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HEINRICH RICKERT
Geschichtsphilosophie
[ 3 / 7 ]

Einleitung
I. Die Logik der Geschichtswissenschaft
II. Die Prinzipien des historischen Lebens
III. Universalgeschichte


"Ist nämlich jeder allgemeine Begriff einem noch allgemeineren untergeordnet und sind schließlich alle Begriffe unter den allgemeinsten gebracht, den die Untersuchung anstrebt, so müssen auch alle Objekte, für welche das System gelten soll, so angesehen werden können, als ob sie gleich wertvoll oder gleich wertlos sind, denn das Prinzip, welches bestimmt, was an einem Objekt wesentlich ist, darf jetzt nirgends mehr das ursprüngliche Interesse, sondern nur noch die Stellung sein, die das Objekt im System allgemeiner Begriffe einnimmt. Es wird also die ursprünglich überall nach Wertgesichtspunkten vollzogene Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen durch eine generalisierende Wissenschaft sowohl  verdrängt,  als auch zugleich dadurch  ersetzt,  daß nun das Allgemeine oder das Gemeinsame als solches mit dem Wesentlichen zusammenfällt."

"Als logisches Ideal dürfen wir es ansehen, daß der Forscher kein anderes Interesse an seinen Objekten hat als das, sie generalisierend zu begreifen und dann muß jedes für ihn zum gleichgültigen Gattungsexemplar werden. Aber man kann noch weiter gehen und sagen, das Interesse an der generalisierenden Begriffsbildung ist doch eben immer ein Interesse, das Scheiden des Wesentlichen vom Unwesentlichen muß also schon als ein Werten bezeichnet werden und wenn so der Begriff des Wesentlichen selbst zum Wertbegriff wird, dann ist die Wertverbindung ein vom Begriff der wissenschaftlichen Begriffsbildung nicht nur psychologisch, sondern auch logisch unlösbares Element."

"Abgesehen von allen lediglich psychologischen und daher logisch unwesentlichen Wertverbindungen und abgesehen von dem als Wert anerkannten Ziel des Generalisierens und der daraus hervorgehenden Bewertung des Gemeinsamen als des Wesentlichen, macht die generalisierende Methode ihre  Objekte  von Wertverbindungen frei, um sie als Gattungsexemplare allgemeiner Begriffe betrachten zu könen, von denen jedes Exemplar durch jedes beliebige andere ersetzbar ist."

"Daß Werte in der Wissenschaft überhaupt eine maßgebende Rolle spielen, ja Prinzipien der Begriffsbildung sein sollen, scheint dem Wesen der Wissenschaft zu widersprechen."

I.

Die Logik der
Geschichtswissenschaft

[Fortsetzung 2]

Reflektieren wir zur Gewinnung dieses Prinzips wieder auf unsere vorwissenschaflichen Kenntnisse. Sie sind vom  Interesse  abhängig, das unsere Umgebung in uns erregt. Was aber heißt es, daß wir Interesse an den Objekten haben? Es bedeutet, daß wir sie nicht nur vorstelllen, sondern zugleich auf unseren Willen beziehen und in Verbindung mit unseren  Wertungen  setzen. Fassen wir etwas individualisierend auf, so muß also seine Besonderheit sich irgendwie mit Werten verknüpft, die mit keinem anderen Objekt so verknüpft sind und begnügen wir uns mit der generalisierenden Auffassung, so hängt die Verknüpfung mit dem Wert nur an dem, was an anderen Objekten ebenfalls vorkommt und daher durch andere Exemplare desselben Gattungsbegriffs ersetzt werden kann. Das ist die noch nicht dargestellte Seite im Unterschied der generalisierenden und invididualisierenden Auffassung und mit Rücksicht hierauf zeigen nun auch die beiden wissenschaftlichen Methoden einen prinzipiellen Gegensatz.

Geht man vom vorwissenschaftlichen Generalisieren dazu über, die Objekte wissenschaftlich unter ein System allgemeiner Begriffe zu bringen, so wird dabei nicht nur vom Interesse am Einmaligen und Individuellen abstrahiert, sondern auch die Verbindung des mehreren Objekten Gemeinsamen mit Werten immer mehr gelöst, je weiter der Prozeß der Systembildung fortschreitet. Ist nämlich jeder allgemeine Begriff einem noch allgemeineren untergeordnet und sind schließlich alle Begriffe unter den allgemeinsten gebracht, den die Untersuchung anstrebt, so müssen auch alle Objekte, für welche das System gelten soll, so angesehen werden können, als ob sie gleich wertvoll oder gleich wertlos sind, denn das Prinzip, welches bestimmt, was an einem Objekt wesentlich ist, darf jetzt nirgends mehr das ursprüngliche Interesse, sondern nur noch die Stellung sein, die das Objekt im System allgemeiner Begriffe einnimmt. Es wird also die ursprünglich überall nach Wertgesichtspunkten vollzogene Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen durch eine generalisierende Wissenschaft sowohl  verdrängt,  als auch zugleich dadurch  ersetzt,  daß nun das Allgemeine oder das Gemeinsame als solches mit dem Wesentlichen zusammenfällt. Die Loslösung der Objekte von allen Wertverbindungen oder die  wertfreie Auffassung  ist also die andere noch nicht betrachtete Seite der generalisierenden Methode in der Wissenschaft.

