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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel - Natur und Geist
I. Physisch und Psychisch
II. Begriffliche Erkenntnis des Seelenlebens
III. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Eine unmittelbare und anschauliche Erkenntnisweise ist in der Psychologie ebensowenig möglich wie in der Naturwissenschaft. Die Gesamtheit des Seelenlebens aber entzieht sich ebenso wie die Körperwelt jeder Darstellung, in der ihre ganze Inhaltlichkeit Raum finden soll. Sie ist prinzipiell unerschöpflich, und nicht einmal eine Annäherung an ein Ziel dieser Art ist möglich. Die Psychologie muß vielmehr auf jeden Fall eine Umformung des ihr gegebenen Materials vornehmen, und diese Umformung kann wegen seiner extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit ebenso wie in den Naturwissenschaften nur eine Vereinfachung sein."

"Das Psychische liegt uns ebenso wie das Physische als eine unübersehbare anschauliche Mannigfaltigkeit vor."

"Der Psychologe ist, was die unmittelbare Erfahrung betrifft, zwar immer auf sich selbst angewiesen, aber es ist gewiß ebenso richtig, daß er in der Wissenschaft nicht sich selbst, sondern immer das Seelenleben im Allgemeinen darzustellen sucht, d. h. die Individualpsychologie ist niemals Psychologie des Individuums."

"Wir müssen daran denken, daß wir die Quantifikation nicht als etwas, das um seiner selbst willen von Bedeutung ist, sondern lediglich als ein Mittel zur Vereinfachung betrachtet haben."


Zweites Kapitel
Natur und Geist

II. Die begriffliche Erkenntnis
des Seelenlebens

Daß zwischen der Methode der Wissenschaften von der Körperwelt und der Methode der Psychologie erhebliche Unterschiede bestehen, wird niemand in Abrede stellen. Schon der Umstand, daß die für jede empirische Wissenschaft nothwendige Objektivierung ihres Materials in der Psychologie mit Schwierigkeiten verbunden ist, welche die Wissenschaften von der Körperwelt nicht kennen, muß sich auch für die Methoden mehr oder weniger geltend machen, und es ist gewiß eine interessante Aufgabe, die logischen Eigenthümlichkeiten, die sich hieraus ergeben, im Einzelnen zu verfolgen. Auf diesen Theil der psychologischen Arbeit jedoch kommt es hier für uns nicht an. Wir setzen vielmehr, der wiederholt hervorgehobenen Begrenzung unserer Aufgabe entsprechend, das psychologische Material im angegebenen Sinn als wissenschaftlich zugänglich gemacht voraus und fragen weniger nach den Mitteln und Wegen der psychologischen Untersuchung als vielmehr nach der logischen Struktur der Darstellung, die die Psychologie ihrem Material gibt. Daß die verschiedenen Teile der wissenschaftlichen Arbeit gerade in dieser Wissenschaft vielleicht noch weniger als anderswo faktisch voneinander geschieden werden können sondern nur begrifflich trennbar sind, wissen wir wohl, doch hindert dieser Umstand uns nicht, sie abgesondert von einander logisch zu betrachten.

Jedoch, selbst wenn wir uns nur um die Darstellung und Begriffsbildung der Psychologie kümmern, so sind auch mit Rücksicht auf sie erhebliche logische Unterschiede von der der Naturwissenschaften zweifellos vorhanden. Wir möchten hier nichts weniger, als eine unkritische Übertragung der Methoden von einem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit auf ein anderes befürworten, sondern wir meinen, daß die Eigenarten der Methoden im Einzelnen sich immer an den Eigenarten des zu bearbeitenden Materials zu entwickeln haben. Diese Meinung aber kann uns nicht hindern zu fragen, ob die bei der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt einerseits, des Seelenlebens andererseits sich ergebenden logischen Gegensätze von so prinzipieller Bedeutung sind, daß sie eine Einteilung der gesammten empirischen Wissenschaften in die zwei Hauptgruppen der Natur- und Geisteswissenschaften zu begründen vermögen, oder ob es nicht vielmehr noch einen viel tiefergehenden logischen Gegensatz der wissenschaftlichen Arbeit gibt, im Vergleich zu dem die Unterschiede zwischen Naturwissenschaft und Psychologie so weit unwesentlich erscheinen, daß wir ein Recht haben, diese Wissenschaften unter logischen Gesichtspunkten als zusammengehörig anzusehen. Indem wir die Frage nach dem tiefergehenden Unterschied vorläufig zurückschieben, versuchen wir zunächst zu zeigen, was die Psychologie mit den Naturwissenschaften gemeinsam hat, und zwar besonders, in welchen Punkten die begriffliche Bearbeitung des Seelenlebens mit der der Körperwelt übereinstimmen muß. Zu diesem Zweck genügt es, wenn wir zusehen, wie weit die Ausführungen des ersten Kapitels über die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt auf die Erkenntniss des Seelenlebens übertragen werden können.

Im ersten Kapitel waren wir davon ausgegangen, daß es einer Bearbeitung und Vereinfachung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit des körperlichen Seins bedarf, weil nur dadurch seine Aufnahme in den endlichen Menschengeist möglich wird. Unsere erste Frage muß daher lauten, ob uns auch das Seelenleben eine Mannigfaltigkeit darbietet, die, um überhaupt als Ganzes in eine Wissenschaft einzugehen, eine Vereinfachung und Bearbeitung notwendig macht.

Die Antwort lässt sich ziemlich kurz erledigen. Auch die seelischen Vorgänge bestehen in einer anschaulichen (1) Mannigfaltigkeit, und ebenso wie bei der Körperwelt ist diese Mannigfaltigkeit in doppelter Hinsicht, d. h. als extensive und intensive Unübersehbarkeit vorhanden. Dies ist schon der Fall, wenn wir zunächst nur die psychischen Gebilde in Betracht ziehen, die uns im eigenen Seelenleben direkt zugänglich sind. Wir besinnen uns, daß wir in der Vergangenheit eine unübersehbare Anzahl von verschiedenen seelischen Vorgängen erlebt haben, und wir finden ferner in jedem Augenblick der Gegenwart eine in ihren Einzelheiten unübersehbare Fülle von psychischem Leben vor. Kein Psychologe kann daran denken, all die Urteile, die er jemals gefällt hat, all die Schmerzen und Freuden, welche ihn bewegt haben, einzeln und ausdrücklich in seine Wissenschaft aufzunehmen. Wir fragen nicht danach, ob die Mannigfaltigkeit dieser Gebilde unendlich ist in dem Sinne, wie wir dies von den körperlichen Vorgängen behaupten konnten. Es genügt, daß jeder Versuch, ihre Gesammtheit auch nur annäherungsweise im Einzelnen durch eine abbildende Erkenntnis zu erfassen, hier ebenso widersinnig und aussichtslos erscheinen muß, wie dies früher gegenüber den Körpervorgängen der Fall war. Wer unter Erkenntnis des Seelenlebens ein wirkliches Abbild versteht, muß auf eine Erkenntnis des Ganzen jedenfalls verzichten.

