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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
I. Das Problem der historischen Begriffsbildung
II. Das historische Individuum
III. Die teleologische Begriffsbildung
IV. Der historische Zusammenhang
V. Die geschichtliche Entwicklung
VI. Die naturwissensch. Bestandteile i. d. histor. Wissenschaften
VII. Geschichtswissenschaft und Geisteswissenschaft
VIII. Die historischen Kulturwissenschaften
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

Der Gegensatz von Stoff und Auffassung fällt seinem allgemeinsten Sinne nach mit dem von Materie und Form zusammen. Als Material der Wissenschaft betrachten wir überall die empirische Wirklichkeit, die, wenn es sich z. B. um die Körperwelt handelt, aus einer Mehrheit von Dingen besteht. Nun gibt es einen erkenntnistheoretischen Standpunkt, von dem aus diese Wirklichkeit, die für die besonderen Wissenschaften nur Stoff ist, bereits als geformter Stoff angesehen werden kann, so daß dann z. B. Mehrheit und Dinghaftigkeit Formen wären, die erst durch das Bewußtsein überhaupt an das Empfindungsmaterial herangebracht sind.

Viertes Kapitel
Die historische Begriffsbildung

Um den Begriff der Geschichte, den wir bisher nur als den einer wissenschaftlichen Aufgabe kennen gelernt haben, auch positiv zu bestimmen, müssen wir zuerst wieder die verschiedenen logischen Probleme, die er enthält, auf ein Hauptproblem beziehen. Dieses aber wird dem Problem entsprechen, das wir bei der Klarlegung des Wesens der Naturwissenschaft in den Vordergrund gestellt haben, d. h. es kommt auch hier, wie wir bereits in der Einleitung bemerkt haben, nicht auf das Suchen des historischen Materials, sondern auf die Form seiner Darstellung an. Das Gebilde, in dem die vorläufigen oder endgültigen Ergebnisse der Naturwissenschaft ihren Ausdruck finden, nannten wir "Begriff", und dementsprechend sind jetzt die Prinzipien der historischen Begriffsbildung das, was wir feststellen wollen. Die Erweiterung des Sprachgebrauchs, die in dieser Bezeichnung liegt, rechtfertigt sich dadurch, daß das neue Problem vollkommen dem analog ist, welches sich beim Versuch eines logischen Verständnisses der Naturwissenschaft aus der Reflexion auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Seins ergab und uns veranlaßte, uns dort auf den Prozess der Begriffsbildung zu beschränken.

Die Problemlösung gliedert sich dann in folgender Weise. Damit ihr logischer Inhalt möglichst rein hervortritt, sehen wir zuerst wieder von allen sachlichen Besonderheiten des Materials der historischen Wissenschaften ab, ja noch sorgfältiger als bei der Untersuchung der Naturwissenschaft müssen wir den sachlichen Begriff der Geschichte von dem logischen trennen und den ersten zunächst ganz bei Seite lassen. Wir gehen daher von dem aus, was Grenze jeder naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist, d. h. vom Individuum in der weitesten Bedeutung des Wortes, in der es jede beliebige einmalige und besondere Wirklichkeit bezeichnet. Da erstens nicht alle individuellen Wirklichkeiten Gegenstand der Geschichte sind, haben wir zu zeigen, wie für die historische Darstellung aus der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit der Objekte sich eine besondere Art heraushebt, die wir als die "historischen Individuen" im engeren Sinne bezeichnen können, und da zweitens auch diese historischen Wirklichkeiten sich nicht in ihrer ganzen intensiven Mannigfaltigkeit darstellen lassen, müssen wir ferner verstehen, wie aus der Mannigfaltigkeit des einzelnen Individuums sich eine begrenzte Anzahl von Bestimmungen aussondert und zu einem Begriff zusammenschließt, dessen Inhalt nicht allgemein sondern individuell ist, und der daher als historischer Begriff bezeichnet werden darf.

In Folge dieser neuen Art der Scheidung wesentlicher Bestandteile von unwesentlichen erweist sich dann die Darstellung des Besonderen und Individuellen, also des Geschichtlichen im logischen Sinne, als möglich, und zwar wird sich zeigen, daß die Bildung von Begriffen mit individuellem Inhalt nur durch eine in ihrem Wesen genau zu bestimmende "Beziehung" der Objekte auf Werte zu Stande kommt und insofern als teleologische Begriffsbildung bezeichnet werden muß. Doch hat selbstverständlich dieses historisch-teleologische Moment mit der nur hin und wieder vorkommenden und oft bekämpften Geschichtsteleologie nichts zu tun, sondern es kann sich nur um ein rein wissenschaftliches teleologisches Prinzip handeln, das zwar oft nicht bemerkt wird, von dem aber jeder Historiker, so sehr er sich auch gegen alle Teleologie sträuben mag, notwendig Gebrauch macht, und das die Logik der Geschichte daher vor allem anderen klar zu legen hat.

Weiter geführt werden wir dann durch den Umstand, daß es in der uns bekannten Wirklichkeit nirgends vereinzelte Individuen gibt, und daß deshalb auch alle Objekte der Geschichte Teile eines größeren Ganzen sein müssen, mit dem sie in einem Zusammenhang stehen. Nur durch die Darstellung des historischen Zusammenhanges kann also die Geschichte zur Wissenschaft vom wirklichen Geschehen werden, und besonders darauf ist zu achten, daß jedes individuelle Objekt mit anderen individuellen Objekten kausal verknüpft ist. Diese historischen Kausalzusammenhänge sind aber wiederum sorgfältig von den naturwissenschaftlichen Kausalgesetzen zu scheiden, denn die Feststellung von kausalen Verknüpfungen fällt durchaus nicht, wie vielfach geglaubt wird, mit einer Erforschung der Wirklichkeit als Natur zusammen. Endlich vereinigen sich im Begriff der Entwicklung die Grundprinzipien der historischen Darstellung. Doch ist dieser Umstand ebenfalls weit davon entfernt, die historische und die naturwissenschaftliche Methode einander zu nähern. Die geschichtliche Entwicklung besteht erstens aus einmaligen und individuellen Werdegängen, und zweitens enthalten auch diese durch die Beziehung auf einen Wert ein teleologisches Moment. Den im logischen Sinne naturwissenschaftlichen Darstellungen ist dieser Entwicklungsbegriff fremd, und wenn er heute in einigen Teilen der Körperwissenschaft trotzdem eine Rolle spielt, so liegt das nur daran, daß man auch die physische Welt unter historische Gesichtspunkte bringen kann und gebracht hat.

Ist durch den Begriff der Entwicklungsgeschichte das allgemeinste logische Wesen jeder historischen Darstellung bestimmt, so wenden wir uns den Einschränkungen zu, die gemacht werden müssen, wenn unser Begriff auf die wirklich vorhandene Geschichtswissenschaft angewendet werden soll, d. h. wir dehnen ihn vom absolut Historischen, das wir zuerst allein berücksichtigen, auf das relativ Historische aus und lernen dadurch die naturwissenschaftlichen Bestandteile in den Geschichtswissenschaften kennen, die ebenso wichtig sind wie die historischen Bestandteile, welche die Naturwissenschaften enthalten. Doch bleibt trotz aller Übergänge und Zwischenformen ein prinzipieller logischer Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft bestehen. Wenn auch viele, vielleicht sogar die meisten historischen Begriffe insofern einen allgemeinen Inhalt haben, als die das einer Mehrheit von individuellen Wirklichkeiten Gemeinsame umfassen, so kommt doch dieses Allgemeine in diesem historischen Zusammenhang einer einmaligen Entwicklungsreihe immer nur als etwas relativ Besonderes in Betracht und muß deshalb für die Naturwissenschaft ebenso eine Grenze bilden, wie das absolut Historische und Individuelle.

