagen, daß die Einheit  ist,  denn das wäre ja eine Erkenntnis der *Einheit als Einheit und die kann es nicht geben. Die Einheit läßt sich nicht denken, sondern eben nur "erleben" und schon indem wir sagen, daß wir sie erleben, zerstören wir sie. Denn wir benennen sie und bringen sie dadurch unter einen Begriff. Wir können von bloßer "Einheit" überhaupt gar nicht sprechen, denn schon "Einheit" fordert als ein Begriff die Mehrheit als Gegensatz. So ist es überall. Erkennen heißt scheiden und insofern ist es also dem Denken in der Tat unmöglich, die beiden Welten von Sein und Sinn wieder zu vereinigen. Wir können selbstverständlich nicht als Einheit denken, was wir als Zweiheit denken müssen, um es überhaupt denken zu können. Insofern ist aller "Monismus" und alle "Identitätsphilosophie" ein Irrweg, auch in der Erkenntnistheorie.

Aber für den, der das eingesehen hat, ist die Einheit der beiden getrennten Welten in dieser Hinsicht dann auch kein Rätsel oder Wunder mehr, kein Problem, das der Lösung bedürfte und auf dessen Lösung man verzichten könnte. Die Einheit ist das Ursprüngliche, wir könnten sagen, das Bekannteste, wenn nicht schon das "Kennen" aus der Einheit eine Zweiheit machte und wir deshalb nicht alles Reden über sie vermeiden müßten. Es genügt, zu sagen, daß sie allerdings unbegreiflich ist, aber nicht als das Überbegreifliche, sondern als das Vorbegriffliche.

Doch was hat das mit der Vermittlerrolle der Transzendental-Psychologie zu tun? Das beweist doch alles nur, daß sie keine Brücke zwischen den beiden einmal getrennten Welten schlagen kann. Oder bleibt sie etwa bei der Einheit von Sein und Sinn stehen? Das ist natürlich unmöglich. Auch sie trennt, aber sie steht mit ihrem Begriff des immanenten Sinnes, den der Urteilsakt hat, in der Tat der Einheit von Immanentem und Transzendentem doch  näher,  als die reine Logik. Sie nimmt das Minimum von Trennung vor, indem sie den Gedanken im Denkakt, den Sinn im Urteil, den Wert in der Wirklichkeit sucht. Gewiß, indem sie das Erkennen auf seinen transzendenten Gegenstand bezieht, muß sie zugleich Wert und Sein auseinanderhalten, aber sie hebt am Urteil gewissermaßen nur die "Seite" hervor, die dem transzendenten Wert zugekehrt ist, den Akt der Anerkennung, der den Wert bejaht und ihn dadurch sich zu eigen macht und sie bildet so im Begriff des immanenten Sinnes das denkbar vollkommenste Äquivalent für den Begriff des Vorbegrifflichen oder der ursprünglichen Einheit, die für uns nie volle Einheit bleiben kann.

Jedenfalls, der Begriff des immanenten Urteilssinnes ist für den Begriff des wirklichen Erkennens ebenso unentbehrlich, wie der der Evidenz und es muß schließlich auch diese transzendental-psychologische Betrachtung im Grunde genommen doch wohl von der reinen Logik ebenfalls vollzogen sein, ehe sie Sinn und Sein so vollständig voneinander zu trennen vermag, daß sie den Akt duerr-1.htmldes Erkennens gänzlich ignorieren und ihre Aufmerksamkeit nur dem unwirklichen Sinn zuwenden kann. Ohne das Verstehen, durch das der transzendente Sinn erfaßt und in ein psychisches Sein eingeschlossen wird, kann sie das Material ihrer Untersuchung nicht gewinnen, so schnell sie dann auch diesen Akt des Verstehens beiseite schieben mag. Über das Wesen dieses Verstehens aber muß die Erkenntnistheorie sich doch auf jeden Fall Rechenschaft geben. Ein ganz klein wenig Transzendental-Psychologie treibt also auch die reine Logik, sogar ehe das ihr eigentümliche Verfahren einsetzt.

