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JOACHIM WACH
Das Verstehen
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"Die Bedeutung  Baumgartens,  dieses außerordentlich gelehrten und anregenden Mannes, besteht vor allem darin, den Übergang von der pietistischen Theorie der Hermeneutik zu der der historisch-grammatischen Richtung zu bezeichnen.  Baumgartens  Werk atmet den Geist der  Aufklärung.  In vorsichtigen Andeutungen und Winken, die erst seine Schüler fruchtbar machten, sucht er neben den Prinzipien der Glaubensanalogie und der Emphasen, die auch er vertritt, vor allem der  historischen  Auslegung ihr Recht zu schaffen. Das 3. Hauptstück seiner Schrift über biblische Hermeneutik handelt von den  historischen  Umständen auszulegender Schriftsteller: es kommt an auf den Urheber der Rede, die Person, zu welcher, die Zeit, wann, der Ort, wo, die Veranlassung und Umstände, unter denen geredet wird. Hier setzen Herder, Semler, Michaelis, Ernesti ein."

"Das Nichtverstehen kommt meistens gar nicht von einem Mangel an Verstand, sondern vom Mangel an Sinn."


II.

Wenn wir im folgenden der Behandlung des speziellen Themas, das uns hier beschäftigen soll: der Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert eine  Skizze der Vorgeschichte  dazu seit der Reformation voranschicken, so sei dazu bemerkt, daß wir diesen relativ späten Einsatzpunkt für unsere Arbeit wählen konnten, weil die Entwicklung der Hermeneutik von den Ursprüngen bis zur Reformation von einigen hervorragenden Forschern ausgezeichnet, wenn auch kurz, dargestellt worden ist: ich gedenke hier der Abhandlungen, die DILTHEY, GEORG HEINRICI, FREDERIC WILLIAM FARRAR, ERNST von DOBSCHÜTZ, um nur die Namen einiger Neuerer zu nennen, diesem Thema gewidmet haben. Aber auch abgesehen davon ist der Zeitpunkt, in dem wir mit unserem Überblick einsetzen, auch sachlich ein bedeutsamer Einschnitt.

DILTHEY hat durchaus richtig gezeigt, daß und warum von einer Theorie der Hermeneutik (1) in einem strengeren Sinn erst seit der  Reformation  die Rede sein kann (2). Auch vorher gab es Auslegungsregeln (3), bekanntlich haben bereits die Kirchenväter solche aufgestellt (4), wie sie außerhalb des Christentums vor allem bei den jüdischen Rabbinen systematisiert worden sind (5). Das Mittelalter entwickelte diese Regeln weiter - innerhalb der Grenzen, die ihm gezogen waren durch die Norm, die alle Auslegung bestimmte. Die  heiligen Schriften  waren, das war auch die Ansicht der Kirche, nicht ohne weiteres zu verstehen. Aber man stellte sehr früh auch das Prinzip auf, das dieses Verständnis zu bestimmen und ergänzen hatte: die Tradition. Die Reformatoren erkannten dieses Prinzip nicht an. Sie proklamierten die Verständlichkeit der Schrift. Es konnte scheinen, als sei damit eine Theorie der Hermeneutik überflüssig geworden. Und in der Tat haben die Gegner sich im Hinblick auf die hermeneutischen Bemühungen besonders der nachreformatorischen Zeit den Einwand nicht entgehen lassen: warum man denn angesichts der von den Prostestanten behaupteten  perspicuitas  der Bibel noch Kunstregeln ihres Verständnisses nötig habe. Tatsache ist, daß schon die Reformatoren, daß LUTHER und MELANCHTHON, wie übrigens auch CALVIN die Hermeneutik ein schönes Stück weitertreiben konnten (6) und daß die Fortschritte dieser Theorie und ihre Entwicklung zu einer Wissenschaft durch die protestantische Theologie erfolgt ist (7). Gerade die Kontroversen zwischen den Theologen der beiden großen Konfessionen trugen zur tieferen Durchdenkung der hermeneutischen Probleme und zur weiteren Ausbildung der Theorie bei. Und als eine ganze Zeitlang später auch die anderen Wissenschaften ihren Beitrag zur Interpretationstheorie zu liefern begannen: Philologie und Jurisprudenz vor allem, da war es, wie ebenfalls DILTHEY uns gezeigt hat, vor allem das protestantische England und Holland, die die Sache gefördert haben (8). Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts behält die Theologie ihre dominierenden und bestimmende Rolle in der Geschichte der Verstehenslehre bei (9). Von dem berühmten  Clavis  des FLACIUS bis zu den Systemen der RAMBACH und BAUMGARTEN führt eine ununterbrochene Reihe von theologischen Werken hermeneutischen Inhalts. Nur in geringem Maße beteiligen sich Philosophen und Juristen in dieser Zeit ander Erörterung der  allgemeineren  Probleme; wenn sie über die praktische Exegese hinaus über deren Grundsätze, Ziele und Grenzen nachsannen, so geschah es im engsten Rahmen. Auch hier gab es Ausnahmen. Der große SPINOZA widmete in seinem theologisch-politischen Traktat ein Kapitel der Auslegung der Schrift, in dem er die Hauptregel der Interpretation allein aus dem Text und die These von der Verständlichkeit der Schrift in Bezug auf alle entscheidenden Fragen aussprach (10). Von der Philosophie des SPINOZA aus begründete im 17. Jahrhundert L. MEYER den Grundsatz:  philosophia scripturae interpres  (11). Universal wie sein ganzes Denken war LEIBNIZ' Idee einer "Allgemeinen Charakteristik", ein Plan, der, wenn er zur Durchführung gelangt wäre, die gesamte Auslegung und damit auch die Theorie umgestaltet haben würde (12). Aber seine Bemühungen um ein einheitliches System von Zeichen führten nicht zum Erfolg. Der Wolffianer MEIER entwart um die Mitte des 18. Jahrhunderts den "Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst" (13). Fast sah es so aus, als sollte nun auch der Philosophie die Führung der Diskussion zufallen, als würde sie die Erörterung der Probleme des Verstehens in ihren Kompetenzbereich einbeziehen. Die weitausgebreitete Herrschaft der WOLFFischen Schule schien dem günstig (14). Aber es kam anders. Während in der Theologie der anregende Geist SALOMON BAUMGARTENs eine Anzahl von bedeutenden Schülern befruchtete (15), während ein SEMLER, ein ERNESTI am System des Meisters fortarbeiteten und entscheidende neue Gesichtspunkt in die hermeneutische Theorie einführten (16), zerriß in der Philosophie die Kontinuität durch das Auftreten KANTs. Zwar: es wäre ein Anknüpfungspunkt gegeben gewesen in dem erhöhten Interesse, das durch den großen Königsberger die Philosophie den erkenntnistheoretischen Fragen zuwandte, aber die Transzendentallehre des Idealismus stand im Grund den Fragen des historischen Verstehens - und um dieses handelte es sich doch vorwiegend - ohne sonderliche Teilnahme gegenüber (17). Wenn trotzdem in der Folge gerade die Philosophie noch die wichtigsten Beiträge zur Verstehenslehre leisten sollte, wenn einmal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der ganze Umfang, die Fülle der Probleme aufgezeigt wurden, an deren Aufhellung über alle Grenzen der einzelnen Geisteswissenschaften hinweg noch immer zu arbeiten ist, so war das das Verdienst eines Mannes, den die Geschichte der Systematik kaum zu erwähnen pflegt und ohne den doch die größten Theoretiker des Verstehens nicht zu denken sind. Es war das Verdienst HERDERs, dem Theologie und Philosophie, Philologie, Historie und die Kunstwissenschaften so bedeutende Impulse verdanken. (18) Um den für unseren Zusammenhang wichtigsten Namen zu nennen: SCHLEIERMACHER zeigt die Nachwirkung seines Einflusses gerade in seiner für die hermeneutische Theorie so bedeutsamen Auffassung von der dichterischen Produktion. Welcher Romantiker wiese nicht die Spuren HERDERscher Anregungen in seinem Werk auf, die frühen: wie SCHLEGEL (19) und NOVALIS (20), die so manche Bemerkungen zum Verstehen beigesteuert haben, so gut wie die späteren, zu denen wir, um nur einen hier anzuführen,  cum grano salis  [mit einer Brise Salz - wp] verstanden, den größten Systematiker der Hermeneutik im 19. Jahrhundert, AUGUST BOECKH zu zählen haben (21). Aber nicht genug damit, kann man HUMBOLDTs Weltbild verstehen ohne des großen Erziehers zur Humanität zu gedenken, würden seine hermeneutischen Lehren bis in die Einzelheiten hinein denkbar sein ohne den Einfluß des Mannes, zu dem GOETHE eine Zeit hindurch wie zu seinem großen Erzieher aufgeblickt hat? Nicht anders steht es in der Philosophie. Man könnte sagen, daß in dem Maße, als sie HERDERs Einfluß aufweisen, die Philosophen der nachkantischen Zeit den Verstehensproblemen gegenüber Beachtung und Verständnis gezeigt haben. FICHTE stand ihnen seiner Anlage und geistigen Herkunft nach fremd gegenüber, SCHELLING hat sie zwar selbst kaum berührt, aber seine Schule, die man die organologische genannt hat, zeigte schon sehr viel mehr Sinn für diese Fragen. Man sollte sich nicht verführen lassen den großen Einfluß HERDERs auf HEGEL, deshalb, weil er noch fast ununtersucht ist, zu gering zu veranschlagen (22). Die meisten Denker aber, die im Laufe des 19. Jahrhunderts dem Verstehen ihre Aufmerksamkeit zuwendeten, sind von HEGEL mehr oder weniger tief berührt (wie z. B. STEINTHAL, DILTHEY, SIMMEL).

