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HEINRICH RICKERT
Zur Theorie der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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"Es gibt nämlich kein wissenschaftliches Gebiet, auf dem die Begriffsbildung  nur  der Klassifikation dient. Sollte das jemand bestreiten, so wird er doch zugeben müssen, daß eine rein willkürliche Klassifikation ohne wissenschaftlichen Wert ist. Was aber heißt willkürliche Klassifikation?"

"Die unendliche Mannigfaltigkeit vermögen wir nicht durch eine Allgemeinheit der Vorstellungen, sondern nur durch eine Allgemeinheit der Urteile zu überwinden, weil wir nicht nur numerisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind."

III.

Wäre mit Begriffen, die den bisher dargestellten Anforderungen genügten, wirklich eine Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge möglich? Nehmen wir an, es gelänge der Wissenschaft, absolut einfache und bestimmte Begriffselemente zu finden, würde sie damit auch nur die intensive Mannigfaltigkeit irgendeiner Einzelgestaltung der Wirklichkeit vollständig zu überwinden imstande sein? Um die Erkenntnis so zuende zu führen, daß keine unübersehbare Mannigfaltigkeit mehr unbegriffen bleibt, brauchen wir nicht nur einfache Begriffselemente, sondern auch eine vollkommen übersehbare, begrenzte Anzahl von ihnen, ja wir müssen, sollen wir einer abgeschlossenen Erkenntnis sicher sein, die Überzeugung gewinnen können, daß keine weitere Untersuchung des betreffenden Einzelobjekts uns nötigen wird, die Begriffselemente zu vermehren. Ob dieser Zustand wirklich zu erreichen ist, fragen wir nicht. Es kommt nur darauf an, ihn als das Ziel aufzustellen, dem wir uns wenigstens annähern müssen, wenn es überhaupt einen Fortschritt in der Erkenntnis geben soll. Ist aber dieses Ziel notwendig vorhanden, so muß, damit unsere Begriffsbildung einen Weg in der Richtung auf dieses Ziel einschlagen kann, noch etwas bisher Unbeachetes zu den angegebenen Eigenschaften des wissenschaftlich brauchbaren Begriffes hinzutreten.

Worin dies besteht, wird uns leichter klar werden, wenn wir nicht nur die intensive, sondern auch gleich die extensive Mannigfaltigkeit der Dinge in Betracht ziehen. Wir können das, da ja das Erkenntnisstreben der Naturwissenschaft in letzter Linie niemals auf das Einzelne, sondern immer auf das Ganze der Welt gerichtet ist. Nun wissen wir, daß die Körperwelt aus einer unendlichen Fülle von verschiedenen Gestaltungen besteht. Unsere Begriffe aber können wir immer nur an irgendeiner begrenzten Anzahl von Einzelgestaltungen bilden. Das Ganze kann seiner Natur nach niemals direkter Gegenstand der Untersuchung werden. Wir müssen daher voraussetzen, daß schon ein Teil der Welt uns über das Ganze Aufschluß gibt. Ob und wie diese Voraussetzung sich beweisen läßt, fragen wir wiederum nicht. Wir begnügen uns auch hier mit dem Hinweis, daß ohne sie jeder Versuch zu einer Erkenntnis des Weltganzen sinnlos wäre.

Wir hatten nun bisher immer nur die Vereinfachung einer Mannigfaltigkeit überhaupt behandelt. Jetzt, wo wir die Mannigfaltigkeit der Welt wirklich im Sinne von Unerschöpflichkeit oder Unendlichkeit nehmen, muß klar werden, daß diese Vereinfachung durch die Begriffe nicht genügt, ja daß durch sie für die Überwindung der  Unendlichkeit  noch nichts geleistet ist. Die Allgemeinheit der Wortbedeutungen ist stets empirisch begrenzt. Die genaue Bestimmung ihres Inhalts durch Umsetzung in die Form von Urteilen ändert daran nichts. Soll eine Überwindung der unendlichen Fülle der Erscheinungen möglich sein, so müssen wir Begriffe bilden können, unter deren Umfang notwendig eine unbegrenzte Anzahl von Einzelgestaltungen fällt. Nur wenn wir einen Weg sehen, zu solchen Begriffen zu kommen, können wir aus den früher angegebenen Gründen von einem Fortschritt in der Welterkenntnis reden. Sonst schrumpft jede wissenschaftliche Leistung gegenüber der prinzipiell unerschöpfbaren Fülle der Erscheinungen zu vollkommener Bedeutungslosigkeit zusammen.