Und ebensowenig wie früher würde auch hier ein Verzicht auf die Kenntnis aller Vorgänge und die Beschränkung auf einen begrenzten Teil von ihnen etwas ändern, denn auch unter dieser Voraussetzung ständen wir noch immer vor einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Jedes einzelne seelische Geschehen, das wir erleben, ist, so einfach wir es auch wählen mögen, doch immer sehr kompliziert. Kein Gefühl gleicht dem anderen, keine Willensäußerung wiederholt sich genau so, wie sie schon einmal war, sondern jeder Vorgang hat seine Eigentümlichkeit, die nur auf einer außerordentlich großen Mannigfaltigkeit beruhen kann. Sich irgendetwas in allen seinen Einzelheiten ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen, ist daher unmöglich. Schon der Umstand, daß alles seelische Leben in der Zeit verläuft, beweist dies, denn jeder Vorgang macht dabei eine unübersehbar grosse Anzahl von verschiedenen Stadien durch. Wir sehen also, sogar wenn wir nur die Mannigfaltigkeit des eigenen Seelenlebens in Betracht ziehen, ist das Resultat in Bezug auf die Möglichkeit einer abbildenden Erkenntnis genau das, zu dem wir früher bei Betrachtung der Körperwelt gekommen waren.

Gehen wir nun aber vom eigenen Seelenleben auf das fremde über, so werden wir sagen müssen, daß eine abbildende Erkenntnis aller psychischen Mannigfaltigkeit noch in einem ganz anderen Sinne unmöglich ist, als dies bei den Körpern der Fall war. Die Gesammtheit der seelischen Vorgänge aller verschiedenen Wesen ist nicht nur in ihrer intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit unerschöpflich, sondern es ist auch aus ihrer unübersehbaren Fülle dem einzelnen Forscher nur ein verhältnismäßig sehr kleiner Teil als unmittelbares Erlebnis direkt zugänglich, eben der, welcher sein eigenes Seelenleben bildet, und wenn wir auch manches fremde Seelenleben so weit zu erschließen vermögen, daß wir es mit Hilfe der Phantasie zu einem wenigstens annähernd ähnlichen Bild davon bringen können, so bleibt uns doch bei weitem der größte Teil aus der Gesamtheit der psychischen Vorgänge völlig unbekannt. Das, wofür wir bei uns selbst kein Analogon finden, werden wir niemals auch nur zu erraten imstande sein, und es ist daher für die Wissenschaft als Material so gut wie nicht vorhanden. Schon aus diesem Grund wäre es ganz unmöglich, in eine Psychologie, die doch nicht nur das individuelle Seelenleben eines einzelnen Menschen darstellen soll, die psychischen Vorgänge, so wie wir sie erleben, aufzunehmen. Es könnte dabei von der extensiven Mannigfaltigkeit der Vorgänge, auch wenn sie nicht unübersehbar gross wäre, nur ein kleiner Teil berücksichtigt werden, und die intensive Mannigfaltigkeit dieses Teiles wäre in ihrer Eigenart ganz von der Eigenart des betreffenden Forschers abhängig, also notwendig von Allem verschieden, was sonst noch in der Welt an psychischem Leben vorhanden ist. Es würde danach jeder Psychologe, gerade wenn er darauf ausginge, das ihm direkt zugängliche oder erschließbare Seelenleben in Form eines Abbildes darzustellen, eine Psychologie zustande bringen, die sich von der jedes anderen Psychologen unterscheiden müßte.

Wir brauchen diese Gedanken nicht näher auszuführen, denn Alles, was wir im ersten Kapitel für die unmittelbar gegebene Körperwelt nachgewiesen haben, muß, soweit es hier wesentlich ist, für die Welt der psychischen Vorgänge gelten. Es ergibt sich daraus jedenfalls, daß eine unmittelbare und anschauliche Erkenntnisweise in der Psychologie ebensowenig möglich ist wie in der Naturwissenschaft. Wenn daher DILTHEY sagt: "es bedarf einer psychologischen Systematik, in welcher die ganze Inhaltlichkeit des Seelenlebens Raum findet", so verlangt er damit etwas, dessen Verwirklichung im Interesse der Geisteswissenschaften, insofern sie historische Wissenschaften sind, vielleicht sehr wünschenswert wäre, aus Gründen, die uns später noch zu beschäftigen haben, er verlangt aber zugleich etwas, das logisch unmöglich ist (2). Bruchstücke des unmittelbar erfahrbaren oder erschließbaren Seins kann man, so wie sie hier und da in der Anschauung mannigfaltig gegeben sind, durch eine die Phantasie anregende Beschreibung wenigstens annähernd darzustellen versuchen. Die Gesamtheit des Seelenlebens aber entzieht sich ebenso wie die Körperwelt jeder Darstellung, in der ihre "ganze Inhaltlichkeit" Raum finden soll. Sie ist prinzipiell unerschöpflich, und nicht einmal eine Annäherung an ein Ziel dieser Art ist möglich. Die Psychologie muß vielmehr auf jeden Fall eine Umformung des ihr gegebenen Materials vornehmen, und diese Umformung kann wegen seiner extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit ebenso wie in den Naturwissenschaften nur eine Vereinfachung sein.

Damit haben wir die Frage nach der Notwendigkeit einer Umformung des Seelenlebens erledigt und müssen nun zusehen, in welcher Richtung diese Umformung zu geschehen hat. Zunächst berücksichtigen wir wieder nur die Mannigfaltigkeit, die dem Psychologen in seinem eigenen Seelenleben unmittelbar gegeben ist. Daß sie im Prinzip genau in derselben Art begriffen werden muß wie die Mannigfaltigkeit der Körper, ergibt sich, was die Allgemeinheit und Bestimmtheit der Begriffe betrifft, wiederum bereits aus den Ausführungen des ersten Kapitels. Wenn wir uns früher auch aus den angegebenen Gründen auf die Erkenntnis der Körperwelt beschränkten, so haben wir unsere Gedanken doch absichtlich, so weit es möglich war, schon dort so formuliert, daß unsere Ergebnisse für die begriffliche Erkenntnis jeder anschaulichen Mannigfaltigkeit gültig sein mußten. Mit dem Nachweis, daß das Psychische uns ebenso wie das Physische als eine unübersehbare anschauliche Mannigfaltigkeit vorliegt, ist also bereits auch die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung in der Psychologie wenigstens zum Teil erwiesen.