Freilich kann man bezweifeln, ob es eine absolut wertfreie Betrachtung wirklich gibt. Niemand wird vielleicht Objekte untersuchen, die ihn nicht irgendwie  interessieren  und mit dem Interesse ist dann auch die Wertverbindung da. Das ist richtig. Doch gehört dieses Interesse zu den  psychologischen  Voraussetzungen, nicht zur logischen Struktur der Wissenschaften. Als logisches Ideal dürfen wir es ansehen, daß der Forscher kein anderes Interesse an seinen Objekten hat als das, sie generalisierend zu begreifen und dann muß jedes für ihn zum gleichgültigen Gattungsexemplar werden. Aber man kann noch weiter gehen und sagen, das Interesse an der generalisierenden Begriffsbildung ist doch eben immer ein Interesse, das Scheiden des Wesentlichen vom Unwesentlichen muß also schon als ein Werten bezeichnet werden und wenn so der Begriff des Wesentlichen selbst zum Wertbegriff wird, dann ist die Wertverbindung ein vom Begriff der wissenschaftlichen Begriffsbildung nicht nur psychologisch, sondern auch logisch unlösbares Element. Auch das ist richtig. Aber diese Wertverbindung bezieht sich nicht auf  Objekte  der Wissenschaft selbst, sondern es wird lediglich das logische  Ziel  der Wissenschaft, die Begriffsbildung, gewertet und gerade, weil diese  logische  Wertung des Zieles die Voraussetzung  jeder  Wissenschaft ist, gleichviel ob sie ihre  Objekte  wertfrei behandelt oder nicht, so müssen wir von ihr absehen, wo es gilt, die verschiedenen Arten der Begriffsbildung zu Bewußtsein zu bringen und wo wir nur nach der Verbindung der  Objekte  mit Werten fragen. Es genügt also, um unsere Behauptung einwandfrei zu machen, daß wir sagen: abgesehen von allen lediglich psychologischen und daher logisch unwesentlichen Wertverbindungen und abgesehen von dem als Wert anerkannten Ziel des Generalisierens und der daraus hervorgehenden Bewertung des Gemeinsamen als des Wesentlichen, macht die generalisierende Methode ihre  Objekte  von Wertverbindungen frei, um sie als Gattungsexemplare allgemeiner Begriffe betrachten zu könen, von denen jedes Exemplar durch jedes beliebige andere ersetzbar ist.

In unserem Zusammenhang hat dieser Umstand deswegen Bedeutung, weil er uns zugleich auf eine andere noch nicht betrachtete Seite des wissenschaftlichen  Individualisierens  hiweist. Bleibt hier ebenfalls nur  die  Wertverbindung bestehen, die logische Voraussetzung  jeder  Wissenschaft ist, insofern über das Ziel der Wissenschaft als Wert und und die mit Rücksicht auf dieses Ziel vorgenommene Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen als Wertung gelten muß? Das heißt, kann die Geschichtswissenschaft sich vom vorwissenschaftlichen Individualisieren etwa ebenfalls dadurch unterscheiden, daß sie zur Loslösung der Objekte von allen Werten führt und nur noch rein logische Wertungen ihrer Ziele beibehält? Diese Frage muß verneint werden, denn es ist nicht einzusehen, durch welches andere Prinzip als das der Verbindung der Objekte mit Werten eine individualisierende Auffassung dieser Objekte überhaupt entstehen sollte. Lösen wir ein Objekt aus allen Verknüpfungen mit unseren Interessen los, so wird es lediglich als Exemplar eine allgemeinen Begriffs für uns in Betracht kommen.  Nur  das logische Ziel des  Generalisierens  verdrängt und  ersetzt  zugleich die Wertverbindung, auf der sonst die Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen beruth, indem das Gemeinsame als solches schon zum Wesentlichen wird. Das logische Ziel einer individualisierenden Auffassung dagegen gibt für sich allein noch gar keinen Fingerzeig,  welche  Objekte in ihrer Individualität wesentlich sind und  was  von ihrer Individualität in die Darstellung aufgenommen wird. Das bringt die beiden Arten der Begriffsbildung in einen neuen Gegensatz. Das Individuelle kann  nur  mit Rücksicht auf einen Wert wesentlich werden und daher würde mit der Beseitigung Wertverbindung das historische Interesse an der Wirklichkeit und die Geschichte selbst beseitigt sein.

Es enthüllt sich uns also nicht nur ein notwendiger Zusammenhang der  generalisierenden  mit der im angegebenen Sinne  wertfreien  Betrachtung der Objekte, sondern auch ein ebenso notwendiger Zusammenhang der  individualisierenden  mit der  wertverbindenden  Auffassung der Objekte, genauer, die Geschichte setzt nicht nur ihr wissenschaftliches  Ziel  selbst als Wert voraus, wie das jede Wissenschaft tut, sondern es gehören zu ihrem logischen Wesen noch  andere  mit ihren  Objekten  verbundene Werte, ohne welche eine individualisierende Auffassung überhaupt nicht möglich wäre und es kommt daher, um die logische Struktur der Geschichtswissenschaft auch nach dieser Seite hin zu erfassen, jetzt darauf an, die Art der Werte und die Art ihrer Verbindung mit den geschichtlichen Objekten näher kennen zu lernen. Auch hier ist es natürlich notwendig, nachdem das Gemeinsame in der vorwissenschaftlichen und der wissenschaftliche Wertverbindung festgestellt ist, beide scharf voneinander zu sondern.