Und das ist durchaus noch nicht alles. Mögen die transzendental-psychologischen Überlegungen in den grundlegenden Gedanken am Anfang der reinen Logik nur eine unwesentliche Rolle spielen, so wird das ganz anders, sobald die Erkenntnistheorie sich ihren besonderen Problemen zuwendet. Gewiß wird sie stets den logischen Wertgehalt "rein" herausarbeiten müssen, aber auf dem Weg, der dahin führt, kann sie den wirklichen Akt des Erkennens nicht ignorieren. Nicht alle Denkformen sind verankert in transzendenten Werten und schon um das zeitlos Gültige vom bloß psychischen Denken zu scheiden, muß man überall an den wirklichen Denkakt anknüpfen. Ja, auch das genügt nicht. Das zeitlos Gültige kann überhaupt nur an zeitlichen Gebilden gefunden werden und der sprachlich formulierte Satz reicht dazu nicht aus, wenn wir nicht nur von seinem Sinn überhaupt als dem allgemeinsten transzendenten Wert, sondern auch von der Gliederung und den Bestandteilen dieses Sinnes etwas wissen wollen. Sobald das in Frage kommt, müssen wir uns sogar hüten, nur den Satz zu beachten, sonst geraten wir in eine bedenkliche Abhängigkeit von den logisch zum Teil ganz unwesentlichen Formen der Sprache. Die Mannigfaltigkeit, die im logischen Sinn zu jener Sinneseinheit zusammengeschlossen ist, von der wir gesprochen haben, läßt sich nur an den wirklichen Denkakten zu Bewußtsein bringen. Wenn wir z. B. sagen, daß der Satz etwas von etwas aussagt und so "Subjekt" und "Prädikat" scheiden, so ist die "Aussage", auch abgesehen von ihrem Sinn, schon mehr als ein Satz. Sie ist ein psychischer Vorgang, den die Erkenntnistheorie beachten muß. Ebenso kann sie den Begriff des *Widerspruchs nicht ohne "ja" und "nein" bilden und für diese Begriffe muß sie ebenfalls an den immanenten Sinn des Urteils als den einer Anerkennung oder Verwerfung anknüpfen. Doch es hat keinen Zweck, Beispiele zu häufen. Das Gesagte schon zeigt: ohne Berücksichtigung des wirklichen Erkennens würde die transzendentale Logik zum Teil recht leer bleiben. Für die Behandlung ihrer speziellen Probleme kann sie Material nur durch eine Analyse der Denkakte gewinnen. Diese Analyse aber darf nicht rein psychologisch und auch nicht "phänomenologisch" sein, denn eine reine Seinswissenschaft besäße kein Prinzip der Auswahl, das die in den Denkakten für die Logik wesentlichen Bestandteile von den unwesentlichen zu trennen vermöchtef. Zur Feststellung des  logischen  Wesens des Denkens ist die transzendental-psychologische Betrachtung unentbehrlich: nur sie, die mit ihrer "petitio principii" das wirkliche Erkennen von vornherein auf den Wahrheitswert bezieht, liefert den wesentlichen Stoff, an dem die verschiedenen transzendenten Werte allein zu Bewußtsein zu bringen sind. Um diese petitio principii kommt die Erkenntnistheorie auf keinen Fall herum. Sie setzt, wie jede Wissenschaft, die Wahrheit überhaupt voraus, gleichviel ob sie transzendental-psychologisch oder transzendental-logisch verfährt.