Aber lenken wir noch einmal zurück. Durch die Reformation hatten, wie wir sahen, die hermeneutischen Theorien in der sich entwickelnden neuen Theologie einen unschätzbar großen und bedeutsamen Impuls empfangen. Der Humanismus war es, der aus der neu erwachenden Liebe zum Altertum, aus dem unerhört aufblühenden Studium der Antike die neue  Philologie  entstehen ließen (23), für die die Probleme der Auslegung und deren Theorie einmal von großer Bedeutung werden mußten. Wir können den Zeitpunkt bestimmen. Er tritt später ein, als man erwarten sollte. Die Entwicklung der Kritik ging voran. CLERICUS wandte der Ausbildung ihrer Theorie seine besondere Aufmerksamkeit zu. Wir wissen, daß in einer Art Reaktion gegen die Hypertrophie [Übertreibung - wp] der Kritik, wie sie sich im Zusammenhang mit der Blüte der klassischen Studien im 17. und 18. Jahrhundert besonders in Holland herausbildete, die Entstehung einer neuen systematischen, philologischen Hermeneutik gefördert wurde, die in Deutschland aus den großen enzyklopädischen Entwürfen der GESNER, WOLF und BOECKH hervorging. Ihre Entwicklung, die fortschreitende Vertiefung und Systematisierung vom Ausgang des 18. Jahrhunderts (24) an, vor allem durch die Initiative des großen FRIEDRICH AUGUST WOLF, wird uns ja im einzelnen noch zu beschäftigen haben. Der Name dieses Mannes bezeichnet eine Etappe in der Geschichte der hermeneutischen Theorie; er hat weniger durch bedeutende Beiträge zu ihr gewirkt als durch die genial sichere Art, mit der er ihr in seinem großzügig entworfenen philologischen System ihre Stelle anwies. Das ist sein Werk, hier hatte er von HEYNE wenig zu lernen, denn dieser hat die enzyklopädischen Versuche seines Lehrers GESNER, des ersten Philologen der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, nicht weitergeführt. WOLFs Schüler ist SCHLEIERMACHER gewesen. Er hat die Anregungen des Lehrers aufgenommen und wunderbar auszugestalten gewußt. Erscheint er, dessen hermeneutische Lehre sich an der Lektüre ERNESTIs und seines Kommentators MORUS (25) bildete, dem damit die ganze Fülle theologischer Überlieferung zum Verstehensproblem überkam (26), wie ein glücklicher Erbe zweier mächtiger Provinzen im Reiche unserer Theorie: der theologischen und philologischen, so setzte ihn seine hohe philosophische Begabung und sein psychologischer Scharfblick in den Stand, das Erbe nicht nur zu bewahren, sondern in seltener Weise zu mehren und auszugestalten. Eine Fülle neuer Gesichtspunkte ergab sich aus der Heranziehung ästhetischer Kategorien, die er in die Theorie der Hermeneutik zuerst systematisch eingeführt hat, nachdem, von einzelnen Theologen abgesehen (27), vor ihm vor allem HAMANN (28) und HERDER (29) Winke dazu gegeben hatten. Der Anschluß an Ästhetik und Kunstwissenschaft, der für die weitere Entwicklung, für den Zusammenhang mit Literatur- und Kunstgeschichte so wichtig werden mußte, war damit vollzogen (30). Niemals vorher und nachher ist die Theorie der Hermeneutik so universal verstanden, entwickelt und dargestellt worden. Schon sein Schüler und Erbe, BOECKH, wie er, aus WOLFs Schule hervorgegangen, der strengste und dabei umfassendste  Systematiker  der Hermeneutik, den ihre Geschichte kennt, lebte nicht mehr in dem festen und fruchtbaren Zusammenhang mit der Theologie, der SCHLEIERMACHER genährt hat, lebte nicht mehr in einer so engen Verbindung mit dem künstlerischen Schaffen um ihn, wie es dem Lehrer vergönnt gewesen ist, der aus dieser Relation den tiefsten Gewinn zu ziehen gewußt