Mit diesem Nachweis ist dann die rein logische Arbeit des vierten Kapitels beendet. Wenn wir jedoch nicht nur das Wesen, sondern auch die Bedeutung und Unentbehrlichkeit der historischen Begriffsbildung verstehen wollen, so müssen wir schließlich auch wissen, welcher Teil der Wirklichkeit es denn ist, der eine geschichtliche Darstellung erfordert, und diese Notwendigkeit kann nur auf besonderen inhaltlichen Bestimmungen gewisser Gegenstände beruhen. Wir haben also zu fragen, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Inhalt und Form der historischen Darstellungen besteht, und auf diese Weise auch den sachlichen Begriff der Geschichte zu gewinnen. Zunächst kommt dabei in Betracht, daß die Geschichte gegen den Anfangs bei Seite gelassenen Unterschied von Körper und Geist faktisch durchaus nicht gleichgültig ist, sondern es im Wesentlichen mit geistigen Vorgängen zu tun hat und insofern auch als Geisteswissenschaft bezeichnet werden könnte. Wir müssen feststellen, woher das kommt, und ob etwa auch die historische Methode durch diesen Umstand wesentlich bestimmt ist. Es wird sich jedoch von Neuem zeigen, daß der Unterschied von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft selbst dann in keiner Weise als ausschlaggebend angesehen werden kann, wenn es sich um die Einteilung der empirischen Wissenschaften in zwei inhaltlich verschiedene Gruppen handelt. Die Objekte, mit denen es die Geschichtswissenschaften zu tun haben, sind vielmehr, im Gegensatz zu den Objekten der Naturwissenschaft, unter den Begriff der Kultur zu bringen, weil der Inhalt der Werte, welche die historische Begriffsbildung leiten und zugleich bestimmen, was Objekt der Geschichte wird, durchweg dem Kulturleben entnommen ist. Freilich kann auch die Kultur wie jede Wirklichkeit unter naturwissenschaftliche Begriffe gebracht werden, aber für sie reicht diese Art der Darstellung allein niemals aus, sondern sie erschließt sich in ihrer Bedeutung nur der geschichtlichen Forschung. Die historischen Kulturwissenschaften sind es daher, die sowohl mit Rücksicht auf die Methode als auch mit Rücksicht auf ihren Inhalt den Naturwissenschaften gegenüber gestellt werden müssen, und die unter den sachlichen Begriff der Geschichte fallen. Selbstverständlich bleibt auch dieser sachliche Begriff noch formal, da wir nur einen formalen Begriff der Kultur aufstellen können.

Ist dies klar, so erhebt sich noch ein neues Problem. In jeder naturwissenschaftlichen und historischen Darstellung machen wir eine Reihe von Voraussetzungen, die gültig sein müssen, wenn der Anspruch dieser Disziplinen auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit berechtigt sein soll, und die als das a priori der wissenschaftlichen Begriffsbildung bezeichnet wird. Diese Voraussetzungen stecken hauptsächlich im Begriff des Naturgesetzes einerseits und im Begriff des Kulturwertes, auf den jedes historische Objekt bezogen wird, andererseits, und es kann nun nicht nur überhaupt nach der Geltung dieser Voraussetzungen gefragt werden, sondern es wird in Folge des besonderen Charakters, den sie in der Geschichtswissenschaft haben, die wissenschaftliche Objektivität der historischen Darstellung gegenüber der Naturwissenschaft als problematisch erscheinen. Damit ist dann der Wert der Geschichte als Wissenschaft wieder in Frage gestellt, und so kommen wir also zu der Aufgabe, das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geschichte auch mit Rücksicht auf die wissenschaftliche Objektivität ihrer Ergebnisse zu verstehen. Dies aber gehört nicht mehr in den rein methodologischen Zusammenhang. Erst das letzte Kapitel wird daher die Probleme der Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie, auf welche wir durch die Frage nach der Objektivität der historischen Begriffsbildung geführt werden, abgesondert und den rein methodologischen Problemen behandeln und damit unseren Gedankengang zum Abschluss bringen.


I.
Das Problem
der historischen Begriffsbildung

Um zunächst unser spezielles methodologisches Problem genau zu formulieren, ist es notwendig, daß wir einmal auch einen Blick auf das Ganze der Fragen werfen, welche die Geschichtswissenschaft an die Logik stellt, und dann das, was wir unter historischer Begriffsbildung verstehen, gegen die anderen Formen des geschichtswissenschaftlichen Denkens abgrenzen. Nach DROYSEN hat die Methodik des historischen Forschens vier Teile, nämlich die Heuristik, die Kritik, die Interpretation und die Darstellung (1), und dieser Einteilung schliesst sich auch BERNHEIM an. Er faßt "die einzelnen Grundsätze und Operationen, welche die angewandte Methodologie oder Methodik ausmachen", in vier verschiedene Gruppen zusammen: "die Quellenkunde oder Heuristik, welche die Sammlung und Kenntnisnahme des Stoffes begreift, die Kritik, welche sich mit der Sichtung des Stoffes und der Konstatierung des Tatsächlichen beschäftigt, die Auffassung, welche die Bedeutung und den Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen hat, die Darstellung, welche die in ihrem Zusammenhang erkannten Tatsachen in erkenntnisgemässem Ausdruck wiedergibt" (2). Wir können für den Zweck einer Übersicht diese Einteilung akzeptieren und müssen nur die Bedeutung einiger Termini etwas genauer bestimmen.

Der Gegensatz von Stoff und Auffassung fällt seinem allgemeinsten Sinne nach mit dem von Materie und Form zusammen. Als Material der Wissenschaft betrachten wir überall die empirische Wirklichkeit, die, wenn es sich z. B. um die Körperwelt handelt, aus einer "Mehrheit" von "Dingen" besteht. Nun gibt es einen erkenntnistheoretischen Standpunkt, von dem aus diese Wirklichkeit, die für die besonderen Wissenschaften nur Stoff ist, bereits als geformter Stoff angesehen werden kann, so daß dann z. B. Mehrheit und Dinghaftigkeit Formen wären, die erst durch das "Bewußtsein überhaupt" an das Empfindungsmaterial herangebracht sind, und dieser erkenntnistheoretische Gegensatz von Stoff und Form muß von dem methodologischen geschieden werden. Für eine Untersuchung, welche die geschichtswissenschaftlichen Formen im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen darstellen will, kann es nämlich wichtig werden zu wissen, welche Formen zu jeder Auffassung der Wirklichkeit gehören, weil diese dann der Naturwissenschaft und der Geschichte gemeinsam sind. Natürlich ist hier die Grenze nicht so zu ziehen, daß wir nach dem System dieser erkenntnistheoretischen Formen fragen, sondern wir können die Scheidung nur für die einzelnen Fälle vornehmen, an welche die Untersuchung uns heranführen wird. Aber es ist nötig, gleich von vornherein darauf hinzuweisen, daß, wenn wir im Folgenden ohne nähere Bestimmung von Formen der Auffassung reden, niemals die allgemeinen erkenntnistheoretischen, sondern nur die speziellen geschichtswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Formen gemeint sind, und daher der unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten schon geformte Stoff in der methodologischen Untersuchung als Stoff schlechthin bezeichnet werden darf.

Auch dann jedoch ist der Ausdruck "Stoff" der Geschichtswissenschaft noch nicht eindeutig. Man kann darunter nämlich sowohl das Material verstehen, das dem Historiker unmittelbar gegeben ist, und aus dem er seine Kenntnis der Dinge und Vorgänge selbst, die für die Methodenlehre ebenfalls nur Material bilden, solange sie noch nicht durch die spezifisch geschichtswissenschaftlichen Formen bearbeitet sind. Wir bezeichnen daher den unmittelbar gegebenen Stoff, der nicht selbst historisch dargestellt wird, als Quellenmaterial, die Dinge und Vorgänge dagegen, welche die Geschichte darstellen will, als ihre Objekte, oder, um den Gegensatz zur geschichtswissenschaftlichen Form anzudeuten, als Tatsachenmaterial, so daß, wenn von dem historischen Stoff im Gegensatz zur historischen Form die Rede ist, darunter nie die bloße Quelle, aber auch nicht das schon geschichtlich aufgefaßte oder bearbeitete Objekt, sondern lediglich die individuelle geschichtliche Wirklichkeit als solche verstanden werden muss.