Etwas genauer können wir diesen Gedanken formulieren, wenn wir daran erinnern, daß wir die Welt sowohl räumlich, als auch zeitlich unübersehbar denken. Wir machen also die Voraussetzung, daß wir mit unseren Begriffen, die an einem uns naheliegenden Bruchstück der Welt gebildet sind, etwas erfaßt haben, das sich in jeder beliebigen Entfernung von uns wiederholt. Mit anderen Worten: unsere Begriffe müssen so gebildet sein, daß sie auf jede Gestaltung der Welt, wo auch immer im Raum sie sein möge, passen. Daraus ergibt sich, daß der Inhalt des Begriffes, der diesen Zweck erfüllt, selbst von jeder Bestimmung, die sich nur auf diesen oder jenen Raumteil bezieht, frei sein muß. Und genau ebenso verhält es sich mit der Zeit. Der Inhalt eines Begriffs, der zur Erfassung des Weltganzen dienen soll, darf nichts enthalten, das ihn an irgendeine bestimmte Zeit bindet. Erst dann gilt von ihm das Wort SCHOPENHAUERs, daß er frei von der Gewalt der Zeit ist. Es ist nicht einzusehen, wie die Begriffe, die nur die bisher betrachteten Eigenschaften besitzen, das, was hier verlangt wird, zu leisten vermögen.

Was aber fehlt der in der angegebenen Weise logisch bearbeiteten Wortbedeutung noch, damit sie das zur Überwindung der Unendlichkeit der Welt gesuchte Mittel wird? Was muß der Begriff noch für eine Eigenschaft besitzen, wenn er die Leistung zuende führen soll, die wir ihn in der Gestalt von unwillkürlich entstandenen Wortbedeutungen beginnen sahen? Um eine Antwort auf diese Frage zu gewinnen, müssen wir den Gedanken weiterführen, daß der wissenschaftlich brauchbare Begriff die Form von Urteilen haben oder genauer, jederzeit imstande sein muß, diese Form anzunehmen. Bisher haben wir es unentschieden gelassen, ob die Begriffsbestimmung auch den logischen Wert eines Urteils besitzt, d. h. ob sie unter den Gesichtspunkt gestellt werden kann, daß sie wahr sei. Ist, so wollen wir jetzt fragen, die Begriffsbestimmung wirklich ein Urteil oder täuscht, wie RIEHL ausgeführt hat, ihre sprachliche Einkleidung uns über ihren eigentlichen Charakter?

Für den, der im Urteil nichts anderes als die Verknüpfung einer Vorstellung mit einer anderen sieht, ist diese Frage bereits entschieden, denn für ihn ist es gar nicht möglich, einen Unterschied zwischen einem wirklichen Urteil und einem Gebilde, das nur die Form eines Urteils hat, zu machen. Die Unterscheidung von Begriff und Urteil hat dann lediglich die Bedeutung der sprachlichen Unterscheidung von Wort und Satz. Der logische Inhalt ist in beiden derselbe. (15) Anders aber liegt die Sache, wenn man meint, daß die bloße Vorstellungsverknüpfung noch kein Urteil sei, sondern daß zu ihr noch ein Akt der Bejahung oder Verneinung hinzutreten müsse und daß in diesem nicht vorstellungsmäßigen, sondern "praktischen" Element das dem Urteil Wesentliche stecke. Dann kann man in der Tat fragen, ob der Begriff aus Urteilen besteht.