hat. So bedeutet die Lehre SCHLEIERMACHERs einen  Höhepunkt  in der Geschichte der hermeneutischen Theorie. Sie ist es auch noch aus einem besonderen Grund. Sie trägt im höchsten Maß den Stempel ihrer Herkunft aus der Erfahrung: in der Übung der Interpretation hat sich SCHLEIERMACHER die Grundsätze erarbeitet, mit denen er die Überlieferung bereichert hat. In ihr hat sich sein Scharfsinn und sein Einfühlungsvermögen immer wieder bewähren müssen. Keine andere hermeneutische Lehre mutet uns darum so lebendig an wie diese. Allerdings, auch in dieser Beziehung können wir BOECKH als den ersten Schüler und Nachfolger SCHLEIERMACHERs ansehen, die große Erfahrung, die diesem Meister der Auslegung zur Verfügung stand, hat ihn in erheblichem Maß dazu befähigt, das gewaltige Gebäude seiner Systematik aufzuführen. Und doch, wir deuteten es bereits an: die hermeneutische Theorie BOECKHs ist weniger universal, weniger umfassend als die SCHLEIERMACHERs. Sie ist auf den philologischen Zweck beschränkt. Wenn im weiteren Verlauf der Entwicklung in der philologischen Wissenschaft selbst die Hermeneutik immer mehr zurückgedrängt wurde, die Theorie immer mehr zurücktrat zugunsten einer Kunstlehre der Auslegung in praktischer Absicht, so ist in der Theologie ein ganz ähnlicher Prozeß zu beobachten. Die Schule SCHLEIERMACHERs hat den hermeneutischen Problemen noch eine starke Aufmerksamkeit geschenkt, die Theorie besonders der speziellen Hermeneutik haben KLAUSEN, LUTZ und andere weiter zu entwickeln gesucht. Aber um die Jahrhundertmitte klingt das Interesse für jede Theorie der Auslegung, die über Spezialhermeutik hinausgeht, nahezu völlig ab.

DILTHEY selbst hat die kleine Skizze, in der er der Entstehung der Hermeneutik nachging, bei SCHLEIERMACHER enden lassen. Er hat angedeutet, daß die folgenden Jahrzehnte nicht mit dem Pfund zu wuchern verstanden haben, das ihnen übergeben wurde. Die Wiederaufnahme der Probleme, die eine allgemeine Theorie der Hermeneutik beschäftigen müssen, gegen das Ende des Jahrhunderts ist durch ihn, den Bewunderer und Biographen SCHLEIERMACHERs, den Schüler BOECKHs und RANKEs, vorbereitet und eingeleitet worden. (31) Er stand diesem Vorgang zu nahe, um ihn selbst schon historisch aufzufassen. Aber er ist sich immer der Kontinuität bewußt gewesen, in der seine eigenen Bemühungen um die Theorie der Hermeneutik mit der Geschichte derselben standen. Er hat ihr zuerst wieder in dem großen geisteswissenschaftlichen und philosophischen System, das er immer wieder zu skizzieren bemüht war - DILTHEY war in höherem Grad Systematik als man heute vielfach anzunehmen geneigt ist -, ihre Stelle angewiesen. So ist die Fragestellung nie ganz vergessen worden. Eine  neue  Epoche in der Geschichte der hermeneutischen Theorie setzt nun ein. Die Philosophie, besonders die Schule DILTHEYs, wendet dem Verstehen ihre besondere Aufmerksamkeit zu (32). GEORG SIMMEL wendet das Problem im Sinne DILTHEYs nach der geschichtsphilosophischen Seite. Das historische Verstehen wird durch ihn analysiert (33). Damit ist schließlich wieder eine Verbindung, wenn auch nicht vollzogen, so doch vorbereitet, die von höchster Bedeutsamkeit sein mußte. Die  Historik  tritt in Beziehung zur Theorie der Hermeneutik. Die Historie hatte seit ihrer Neubegründung durch NIEBUHR - RANKE selbst war weniger an den erkenntnistheoretischen Problemen der Geschichte interessiert - zuerst in DROYSEN dem Vorgang des historischen Verstehens ihre Aufmerksamkeit geschenkt (34). Er hat in seiner genialen