Schließlich ist mit Rücksicht auf die Terminologie noch zu bemerken, daß wir das Wort "Darstellung" nicht nur für die äußere Form der Mitteilung gebrauchen, sondern auch die "Auffassung", also das unter der Erkenntnis von "Bedeutung" und "Zusammenhang" der Tatsachen Gemeinte darunter verstehen. Wir können dann mit Rücksicht auf die vier angegebenen Gruppen unser Problem so formulieren, daß es sich nicht um die beiden ersten, also nicht um Heuristik und Kritik, sondern um die beiden letzten, d. h. um Auffassung und Darstellung handelt. Wie die Kenntnis der Tatsachen oder der darzustellenden Wirklichkeit aus den Quellen gewonnen wird, dürfen wir unberücksichtigt lassen. So interessant es sein mag, die Technik der Materialsammlung und Kritik im Einzelnen zu verfolgen, so sind doch die Unterschiede, die sich hier zwischen der Methode der Naturwissenschaft und der der Geschichte finden, nicht annähernd von so prinzipieller Bedeutung, wie diejenigen, welche bei der Auffassung und Darstellung des gefundenen Materials zu Tage treten. Zur Auffindung und Sicherung der Tatsachen ist ja jeder Weg und Umweg, wenn er nur zum Ziele führt, in gleicher Weise willkommen und berechtigt, und erst dann, wenn die einen Wissenschaften ihren Stoff als Natur, die anderen ihn als Geschichte auffassen, entstehen die fundamentalen methodologischen Unterschiede. Was genauer unter "Auffassung", und was besonders unter den sehr vieldeutigen Ausdrücken "Bedeutung" und "Zusammenhang" zu verstehen ist, wird sich erst später zeigen. Hier genügt die Bemerkung, daß unser Problem erst bei der Frage beginnt, wie aus den gefundenen und kritisch gesichteten Tatsachen Wissenschaft wird, oder, wenn wir den wissenschaftlich geformten und insofern "begriffenen" Stoff auch in der Geschichte einen Begriff nennen wollen, wie der Historiker aus seinem Tatsachenmaterial seine Begriffe bildet. So allein entspricht unser Problem dem bei der Untersuchung der Naturwissenschaft behandelten.

Man kann nun aber fragen, ob es überhaupt einen Sinn hat, auch nur begrifflich Tatsachenfestellung und Begriffsbildung in der Geschichte von einander zu scheiden. Sehen wir uns nämlich historische Werke an, so scheint der Historiker oft alles darzustellen, was er von seinen Objekten in Erfahrung gebracht hat, ja häufig weiß er von ihnen weniger, als er wissen möchte, und dann wird ihm nie der Gedanke kommen, daß er sein Tatsachenmaterial durch einen Prozeß der Auswahl noch zu vereinfachen habe. Hat er seine Arbeit nicht getan, wenn aus den Quellen die Tatsachen gefunden und kritisiert sind, und ist die Darstellung nicht nur eine Form der Mitteilung, die vielleicht Geschick und Geschmack erfordert, aber nicht als eigentlich wissenschaftliche Arbeit angesehen werden kann? Ja, wird nicht die treueste und wahrste historische Darstellung die sein, die sich auf die Wiedergabe des kritisch gesichteten Tatsachenmaterials ausdrücklich beschränkt und nur erzählt, "wie es eigentlich gewesen"? Bei der Naturwissenschaft mag man mit Recht fragen, was sie aus der unübersehbaren Fülle des Materials als wesentlich auswählt, und den Schwerpunkt ihrer Arbeit daher darin erblicken, daß sie ihre Begriffe richtig bildet. Die historischen Tatsachen aber sind nicht unübersehbar mannigfaltig, und die Probleme, die sich für die Naturwissenschaft ergaben, scheinen daher für die Geschichtswissenschaften nicht zu existieren.

In der Tat, ein einfacher Hinweis auf die unübersehbare Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit genügt nicht, um unser Problem ebenso deutlich wie das der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hervortreten zu lassen. Zwar könnten wir sagen, daß, wenn auch nicht die Tatsachen, so doch die Quellen dem Historiker als intensiv unübersehbare Mannigfaltigkeiten gegeben sind, und daß er also unter allen Umständen eines Prinzips der Auswahl bedarf, um in ihnen das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden und sie zur Feststellung der Tatsachen benutzen zu können. Aber wir würden damit noch nicht eine Problemstellung gewinnen, die der für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung sich ergebenden Frage vollkommen parallel gesetzt werden kann, und das wäre unter logischen Gesichtspunkten ein Mangel. Die Geschichte unterscheidet sich auch durch die Art, wie ihre Tatsachen gegeben sind, von der Naturwissenschaft, und wir müssen daher diesen Unterschied, soweit er mit dem allgemeinsten logischen Gegensatz von Natur und Geschichte zusammenhängt, zu verstehen suchen.

Der entscheidende Punkt ist dabei der folgende. Das, worin die "Natur" der Wirklichkeit besteht, und was die Naturwissenschaft kennen muß, um ihre Begriffe zu bilden, findet sich immer an einer Mehrheit von Objekten, und insbesondere das Material zur Entdeckung der zeitlos geltenden Naturgesetze wird an vielen Stellen vorhanden sein. Das Besondere und Individuelle dagegen, für das die Geschichte sich interessiert, ist, soweit absolut historische Begriffe in Betracht kommen, nur einmal gewesen, und die Kenntnis von ihm ist daher nur sehr schwer oder garnicht zu erlangen. Daraus folgt, daß der Stoff für die naturwissenschaftliche Darstellung eines Gegenstandes vollständig vorhanden sein kann, während er für die geschichtliche Darstellung desselben Gegenstandes nur höchst unvollständig zu gewinnen ist.

Freilich handelt es sich auch hier nicht um einen unvermittelten Gegensatz, sondern die Vollständigkeit des Stoffes ist in den verschiedenen Teilen der Naturwissenschaft verschieden groß, und zwar wird die Lückenhaftigkeit ungefähr in demselben Maß wachsen, in dem relativ historische Elemente in den Begriffen zunehmen. Denken wir zunächst wieder nur an die Körperwissenschaften, so braucht die reine Mechanik, weil sie von historischen Elementen absolut frei ist, überhaupt kein anderes Material als die Anschauungen von Raum und Zeit und die an jedem beliebigen Körpervorgang zu bildenden Begriffe von Masse und Bewegung oder Kraft. Die Physik im engeren Sinne als die Lehre vom Schall, der Wärme, u. s. w. kann eines besonderen Stoffes schon nicht entbehren, aber als eine Wissenschaft, die es immer noch mit sehr allgemeinen Begriffen zu tun hat, findet sie ihn nahezu überall, oder kann ihn wenigstens überall hervorbringen, wo ihr die geeigneten Apparate zur Verfügung stehen, denn auch ganz neu entdeckte physikalische Vorgänge, wie z. B. die Röntgenstrahlen, sind, sobald man nur einmal die Bedingungen ihrer Beobachtung kennt, an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit wahrnehmbar zu machen. Schon der Chemiker dagegen, der ein relativ Historisches höherer Ordnung behandelt, vermag sich, auch wenn er mit allen Apparaten ausgerüstet ist, nicht überall gerade das Material zu verschaffen, das ihn interessiert, und vollends wird die Materialsammlung in den biologischen Wissenschaften auf Schwierigkeiten stoßen. Der Embryologe z. B. muß oft lange suchen, bis er das eine oder andere bestimmte Stadium in der Entwicklung eines Organismus erhält, das er zur Bildung eines vollständigen Allgemeinbegriffes der betreffenden Gattung braucht, und so kann bei weiterer Spezifikation die Schwierigkeit der Materialsammlung immer größer werden.