Zunächst kommt es darauf an, den Sinn dieser Frage genau festzustellen. Daß ein Unterschied zwischen Urteil und Begriff vorhanden ist, muß von vornherein zugegeben werden. Selbstverständlich ist der Begriff nur  fähig,  sich in Urteile zu verwandeln und er enthält als Begriff die Urteile nicht ausdrücklich vollzogen. Aber, auch wenn wir davon absehen, so wird das Problem noch durch den Umstand kompliziert, daß auch in der sprachlich vollzogenen Begriffsbestimmung, der Definition (16), die Urteile, welche den Begriff bilden, meist nicht einzeln wirklich zum Ausdruck kommen, sondern in  einen  Satz zusammengefaßt sind und zwar so, daß dieser Satz nicht direkt den Inhalt des Begriffs, sondern die Bedeutung des den Begriff bezeichnenden Wortes angiebt. Doch auch das ist wohl selbstverständlich, daß die Bedeutungsangabe des Wortes nicht das Urteil ist, das für uns in Frage kommt. Die Hauptschwierigkeit liegt vielmehr darin, daß auch, wenn die Urteile, die den Inhalt des Begriffs angeben, ausdrücklich vollzogen werden, man meinen kann, die Begriffsbildung bestehe lediglich in einer Zusammenstellung von Begriffselementen oder "Merkmalen", ohne daß dadurch schon irgendetwas über die wissenschaftliche Bedeutung gerade dieser Zusammenstellung ausgesagt würde.

Nun wird gewiß niemand leugnen, daß es möglich ist, Begriffselemente ohne Zweck einfach zusammenzustellen und daß solche Begriffsbildungen nur die Form von Urteilen haben, ist selbstverständlich. Dieser Umstand aber darf uns nicht den wesentlichen Punkt verhüllen. Wir behandeln die Logik hier nur als Wissenschaftslehre und den Begriff nur insoweit, als er ein bedeutungsvolles Glied in einem wissenschaftlichen Zusammenhang ist und da ist die  Möglichkeit  einer Begriffsbildung durch Zusammenstellen von Merkmalen ohne logischen Zweck für unser Problem von keiner wesentlichen Bedeutung. Wir haben vielmehr zu fragen, ob die Wissenschaft nicht die Aufgabe hat, Begriffe zu bilden, die ihrem logischen Wert nach Urteilen gleichzusetzen sind. Solche Begriffe würden dann unter den Gesichtspunkt der Wahrheit gestellt werden können und sie müßten, wenn wir annehmen, daß wahr nur eine Bejahung oder Verneinung sein kann, die dem Urteil wesentliche Beurteilung, wenn auch nicht explizite, so doch implizit, enthalten.

Mit Begriffen, die nur "Merkmalskomplexe" sind, würden wir nicht einmal eine die Welt umfassende Klassifikation zustande bringen. Sie würde nur dann möglich sein, wenn wir alle Einzelgestaltungen der Welt kennten. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich. Sie setzt das unerrreichbare Ideal eines vollständigen Weltbildes als gegeben voraus. So wenig wir aber zugeben konnten, daß das Ideal eines vollständigen Weltbildes logisch berechtigt sei, ebensowenig glauben wir, daß die Wissenschaft eine bloße Klassifikation der Welt auch nur anstrebt. Schon dies weist uns darauf hin, daß wissenschaftliche Begriffe nicht nur Merkmalskomplexe sein können. Denn ein wertvolles Glied in den auf die Erkenntnis des Ganzen der Körperwelt gerichteten Bestrebungen kann eine Wissenschaft nur dann sein, wenn sie die rein klassifikatorische Begriffsbildung verläßt und schon bei den ersten Ansätzen zur Bildung ihrer Begriffe das endgültige Zeile aller Naturwissenschaft im Auge hat, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Gestaltung der Dinge. Und hat sie dieses Ziel im Auge, so wird jede Zusammenfassung von irgendwelchen Elementen zu einem Begriff nur unter der Voraussetzung geschehen, daß die zusammengefaßten Elemente in irgendeinem notwendigen Zusammenhang stehen oder wenigstens Vorstufen zu solchen Begriffen sind, in denen ein notwendiger Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Das ist bei aller wissenschaftlichen Begriffsbildung gewissermaßen die stillschweigende Voraussetzung. Sehen wir die Sache so an, so ergibt sich, daß bei jeder wertvollen Begriffsbildung nicht nur Vorstellungsbeziehungen lediglich vorgestellt, sondern wenigstens implizit zumindest versuchsweise oder vorläufig bejaht, bzw. verneint sind. Sobald wir als voraussetzen, daß die Begriffe auch in ihrer primitivsten Form zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis des Weltganzen beitragen wollen, so ist von ihnen das für das Urteil charakteristische Moment der Beurteilung nicht loszulösen.