Wenn das Ganze des eigenen Seelenlebens in eine Theorie gebracht werden soll, so müssen zunächst schon bei der primitivsten Beschreibung die Wortbedeutungen so gewählt werden, daß sie als Vorstellungen von dem den verschiedenen Vorgängen Gemeinsamen den Zweck erfüllen, die gegebene Anschauung zu vereinfachen. Auch hier wird natürlich die Beschreibung oft darauf ausgehen, mehr aus der anschaulichen Mannigfaltigkeit des Seelenlebens zu Bewußtsein zu bringen, als der praktische Mensch ausdrücklich davon bemerkt. Aber auch hier kann es sich niemals um eine Beschreibung handeln, welche die Phantasie dazu anregt, eine individuelle Mannigfaltigkeit einzelner psychischer Vorgänge wirklich vorzustellen oder nachzuerleben. Auch hier also muß die Beschreibung, wenn sie im Dienste einer Erforschung des gesamten Seelenlebens stehen soll, eine naturwissenschaftliche Beschreibung in dem früher angegebenen Sinne sein, d. h. mit Begriffen arbeiten, die den naturwissenschaftlichen Begriffen im ersten Stadium logisch gleichartig sind.

Ferner wird sich auch in der Psychologie zeigen, daß die Wortbedeutungen, so wie sie ohne logische Zwecke entstanden sind, wegen ihrer Unbestimmtheit den Zwecken der Begriffsbildung nicht genügen und daher ebenso wie in den Naturwissenschaften durch eine Umsetzung in die Form von Urteilen zu formal-logisch vollkommenen, d. h. genau bestimmten Begriffen gemacht werden müssen. Diese formale Bestimmung, die den Begriff in das zweite Stadium überführt, ist sogar in der Psychologie meist von noch größerer Bedeutung als in den Wissenschaften von der Körperwelt. Aus Gründen, die wieder mit den Schwierigkeiten einer Objektivierung des psychologischen Materials zusammenhängen, ist es oft sehr schwer, die psychologischen Begriffe scharf gegeneinander abzugrenzen, und es ist daher eine wesentliche Aufgabe der Psychologie, zunächst einmal durch Bestimmung der Begriffe eine möglichst eindeutige Terminologie zu schaffen. Natürlich ist auch diese Art der Begriffsbildung von der naturwissenschaftlichen in keiner Hinsicht prinzipiell verschieden. Die Sätze über die Bestimmtheit des naturwissenschaftlichen Begriffes lassen sich vielmehr mit unwesentlichen Modifikationen auf die Begriffsbildung der Psychologie übertragen.

Es ist daher, nachdem wir sowohl in Bezug auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit und ihre Ueberwindung durch die allgemeine Wortbedeutung als auch in Bezug auf die Bestimmtheit des Begriffs eine Übereinstimmung zwischen Naturwissenschaft und Psychologie konstatieren konnten, nur noch mit Rücksicht auf das dritte Moment des naturwissenschaftlichen Begriffs, die Geltung, eine besondere Erörterung nothwendig.

Hier kann man nun meinen, daß die Psychologie im Gegensatz zur Naturwissenschaft niemals über eine Beschreibung des Seelenlebens mit Hilfe eines Systems bestimmter Begriffe hinauskommt, d. h. außerstande ist, die seelischen Vorgänge durch Unterordnung unter Gesetzesbegriffe zu erklären. Wir könnten jedoch ruhig zugeben, daß diese Behauptung zutrifft, denn auch unter dieser Voraussetzung würde kein prinzipieller Unterschied zwischen der Begriffsbildung der Naturwissenschaft und der der Psychologie bestehen. Die Psychologie wäre dann nur in ihrer logischen Struktur den weniger vollkommenen, d. h. den deskriptiven Naturwissenschaften gleichzusetzen, und ihre Begriffe würden zwar nicht unbedingt allgemein wie die Gesetzesbegriffe, wohl aber in dem Sinne wie die Begriffe der deskriptiven Zoologie oder Botanik gelten, nämlich mit Rücksicht auf den Zweck, zu dem sie gebildet sind. Mit dieser Einschränkung wäre dann immer noch die Begriffsbildung der Psychologie der der Naturwissenschaften insofern vollständig gleichartig, als in beiden die Erkenntnisweise nur abstrakt begrifflich und auf keinen Fall anschaulich oder unmittelbar sein könnte. Nur ein gradueller Unterschied wäre mithin zwischen beiden anzuerkennen. Eine nähere Betrachtung jedoch zeigt, daß nicht einmal dieser Unterschied in dem Maß vorhanden ist, wie es scheinen kann, falls man die Bildung von psychologischen Gesetzesbegriffen nicht für möglich hält. Auch wenn nämlich die Psychologie nicht mehr als eine vollständige Klassifikation der seelischen Vorgänge geben könnte, so würde sie doch nicht eine deskriptive Wissenschaft im Sinne der deskriptiven Zoologie oder Botanik sein, sondern, was die Geltung ihrer Begriffe betrifft, den erklärenden Naturwissenschaften zumindest näher stehen müssen, als jene. Hier kommt wieder für die Methodenlehre der schon einmal hervorgehobene Umstand in Betracht, daß jedem Forscher nur das eigene Seelenleben direkt zugänglich ist, und zwar ergibt sich jetzt, daß dieser Umstand weit davon entfernt ist, zwischen der Begriffsbildung der Psychologie und der der Naturwissenschaften einen prinzipiellen Gegensatz zu begründen. Wenn es sich nämlich in der Zoologie oder Botanik um eine Klassifikation handelt, die den Anspruch erheben darf, einigermaßen vollständig zu sein, so ist dabei, wie wir gesehen haben, eine einmal vorhandene und in der angegebenen Weise direkt beobachthare Mannigfaltigkeit als Objekt vorausgesetzt, das in ein Begriffssystem gebracht werden soll, und zur Erreichung dieses Zweckes sind, wie wir wissen, Begriffe von lediglich empirisch allgemeiner Geltung ausreichend. Für eine Mannigfaltigkeit von Tieren oder Pflanzen aber, die nicht direkt beobachtet werden kann, würden die Begriffe einer blossen Klassifikation gar nichts bedeuten. Wenn z. B. auf irgendeinem anderen Planeten Organismen in ein System von nur empirisch allgemeinen Begriffen gebracht worden wären, so liegt, auch wenn wir die dort Wissenschaft treibenden Wesen als uns völlig ähnlich vorstellen, gar kein Grund vor, anzunehmen, daß dieses Begriffssystem mit dem unserigen irgendwie übereinstimmt, während in den erklärenden Wissenschaften die Gesetzesbegriffe für Licht oder Schall auf allen Weltkörpern dieselben sein müssen, wo uns ähnliche Wesen überhaupt Licht und Schall kennen. Sollte also die Zoologie oder die Botanik über Organismen irgendetwas aussagen, dessen Geltung über die direkt beobachteten Tiere und Pflanzen unserer Erde hinausgeht, so müßte auch sie mehr als bloße Beschreibung und Klassifikation anstreben.