Andererseits aber bleibt trotz dieser Relativität ein prinzipieller Unterschied bestehen. Wir müssen nur stets auch innerhalb der Körperwissenschaften, deren Material ein relativ historisches ist, die naturwissenschaftliche und historische Methode auseinanderhalten. Lediglich in Wissenschaften, wie der Paläontolgie, kommen Merkmale von solchen Dingen in Betracht, die unzugänglich sein können, weil sie nur an einer bestimmten Stelle existieren, oder überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Die Körperwissenschaften aber werden hierdurch dann allein entscheidend beeinflußt, wenn sie sich Aufgaben stellen, die, wie wir gezeigt haben, unter logischen Gesichtspunkten zur Geschichte gehören, und diese Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geschichte der Organismen beruth so wenig auf einer bloß logischen Konstruktion, daß ihre Verkennung sogar zu falschen Ansichten über den Wert naturwissenschaftlicher Theorien führen kann. Es ist z. B. methodologisch falsch, wenn man von der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] den Nachweis des wirklichen Vorhandenseins einer lückenlosen historischen Kette der Lebewesen mit allen Zwischenformen und Übergängen fordert. Als naturwissenschaftliche Theorie hat sie genug getan, sobald sie zeigen kann, aus welchen Gründen überhaupt die Umwandlung einer Art in die andere angenommen werden muss, und Begriffe gebildet hat, die solche Umwandlungen als im Einklang stehend mit den übrigen Annahmen über das organische Geschehen erscheinen lassen. Ja, die Aufzeigung einer lückenlosen historischen Entwicklungsreihe würde, wenn die Umwandlung einer Art in die andere auch nur an einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Beispielen sicher nachgewiesen wäre, die Geltung der allgemeinen Theorie im Prinzip nicht mehr wesentlich befestigen (3). Vollends sind eine Menge von anderen Problemen der naturwissenschaftlichen Biologie, z. B. die Fragen nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, die Bedeutung der geschlechtlichen Auslese und dergleichen, durch ihre Kenntnis der historischen Entwicklung ihrer Lösung nicht näher zu bringen. Immer erst für die geschichtliche Betrachtung kommt die Vollständigkeit der einmaligen Entwicklungsreihe in Betracht. Kurz, was für die Naturwissenschaft eine Ausnahme ist, bildet für die Geschichte die Regel: vom Historischen ist sehr oft jede Spur verloren, von der Natur dagegen fast nie.

Daß auch innerhalb der naturwissenschaftlich verfahrenden Psychologie die Lückenhaftigkeit des Stoffes in demselben Maße wächst, in dem die Allgemeinheit der Theorien abnimmt, ist nicht schwer zu zeigen. Für die Teile der "Individualpsychologie" (4), die nicht das einzelnen Individuen Eigentümliche, sondern nur das in allem Seelenleben Vorhandene darstellen wollen, besitzt der Psychologe an dem ihm stets zugänglichen eigenen Seelenleben ein vollständiges Material. Die notwendige Vergleichung, dieses Stoffes mit dem Seelenleben anderer Menschen hat den Zweck, das rein Individuelle auszuscheiden, und daher kann man geradezu sagen, daß auch durch die in diesem Interesse vorzunehmenden Experimente das Material nicht durch prinzipiell Neues vermehrt, sondern im Gegenteil so vermindert wird, daß nur das allen Individuen Gemeinsame zur begrifflichen Bearbeitung übrig bleibt. Wird dagegen etwas relativ Historisches, wie z. B. das nur dem Seelenleben des Kindes Eigentümliche, zum Objekt, so ist der Psychologe von einem besonderen, eventuell nicht sofort zu beschaffenden Stoff abhängig. Dabei sehen wir natürlich von der prinzipiellen Unzugänglichkeit des fremden Seelenlebens ab und beschränken uns nur auf die Vollständigkeit der zur psychologischen Deutung vorliegenden physischen Tatsachen. Immerhin sind Kinder, die man beobachten und fragen kann, verhältnismäßig leicht zu finden. Dagegen muß, wenn die künstlerische Phantasie oder der Cäsarenwahnsinn naturwissenschaftlich untersucht werden soll, der Umkreis des hierfür zur Verfügung stehenden Materials schon recht klein sein. Es ergeben sich also genau dieselben Verhältnise wie bei der Darstellung der Körperwelt, d. h. je spezieller die psychologischen Theorien sind, um so weniger Stoff für die Kenntnis der gesuchten Tatsachen ist ihnen gegeben.

Andererseits aber ist auch bei den speziellsten naturwissenschaftlich-psychologischen Theorien die Vollständigkeit des zur psychologischen Deutung notwendigen Materials im Prinzip nie ausgeschlossen, denn auch die denkbar speziellste Theorie ist immer noch allgemein. Eine Theorie des Cäsarenwahnsinns z. B. will niemals nur einem Seelenleben, etwa dem Neros, Eigentümliche als solches darstellen, sondern die einzelne Person kommt auch für sie nur als Exemplar eines allgemeinen Begriffes in Betracht (5).

NERO würde für sie gar kein Interesse haben, wenn er nicht als Exemplar einer Gattung angesehen werden könnte. Nur dann, wenn es sich um Geschichte handelt, muß, falls der zur Erschließung eines einmaligen psychischen Vorganges notwendige Stoff ganz verloren ist, eine Darstellung für immer unmöglich bleiben. So ist das, was wir von NERO wissen, zwar sehr lückenhaft, aber wenn wir es durch Kenntnisse über andere Individuen ergänzen, so besitzt es eventuell für eine naturwissenschaftliche Theorie des Cäsarenwahnsinns großen Wert. Für eine geschichtliche Darstellung NEROs aber, die es mit ihm nicht als einem Gattungsexemplar sondern als einem Individuum zu tun hat, wissen wir viel zu wenig, und da es prinzipiell unmöglich ist, die Lücken dieser historischen Kenntnis durch Kenntnisse über andere Individuen zu ergänzen, so ist es denkbar, daß ein Historiker auf die Darstellung NEROs ganz verzichten zu müssen glaubt. Absolute historische Vollständigkeit des psychischen Materials kann es wegen der schnellen Vergänglichkeit des Seelenlebens eigentlich nur für eine Selbstbiographie oder für die Darstellung von Menschen geben, die dem Historiker durch Antworten auf jede beliebige Frage Auskunft über jede beliebige Tatsache erteilen, und auch dabei ist die wohl niemals vorhandene absolute Treue des Gedächtnisses vorausgesetzt. Alles andere individuelle Seelenleben jedoch, das der Vergangenheit angehört, kann dem Historiker immer nur in verhältnismäßig kleinen Bruchstücken bekannt werden, und deshalb gibt es wenige Fälle, in denen er nicht auf unsichere Vermutungen angewiesen ist, oder auf die Reproduktion großer Teile seines Gegenstandes von vornherein verzichten muß. Wir sehen also auch hier, wie für die Geschichte Schwierigkeiten entstehen, welche die Naturwissenschaft nicht kennt. Wer nach der Natur forscht, hat meist mehr Stoff, als er braucht. Wer die Geschichte kennen will, wird meist wenig von ihr wissen, und das folgt notwendig aus dem Wesen der Geschichte als der Wirklichkeitswissenschaft (6).

Kehren wir nun zu unserem Problem der historischen Darstellung zurück, so verstehen wir jetzt auch, wie es kommt, daß die Geschichte ihre Tatsachen meist nicht wie die Naturwissenschaft direkt erfahren kann, sondern fast immer erst aus erhaltenen Spuren erschließen muß, und warum sie daher nicht ihrem Tatsachenmaterial, sondern nur ihrem Quellenmaterial als einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit gegenübersteht. In wenigen Ausnahmefällen ist der Gegenstand, für den sie ihre Begriffe bildet, zugleich der, an dem sie sie bilden kann. Gewöhnlich fallen Objekt der Beobachtung und Objekt der historischen Darstellung, also Quelle und Tatsache, auseinander. Dadurch kann die Meinung entstehen, daß der Historiker von seinen Objekten Alles darzustellen habe, was nur irgendwie in Erfahrung zu bringen ist, und dann scheinen wir kein Recht zu haben, die historische Begriffsbildung von der Tatsachenfeststellung auch nur begrifflich zu unterscheiden.