Historik eine klare, wenn auch knappe Systematik entworfen (35). DILTHEY und SIMMEL lernten von ihm. Die Geschichte sieht nun die Notwendigkeit sich mit der Auffassung BOECKHs von der Philologie und ihrer formalen Aufgabe auseinanderzusetzen (36). Sie beginnt den Prozeß der historischen Auffassung und Interpretation eingehend zu analysieren. Die neu entstehende  Soziologie  wendet dem Verstehensproblem ihre Aufmerksamkeit zu (37). Durch RICKERTs Fragestellung wird die Brücke von der Philosophie des Kantianismus zur Historik zu schlagen versucht (38). Die Methodenlehre WUNDTs sucht die Problematik des Verstehens in das System der Logik einzuarbeiten (39), ohne allerdings das Problem selbst stärker zu fördern. Inzwischen war gerade von der Logik aus durch die scharfsinnigen Untersuchungen HUSSERLs (40), von denen DILTHEY sich in seiner letzten Zeit tief berührt bekannt hat, und anderer Schüler FRANZ BRENTANOs, der Kampf gegen die Psychologismus eröffnet und durch die Betonung des intentionialen Charakters alles Psychischen das Sinnproblem neu gestellt worden. Die Sprachphilosophie war neben den normativen Disziplinen (Ästhetik, Ethik, Rechts-, Religionsphilosophie) die erste, die Nutzen aus dieser Betrachtung ziehen konnte (41). Die übrigen philosophischen Disziplinen, aber auch die Geisteswissenschaften sind ihr gefolgt. Heute ist das Verstehen wieder eines der Zentralthemata der Philosophie (42), wie der einzelnen Wissenschaften des Geistes, und auch die Theologie macht Anstalten es von neuem aufzunehmen (43).
QUELLE - Joachim Wach, Das Verstehen [Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert], Tübingen 1926
    Anmerkungen
    1) Der Name "H." taucht nach von DOBSCHÜTZ im 17. Jahrhundert zuerst in seiner prägnanten Bedeutung auf (neben "Auslegekunst" und  ars interpretandi  gebraucht). HEINRICI bedeutet  hermeneuein  sowohl  interpretari,  das Unverstandene deutlich machen, wie das Verstandene darlegen, bwz. aussprechen, es wurde daher sowohl im Sinn von "Übersetzen" wie von "Mitteilung" und "Darstellung" gebraucht. Der  hermeneus  erscheint als Vermittler oder Erklärer des Unverstandenen, entweder mit Hilfe der Überlieferung oder der eigenen geistigen Tätigkeit.
    2) Die Entstehung der Hermeneutik, zuerst in Festschrift für Sigwart, jetzt auch Gesammelte Schriften, Bd. V, Seite 317-338; vor allem aber: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, Gesammelte Schriften, Bd. II, Seite 90-245. Vgl. aber auch das zwar von einem bestimmten theologischen Standpunkt aus geschriebene, aber sehr instruktive, fast vergessene Werk von G. W. MEYER, Geschichte der Schrifterklärung, 1809, (fünf Bände).
    3) Für die Geschichte der Hermeutik im Altertum vgl. von DOBSCHÜTZ, Artikel "Interpretation in der "Encyclopedia of Religion and Ethics VII, Seite 330-395, und HEINRICI, Artikel  Hermeneutik  in der "Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. V, Seite 775-812, auch STEINTHAL, Geschichte der Sprachwissenschaft, 1890/91. Das Werk von FARRAR, History of Interpretation (1886) ist bei uns wenig bekannt geworden. Für die ältere Geschichte der theologischen Auslegungslehre und Praxis (patristische und alexandrinische Exegese) ist es besonders brauchbar, die neuere ist flüchtiger behandelt, den allgemeineren Problemen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nützlich ist die - für die neuere Zeit allerdings nicht vollständige - Bibliographie Seite 479-89. - Die Literatur zur Geschichte der Exegese verzeichnen wir hier nicht.