Wie aber steht es, wenn wir von einer Erkenntnis des Weltganzen absehen und nur die Begriffsbildung ins Auge fassen, die bei der wissenschaftlichen Bearbeitung eines übersehbaren Gebietes eine Rolle spielt. Sind hier die Begriffe nicht bloße Merkmalskomplexe, die lediglich einer Klassifikation dienen? Es mag wohl vorkommen, daß eine Klassifikation auch als wissenschaftliches Ziel auf irgendeinem Gebiet in Angriff genommen wird, aber abgesehen  davon,  daß das immer nur ein vorläufiger Notbehelf sein kann, entziehen sich auch solche Fälle unserer Theorie nicht ganz, wenn sie nur wirklich zu wissenschaftlicher Arbeit in irgendeiner Beziehung stehen. Es gibt nämlich kein wissenschaftliches Gebiet, auf dem die Begriffsbildung  nur  der Klassifikation dient. Sollte das jemand bestreiten, so wird er doch zugeben müssen, daß eine rein willkürliche Klassifikation ohne wissenschaftlichen Wert ist. Was aber heißt willkürliche Klassifikation? Eine notwendige Klassifikation kann nur mit Rücksicht auf irgendeine Theorie vorgenommen werden, d. h. es wird durch Zusammenfassung der einzelnen Vorgänge unter einen Begriff immer schon wenigstens der Anfang zu einer wissenschaftlichen Theorie dieser Gestaltungen gemacht. Dann ist die Zusammenstellung gerade dieser Begriffselemente in Rücksicht auf die Theorie notwendig und der Inhalt des Begriffs ist nicht nur eine Vorstellungsbeziehung, sondern es wird implizit diese Beziehung als wahr beurteilt. Der Begriff ist also auch hier einem Urteil logisch äquivalent.

So haben wir also gesehen, daß  tatsächlich  die Begriffe mehr als formale Urteile sind. Es kommt nun darauf an zu zeigen, daß nur so die Begriffe imstande sind, die ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen. Nur dann nämlich, wenn wir die Begriffe, um einen auch von RIEHL früher gebrauchten Ausdruck zu benutzen, als potentielle Urteile auffassen, sind sie fähig, die Unendlichkeit der anschaulichen Welt wirklich zu überwinden. Ds ist natürlich für uns der entscheidende Punke. Wir wissen, daß die Voraussetzung dieser Leistung darin besteht, daß der Begriff von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen frei ist, um so auf jede Gestaltung zu passen, welche räumlichen und zeitlichen Bestimmungen sie auch haben möge. Natürlich ist auch das wieder nur ein Ideal, dessen Erreichbarkeit zweifelhaft ist, dem sich aber die Begriffe immer mehr anzunähern versuchen müssen und das uns einen Maßstabb für die Vollkommenheit der Begriffe gibt. Ihm sich annähern aber können sie nur, wenn sie Urteile enthalten.

Wir haben gesehen, daß es die Allgemeinheit der Wortbedeutungen war, mit deren Hilfe wir eine gegebene Mannigfaltigkeit zu vereinfachen vermochten, aber diese Allgemeinheit bleibt, so lange sie noch in direkter Beziehung zur Anschauung steht, immer nur eine numerische und es ist nicht einzusehen, wie eine unbestimmte, anschaulich repräsentierte oder in die bloße Form von Urteilen umgesetzte Wortbedeutung jemals mehr als empirisch allgemein sein sollte. Sie genügt daher für die Zwecke der Wissenschaft nicht. Die unendliche Mannigfaltigkeit vermögen wir nicht durch eine Allgemeinheit der Vorstellungen, sondern nur durch eine Allgemeinheit der Urteile zu überwinden, weil wir nicht nur numerisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind. Um es kurz zu sagen, eine unendliche Fülle von Einzelgestaltungen werden wir in einem Begriff nur unter der Voraussetzung erfassen, daß sein Inhalt aus Urteilen besteht, in welchen ein sogenanntes Naturgesetz zum Ausdruck kommt, wobei wir unter Naturgesetz hier nichts anderes als ein unbedingt allgemeines Urteil verstehen, das etwas über die körperliche Natur aussagt. Nur bei solchen Begriffen kann von  Allgemeinheit im strengen Sinne des Wortes die Rede sein, d. h. sie allein passen auf Einzelgestaltungen der Wirklichkeit, wo auch immer sie sich im unendlichen Raum und in der unendlichen Zeit finden mögen. Gewiß bildet die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen unser Erkennen, aber gerade darum können die Bedeutungen nicht Vorstellungen, sondern müssen ihrem logischen Wert nach Urteile sein, die Gesetze enthalten oder sie vorbereiten. Denn die Welt der Bedeutungen muß begrenzt sein im Gegensatz zur unbegrenzten Welt der Anschauungen und nur in Form des Gesetzes haben wir ein Begrenztes, das wir auf Unbegrenztes beziehen können. So ergibt sich uns auch die letzte Eigenschaft der Begriffe wiederum aus ihrem logischen Wesen, d. h. daraus, daß sie das Mittel zur Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit der Welt sind. Der Umfang eines Gesetzesbegriffs schließt eine unendliche extensive Mannigfaltigkeit ein, der Inhalt sagt uns, was aus der unendlichen intensiven Mannigfaltigung für die Erkenntnis in Betracht kommt und ermöglicht uns daher, auch diese Mannigfaltigkeit naturwissenschaftlich vollkommen zu übersehen.