Trotzdem kann ein solches Recht erwiesen werden. Zunächst freilich ergibt sich aus der Unvollständigkeit des historischen Stoffes nur eine neue Schwierigkeit, die den Sinn unseres ganzen Unternehmens vollends in Frage zu stellen scheint. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum, wenn Quellen und Tatsachen auseinanderfallen, für den Historiker immer Quellen für eine wenn auch nur unvollständige Gewinnung gerade des Tatsachenmaterials vorhanden sein sollen, das ihn interessiert, und es erscheint deshalb unter logischen Gesichtspunkten als zufällig, welche Vorgänge er darzustellen vermag. Diese Zufälligkeit aber muß der Geschichte der Eigentümlichkeiten verleihen, die sich aus ihren Zielen nicht ableiten und somit überhaupt nicht logisch begreifen lassen. Sie tragen dazu bei, ihr den Anschein einer amethodos hyle [ungeordnete Materie - wp] zu geben, und dieser Umstand ist auf das Sorgfältigste zu berücksichtigen, wenn es sich darum handelt, das Verhältnis des logischen Ideals einer geschichtlichen Darstellung zu den wirklich vorhandenen Geschichtswissenschaften zu verstehen, denn Ideal und Wirklichkeit lassen sich hier viel schwerer zur Deckung bringen, als dies bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung der Fall war.

Daß aber die Aufstellung eines logischen Ideals der historischen Darstellung überhaupt unmöglich ist, folgt daraus nicht. Wir dürfen nämlich bei dem Versuch, es zu gewinnen, gerade weil die Lückenhaftigkeit des Stoffes sich zwar im Allgemeinen aus dem Begriff der Wirklichkeitswissenschaft verstehen läßt, im Einzelnen aber vollkommen zufällig ist, von ihr auch im Einzelnen absehen und die Fiktion machen, daß für den Historiker in einem beliebigen Falle jedes beliebige Tatsachenmaterial aus den Quellen zu gewinnen sei, denn zufällig können sich ja auch einmal alle hierzu erforderlichen Quellen erhalten haben. Für einen solchen denkbaren Fall stellen wir dann zunächst ein logisches Ideal auf, um hinterher, sobald es mit der Wirklichkeit verglichen werden soll, die Einschränkungen hinzuzufügen, die mit Rücksicht auf den meist vorhandenen Materialmangel notwendig sind.

Darf aber diese Fiktion gemacht werden, so ist damit zugleich auf die für unsere Problemstellung entstandene Schwierigkeit beseitigt, von der wir ausgegangen sind. Es besitzt allerdings nur das Quellenmaterial, nicht aber das Tatsachenmaterial der Geschichte jene unübersehbare Mannigfaltigkeit, die das Problem der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung deutlich macht, aber wenn dies lediglich eine Unvollständigkeit des Tatsachenmaterials bedeutet, so brauchen wir, gerade weil die Lückenhaftigkeit sich in jedem besonderen Falle dem logischen Begreifen entzieht, ihr auch keinen Einfluß auf die logische Ausbildung einer Theorie der geschichtlichen Darstellung zu gewähren. Wir können vielmehr wieder ganz dieselbe Frage stellen, die wir bei der Klarstellung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung gestellt haben: warum wird von der Geschichtswissenschaft stets nur die Feststellung eines Teils der Wirklichkeit in seiner individuellen Gestaltung erstrebt, und welcher Teil ist dies? Soll hier keine Willkür herrschen, so muß es ein wissenschaftliches Prinzip geben, nach dem die Auswahl erfolgt.

Doch, wenn auch die angegebene Fiktion im logischen Interesse berechtigt ist, so wird es trotzdem gut sein, hinzuzufügen, daß wir sie nur brauchen, um unser Problem ganz allgemein stellen zu können, und daß fast immer auch faktisch für den Historiker viel mehr Tatsachen aus den Quellen zu gewinnen wären, als er darstellt, also ein Prinzip der Vereinfachung wirklich unentbehrlich ist. Dabei muß man freilich mehrere Fälle von einander unterscheiden. Ganz selbstverständlich ist die Notwendigkeit einer Vereinfachung, wenn Quelle und Tatsache zusammenfallen. Kann der Historiker Menschen, die sein Objekt bilden, ausfragen, oder hat er es mit den unverändert erhaltenen geographischen Schauplätzen historischer Ereignisse, oder mit Kulturprodukten, wie Bauten, Kunstwerken, Geräten usw. nicht nur als Quellen, sondern auch als historischen Tatsachen zu tun, dann steht er ihnen genau wie der Naturforscher als einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit gegenüber. Ebenso weiß er von allen historischen Vorgängen, die er miterlebt hat, stets viel mehr, als er darstellen will und kann. Jeder z. B., der BISMARCK selbst gesehen hat, kennt eine Menge von Tatsachen über ihn, die in keine Geschichte gehören. Nicht viel anders aber steht es bei sehr vielen geschichtlichen Vorgängen, die wir zwar nicht mehr miterlebt haben, die aber uns zeitlich nahe liegen. Auch da könnten wir aus sicheren Quellen eine Fülle von Einzelheiten erfahren, die nicht das geringste historische Interesse haben, und stets wird man dann vom Historiker verlangen, daß er das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden wisse. daß z. B. FRIEDRICH WILHELM IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, ist ein "historisches" Ereignis, aber ist vollkommen gleichgültig, welche Schneider seine Röcke gemacht haben, obgleich wir wohl auch dies noch genau erfahren können. Der historische Begriff dieses Königs kann also gewiß nicht aus Allem bestehen, was über ihn sicher festzustellen wäre.

Anders scheint es nur dann zu liegen, wenn die Quellen sehr spärlich fließen. Da wird man dann in der Tat keinen individuellen Zug fortlassen, den man nur irgend erfahren kann, ja das Geringfügigste gewinnt hier wegen des Materialmangels eine Bedeutung, die es bei reichlich vorhandenen Nachrichten vielleicht nicht haben würde. Aber kann man wirklich sagen, daß in diesen Fällen der Historiker Alles darstellt, was er weiß oder wissen könnte? Das bloße Faktum bedeutet auch hier noch nichts, ja man kann sogar von ganz "unbekannten" Dingen immer noch viel mehr erfahren, als in der Geschichte aufzunehmen ist. Von jedem Menschen läßt sich mit Sicherheit all das aussagen, was die Naturwissenschaft von den Körpern und die allgemeine Psychologie vom Seelenleben lehrt, und doch kümmert sich der Historiker um dieses Wissen gar nicht. Selbst wenn also die Geschichte von ihren Objekten zu wenig weiß, weiß sie zugleich auch von ihnen zu viel. Sie kann sich deshalb niemals darauf beschränken, zu erzählen, "wie es eigentlich gewesen" ist, sondern sie hat überall die Aufgabe, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden. Für eine solche Scheidung aber muß es leitende Gesichtspunkte geben, und diese sind als Prinzipien der historischen Darstellung zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen. So tritt auch abgesehen von der im logischen Interesse berechtigten Fiktion das Problem der historischen Darstellung deutlich zu Tage.