In einer ähnlichen Lage, wie der Zoologe oder Botaniker sich den Organismen fremder Weltkörper gegenüber befindet, würde sich der Psychologe gegenüber dem Seelenleben anderer Wesen befinden, wenn er auf bloße Beschreibung und Klassifikation beschränkt wäre. Er könnte dann nur Begriffe bilden, deren Geltung über das direkt erfahrbare eigene Seelenleben nicht hinausreicht, und diese Begriffe hätten für die Wissenschaft keinen Wert. Es soll doch auch in die sogenannte deskriptive Psychologie das den verschiedenen Seelen Gemeinsame eingehen. Ein Begriffssystem also, das an einem verschwindend kleinen Teil des Seelenlebens gebildet werden muß und doch gelten soll für eine Mannigfaltigkeit, die niemals direkt zu beobachten ist, kann nicht aus blossen Merkmalskomplexen bestehen. Der Psychologe muß vielmehr stets danach streben, seinen Begriffen eine mehr als empirisch allgemeine Geltung zu verleihen. Welche Wege er hierzu einzuschlagen hat, lassen wir dahin gestellt. Nur auf die logische Struktur des gewonnenen Resultates kommt es uns an. Die Begrifie, die an dem eigenen Seelenleben gebildet sind, müssen gelten für das Seelenleben überhaupt, sonst ist eine Psychologie als Wissenschaft gar nicht möglich.

Dieser Gedanke läßt sich auch so ausdrücken. Man hat gesagt, daß alle Psychologie im Grunde genommen Individualpsychologie ist (3), und das ist richtig, weil wir immer auf die Beobachtung des individuellen Seelenlebens beschränkt sind, und daher in der Tat psychologische Begriffe immer nur Begriffe von solchen Tätigkeiten oder Vorgängen sein können, welche die Reflexion auf uns selbst wirklich entdeckt hat. Der Psychologe ist demnach, was die unmittelbare Erfahrung betrifft, zwar immer auf sich selbst angewiesen, aber es ist gewiß ebenso richtig, daß er in der Wissenschaft nicht sich selbst, sondern immer das Seelenleben im Allgemeinen darzustellen sucht, d. h. die "Individualpsychologie" ist niemals Psychologie des Individuums. Wollte man die Erfahrung nicht in eben der Weise überschreiten, wie dies in den "erklärenden" Naturwissenschaften geschieht, so würde, da jedes Individuum sich von jedem anderen unterscheidet, auch der Inhalt jeder "deskriptiven" Psychologie von dem jeder anderen verschieden sein müssen. Betrachtet man die psychologischen Systeme unserer Zeit, so wird man allerdings vielleicht meinen, daß die Wissenschaft über diesen Zustand noch nicht sehr weit hinausgekommen ist. Als ein logisches Ideal aber wird man ihn doch wohl nicht hinstellen wollen.

Jedenfalls also sucht auch die Psychologie zu der Allgemeinheit und Bestimmtheit ihrer Begriffe eine unbedingte Geltung hinzuzufügen, und das heißt nichts anderes, als daß die psychologischen Begriffe, wenn ihr Inhalt wirklich gedacht wird, die Form von mehr als empirisch allgemeinen Urteilen haben müssen. Damit aber ist nachgewiesen, daß sowohl die Zwecke der psychologischen Begriffsbildung als auch alle die Mittel, mit denen sie diese Zwecke zu erreichen sucht, im Allgemeinen dieselben sind, wie die, welche wir bei Betrachtung der Wissenschaften von der Körperwelt kennen gelernt haben, d. h. Allgemeinheit, Bestimmtheit und Geltung ihrer Begriffe strebt die Psychologie in demselben Sinne an wie die Naturwissenschaft, ja sogar die Begriffe einer scheinbar nur deskriptiven Psychologie stehen wegen ihrer mehr als empirischen Geltung den Begriffen der erklärenden Körperwissenschaften logisch näher als die Begriffe der deskriptiven Zoologie oder Botanik denen der Mechanik oder Physik.

Eine Frage haben wir jedoch bisher noch nicht berücksichtigt. Als wir von der begrifflichen Erkenntnis der Körperwelt handelten, beschränkten wir uns nicht nur auf die Ableitung der Allgemeinheit, Bestimmtheit und Geltung, die jeder naturwissenschaftliche Begriff mehr oder weniger besitzen muß, sondern machten auch den Versuch, das Ideal einer abschließenden Theorie der Körperwelt zu konstruieren. Mit Rücksicht auf dieses Ideal war es dann möglich, zu zeigen, auf welchem Weg die Naturwissenschaft nicht nur relativ bestimmte und gültige Begriffe zu bilden, sondern sich einer absoluten Bestimmtheit und unbedingt allgemeinen Geltung ihrer Begriffe anzunähern vermag. Stimmt auch die logische Struktur einer "letzten" Wissenschaft, durch die alle Probleme der Psychologie zu lösen wären, mit dem logischen Ideal der Naturwissenschaft überein, und ist es möglich, die Richtung des Weges anzugeben, der in der Psychologie zur Annäherung an ein solches logisches Ideal führt? Erst die Beantwortung dieser Frage würde unsere Untersuchung zu einem systematischen Abschluß bringen. Wir könnten uns dabei aber nicht mehr auf Ausführungen des ersten Kapitels berufen, weil dort die Konstruktion der letzten Naturwissenschaft nur mit ausdrücklicher Rücksicht auf sachliche Besonderheiten der Körperwelt, insbesondere darauf, daß es sich um eine den Raum erfüllende Welt handelt, möglich war. Es würde also für eine Erörterung der psychologischen Idealwissenschaft und die Konstruktion eines logisch vollkommenen Begriffssystems der Psychologie auch Rücksicht auf sachliche Eigentümlichkeiten des Psychischen zu nehmen sein. Deshalb müssen wir von einer solchen Konstruktion hier absehen. Es fehlt uns ein Begriff des Psychischen, der für diesen Zweck inhaltlich genug bestimmt ist, und die Psychologie ist überhaupt noch viel zu wenig ausgebildet, um eine allgemeingültige logische Erörterung ihrer letzten Ziele zu ermöglichen. Es wird auch wahrscheinlich noch lange dauern, bis hier nur einigermaßen der Grad von Übereinstimmung gewonnen ist, der in Bezug auf diese Fragen in den Körperwissenschaften als erreicht angesehen werden kann.