Daß Werte in der Wissenschaft überhaupt eine maßgebende Rolle spielen, ja Prinzipien der Begriffsbildung sein sollen, scheint dem Wesen der Wissenschaft zu widersprechen. Mit Recht verlangt man gerade vom Historiker, daß er die Dinge möglichst "objektiv" darstellt und mag dieses Ziel auch von keinem völlig erreicht sein, so läßt es sich doch jedenfalls als logisches Ideal bezeichnen. Wie stimmt hierzu die Behauptung, daß Verbindungen ihrer Objekte mit Werten zum Wesen der historischen Methode gehören? Hat sich nicht  jede  Wissenschaft von allen außer den rein logischen Werten frei zu halten, weil sie sonst aufhört, Wissenschaft zu sein? In der Tat, viele sind der Meinung und noch kürzlich hat XÉNOPOL deshalb die hier vertretene Ansicht verworfen. Dem gegenüber muß zunächst betont werden, daß nicht nur die Definition des Geschichtlichen als einer "Reihe" viel zu weit ist, sondern daß auch andere Versuche, den Begriff des Geschichtlichen zu gewinnen, ohne den Begriff des Wertes nicht zum Ziel kommen. Jeder muß zugeben, daß die Geschichte nicht  alles  Individuelle, sondern nur das "wichtige", "bedeutungsvolle", "interessante", kur das wesentliche in ihre Darstellung aufnimmt. Was aber ist wesentlich, wenn wir nicht wie bei der generalisierenden Begriffsbildung von dem einer Mehrheit von Objekten Gemeinsamen reden? EDUARD MEYER sagt einmal: "Historisch ist, was  wirksam  ist oder gewesen ist." Doch damit wird das Problem gewiß nicht gelöst, sondern nur verschoben. Wirksam ist ja  alles  in der Welt, nur interessieren den Historiker die meisten Wirkungen nicht, sondern es werden eben nur die "wesentlichen" Wirkungen von ihm dargestellt. Nicht das Wirksame überhaupt, sondern nur das, was wesentliche Wirkungen ausübt und dadurch selbst wesentlich wird, ist also das Geschichtliche. Dieser Begriff des historisch Wesentlichen aber läßt sich ohne einen Wertbegriff, der noch zu den rein logischen Werten hinzukommt, nicht bestimmen.

Trotzdem liegt dem Bestreben, jeden nicht-logischen Wert von der Wissenschaft und damit auch von der Geschichte fern zu halten, etwas Berechtigtes zugrunde. Es fehlt nämlich den empirischen Wissenschaften in der Tat die Möglichkeit, etwas über Wert und Unwert der Dinge in allgemeingültiger Weise auszusagen. Wenn dennoch die Verbindung der Objekte mit Werten zum Wesen der Geschichtswissenschaft gehört, ohne ihre Objektivität zu stören, so liegt das daran, daß es eine Art der Wertverbindung gibt, die nicht mit einem praktischen Stellungnehmen und Werten zusammenfällt, das heißt daran, daß man Objekte in rein  theoretischer  Weise auf Werte beziehen kann, ohne sie damit zu werten. Mit anderen Worten, es kommt darauf an, ob dadurch, daß mit Rücksicht auf einen Wert die Individualität eines Objektes wesentlich wird, notwendig auch eine positive oder negative Bewertung dieses Objektes entsteht, die dem Wesen der Wissenschaft widersprechen würde und diese Frage ist entschieden zu verneinen. Die geschichtliche Darstellung schließt, abgesehen von der logischen Wertung ihres wissenschaftlichen Zieles, nur insofern eine Wertverbindung ein, als das individualisierend aufgefaßt Objekt überhaupt  irgendeine Bedeutung  für einen Wert hat, sie braucht aber nichts darüber auszusagen, ob es einen positiven oder negativen Wert besitzt und sie kann insofern von jeder Wertung des Objektes, die immer positiv oder negativ sein muß, gänzlich absehen. Auf diese Weise bleibt die Objektivität der Geschichte trotz des Wertmoments vollkommen gewahrt.