    4) Ein Spezialthema behandelt von DOBSCHÜTZ in dem Aufsatz: Vom vierfachen Schriftsinn, in der Harnack-Ehrung (1921), Seite 1-13.
    5) KÖNIG, Hermeneutik des Alten Testaments (1916), § 4. Zur Hermeneutik des Talmud und der Midraschim vgl. STRACK, Einleitung in den Talmud, 1921, Kap. XI, hier eine ausführliche Besprechung der  Middoth,  deren verschiedene Zusammenstellungen (7, 13, 32 Regeln) allerdings mehr Regel-Sammlungen als Systeme darstellen, und WEBER, Jüdische Theologie, 1897, Kap. VII-X. Zur  islamischen  Hermeneutik vgl. GOLDZIHER, Die Richtungen der Koranauslegung (1920).
    6) Über die hermeneutischen Grundsätze LUTHERs und die Praxis seiner Auslegung handelten zuletzt HOLL, Luthers Bedeutung für die Fortschritte der Auslegungskunst (Gesammelte Schriften zur Kirchengeschichte, 1921), BOEHMER, Luthers Erste Vorlesung, 1924 (Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 1923). Entscheidend war jedenfalls die Art, wie er lebendige Erfahrung für alles Verstehen forderte, im einzelnen vor allem seine Betonung der Bedeutung des Literalsinnes und seine Lehre von den geistlichen Gaben des Auslegers. MELANCHTHONs Auslegungslehre ist noch nicht eingehender untersucht worden. In Frage kommen vor allem seine an ARISTOTELES orientierten Schriften zur Rhetorik (Elementorum Rhetorices, Buch 2, 1536, de Rhetorica, Buch 3, 1519).
    7) Die erste Periode bezeichnen die von DILTHEY glänzend charakterisierten großen Werke des FLACIUS, FRANZ und GLASSIUS. Die  Clavis  des berühmten Illyrikers (1567) beherrscht die Hermeneutik des 17. Jahrhunderts. Der großen Kirchenhistoriker und Bibelkenner übertrifft an Originalität und systematischer Kraft seine Vorgänger, wie auch die Mehrzahl seiner Nachfolger. Seine Interpretationstheorie ist aufgebaut auf dem lutherischen Grundgedanken des Verständnisses aus dem Zusammenhang der Schrift. Mag er den Zusammenhang (vgl. seine Parallelen und Analogien) auch recht formal aufgefaßt haben ("das Schriftganze") - zumindest seine Lehre von den Schwierigkeiten, die dem Verstehen entgegenstehen, und von ihrer Auflösung, sind eine bedeutende Leistung. Vgl. dazu G. FRANK, De Matthiae Flacii Illyrici, in "Libros sanctos meritis" (ohne Jahr) und jetzt HOLL, a. a. O., Seite 445f. Der "tractatus theologicus novus de interpretatione" des FRANZ (1619), die "philologia sacra" des GLASSIUS (1623), die hermeneutischen Leistungen der Reformierten der Epoche, eines CHAMIER und RIVET, bieten wohl in Einzelheiten Neues, ermangeln aber, besonders die ersteren allzusehr schöpferischer Impulse. Das System siegt. - Diese erste Epoche der nachreformatorischen Theorie der Hermeneutik, die vor allem die Erforschung des Literalsinnes der heiligen Schriften, den LUTHER so stark betont hat, sicherzustellen und zu ermöglichen bestrebt war, ist charakterisiert durch die strikte Unterordnung der Auslegung unter das  Dogma
    8) Besonders die Bedeutung des GROTIUS ist hervorzuheben. Dieser "feinste Interpret seit Calvin" (DILTHEY) war schon durch seine Sektenangehörigkeit zu einer freieren Stellung gegenüber der kirchlichen Auslegung befähigt. Mit dem klassischen Altertum wohl vertraut hat er vor allem dazu beigetragen, die Schranken zwischen profaner und Sakralhermeneutik niederzulegen, hierin wie in seinen Ansätzen zu grammatischer und historischer Auslegung ein Vorläufer der SEMLER-ERNESTischen Interpretationstheorie. Der Genfer TURRETIUS hat als Schüler des großen CLERICUS (vgl. dessen Ars critica 1696) den Grundsatz der allgemeinen Geltung der hermeneutischen Regeln dann vor allem festgehalten (Tractatus bipart. 1728). Die in philologischer Kritik glänzenden Arbeiten der CAPELLUS, LECLERC, WETTSTEIN u. a. bereiteten die Wendung der hermeneutischen Theorie zum Grammatisch-Historischen vor, die sie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts nehmen sollte.