Trotzdem dürfen wir die Frage nach einer psychologischen Idealwissenschaft nicht ganz bei Seite lassen, sondern müssen das eine wenigstens zu zeigen versuchen, daß, wenn in der Psychologie ein Begriffssystem aufgestellt wird, welches alle seelischen Vorgänge zu umfassen imstande sein soll, dieses Ideal sich in seiner logischen Struktur nicht wesentlich von dem der Naturwissenschaften unterscheiden kann. Die verschiedenen Versuche, die in dieser Richtung gemacht worden sind, hier im Einzelnen zu verfolgen, hat keinen Zweck. Wir wollen nur an einem besonderen Fall das allgemeine Prinzip zu zeigen versuchen, aus dem sich die Notwendigkeit des durchaus naturwissenschaftlichen Charakters der psychologischen Begriffsbildung einer abschließenden Theorie ergibt, und dabei besonders einen Punkt klar stellen, der wieder mit dem falschen Gegensatz von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit zusammenhängt, in den physisches und psychisches Sein zu einander gebracht werden.

Keiner Erörterung bedürfen unter den psychologischen Theorien hier die Versuche, das psychische Leben im Zusammenhange mit den körperlichen Vorgängen, d. h. auf Grund physiologischer Theorien in ein geschlossenes Begriffssystem zu bringen. Wo sie nicht vom Boden einer materialistischen Metaphysik unternommen werden, beruhen sie auf dem Gedanken, daß, weil das Psychische in irgendeiner Weise als "abhängig" vom Physischen anzusehen sei, die für die Körperwelt festgestellte Gesetzmäßigkeit auch auf das Seelenleben übertragen, und dieses dadurch gewissermaßen auf einem Umwege unter Gesetzesbegriffe gebracht und erklärt werden könne. Auf eine Erörterung des "psychophysischen Materialismus", wie man im Gegensatz zum metaphysischen Materialismus das Prinzip solcher Forschungen genannt hat, brauchen wir uns hier deshalb nicht einzulassen, weil, wie er sich auch im Einzelnen gestalten, und was er zur Kenntnis des Seelenlebens beitragen mag, der naturwissenschaftliche Charakter seiner Methode nicht gut bezweifelt werden kann.

Uns interessirt also hier nur, wie eine Theorie sich gestalten muß, die darauf ausgeht, das psychische Sein ohne Rücksicht auf seine Abhängigkeit von der Gesetzmäßigkeit des physischen Seins in einem Begriffssystem zu umfassen. Von vorneherein ist klar, daß sie sich bemühen wird, wenn irgend möglich, das gesammte Seelenleben unter einen einheitlichen Begriff zu bringen, ebenso wie die letzte Naturwissenschaft die Körperwelt unter den einen Begriff des Mechanismus zu bringen sucht. Von "letzten Dingen" kann zwar für sie keine Rede sein, aber Begriffe von "Elementen", d. h. einfachen Bestandtheilen des Seelenlebens wird sie bilden, aus denen alle unübersehbare Mannigfaltigkeit bestehen soll. Falls sich ein einheitliches Element nicht finden lässt, wird sie die Mehrheit der elementaren Faktoren als so klein wie möglich, jedenfalls aber als begrenzt annehmen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann eine wirklich allgemeine Theorie des Seelenlebens zustande kommen, aus Gründen, die wir aus dem ersten Kapitel bereits kennen.

Sehen wir uns nun hierauf die Theorien der Psychologie an, so finden wir in der Tat Versuche, die diesem logischen Ideal bereits in hohem Grade entsprechen. Schon in früheren Zeiten ist man z. B. bemüht gewesen, alles Seelenleben als aus Empfindungen bestehend zu denken, und neuerdings hat man diese Bestrebungen wieder aufgenommen. Der Wille, so meint man, ist durchaus nichts, was sich von den Vorstellungen prinzipiell unterscheidet, sondern muß wie sie als ein Komplex von Empfindungen begriffen werden, und ebenso soll es sich mit den Gefühlen der Lust oder Unlust wie überhaupt mit allen psychischen Vorgängen verhalten. In den "einfachen Empfindungen" hätte also die Psychologie einen Begriff, der dem des "letzten Dings" in der Naturwissenschaft vollkommen entspricht. Ebenso wird auch eine Vereinheitlichung der Relationsbegriffe angestrebt: die Beziehungen, in denen die Empfindungen zu einander stehen, sollen durchweg unter den Begriff der Assoziation fallen. So wäre das gesammte unübersehbare Seelenleben überall als ein Komplex von Empfindungen aufzufassen, der von Assoziationsgesetzen beherrscht wird. Besonders MÜNSTERBERGs Arbeiten sind von dem Ideal eines solchen psychologischen Begriffssystems geleitet, dessen logische Übereinstimmung mit dem Ideal der mechanischen Naturauffassung in die Augen springt, und das von ihm in seinen Schriften immer umfassender herausgearbeitet worden ist (4).

Über die Einwände, die von Seiten einer vorsichtigen Spezialwisscnschaft gegen Theorien dieser Art erhoben werden können, haben wir hier natürlich nicht zu urteilen. Aber, auch abgesehen davon, daß bei einer jungen Wissenschaft die "Vorsicht" vielleicht nicht immer die Mutter der Weisheit ist, die zu wertvollen Hypothesen führt, bleiben unter logischen Gesichtspunkten diese Versuche unter allen Umständen interessant und können uns zur Klarlegung einiger prinzipieller Fragen dienen. Wir wollen zusehen, welche Voraussetzungen unumgänglich notwendig sind, wenn die Durchführung solcher Hypothesen überhaupt in Angriff genommen werden soll. Es läßt sich hier besonders deutlich zeigen, daß ihre logische Struktur der der "letzten Naturwissenschaft" in jeder Hinsicht gleich sein muß.

Wir wissen, daß bei der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt der Prozess der Vereinfachung mit einer Beseitigung der anschaulichen Dinge zusammenfällt. Der Begriff des "letzten Dings" ist nur durch Verneinung alles dessen zu bilden, was uns in der empirischen Anschauung gegeben ist. Darf auch die Psychologie einen solchen Schritt ins nicht mehr Anschauliche tun und niemals erfahrbare psychische Bestandtheile annehmen, auf die sich die gesammte Mannigfaltigkeit des Seelenlebens zurückführen läßt? Daß dies nicht geschehen kann, ist eine weit verbreitete Meinung, und auch MÜNSTERBERGs Stellung zu dieser Frage kommt in seinen Schriften nicht völlig klar zum Ausdruck. "Das psychologische Phänomen, sagt er einmal (5), kann nie etwas anderes sein, als was es unserem Bewußtsein erscheint." Dieser Satz ist offenbar dann allein mit der Empfindungslehre vereinbar, wenn nur der ungeübte Beobachter im Willen oder im Gefühl etwas zu erfahren glaubt, das kein Empfindungskomplex ist, der wissenschaftliche Psychologe dagegen bei genauer Analyse wirklich überall nichts anderes als Anordnungen von Empfindungen entdeckt, denn nur unter dieser Voraussetzung würden die psychischen Vorgänge als das "unserem Bewußtsein erscheinen" können, was sie nach den Theorien der Psychologie sein sollen.