Haben wir nun darum aber auch ein Recht, von historischer Begriffs bildung zu sprechen? Man könnte gerade auf Grund unserer früheren Ausführungen etwa Folgendes einwenden. Die Geschichte soll die Wirklichkeitswissenschaft sein im Gegensatz zur Naturwissenschaft, deren Inhalt aus allgemeinen Begriffen besteht. Zwar hat selbstverständlich jede empirische Wissenschaft es mit wirklichen Dingen und Vorgängen zu tun, insofern ihre Begriffe für die Wirklichkeit und nur für sie gelten sollen, denn wollte Jemand Phantasiegebilde in ein System allgemeiner Begriffe bringen, so würde kein Mensch das Naturwissenschaft oder überhaupt Wissenschaft nennen, und sieht man also nur auf das Material der Wissenschaften, so ist jede empirische Wissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft zu bezeichnen. Aber insofern ist doch die Naturwissenschaft Begriffswissenschaft im Gegensatz zur Geschichte, als nicht nur der Inhalt ihrer Begriffe dem Inhalt der empirischen Wirklichkeit um so weniger gleicht, je umfassender diese Begriffe werden, sondern auch insofern, als die Existenz ihrer Objekte nicht in Urteilen ausdrücklich hervorgehoben zu werden braucht. Sätze z. B. wie: es gibt eine Körperwelt, es existiert Wasser, oder es leben Menschen, sind nicht Inhalt, sondern stillschweigende Voraussetzung der Naturwissenschaften, die von der Körperwelt überhaupt, vom Wasser oder vom Menschen handeln, d. h. gerade weil diese Urteile absolut selbstverständlich sind, gehören sie nicht mehr in diese Wissenschaften hinein. So liegt also überall in der Naturwissenschaft der Schwerpunkt der Probleme in der Frage nach der Geltung der Begriffe, aber nicht in der Frage nach der Existenz der Objekte. In der Geschichtswissenschaft dagegen haben bloße Existenzialurteile eine prinzipiell andere Bedeutung. Der Historiker sagt fortwährend: dies war so, und jenes war anders, und gerade die rein tatsächliche Wahrheit solcher Urteile zu behaupten und zu begründen ist das, worauf es ihm ankommt. Umgekehrt wie in der Naturwissenschaft liegt also hier der Schwerpunkt der Probleme in der Frage nach der Existenz der Objekte und nicht in der Frage nach der Geltung der Begriffe, und deshalb scheint man auch eine historische Begriffsbildung nicht der naturwissenschaftlichen parallel setzen zu können.

Gewiß, ein prinzipieller Unterschied im Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit besteht, ja, unsere ganze Darstellung war bemüht, ihn nachzuweisen, aber er kann uns doch nicht daran binden, den Prozess, durch den in der Geschichte eine Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen vorgenommen wird, und der bewirkt, daß eine historische Darstellung gerade aus diesen und nicht aus jenen Existenzialsätzen besteht, ebenfalls als Begriffsbildung zu bezeichnen. Bisher haben wir das Wort Begriff freilich immer nur so gebraucht, daß es einen Gedanken mit allgemeinem Inhalt bedeutete, weil die Logik, wenn sie von wissenschaftlichen Begriffen redet, fast ausschließlich das zu berücksichtigen pflegt, worin die Eigenart des naturwissenschaftlichen Begriffes besteht. Aber darin sehen wir ja gerade die Einseitigkeit, die wir überwinden wollen. Es bildet also die Geschichte zwar nicht allgemeine Begriffe, aber sie kann andererseits ebensowenig wie die Naturwissenschaft ihre Objekte, z. B. Cäsar oder den dreißigjährigen Krieg oder die Entstehung der Rittergüter oder die niederländische Malerei selbst als Wirklichkeiten in ihre Darstellung aufnehmen, sondern auch sie muß Gedanken von Cäsar oder von der Entstehung der Rittergüter bilden, und da diese Gedanken sich niemals vollkommen mit den unübersehbar mannigfaltigen wirklichen Vorgängen decken können, so sind auch sie, obwohl sie keinen allgemeinen Inhalt haben, doch Begriffe in dem Sinne, daß in ihnen das für die Geschichte Wesentliche aus der Wirklichkeit herausgehoben und zusammengefaßt ist. Selbstverständlich sind diese historischen Begriffe nur wirklich zu denken, wenn man sie in Existenzialurteile auflöst, die von den durch sie dargestellten Dingen und Vorgängen erzählen, aber die Umsetzung in Urteile ist, wie wir gezeigt haben, auch beim wirklichen Denken naturwissenschaftlicher Begriffe notwendig. Wenn es sich in dem einen Falle um Urteile handelt, die mit Rücksicht auf den Zweck der Naturwissenschaft, das Allgemeine zu erfassen, gebildet sind, in dem anderen Falle dagegen um Urteile, die von der besonderen und individuellen Wirklichkeit berichten, so tritt darin eben nur der Unterschied des naturwissenschaftlichen und des historischen Denkens überhaupt zu Tage. Den Terminus Begriff aber wollen wir in seiner weitesten Bedeutung gerade von diesem Unterschied frei halten, um zu einer wirklich umfassenden und allseitigen Theorie der Begriffsbildung zu kommen, und deshalb ist es im logischen Interesse gerechtfertigt, die Denkgebilde, in denen das historische Wesen der Wirklichkeit erfaßt ist, ebenso Begriffe zu nennen, wie die Denkgebilde, in denen die allgemeine Natur der Dinge ihren Ausdruck findet. Beide logischen Prozesse haben den Zweck, die empirische Wirklichkeit umzuformen und zu vereinfachen, so daß sie in eine wissenschaftliche Darstellung eingeht, und in dieser Aufgabe haben wir von vornherein das allgemeinste Wesen der Begriffsbildung gesehen. In diesem Sinne muß mithin alles Denken sich in Begriffen bewegen, und auch die Wirklichkeitswissenschaft kann die Wirklichkeit nur in Form eines Begriffes in sich aufnehmen.

Ehe wir jedoch dazu übergehen, die logischen Prinzipien der historischen Begriffsbildung zu entwickeln, stellen wir vorher noch einmal genau den Sinn fest, den allein dieser Versuch haben kann. Vor Allem liegt uns nichts ferner, als eine noch niemals angewendete neue Methode der historischen Darstellung zu erfinden und sie im Gegensatz zum jetzt üblichen Verfahren als die einzig berechtigte hinzustellen. Wir sind vielmehr ebenso wie bei der Untersuchung der Naturwissenschaft nur von der Absicht geleitet, die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit zu verstehen, d. h. die logische Struktur kennen zu lernen, die jede historische Darstellung zeigen muß. Ein anderes Verhältnis wird die Logik zur empirischen Forschung nie haben. Höchstens kann die Besinnung auf die logischen Besonderheiten einer Untersuchung mit dieser selbst Hand in Hand gehen und sie dadurch zielbewußter gestalten. In den bei weitem meisten Fällen aber sind die Wissenschaften bis zu einem hohen Grad ausgebildet, ehe die Reflexion auf ihre logische Struktur beginnt. Auch der Umstand, daß wir der Logik einen kritischen und normativen Charakter zusprechen, ändert an diesen Verhältnissen nichts, denn überall, wo wir uns logisch beurteilend verhalten, prüfen wir nur die formale Übereinstimmung zwischen den Zielen und den Mitteln einer Wissenschaft und suchen dadurch Klarheit in diese logisch-teleologischen Zusammenhänge zu bringen. Ja, sogar wenn die Erkenntnistheorie nach der Begründung gewisser Voraussetzungen der Wissenschaft fragt und dabei deren Geltung in dem philosophisch berechtigten Interesse möglichst großer Voraussetzungslosigkeit problematisch zu machen versucht, läßt sie doch die Bedeutung der Wissenschaften in ihrer Eigenschaft als empirischer Spezialforschungen ganz aus dem Spiel, so daß sie auch dann nicht den Anspruch erhebt, führend der Wissenschaft die Wege zu weisen, sondern nur verstehend ihr folgen will.