Kurz, wir müssen  praktische Wertung  und bloß  theoretische Wertbeziehung  genau scheinden, dann schwinden alle Bedenken. Wie man die Berechtigung dieser Scheidung hat bezweifeln können, ist schwer verständlich. Nur deswegen kann sich die theoretische Wertbeziehung in ihrer Besonderheit dem Auge entziehen, weil sie sich meist mit so großer Selbstverständlichkeit vollzieht, daß wir sie nicht bemerken. Und doch kann man sich ihre Wirksamkeit und ihre Ergebnisse leicht zu Bewußtsein bringen. Wenn wir zum Beispiel daran denken, daß wir die Wirklichkeit nie so kennen, wie sie in ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit existiert, sondern daß jede Kenntnis schon eine Umbildung der Wirklichkeit ist, so wird klar, daß über den positiven oder negativen Wert einer Individualität gar nicht gestritten werden kann, wenn unter den Streitenden nicht schon eine durch bloß theoretische Wertbeziehung entstandene, von der Verschiedenheit ihrer praktischen Wertungen unabhängige, gemeinsame individualisierende Wirklichkeitsauffassung vorhanden ist, denn sonst würde man gar nicht um  dieselbe  Individualität streiten. Also, so gewiß das theoretische Erkennen und das positive oder negative Werten zwei prinzipiell verschiedene Prozesse sind, so gewiß ist die rein theoretische Wertbeziehung logisch prinzipiell vom Werten verschieden und so wenig steht sie im Widerspruch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Der  Historiker wertet als Historiker seine Objekte nicht,  wohl aber  findet  er Werte wie die des Staates, der wirtschaftlichen Organisationen, der Kunst, der Religion usw. als empirisch zu konstatierende  Tatsachen  vor und durch die theoretische  Beziehung  der Objekte auf diese Werte, das heißt mit Rücksicht darauf, ob und wodurch ihre Individualität etwas für diese Werte bedeutet, gliedert sich ihm die Wirklichkeit in wesentliche und unwesentliche Bestandteile, ohne daß dabei von ihm irgendein direktes positives oder negatives Werturteil über die Objekte selbst gefällt zu werden braucht.

Völlig klar wird das Wesen der historischen Wertbeziehung, wenn wir noch einen zweiten Punkt fixieren, durch den sich das wissenschaftliche vom vorwissenschaftlichen Individualisieren unterscheidet und schon die soeben als Beispiele benutzten Wertbegriffe weisen darauf hin. Die theoretische Wertbeziehung in der Geschichte ist nicht nur von positiver oder negativer Wertung unabhängig, sondern muß auch noch in anderen Hinsicht frei von  Willkür  sein, nämlich in bezug darauf, welche Werte es sind, auf die die Objekte bezogen werden. Das aber wird dadurch erreicht, daß der Historiker die Wirklichkeit nur durch Beziehung auf  allgemeine  Werte in wesentliche und unwesentliche Bestandteile gliedert, also auf solche Werte, wie sie in den bereits genannten Beispielen des Staates, der Kunst, der Religion usw. verkörpert sind.

Jedoch, so einfach das im Grunde ist, so haben sich auch hieran viele Streitfragen und Mißverständnisse geknüpft. Insbesondere hat man wieder gemeint, daß wegen der Allgemeinheit der Werte die Methode der Geschichte nun doch generalisierend sei. Offenbar, so kann man diese Ansicht begründen, ist zum Beispiel der Staat ein allgemeiner Begriff und wenn geschichtliche Vorgänge als politische dargestellt werden, so ist das Politische in ihnen, um dessentwillen sie historisch wesentlich sind, doch eben das ihnen Gemeinsame. Also werden sie in derselben Weise unter den allgemeinen Begriff des Politischen gebracht, wie man in den generalisierenden Wissenschaften die Objekte als Exemplare eines Gattungsbegriffes auffaßt.

Ist das wirklich zutreffend? Daß die allgemeinen Werte zugleich allgemeine Begriffe sind, ist richtig, daß aber die Beziehung der historischen Objekte auf diese Werte mit ihrer Unterordnung unter allgemeine Begriffe zusammenfalle und daß deshalb die logische Struktur der Geschichte sich nicht von der der generalisierenden Wissenschaften unterscheide, ist eine ganz falsche Behauptung. Denn erstens geht die Geschichte nie darauf aus, solche allgemeinen Wertbegriffe erst zu bilden oder gar systematisch zu ordnen, wie sie es tun müßte, wenn sie eine generalisierende Wissenschaft wäre, sondern sie findet diese allgemeinen Wertbegriffe vor und nur die Geschichtsphilosophie, nicht aber die empirische Geschichtswissenschaft kann sich, wie wir später sehen werden, die Aufgabe stellen, ein System allgemeiner Wertbegriffe zu gewinnen. Ferner aber und das ist die Hauptsache, hat die Allgemeinheit des Wertes für den Historiker gerade nicht die Bedeutung, daß sie das mehreren besonderen Werten Gemeinsame enthält, sondern nur darauf kommt es an, daß die Geschichte ihre Objekte auf solche Werte bezieht, die allen, an die sie sich wendet, als Werte gelten oder wenigstens von allen als Werte verstanden werden. Im übrigen führt das Beziehen der Objekte auf Werte zu einer individualisierenden Auffassung, gleichviel, ob die Werte rein individuell oder im angegebenen Sinne allgemein sind, denn dieser Unterschied betrifft nur die Geltung der Werte, nicht aber die logische Struktur der Wertbeziehung. Kurz, es wird durch den Umstand, daß die Geschichtswissenschaft, um zu allgemeingültigen Resultaten zu kommen, allgemeine Werte braucht, der Gegensatz der wertbeziehenden individualisierenden geschichtlichen Methode zur wertfreien generalisierenden gesetzeswissenschaftlichen Methode gar nicht berührt. Wenn man durchaus will, kann man ja freilich auch sagen, daß alle Wissenschaft, um allgemeingültig zu sein, stets das Besondere dem Allgemeinen "unterordnen" müsse. Aber diese Wendung ist wegen ihrer Unbestimmtheit sehr mißverständlich und jedenfalls nichtssagend. Man muß, wenn man sie in der Methodenlehre gebrauchen will, eine generalisierende Unterordnung unter wertfreie Gattungs- oder Gesetzesbegriffe von einer individualisierenden "Unterordnung" unter allgemeine Wertbegriffe streng scheiden und am besten wird es wohl sein, das Wort Unterordnung nur zur Bezeichnung des Verhältnisses der allgemeinen Begriffe untereinander und des Exemplars zu seinem übergeordneten Gattungsbegriff zu verwenden, da sonst nur Irrtümer entstehen können.