Damit ist das allgemeine Prinzip klargestellt. Wir wollen für keinen der beiden Wege als den allein berechtigen Partei ergreifen und am wenigsten die großen Vorzüge der transzendental-logischen Methode leugnen. Man soll den unpsychologischen Weg gehen, so weit es irgend möglich ist und so lange man auf ihm vorwärts kommt. Doch soll man außer der systematischen Notwendigkeit einer Ergänzung durch die Transzendental-Psychologie auch noch etwas anderes nicht übersehen. Weitaus das Meiste, was die Erkenntnistheorie  bisher  geleistet hat, ist auf transzendental-psychologischem Weg gefunden worden. Ja, ohne den Versuch, mit Hilfe einer Analyse des wirklichen Erkennens aus den psychischen Prozessen die transzendenten Werte, die ihnen Gegenständlichkeit verleihen, herauszuarbeiten und die Beziehung des Denkens auf den Gegenstand in einer "Regel" zu finden, der das Denken unterworfen ist, besäßen wir wohl keine moderne Erkenntnistheorie: KANTs Verfahren ist im wesentlichen transzendental-psychologisch. Es ist daher allerdings sowohl psychologistischen als auch metaphysischen Mißdeutungen verfallen und das stellt uns die Aufgabe, den transzendental-logischen Gehalt gerade bei KANT erst in seiner Reinheit herauszuarbeiten. Insofern kann man dann auch sagen, daß die Transzendental-Psychologie größtenteils nur zum "Buchstaben" und nicht zum "Geist" der Kantischen Philosophie gehört. Doch auch vieles vom Besten, das unsere Zeit hervorgebracht hat, haben Männer geleistet, die im bewußten Zusammenhang mit der Kantischen Transzendental-Psychologie stehen und so gibt sich auch heute noch ungemein Wertvolles in transzendental-psychologischem Gewand. Freilich, auch unabhängig von KANT sind wichtige Gedanken gerade für eine "reine" Logik entstanden. BOLZANOs Lehre vom "Satz an sich" enthält, soviel man im Einzelnen an ihr aussetzen mag, einen unverlierbaren Kern, und HUSSERL hat auf diesem Boden in interessanter Weise weitergebaut. Nur zeigt andererseits gerade HUSSERL, daß auch die "reine" Logik durchaus noch nicht zu einer definitiven Abgrenzung gegen die Psychologie gekommen ist. Der Begriff seiner "Phänomenologie" enthält noch schwere Probleme und wenn HUSSERL sagt, auch Transzendental-Psychologie ist Psychologie, so wird man hinzufügen dürfen, auch Phänomenologie ist Transzendental-Psychologie und kann nur als solche, d. h. durch logische Wertbeziehung, etwas leisten. Abgesehen davon fehlt den von BOLZANO ausgehenden Gedanken der Begriff des theoretischen Wertes. BOLZANO weiß, daß die Wahrheit nichts Wirkliches ist. Aber bei dieser negativen Einsicht hat es doch im Prinzip, abgesehen von der Fülle des Details, sein Bewenden und die notwendige positive Ergänzung sucht man auch bei BOLZANOs Nachfolgern vergeblich.  Was  jenes Nichtwirkliche ist, diese gerade für den Begriff der reinen Logik entscheidende Einsicht, ist eben aus KANTs Transzendental-Psychologie erwachsen.

So zeigt auch ein Blick auf die geschichtliche Gestaltung der früheren und der heutigen Erkenntnistheorie, daß man nicht für das eine oder für das andere Verfahren Partei ergreifen kann, wenn man alles Wertvolle festhalten will, was bis jetzt erarbeitet worden ist, sondern daß man von beiden Seiten lernen muß. Die Transzendental-Psychologie kann von der reinen Logik lernen, wie man sich in der Erkenntnistheorie vor Psychologismus und Metaphysik zu hüten hat. Die reine Logik aber kann gerade durch ein Studium der transzendental-psychologischen Untersuchungen sich zum Bewußtsein bringen, daß das überempirische Reich des Logischen oder die Sphäre des theoretisch "Idealen" im Gegensatz zum Realen nur als eine Welt der theoretischen Werte zu verstehen ist, daß deshalb die Erkenntnistheorie eine "Kritik der Vernunft" sein muß, d. h. eine Wissenschaft, die nicht nach dem Sein, sondern nach dem Sinn, nicht nach dem Tatsächlichen, sondern nacht der *Geltung, nicht nach der Wirklichkeit, sondern nach den Werten fragt, also kurz, um mit KANT zu reden, keine  quaestio facti,  sondern eine  quaestio iuris  stellt.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Heinrich Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie [Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik], Kantstudien 14, 1909
    Anmerkungen

    1) EMIL LASK, Gibt es einen "Primat der praktischen Vernunft" in der Logik?, Vortrag gehalten auf dem III. Internationalen Kongress für Philosophie in Heidelberg, 1908
    2) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen I, 1900, Seite 30f
    3) Vgl. meine Abhandlung: Psychophysische Kausalität und psychophysiologischer Parallelismus, 1900