Es versteht sich von selbst, warum es für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist, daß wir uns über die Zulässigkeit dieser Auffassung des Seelenlebens klar werden. Wenn es richtig wäre, daß alles psychische Sein im Bewußtsein als ein Empfindungskomplex "erscheinen" kann, so würde dies wieder jenen prinzipiellen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie einschließen, den wir hier gerade bekämpfen, denn die Erkenntnisweise der Psychologie müßte dann in der Tat doch als anschaulich und unmittelbar im Vergleich zu der der Körperwissenschaften bezeichnet werden.
Ist aber die angedeutete Auffassung wirklich berechtigt? Wir können nicht finden, daß sich irgend ein Grund dafür aufzeigen läßt. Es scheint uns vielmehr gerade im Interesse dieser psychologischen Theorien zu liegen, ihre vollständige logische Uebereinstimmung mit den allgemeinen Theorien der Körperwelt hervorzuheben, denn nur dadurch werden sie ihre Existenzberechtigung nachweisen können. Die Behauptung, das Seelenleben bietet sich dem geübten Beobachter in der Erfahrung anschaulich als ein Komplex von Empfindungen dar, ist nämlich vollkommen unbeweisbar, ja, es wird sich wohl gegen sie jeder vorurteilslose Mensch auf das Entschiedenste wehren. Wille und Vorstellung sind, so wie sie unmittelbar erfahren werden, prinzipiell von einander verschieden. Es muß dies auch die Meinung von MÜNSTERBERG sein, da er an einer anderen Stelle ausdrücklich hervorhebt, daß die Empfindung nur in der Abstraktion existiert, und hinzufügt: "sie ist ein wissenschaftlicher Hilfsbegriff, wie das Atom des Naturforschers" (6). In der Tat ist dies die einzig richtige Auffassung. Die unmittelbare Erfahrung weiß von den Empfindungskomplexen der Psychologie nichts, so wenig sie etwas davon weiß, daß die physikalischen Vorgänge Kombinationen von Ätheratomen sind. Von einer unmittelbareren Erkenntnisweise der Psychologie im Vergleich zur Naturwissenschaft kann also auch hier keine Rede sein.

Die Scheu vor der Annahme unerfahrbarer psychischer Elemente beruth zweifellos wieder auf jener unglücklichen Definition des Psychischen als des Bewußtseinsvorganges, mit der wir uns beschäftigt haben, d. h. die Streitfrage über die "unbewußten" psychischen Vorgänge spielt hier mit (7). Wenn die "einfachen Empfindungen" unerfahrbar sind, so können sie natürlich niemals Bewußtseinsinhalte im erkenntnistheoretischen Sinn werden, und wenn nun das Psychische als Bewußtseinsvorgang definiert ist, so wird in der Tat der Begriff einer "unbewußten Empfindung" zu einer contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp]. Es gehört dann nicht sehr viel Scharfsinn dazu, um zu beweisen, daß man den Begriff eines psychischen Seins, das nicht Bewußtseinsinhalt ist, nicht bilden darf. Sieht man aber von dieser Definition des Psychischen ab, so ist der Begriff eines unerfahrbaren psychischen Elements durchaus nicht bedenklicher als viele Begriffe der Naturwissenschaften. Das Psychische, das unter ihn fällt, ist "unbewußt" in dem Sinne, daß es niemals als Bewußtseinsinhalt unmittelbar gegeben sein kann. Die Frage nach seiner Existenz ist also genau so berechtigt wie die Frage, ob wir körperliche Dinge annehmen dürfen, die niemals erfahrbar oder wahrnehmbar sind. Inwiefern überhaupt etwas als existierend angesehen werden kann, das nicht erfahrbar ist, lassen wir dahin gestellt. Nur das meinen wir, daß, wenn wir uns nicht scheuen, zu der als empirische Wirklichkeit unmittelbar gegebenen Körperwelt im Interesse ihrer Erklärung ein unerfahrbares Substrat hinzuzudenken, es keinen Grund gibt, eine analoge Begriffsbildung der wissenschaftlichen Bearbeitung des Seelenlebens zu verbieten. Die Körper sind uns niemals als Atomkomplexe gegeben, und doch ist der Begriff des Atoms der Naturwissenschaft unentbehrlich. Es ist daher unter rein logischen Gesichtspunkten die Annahme "unbewußter psychischer Elemente" in dem angegebenen Sinn nicht zu verwerten, und ihr wissenschaftlicher Wert kann davon allein abhängig gemacht werden, was sie für eine Erklärung des Seelenlebens zu leisten vermögen.

Nur eine Frage drängt sich uns noch auf. Die elementaren Bestandteile des Psychischen werden nicht nur in dem von uns als Beispiel herangezogenen Falle sondern auch sonst noch vielfach als Empfindungen bezeichnet. Eine Empfindung aber nennen wir auch etwas, das wir unmittelbar erleben und von ebenso unmittelbar erlebten Gefühlen oder Willensvorgängen mit Sicherheit unterscheiden. Wäre es da nicht besser, für das elementare Substrat, das allem Seelenleben zu Grunde liegen soll, einen Namen zu wählen, der nicht zugleich für einen Teil der unmittelbar bekannten psychischen Vorgänge gebräuchlich ist? Man würde dann schon durch die Namengebung keinen Zweifel darüber lassen, daß hier ein Begriff vorliegt, für den es in der anschaulichen Mannigfaltigkeit des Seelenlebens nicht einmal eine Stellvertretung gibt, und man würde dadurch dem Mißverständnis vorbeugen, daß ein Gefühl oder ein Willensvorgang aus Empfindungen bestehen soll, die wir unmittelbar erleben können. Auch wenn statt der Empfindungen ein "unbewußter Wille" zur Erklärung des Seelenlebens herangezogen wird, so kann dieser Wille nicht das sein, was wir als Wille erfahren, sondern es darf dieser Begriff den Namen des Willens höchstens deshalb führen, weil sein Inhalt dem, was wir wollend erleben, als am Meisten ähnlich zu denken ist.