Kehren wir mit dieser genaueren Einsicht in das Wesen des individualisierenden Verfahrens noch einmal zu den historischen Begriffen zurück, die wegen der Allgemeinheit ihres Inhaltes eine negative Instanz gegen die Charakterisierung der Geschichte als individualisierende Wissenschaft zu bilden schienen, so lassen sich jetzt auch die historischen Gruppenbegriffe noch besser in ihrem Unterschied von den generalisierenden Gruppenbegriffen verstehen. Sie haben nicht nur, wie alle Begriffe historischer Teile, den Zweck, die Individualität des historischen Ganzen zum Ausdruck zu bringen, zu dessen Begriff sie gehören, sondern auch die Auswahl des Wesentlichen bei ihrer Bildung ist durch den allgemeinen Wert bestimmt, auf den ihre Objekte bezogen werden, das heißt, nicht das Gemeinsame als solches ist schon das Wesentliche, sondern der Umstand, daß ihr Inhalt nur aus dem einer Mehrheit von Objekten Gemeinsamen besteht, hat darin allein seinen Grund, daß nur die Individualität der Gruppe, nicht aber auch die Individualität ihrer einzelnen Teile für den allgemeinen Wert, auf den die Gruppe bezogen wird, Bedeutung besitzt und daß daher schon der Gruppenbegriff genug Individualität enthält, um das für die wertbeziehende individualisierende Darstellung Wesentliche zum Ausdruck zu bringen. Das Prinzip der Begriffsbildung ist also bei den historischen Kollektivbegriffen genaus dasselbe wie bei allen anderen historischen Begriffen und es ergibt sich daraus zugleich von neuem, wie wenig Sinn es hat, das Verfahren der Geschichte mit Rücksicht auf seinen  logischen  Charakter kollektivistisch zu nennen. Der Kampf um die sogenannte kollektivistische und individualistische Methode ist ein Kampf um den  Inhalt  der Geschichtswissenschaft, das heißt, er bezieht sich darauf, in welchem Maße einzelne Persönlichkeiten, in welchem Maße Bewegungen von Massen mit Rücksicht auf die allgemeinen Werte historisch bedeutsam sind und er hat daher mit den  logischen  Problemen der Methode nichts zu tun. Auch eine rein kollektivistisch verfahrende Darstellung würde nicht nur, wie wir bereits sahen, individualisierend, sondern auch, wie jede geschichtliche Darstellung, von Wertgesichtspunkten geleitet sein.

Die große Rolle, welche die Wertgesichtspunkte in der Geschichte spielen, wird übrigens in neuester Zeit immer mehr anerkannt und zu verstehen gesucht, wenn auch die Aufmerksamkeit nicht stets auf die zwei wichtigsten Punkte, auf die Scheidung der theoretischen Wertbeziehung von der praktischen Wertung und auf die Allgemeinheit der Werte gerichtet ist. Natürlich lassen sich hier nicht alle Fragen, die mit den Werten in Zusammenhang stehen, erschöpfend behandeln, aber wenigstens zwei Punkte seien noch hervorgehoben.

Eine logische Untersuchung kann dem Historiker niemals verbieten wollen, über die theoretische Wertbeziehung hinaus wertend zu seinen Objekten Stellung zu nehmen, ja es ist vielleicht keine geschichtliche Darstellung von positiver oder negativer Wertung ihrer Objekte ganz frei. Doch muß auch festgestellt werden, daß nicht überall, wo ein Werturteil vorzuliegen scheint, ein solches auch wirklich gemeint zu sein braucht. Man wird nämlich in jeder geschichtlichen Darstellung Sätze finden, welche insbesondere menschlichen Handlungen ein lobendes oder tadelndes Prädikat beilegen, hier eine Tat der Güte oder des Mutes, dort ein Verbrechen konstatieren und das scheint die Geschichte ebenfalls von den Gesetzeswissenschaften zu unterscheiden, für die Laster und Tugend Produkte wie Vitriol und Zucker sein müssen. Es ist auch klar, daß mit solchen Sätzen der Historiker Stellung nehmen  kann.  In sehr vielen Fällen aber dienen die Wertprädikate nur zur Feststellung von Tatsachen und zur rein theoretischen Charakterisierung der Ereignisse. Wenn zum Beispiel eine Handlung als verbrecherisch bezeichnet wird, so kann das auch heißen, daß die Quellen zu der Annahme zwingen, es liege hier eine Tat vor, die man allgemein ein Verbrechen nennt und wenn etwa ein anderer Historiker dieser Handlung ein anderes Prädikat beilegt, so braucht das nicht zu bedeuten, daß er denselben Tatbestand anders wertet, sondern er kann auch einen anderen Tatbestand annehmen, den er dann natürlich auch anders bezeichnen muß. Man sollte sich also jedenfalls bei der Behandlung der Wertfaktoren in der Geschichte stets die Frage vorlegen, ob das Wertprädikat auch wirklich den Sinn hat, zu werten oder ob es nicht vielmehr nur dem Zweck dient, die mit ihm allgemein verbundene Wortbedeutung in derselben Weise zur Feststellung eines Faktums zu benutzen, wie das mit Wortbedeutungen geschieht, die überhaupt nicht zur Wertung verwendet werden können.