Dies kann so selbstverständlich erscheinen, daß es nicht gesagt zu werden braucht. Aber gerade die Logik der Geschichtswissenschaften hat Grund, auch das Selbstverständliche zu betonen. Noch immer ist es an der Tagesordnung, die Geschichte durch Anpreisung einer von ihr niemals gebrauchten Methode endlich "zum Rang einer Wissenschaft zu erheben". Wenn solche der unhistorischen Aufklärungsphilosophie entstammenden Versuche nach einer Zeit, in der die historischen Wissenschaften es zu einer ungewöhnlichen Höhe gebracht haben, schon ansich etwas wunderlich und äußerst rückschrittlich erscheinen, so ist es noch ganz besonders erstaunlich, daß diese methodologischen Konstruktionen nicht etwa von spekulativen, die Erfahrung verachtenden Metaphysikern ausgehen, sondern entweder von Philosophen, die sich auf ihre enge Fühlung mit den Erfahrungswissenschaften etwas zu Gute tun, oder gar von Historikern selbst, die ihre Abneigung gegen philosophische Konstruktionen nicht genug hervorheben können. Es ist sehr begreiflich, daß manche Historiker dadurch gegenüber allen methodologischen Untersuchungen etwas mißtrauisch geworden sind, und man wird daher vielleicht, da schon die bescheidene Erfahrungsphilosophie solche abenteürlichen Blüten wie die "neue historische Methode" zeitigt, noch Schlimmeres von einer Logik erwarten, die ausdrücklich ihren Anspruch auf Kritik und Normgebung kundtut. Deshalb weisen wir von vornherein darauf hin, daß es nur die Naturalisten und angeblichen Empiristen sind, die dem Verständnis der vorhandenen historischen Wissenschaften fern genug stehen, um eine neue historische Methode zu fordern, daß dagegen die kritische und normative Logik durchaus nichts in Bereitschaft halten kann, wodurch eine neue Ära der historischen Forschung herbeigeführt werden soll.

Das heißt natürlich nicht, daß sie das Verfahren eines einzelnen Historikers, wie etwa das RANKEs, oder die besondere Methode einer sogenannten "alten Richtung" für alle Zeiten als gültig festlegen und die Einführung neuer Gesichtspunkte in die Geschichtswissenschaft für ungerechtfertigt erklären will, denn dies wäre ein ebenso hoffnungsloser Versuch, die Wissenschaften zu meistern, wie die Proklamierung einer wissenschaftlichen Universalmethode oder das Unternehmen, die Werke RANKEs aus der Wissenschaft hinauszuweisen. Im Gegenteil, unser Begriff der Geschichte muß so umfassend sein wie unser Begriff der Naturwissenschaft, so daß er auch die "modernsten" Bestrebungen, wie z. B. die der Wirtschaftsgeschichte, der "Kulturgeschichte", der geographischen und der "materialistischen" Geschichtsauffassung mit umschließt. Aber gerade deswegen ist es auch von vornherein ausgeschlossen, daß wir zu logischen Normen kommen, die auf die Geschichte, wie RANKE oder andere Vertreter der "älteren" Richtung sie geschrieben haben, nicht passen. Wir glauben vielmehr zeigen zu können, daß die neuen Gesichtspunkte in der Geschichtswissenschaft, wie z. B. die größere Berücksichtigung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche die Logik nicht das Geringste einwenden kann, nur die Einführung eines neuen Materials, nicht aber die Einführung einer neuen Methode bedeuten, und daß auch die radikalsten Vertreter der "neuen Methode" in der Praxis, so lange sie nur überhaupt Geschichte schreiben, ohne es zu wissen, nach der Methode arbeiten, die immer von der Geschichte angewendet ist, und die sie in der Theorie verwerfen.

Etwas anderes ist freilich ebenfalls nachdrücklich zu betonen, das vielleicht als eine erhebliche Einschränkung des soeben Gesagten angesehen werden wird. Wenn wir nämlich auch das Resultat der Untersuchung "nur" eine Übereinstimmung der logischen Theorien mit der Methode der wirklich vorhandenen historischen Wissenschaften erstreben, so kann deshalb der Weg, auf dem wir zu den für das logische Verständnis der Geschichtswissenschaft brauchbaren Begriffen gelangen, nicht etwa in einer bloßen Beschreibung der vorgefundenen wissenschaftlichen Tätigkeit bestehen. Ja, wir glauben sogar, daß eine Untersuchung, welche mit einer solchen Beschreibung beginnen wollte, niemals zu Ergebnissen von Bedeutung gelangen könnte. Wenn keine Wissenschaft in einer bloßen Wiedergabe ihres Materials besteht, so kann aus diesem Grunde auch die Logik nicht bloße "Beschreibung" sein. Sind doch die Wissenschaften selbst ein Stück der historischen Wirklichkeit, das, wie wir wissen, sich ohne ein Prinzip der Auswahl gar nicht beschreiben läßt. Der Begriff der "reinen Induktion", wie das noch immer nicht verschwundene Schlagwort lautet, ist in Wahrheit nur das Ideal einer rein deduktiv verfahrenden, radikal empiristischen Spekulation, die mit dem wirklichen wissenschaftlichen Denken keine Berührungspunkte mehr hat, und der Versuch, in der Logik rein induktiv vorzugehen, muß vollends aus ganz besonderen Gründen unfruchtbar bleiben. Wie wollte man die logische Struktur der Wissenschaften einfach ablesen, wenn es sich um die Klarlegung zweier einander entgegengesetzter Methoden handelt? Die Teilung der wissenschaftlichen Arbeit knüpft ja zuerst nicht an logische, sondern an Unterschiede des Materials an, und diese sachlichen Unterschiede müssen sich notwendig in den Vordergrund drängen, wenn ein Versuch gemacht wird, die verschiedenen Wissenschaften "induktiv" zu beschreiben. Deshalb kann man die logischen Gegensätze, um sie überhaupt sichtbar zu machen, zunächst nur rein formal, ohne Rücksicht auf die vorliegenden Einzelwissenschaften, in ihrer elementarsten Gestalt konstruieren (7). In den allgemeinen Teilen der Logik ist man auch an dieses Verfahren als an etwas ganz Selbstverständliches gewöhnt, und nur wo die Methodenlehre sich spezielleren wissenschaftlichen Formen zuwendet, finden wir oft, daß von Anfang an der Inhalt der behandelten Wissenschaften die Hauptrolle spielt. Solche Untersuchungen bilden dann mehr einen enzyklopädischen Überblick über die verschiedenen Disziplinen als eine Entwicklung logischer Begriffe, und gerade diesen enzyklopädischen Charakter suchen wir im Folgenden sorgfältig zu vermeiden, um wirklich eine logische Methodenlehre zustande zu bringen. Das empirische Material darf immer nur als Beispiel zur Verdeutlichung eines vorher festgestellten logischen Prinzipes auftreten.

Hierzu kommt noch ein anderer Grund, der uns veranlaßt, zunächst formal oder "deduktiv" zu verfahren. Wo die Wissenschaftslehre mit vorher festgestellten Begriffen an ihre Arbeit gegangen ist, war sie sich dessen meist nicht bewußt, sondern faßte das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen unwillkürlich so auf, daß sie nur die Unterordnung des Besonderen unter den allgemeinen Begriff berücksichtigte. Infolgedessen paßte nur die naturwissenschaftliche Begriffsbildung in ihr Schema hinein. Für alles andere dagegen war sie so gut wie blind oder versuchte Alles in ihr Schema zu pressen. Gerade durch unser bewußt deduktives Verfahren, das nicht nur eine, sondern von vornherein alle denkbaren Möglichkeiten von Darstellungen berücksichtigt, wollen wir diese Einseitigkeit überwinden und den wirklich vorhandenen Wissenschaften gerecht werden. Wir konstruieren deshalb zuerst den rein logischen Begriff einer historischen Methode und wenden ihn dann auf die empirische Wissenschaft an, d. h. wir verfahren genau umgekehrt wie die logischen Naturalisten, die zuerst reine Empirie proklamieren, um dann bei der rein spekulativen Forderung einer historischen Wissenschaft anzugelangen, die, wenn sie die der Geschichte zufallenden Aufgaben lösen soll, niemals verwirklicht werden kann.