Doch selbstverständlich sollen diese Bemerkungen durchaus nicht die Behauptung einschließen, daß nun auch wirklich alles Seelenleben durch einen einheitlichen, wissenschaftlich brauchbaren Begriff umfaßt werden kann. Wir müssen vielmehr hervorheben, daß wir auch hier von aller inhaltlichen Richtigkeit der herangezogenen Theorien absehen. Ob die Auffassung des Seelenlebens als eines Komplexes von Empfindungen oder von irgendwelchen anderen Elementen einen wissenschaftlichen Wert hat, das kann nur die Psychologie, niemals aber die Logik entscheiden. Ist die Bildung eines letzten Begriffes, unter den alle psychischen Vorgänge fallen, der Psychologie versagt, und bleiben vielleicht Vorstellungen, Gefühle und Willensakte oder auch irgendwelche andere psychische Vorgänge als letzte Arten für immer unvermittelt nebeneinander stehen, so kommt eben die Psychologie niemals über den Zustand hinaus, in dem z. B. die Physik sich befindet, so lange sie Licht, Schall, Elektrizität usw. nicht unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen vermag. Aber auch dieser Umstand kann den naturwissenschaftlichen Charakter der psychologischen Theorien durchaus nicht aufheben, denn für alle Fälle bleibt es ihre Aufgabe, mit einer begrenzten und übersehbaren Mehrheit von Begriffen das gesammte unübersehbare Seelenleben zu umfassen.

Allerdings, in einer Hinsicht werden die Begriffe der Psychologie für immer sich von denen der Naturwissenschaft unterscheiden, und wir müssen auf diesen Punkt noch mit ein paar Worten eingehen, weil gerade mit Rücksicht hierauf nicht selten ein prinzipieller Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie behauptet wird. Wir haben gesehen, daß bei der begrifflichen Bearbeitung der Körperwelt eine vollständige Überwindung aller anschaulichen Unübersehbarkeit nur dadurch erreicht werden kann, daß man in der "letzten" Naturwissenschaft jede qualitative Mannigfaltigkeit beseitigt und nur noch eine quantitative Mannigfaltigkeit einfacher Dinge beibehält, deren einzige Veränderung ebenfalls als rein quantitativ, nämlich als Bewegung angesehen wird. In diesem Begriffssystem ist dann auch die absolute Bestimmtheit der Begriffe erreichbar. Die Unmöglichkeit, in der Psychologie dieses Ideal auch nur anzustreben, wird immer in den Vordergrund geschoben, wenn es sich darum handelt, Psychologie und Naturwissenschaft von einander zu trennen, und es lässt sich gewiß nicht leugnen, daß hier ein Unterschied besteht. Die Körper erfüllen den Raum. Abstrahieren wir von allen Qualitäten, so behalten wir immer noch den Begriff des Raumerfüllenden übrig. Ein solches "raumerfüllendes Mittel" ist zwar nicht mehr empirisch anschaulich, aber der Begriff davon hat einen selbständigen Inhalt. Das Psychische dagegen erfüllt niemals einen Raum. Abstrahieren wir auch hier von den Qualitäten, so behalten wir nicht nur nichts übrig, das empirisch anschaulich ist, sondern wir können auch keinen Begriff mit positivem Inhalt von dem bilden, was dann noch bleiben soll. Der Begriff eines Seins, das weder qualitativ ist, noch den Raum erfüllt, enthält nicht nur nichts empirisch Anschauliches sondern überhaupt nichts mehr. Dieser Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie ergibt sich mithin nach unseren Ausführungen in der Tat als notwendig. Das, was den Raum erfüllt, d. h. die Körperwelt, ist die einzige Wirklichkeit, bei der eine logisch vollkommene Vereinfachung durch Quantifikation als Ziel der Begriffsbildung aufgestellt werden kann.

Folgt nun aber hieraus, daß logisch ein prinzipieller Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie gemacht werden muß? Das ist aus zwei Gründen nicht der Fall. Zunächst würde, falls die Möglichkeit einer Quantifikation als entscheidend für die Frage anzusehen wäre, ob eine Wissenschaft Naturwissenschaft ist oder nicht, der Begriff der Naturwissenschaft dadurch so verengt werden, daß er auf einen grossen Teil der Wissenschaften von der Körperwelt nicht mehr angewendet werden könnte. Eine vollkommen allgemeine Theorie der Körperwelt muß zwar auf Quantifikation ihres Materials ausgehen, und unter dem Gesichtspunkt dieses logischen Ideals müssen allerdings auch die Begriffe der übrigen Wissenschaften der rein mechanischen Naturauffassung untergeordnet werden. Ebenso entschieden aber haben wir andererseits hervorgehoben, daß die Einzelwissenschaften, die ihre Untersuchung beschränken, ihren selbständigen Wert gegenüber der rein mechanischen Naturauffassung niemals verlieren können, ja wir wissen, daß es eine Wissenschaft von Körpern, die nur mit Quantitäten arbeitet, noch garnicht gibt und vielleicht nie geben wird. In sehr vielen Naturwissenschaften spielt jedenfalls die Quantifikation in der Begriffsbildung nur eine geringe Rolle, und zwischen ihnen und der Psychologie besteht daher in dieser Hinsicht kein prinzipieller Unterschied.

Noch wichtiger aber für das logische Verhältnis, in dem Naturwissenschaft und Psychologie mit Rücksicht auf die Quantifikation zueinander stehen, ist etwas anderes. Wir müssen daran denken, daß wir die Quantifikation nicht als etwas, das um seiner selbst willen von Bedeutung ist, sondern lediglich als ein Mittel zur Vereinfachung betrachtet haben. Unter diesem Gesichtspunkt aber ist sie nur eine Art der wissenschaftlichen Bearbeitung unter anderen, die alle denselben Zweck verfolgen. Da wir nun das Wesen einer Methode immer aus ihrem Zwecke heraus verstehen, so kann auch die Quantifikation als blosses Mittel nur einen graduellen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychologie begründen. Die denkbar vollkommenste Vereinfachung aller anschaulichen Mannigfaltigkeit ist zwar der Psychologie versagt, soweit wie möglich aber sucht auch sie sich einer Vereinfachung ihres Materials durch die Begriffsbildung anzunähern, und auf diese Tendenz allein kommt es uns hier an. Es genügt, wenn wir zeigen können, daß sie den Wissenschaften von der Körperwelt und den psychologischen Disziplinen gemeinsam ist.