Wird also in manchen Fällen das Vorkommen von Wertungen häufiger zu sein scheinen, als es wirklich ist, so muß andererseits hevorgehoben werden, daß in gewissem Sinne doch auch Wertungen und nicht bloß Wertbeziehungen zu den Bestandteilen der Geschichtswissenschaft gehören. Dabei sehen wir natürlich wieder von der logischen Wertung des Zieles der Begriffsbildung, die zu den unentbehrlichen Voraussetzungen jeder Wissenschaft gehört, ab und haben nichtlogische Wertungen im Auge, ohne welche die Geschichte nicht vorhanden sein würde.

So gewiß die theoretische Wertbeziehung keine praktische Stellungnahme ist und so gewiß sich daher der Historiker jeder Wertbeziehung seiner Gegenstände enthalten kann, ebenso gewiß ist es, daß er innerhalb des Gebietes der Werte, auf die er seine Objekte bezieht, zugleich selbst, auch als Historiker, irgendwie ein wertender Mensch sein muß. Es wird niemand politische Geschichte schreiben oder lesen, der nicht die politischen Werte zu seinen eigenen positiven oder negativen Wertungen in Beziehung setzt, das heißt zu politischen Fragen überhaupt irgendein wertendes Verhältnis hat, denn er würde, ohne auf diesem Gebiet selbst ein wertenden Mensch zu sein, die Werte, welche die Auswahl des historischen Stoffes leiten, nicht  verstehen,  und daher am Stoff selbst auch nicht das geringste Historische Interesse haben. Was aber für die politische Geschichte gilt, muß für die Kunstgeschichte, die Geschichte der Religion, der Wirtschaft usw. ebenso gelten. Dies wird, wie manches Selbstverständliche, häufig gar nicht bemerkt, ja es gibt wohl viele Historiker, die sich nicht nur ihren Objekten gegenüber lediglich betrachtend zu verhalten, sondern als Historiker überhaupt rein zuschauende Menschen zu sein glauben. Tatsächlich jedoch unterscheidet sich der Historiker auch dadurch vom generalisierenden Forscher, daß er bei seiner Arbeit nicht nur das wissenschaftliche Ziel, das er verfolgt, als Wert anerkennen muß, sondern, wenn auch nicht zu seinen historischen Objekten selbst, so doch zu den allgemeinen Werten Stellung nimmt, auf die er seine Objekte individualisieren bezieht.

Von entscheidender Bedeutung für das  logische  Wesen der Geschichte ist dieser Umstand jedoch nicht, denn er gehört nur zu ihren  psychologischen  Voraussetzungen und das ist sorgfältig zu beachten, damit über den Begriff der rein theoretischen Wertbeziehung und ihre logische Bedeutung keine Unklarheiten entstehen. Nur an die soeben hervorgehobene Tatsache kann RIEHL denken, wenn er sagt, es sei eine  psychologisch  nicht durchführbare Forderung, daß der Historiker seine Objekte nicht eigentlich bewerten, sondern sie nur auf Werte beziehen solle und gerade nach RIEHL, der so klar wie wenige Logik und Psychologie von einander geschieden hat, kann es dann auf die psychologische Untrennbarkeit des Wertens von der Wertbeziehung nicht ankommen, denn auch diese Untrennbarkeit muß die Auffassung des historischen Begriffs als des Produktes einer theoretisch wertbeziehenden, individualisierenden Wirklichkeitsbearbeitung völlig unangetastet lassen. Im übrigen: welche Bedeutung der Umstand, daß es nur für wertende Wesen Geschichte gibt, für die "Objektivität" der historischen Wissenschaften besitzt, in welchem Verhältnis diese Objektivität zu der der generalisierenden oder Gesetzeswissenschaften steht, die keinen anderen Wert als den der generalisierenden Wissenschaft selbst anzuerkennen brauchen, das steht hier nicht in Frage. Hier sollte nur die logische Struktur der faktisch vorhandenen Geschichtswissenschaft verstanden, insbesondere das Wesen ihrer wertbeziehenden und invididualisierenden Methode, so wie sie wirklich ausgeübt wird, beschrieben und diese Methode in ihrer aus den Zielen der Geschichte sich ergebenden logischen Notwendigkeit begriffen werden.

Von der Eigenart des historischen  Materials  war in der aus den angegeben Gründen rein formalen Betrachtung bisher nicht die Rede und es konnte daher auch keine Antwort auf die Frage gegeben werden, wie wir dazu kommen, gerade  den  Stoff, von dem die Geschichtswissenschaften handeln, nicht nur generalisierend, sondern auch individualisierend darzustellen. Der Grund dafür muß schließlich auch noch angegeben werden, um das Wesen der Geschichtswissenschaft verständlich zu machen und zwar soweit, als die materiale Eigenart der historischen Objekte sich schon aus dem formalen logischen Wesen der historischen Methode verstehen läßt.