Zunächst mag dies formale Verfahren gegenüber den Geschichtswissenschaften freilich unfruchtbarer erscheinen als gegenüber den Naturwissenschaften, denn aus Gründen, die wir kennen lernen werden, ist dem Historiker bei der Bearbeitung seines Materials ein größerer Spielraum für die Betätigung individueller Eigenarten gegeben, die sich auf logische Formeln überhaupt nicht bringen lassen. Ignorieren wir all dies und sehen zugleich von jedem besonderen Inhalt der Wissenschaft ab, so wird man vielleicht von der historischen Tätigkeit im Anfang unserer Darlegungen gar nichts zu finden glauben. Aber das ist noch kein Einwand gegen unsere Aufstellungen, und es widerspricht ihrem Zwecke auch nicht, wenn selbst die Historiker ihre Richtigkeit bestreiten sollten, die ebenso wie wir von einer neuen Methode nichts wissen wollen. Die Männer der Spezialwissenschaft brauchen sich die logischen Eigentümlichkeiten ihres Verfahrens nicht klar gemacht zu haben. Auch die Anhänger der alten Richtung werden oft mit vielen ihnen nicht ausdrücklich zum Bewußtsein gekommenen Voraussetzungen arbeiten, wie es die Anhänger der neuen Richtung und er angeblichen neuen Methode immer tun. Wollte die Logik nur feststellen, was jeder Historiker bereits weiß, so hätte sie keinen Zweck.

Vor Allem aber ist im Auge zu behalten, daß eine logische Untersuchung nicht Alles auf einmal sagen kann, und man wird daher gut tun, sein Urteil darüber, ob hier wirklich das auf Formeln gebracht ist, was jeder Historiker tut, bis zum Ende der Darlegung zu suspendieren. Wem es schwer werden sollte, in der notwendigerweise etwas dünnen Luft der logischen Gedankengänge zu atmen, der möge daraus nicht der Logik einen Vorwurf machen. Sie behandelt ihre Probleme zunächst nur um ihrer selbst willen, nicht aber, um dem Mann der Einzelwissenschaften zu zeigen, wie er es bei seiner Arbeit halten soll. Ergibt sich aus dem Zusammenhang des Ganzen auch etwas in dieser Hinsicht Wertvolles, so ist das natürlich erfreulich, aber es bleibt doch im logischen Interesse nur ein Nebenerfolg.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Vgl. Droysen, Grundriss der Historik, 2. Auflage, 1875. In der 3. Auflage, 1881, ist die Disposition etwas verändert und die "Darstellung" aus der "Methodik" in die "Topik" verwiesen. Doch ändert dies sachlich nichts.
    2) Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 2. Auflage, 1894, Seite 180f. Da ich nur ausnahmesweise fremde Ansichten ausdrücklich berücksichtigt habe, so möchte ich hier ein für allemal auf dieses Werk hinweisen, das Jedem, der sich mit den Fragen der historischen Methode beschäftigt, außerordentlich wertvoll sein muß.
    3) Diese Ansicht finde ich sogar bei Haeckel, der sonst sehr geneigt ist, die Bedeutung der historischen Biologie für die naturwissenschaftlichen Probleme zu überschätzen. Er sagt neuerdings: "Die gefürchtete Abstammung des Menschen vom Affen – dieser wichtigste (!) Folgeschluß der modernen Entwicklungslehre – besteht auch ohne den Schädel und Oberschenkel des fossilen Pithecanthropus ebenso sicher und klar, wie mit demselben. Die ungleich stärkeren Beweisgründe der vergleichenden Anatomie und Ontogenie [Entwicklungsgeschichte des Individuums - wp] stellen jene vielbestrittene Abstammung für jeden sachkundigen und urteilsfähigen Forscher viel klarer und sicherer fest, als es eine vollständige Reihe von fossilen Zwischengliedern zwischen Menschen und Menschenaffen vermöchte." (Aus Insulinde, Malayische Reisebriefe, Deutsche Rundschau, Februar 1901.) Zugleich enthält dieser Satz implizit eine Scheidung der naturwissenschaftlichen und historischen Biologie, und kann gerade, weil Haeckel das klare Bewußtsein dieser Unterschiede fehlt, zur Bestätigung unserer früheren Ausführungen dienen.
    4) Über diesen Terminus vgl. oben, daß der Ausdruck, der besonders im Gegensatz zur "Sozialpsychologie" üblich geworden ist, zu Mißverständnissen Veranlassung geben kann, liegt auf der Hand. (Vgl. weiter unten Abschnitt VII.)
    5) Münsterberg freilich spricht (Grundzüge der Psychologie I, Seite 118), um die Unhaltbarkeit meiner Ansichten zu zeigen, von einem "Spezialgesetz, das sich in unserer Erfahrung nur einmal betätigen kann". Der Begriff eines solchen Gesetzes enthält jedoch einen logischen Widerspruch. Das speziellste Gesetz ist immer noch allgemein, d. h. die Vorgänge, die darunter fallen, können sich beliebig oft wiederholen. Gewiß behauptet der Psychologe, der bei der Ausbildung seiner Theorie die "Psychose Neros" benutzt hat, die tatsächliche Existenz des von ihm verwendeten Materials mit, aber dieses Existenzurteil ist die stillschweigende Voraussetzung und nicht der Inhalt seiner Theorie, und "daß da etwas existierte, das in der historischen Vergangenheit nur einmal sein konnte", ist für die Richtigkeit der Theorie völlig bedeutungslos. Münsterberg selbst sagt ja durchaus zutreffend, daß etwas "auszusagen sinnlos wäre, wenn es nicht das eine Mal wenigstens wirklich war", und dies "wenigstens einmal" widerspricht doch gerade dem "nur einmal". Auch mag es wohl vorkommen, daß man in der empirischen Wirklichkeit nur ein Exemplar eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriffes kennt, aber daß dieser Begriff nur für den Fall gelten kann, folgt hieraus durchaus nicht. Obwohl MÜNSTERBERG so deutlich wie wenige eingesehen hat, daß die Naturwissenschaft nur Abstraktionen gibt, hat er sich doch noch nicht ganz von dem weitverbreiteten naturwissenschaftlichen Rationalismus losgemacht. Auch er verwechselt noch Begriff und Wirklichkeit. Wie könnte er sonst (Seite 38) bestreiten, daß "die Mannigfaltigkeit der einzelnen Anschauung unendlich und die begriffliche Beschreibung ihr somit prinzipiell nicht gewachsen" ist, und behaupten, daß "die begriffliche Beschreibung nirgends einen anschaulichen Rest zurückläßt, der nicht selbst wieder begrifflich charakterisiert werden kann". Man versuche doch nur einmal wirklich, das denkbar einfachste Objekt so zu beschreiben und durch "Begriffsverknüpfung" so zu "rekonstruieren", daß man "nirgends einen anschaulichen Rest zurücklässt", dann wird man bald über die totale Irrationalität alles Wirklichen nicht mehr im Zweifel sein. Man darf nur das, was für uns an einem Objekte wesentlich ist, nicht für das Objekt selbst halten, wie der Rationalismus es tut.
    6) Dieser Umstand erklärt es auch, daß in der Geschichtsforschung "Hilfswissenschaften" existieren, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, Material zu sammeln und zugänglich zu machen. Eine derartige Arbeitsteilung ist der Naturwissenschaft im Allgemeinen fremd. Freilich kann sie in den Disziplinen, die es mit einem relativ Historischen höherer Ordnung zu tun haben, vielleicht auch einmal eintreten. Aber vorläufig werden in der Naturwissenschaft die Tatsachen meist nur von dem gesammelt, der sie wissenschaftlich darstellt.
    7) Formale Konstruktionen dieser Art können wir auch bei Männern der Einzelwissenschaften finden, die sich über die Methode ihrer Arbeit klar zu werden versuchen. Boeckh z. B. sagt (Enzyklopädie und Methodologie der philosophischen Wissenschaften, 1877, Seite 20) im Zusammenhang mit seiner bekannten Definition der Philologie als der "Erkenntnis des Erkannten": "Es war notwendig, erst einen unbeschränkten Begriff von der Philologie aufzustellen, um alle willkürlichen Bestimmungen zu entfernen und das eigentliche Wesen der Wissenschaft zu finden." So versuchen auch wir hier es zu machen und haben ein Recht dazu, wenn wir immer nur daran denken, dass, um wieder Worte Boeckhs zu gebrauchen, "je unbeschränkter der Begriff ist, desto mehr die Beschränkung in der Ausführung geboten" sein muß.