Nur ein Punkt bedarf jetzt endlich noch einer ausdrücklichen Erwähnung. In welchem Verhältnis stehen die Untersuchungen, die zu einer vollkommen allgemeinen Theorie des Seelenlebens beitragen, zur Gesammtarbeit der psychologischen Wissenschaften? Ist alle psychologische Arbeit nur auf Ausbildung der "letzten" Theorie gerichtet, oder gliedert sich die Forschung in der Weise, daß es besondere Teile der Psychologie gibt, die einer allumfassenden Theorie des Seelenlebens mehr oder weniger fernstehen? Man braucht diese Frage nur zu stellen, um einzusehen, daß auch hier die logische Struktur der psychologischen Arbeit im Wesentlichen wieder mit der übereinstimmt, die wir bei den Wissenschaften von der Körperwelt kennen gelernt haben. Selbst wenn es gelungen wäre, alles Seelenleben zu begreifen als bestehend aus einem einheitlichen psychischen Substrat, das unter bestimmten Gesetzen steht, so würde damit eine besondere Psychologie z. B. des Willens oder des Gefühls so wenig ihren Wert verlieren, wie die Optik oder Akustik ihn verlieren kann durch die Entstehung einer alles physische Sein umfassenden Äthertheorie. Es behält immer einen guten Sinn, die Mannigfaltigkeit eines Teils des Seelenlebens für sich in ein Begriffssystem zu bringen und den allgemeinsten Begriff, innerhalb dessen Umfang man sich dabei bewegt, einer umfassenderen psychologischen Theorie zur Bearbeitung zu überlassen. Das für besondere Gebiete Gefundene muß gültig bleiben, wie auch schliesslich die umfassendste Theorie sich gestalten mag. Genau wie bei den Wissenschaften von der Körperwelt ist es möglich, die Gesammtheit der verschiedenen psychologischen Disziplinen einerseits als ein einheitliches Ganzes zu betrachten, dessen Glieder alle dazu beitragen, das Wesen des Seelenlebens im Allgemeinen zu erforschen, andererseits aber auch den verschiedenen Einzeldisziplinen, die sich beschränkte Aufgaben innerhalb eines besonderen Gebietes stellen, eine für sich bestehende Bedeutung zuzuschreiben. Ein näheres Eingehen auf diese Gliederung der psychologischen Wissenschaften unterlassen wir hier. Um ihr Prinzip völlig klarzulegen, müssen wir den Begriff des Historischen gewonnen haben, durch den auch erst, wie wir früher bemerkt haben, die logische Gliederung der Körperwissenschaften vollkommen klar werden kann.

Das Resultat dieses Abschnittes lässt sich jetzt dahin zusammenfassen, daß die psychischen Vorgänge nicht nur eine Art der begrifflichen Bearbeitung zulassen, die der bei den Körpervorgängen anzuwendenden prinzipiell gleich ist, sondern daß für sie die naturwissenschaftliche Begriffsbildung auch unentbehrlich wird, sobald eine Erkenntnis des Seelenlebens im Allgemeinen angestrebt werden soll. Mag auch die Psychologie, weil ihre Begriffe zum Inhalt immer Qualitäten haben müssen, jene vollkommenste Form der Vereinfachung, die in der Zurückführung aller qualitativen Mannigfaltigkeit auf eine rein quantitative besteht, niemals erreichen können, mag auch nicht einmal auf dem Umweg der Psychophysik wenigstens indirekt eine Annäherung an diese Form der begrifflichen Bearbeitung möglich sein, so trennt dies die Psychologie doch nur von den höchsten Zielen der theoretischen Physik, nicht aber von den Theilen der Naturwissenschaft, die niemals in die theoretische Physik aufzugeben vermögen. Es ist vielmehr das Verfahren der Psychologie dem dieser Naturwissenschaften logisch durchaus analog, und zwar nicht nur wenn man in ihr eine "erklärende" Gesetzeswissenschaft sieht, sondern auch wenn man sie auf eine Beschreibung der seelischen Vorgänge beschränkt. Der Gegensatz zwischen erklärenden und beschreibenden Wissenschaften hat sich üherhaupt für uns als relativ dargestellt, und es wird sich noch deutlicher zeigen, wie wenig ihm eine prinzipielle Bedeutung für die allgemeinste Gliederung der Wissenschaften zukommt, wenn wir im dritten Kapitel den logischen Gegensatz klarlegen, der in den methodologischen Erörterungen über Natur- und Geisteswissenschaften zwar selten ganz fehlt, aber ebenso selten zu voller Klarheit herausgearbeitet ist. Ehe wir zu ihm übergehen, wollen wir nur noch auf Grund der bisherigen Erörterungen ausdrücklich zu der Frage Stellung nehmen, welche logische Bedeutung die Begriffe Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft haben können.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Das Wort anschaulich ist hier in der heute wohl fast allgemein üblichen Bedeutung gebraucht, in der es mit sehen nichts zu tun hat. Wir nennen anschaulich alles, was im erkenntnistheoretischen Sinne unmittelbares Objekt werden kann, gleichviel ob es sich um etwas Physisches oder Psychisches handelt.
    2) Vgl. Dilthey, a.a.O. Seite 1326. Trotzdem erscheinen uns diese Ausführungen äusserst beachtenswert, denn so wenig wir auch zugeben können, daß es Dilthey gelungen ist, eine logische Bedeutung des Gegensatzes von Natur und Geist nachzuweisen, so entschieden stimmen wir ihm darin zu, daß die naturwissenschaftliche Psychologie nicht Grundlage der Geisteswissenschaften sein kann, wenigstens wenn es sich um historische Wissenschaften handelt. Nun muß zwar gewiss auch der Historiker ein Kenner des Seelenlebens sein, er braucht, wie wir zeigen werden, etwas, das man als "historische Psychologie" bezeichnen kann, aber ist es möglich, diese Art von Psychologie zu einer systematischen Wissenschaft zu machen? Beruht nicht vielleicht auf dem Mangel an Systematik ihre Stärke? Wir kommen in einem späteren Zusammenhange noch einmal hierauf zurück. Sonderbar berührt es, daß eine den Kernpunkt der Diltheyschen Ausführungen völlig übersehende Kritik, die von naturwissenschaftlich-psychologischer Seite ausgegangen ist, gerade von einem Historiker als "vernichtend" bezeichnet werden konnte. Siehe: Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, Seite 18 Anm.
    3) Vgl. Sigwart, Logik II, zweite Auflage, Seite 192.
    4) "Es scheint nun, daß sich der empirische Nachweis erbringen lässt, daß auch in diesen Erscheinungen des Gemüthes und Willens kein psychisches Element vorkommt, welches nicht in irgend welchen Vorstellungen ebenfalls enthalten ist. Es wäre damit gesagt, daß auch Gefühl, Wille usw. nicht aus besonderen psychischen Elementartatsachen entstehen, sondern ebenfalls Empfindungsverbindungen sind, die sich nur durch ihre Anordnung von den Vorstellungen unterscheiden." Siehe Münsterbergs Artikel "Empfindung" in dem "Real-Lexikon der medizinischen Propädeutik", herausgegeben von J. GAD.
    5) Aufgaben und Methoden der Psychologie Seite 20.
    6) Siehe Münsterberg Artikel "Empfindung", a. a. O.
    7) Diese Frage kann allerdings noch in einem anderen Sinne gestellt werden, doch ist das für unseren Zusammenhang ohne Bedeutung.