Entscheidend ist dabei wiederum der Zusammenhang der individualisierenden mit der wertbeziehenden Auffassung. Die individualisierende Darstellung muß nämlich dort vor allem ein Bedürfnis sein, wo die Verknüpfung der Objekte mit Werten am engsten ist. Erinnern wir wieder an die vorwissenschaftliche Begriffsbildung, so ist sie wohl überall dadurch charakterisiert, daß es vorwiegend  Menschen  sind, die als Individuen betrachtet werden und an diesen Menschen ist ferner besonders das durch seine Individualität bedeutsam, was Ausdruck ihres Seelenlebens ist. Ja, unsere individualisierende Auffassung wird in so hohem Grad durch das Interesse an  menschlichem Seelenleben  beherrscht, daß man den Begriff des Individuums geradezu mit dem der  Persönlichkeit  gleichsetzt und sich erst ausdrücklich darauf besinnen muß, daß jedes beliebige Objekt ebenfalls ein absolut individuelles Gepräge zeigt. Ob und wieweit die Geschichte als Wissenschaft, die ihre Objekte nicht auf rein persönlich individuelle, sondern nur auf allgemeine Werte bezieht, Persönlichkeit darzustellen hat, hängt allein davon ab, was Persönlichkeiten in ihrer Einzigartigkeit für die allgemeinen Werte bedeuten und insofern kann daher das wissenschaftliche Individualisieren sich sehr weit vom vorwissenschaftlichen entfernen. Da aber alle Geschichte von Menschen betrieben wird, so muß auch die wissenschaftliche Darstellung des Einmaligen und Besonderen, wenn auch nicht allein, so doch  vorwiegend  auf menschliches Seelenleben gerichtet sein. Das ist der Grund, weshalb die historischen Wissenschaften stets zu den "Geisteswissenschaften" gerechnet worden sind und es kommt in der Tat die aus logischen Gesichtspunkten zunächst bekämpfte Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sachlich in gewisser Hinsicht mit Recht wieder zur Geltung, sobald man überhaupt auf das Material der Geschichte mit Rücksicht auf den Unterschied von Physisch und Psychisch reflektiert.

Aber das ist gewiß kein Einwand gegen den Versuch, in der Logik den Gegensatz der generalisierenden und der invididualisierenden Methode Voranzustellen. Im Gegenteil, es stünde schlecht um diese logische Einteilung, wenn sie nicht imstande wäre, auch der Tatsache gerecht zu werden, daß sich die individualisierenden Wissenschaften vorwiegend mit geistigen Vorgängen beschäftigen. Als Ausgangspunkt einer logischen Theorie muß der Unterschied von Natur und Geist nach wie vor abgelehnt werden, ja, wie notwendig das ist, finden wir auch jetzt nur bestätigt. Denn wir sehen nun, nachdem wir beim Unterschied von Natur und Geist angelangt sind, vollends deutliche, warum die Bezeichnung der Geschichte als Geisteswissenschaft ein unter  logischen  Gesichtspunkten nur sekundäres Merkmal zum Ausdruck bringt und sich auch, abgesehen hiervon, nicht einmal zur vollständigen Charakterisierung des Materials der Geschichtswissenschaft eignet. Erstens nämlich ist es durchaus nicht allein, sondern nur vorwiegend geistiges Leben, das den Historiker interessiert, ferner besteht für die Geschichte keine Veranlassung, das geistige Leben, wie die Psychologie es tut, begrifflich streng von den körperlichen Vorgängen zu scheiden und so die Welt in zwei einander ausschließende Gebiete zu zerlegen, im Gegenteil, das Geistige wird stets als Bestandteil der vollen, unmittelbar erlebten Wirklichkeit und deshalb im realen Zusammenhang mit körperlichen Vorgängen aufgefaßt und schließlich kommt nicht alles geistige Leben, auch nicht alles menschliche Seelenleben, sondern nur ein bestimmter, verhältnismäßig kleiner Teil des menschlichen Seelenlebens vorwiegend als Material für die Geschichtswissenschaft sowohl zu eng als auch zu weit ist, um das Wesen der Geschichte anzugeben.

Will man auch den Teil des Seelenlebens abgrenzen, den die Geschichte behandelt, um so eine noch genauere Charakterisierung des historischen Stoffes zu erhalten, so kann das weiderum nur von der gewonnenen Einsicht in das Wesen der historischen Methode aus und zwar mit Rücksicht auf die Besonderheit der Wertgesichtspunkte geschehen, die für die Auswahl des Wesentlichen bei der individualisierenden Begriffsbildung maßgebend sind. Daß dies stets allgemeine menschliche Werte sind, kann man auch so ausdrücken, daß nur  die  Objekte historisch wesentlich werden, die mit Rücksicht auf gesellschaftliche oder  soziale  Interessen Bedeutung besitzen. Daher ist, wegen des historischen Zusammenhangs der Teile mit dem historischen Ganzen oder der Gesellschaft, nicht der von ihr losgelöst gedachte Mensch überhaupt, sondern der Mensch als  soziales Wesen  das Hauptobjekt des geschichtlichen Forschens und das wiederum besonder insofern, als er an der Realisierung der sozialen Werte beteiligt ist. Dabei muß freilich der Begriff der  societas  so weit genommen werden, daß auch Gemeinschaften wie die der wissenschaftlichen oder der künstlerischen Menschen unter ihn fallen. Nennt man dann den Prozeß, durch den im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die allgemeinen sozialen Werte realisiert werden, die  Kultur,  so muß das Hauptobjekt der Geschichte die Darstellung von Teilen oder vom Ganzen des menschlichen Kulturlebens sein und aller geschichtlich wichtige Stoff muß in irgendeiner Verbindung mit dem menschlichen Kulturleben stehen, weil nur dann eine Veranlassung dafür vorhanden ist, ihn auf die allgemeinen Werte zu beziehen und in seiner Besonderheit und Individualität zu untersuchen.