Doch auch hiermit ist das Ideal der Begriffsbildung nicht ganz abgeschlossen. Wir müssen nicht nur Gesetzesbegriffe bilden können, von denen jeder Einzelne eine unendliche Mannigfaltigkeit überwindet, sondern wir müssen auch voraussetzen, daß eine begrenzte, vollkommen übersehbare Anzahl von Gesetzen alle Einzelgestaltungen der unendlichen Wirklichkeit umfaßt. Es wäre ja denkbar, daß eine unendliche Anzahl von verschiedenen Gesetzesbegriffen gäbe und unter dieser Voraussetzung wäre wiederum eine Erkenntnis des Weltganzen auch nicht einmal annähernd erreichbar. Doch ist hier nur eine Voraussetzung noch notwendig, die sich von der, daß wir überhaupt Gesetzesbegriffe bilden können, nicht prinzipiell unterscheidet. Die Gewißheit, daß es eine begrenzte Anzahl von Naturgesetzen gibt, ist möglich, wenn wir sozusagen eine Gesetzmäßigkeit der Gesetze annehmen, d. h. wenn wir imstande sind, einen letzten Gesetzesbegriff aufzustellen, der die verschiedenen Naturgesetze als seine Arten umfaßt oder genauer, wenn wir voraussetzen dürfen, daß wir die Gesetzmäßigkeit immer mehr zu vereinfachen imstande sind und uns dadurch dem einen letzten Gesetzesbegriff immer mehr annähern. Auf jeden Fall muß  ein  letzter Begriff als Abschluß gefordert werden und zwar aus rein logischen Gesichtspunkten. Es ist durchaus nicht richtig, daß eine solche Forderung nur einem ästhetischen Bedürfnis entspringt und daß eine Mehrzahl letzter Begriffe dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben genügen kann. Ergibt sich nälich diese Mehrzahl schließlich als ein rein Tatsächliches und Unbegreifliches, so können wir niemals wissen, ob nicht noch eine unbegrenzte Anzahl von neuen "letzten" Begriffen bei weiterer Forschung hinzutreten kann und eine Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit wäre durch nichts gewährleistet. Wissen wir dagegen, warum gerade diese letzten Begriffe sich ergeben müssen, dann ist jene Mehrheit gar nicht die letzte, sondern erst die vorletzte Stufe und im Wissen vom Grund gerade dieser Anzahl von Gesetzesbegriffen haben wir dann den einen wirklich letzten Begriff. Er paßt auf alle Einzelgestaltungen der Wirklichkeit, in ihm ist alle unübersehbare Mannigfaltigkeit überwunden.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd XVIII, Heft 3, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    15) Vgl. WINDELBAND, Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil, in den Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, Seite 170f
    16) Das Wort  Definition  habe ich bisher absichtlich vermieden. Ich habe se früher als gleichbedeutend mit Begriffsbildung oder Begriffsbestimmung gebraucht, gebe aber SIGWART gern zu, daß man es besser für den sprachlichen Satz verwendet, der die Bedeutung zweier Ausdrücke gleichsetzt. Sachlich werden übrigens dadurch die Ausführungen meiner Schrift zur Lehre von der Definition nur unwesentlich modifiziert.