Die Werte, welche die Auswahl des Wesentlichen in der Geschichte leiten, sind deshalb auch als die allgemeinen  Kulturwerte  zu bezeichnen, wie wir sie in den Wertbegriffen des Staates, des Rechts, der Kunst, der Religion, der wirtschaftlichen Organisation als Beispiele bereits kennen gelernt haben. Es versteht sich von selbst, daß der Historiker deshalb nicht zu sagen hat, was Kulturfortschritt oder Kulturrückschritt ist; denn damit würde er von der theoretischen Wertbeziehung zur praktischen Wertung übergehen. Seine eigenen Kulturideale brauchen überhaupt nicht von maßgebender Bedeutung für die Gestaltung seines Stoffes zu werden, sondern er muß nur imstande sein, die allgemeinen Kulturwerte der Menschen und Völker, die er darstellt, zu verstehen, um dann durch rein theoretische Wertbeziehung das Wesentliche vom Unwesentlichen abzusondern. Auch ist die geschichtliche Untersuchung nicht auf Kulturvorgänge selbst beschränkt. Besonders wenn es gilt, die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse kennen zu lernen, können auch solche Objekte von Bedeutung sein, die lediglich zur "Natur" gehören, das heißt, zur gewöhnlich wertfrei und generalisierend aufgefaßten Wirklichkeit und die dann ebenfalls mit Rücksicht auf ihre Individualität wichtig werden, wie z. B. die Besonderheit des Klimas einer bestimmten Gegend, die geographische Situation eines Landes und dergleichen. Immer aber müssen diese Objekte sowohl kausal mit Kulturvorgängen zusammenhängen, als auch in ihrer Bedeutung für Kulturwerte betrachtet werden, wenn sie in einer geschichtlichen Darstellung ihren Platz finden sollen und irgendein Teil der einmaligen Entwicklung des menschlichen Kulturlebens selbst wird stets im Zentrum einer individualisierenden Wissenschaft stehen.

Daß hiermit nicht eine besondere "kulturgeschichtliche Methode" gepriesen werden soll, wie das heute im Gegensatz zur Methode der politischen Geschichte vielfach geschieht, bedarf wohl kaum der ausdrücklichen Versicherung. Die Frage nach dem "eigentlichen Arbeitsgebiet" der Geschichte kann von der Logik nicht entschieden werden und sie erstreckt sich auch gar nicht auf die Frage nach dem Wesen der historischen Methode. Will man überhaupt von einem Gegensatz der politischen und der Kulturgeschichte sprechen, so haben doch beide dasselbe individualisierende Verfahren anzuwenden und nur das wäre möglich, daß die Kulturgeschichte in jenem heute bisweilen gemeinten engeren Sinn mehr Gruppenbegriffe verwendet, als die Geschichte politischer Vorgänge. Wir aber wissen, daß ein mehr oder weniger von Gruppenbegriffen am Wesen der geschichtlichen Methode gar nichts ändert. Abgesehen davon steht es auch durchaus nicht fest, daß die Kulturgeschichte in höherem Maße "kollektivistisch" gestaltet sein muß, als die politische Geschichte; denn die historische Bedeutung einzelner Persönlichkeiten läßt sich für kein Kulturgebiet im allgemeinen, sondern nur von Fall zu Fall entscheiden.

Im übrigen haben diese Fragen mit der Methodenlehre nur insofern etwas zu tun, als sie sorgfältig aus den logischen Untersuchungen fernzuhalten sind. Der logische Dilettantismus unserer Tage hat auch hier viel Verwirrung angerichtet, aber er besitzt nicht so viel sachliche Bedeutung, daß ein näheres Eingehen auf ihn an dieser Stelle gerechtfertigt wäre. Das Wort Kultur ist hier so gebraucht, daß das politische Leben ein Teil des Kulturlebens überhaupt ist. Es soll nichts anderes, als den Inbegriff derjenigen Objekte bezeichnen, die von direkter Bedeutung für die Verwirklichung der allgemeinen Werte sind und die wegen dieser allgemeingültigen und notwendigen Wertbeziehung durch eine generalisierende Wissenschaft niemals erschöpfend dargestellt werden können, sondern die Auffassung durch eine individualisierende Wissenschaft verlangen. Es wird dadurch zugleich klar, in welchem Sinne die Geschichte für den Kulturmenschen eine Notwendigkeit ist. Der Kulturmensch wird immer die Wirklichkeit auf die allgemeinen Kulturwerte beziehen, so daß die Frage entstehen muß, wie sich die Realisierung der Kultur in ihrer einmaligen Entwicklung vollzogen hat und auf diese Frage kann nur die individualisierende Geschichte, niemals aber eine generalisierende Wissenschaft Antwort geben.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Geschichtsphilosophie, Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Christoph Sigwart, Tübingen 1900