    9) Besonders deutlich ist die Herrschaft der Theologie in der hermeneutischen Theorie in der  zweiten  Epoche der nachreformatorischen Auslegungslehre, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie steht im Zeichen des  Pietismus.  Es ist die Zeit, in der man unter den Erfordernissen für das rechte Verstehen der heiligen Schrift - und um dieses, als etwas Einzigartiges, sicherzustellen, konzentrieren sich die Bemühungen der Theoretiker der Hermeneutik völlig - vor allem die geistlichen Gaben betonte. A. H. FRANCKE schreibt seine zahlreichen Schriften zur erbaulichen Auslegung (vgl. besonders die Praelectiones herm. 171/23). Am großartigsten, strengsten und systematischsten stellt RAMBACH diese Lehre vom Verstehen dar in seinen berühmten  Institutiones hermeneuticae sacrae  (1723), einem außerordentlich interessanten Werk, das in vier große Teile zerfällt: Das Fundament der biblischen Hermeneutik, die näheren oder inneren, entfernteren oder äußeren Hilfsmittel zur Erforschung des Sinnes der biblischen Autoren, die angemessene Behandlung des erforschten Sinnes. Die Analogie des Glaubens, schon in der FLACIUSschen Hermeneutik ein wichtiges Hilfsmittel des Verstehens, ist jetzt der Hauptkanon, das Prinzip aller Auslegung (fundamentum ac principium generale). (Ich möchte hier aufmerksam machen auf die Parallele, die in der Theorie der juristischen Auslegung hierzu die Rechtsanalogie darstellt. Auch hier ist vielfach über die Quelle gestritten worden, aus der die Analogie zu entnehmen ist (Naturrecht, subjektive Vernunft, das "Rechtsganze"). Vgl. WINDSCHEID-KIPP, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1900, § 21). Gewiß, auch in dieser Zeit dehnen sich die grammatischen und historischen Kenntnisse aus. Besonders der schon genannte Wettstein arbeitete in dieser Richtung, aber das Hauptgewicht legt die Theorie nicht auf diese Art zu verstehen und auszulegen, sondern auf das "innere Licht". Die charakteristische  Emphasenlehre  blühte auf: jede einzelne Stelle müsse emphatisch verstanden werden, d. h. aus ihr soviel herausgeholt werden als Gott hineingelegt hat - also als möglich sei. Der heilige Geist, der nicht nur die Sachen, sondern auch die Ausdrücke eingab, kann nichts umsonst gesagt haben. RAMBACH gab dieser Lehre eine besonders prägnante Formulierung (a. a. O., de eruendis styli sacri emphasibus, Seite 241).
    10) Theologisch politisches Traktat, 1670, Kap. VII
    11) Die Schrift heißt "Philosophia s. scripturae interpres, exercitatio paradox" und erschien anonym 1666.
    12) Vgl. die Würdigung bei CASSIRER, Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen 1902 und "Philosophie der symbolischen Formen", Bd. 1, Seite 69-72.
    13) 1757. MEIERs Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst ist eine recht anerkennenswerte, wenn auch stark formalistische Leistung, die auch heute noch Beachtung verdient. Ihr Hauptverdienst besteht in der systematischen Gruppierung der "Zeichen", die es zu verstehen gilt. MEIER teilt sie in  zwei  große Gruppen: Gattungen der Rede und solche anderer Zeichen. Erstere Gruppe zerfällt in folgende Unterteile: 1. die heilige Schrif. Hier hat die Grundregel der Auslegung zu sein die "hermeneutische Billigkeit" und die "hermeneutische Ehrerbietung gegen Gott". 2. die bürgerlichen Gesetze. 3. sittliche Charakteristik. Die Zeichen, aus denen "das Verborgene der menschlichen Gemüter" "auch gegen deren Willen" erkannt werden kann. 4. Diplome. 5. Orakel. - Die zweite Gruppe zerfällt in die unbedeutenden Zeichen: Sterne, Träume usw. Augurien aus lebenden Menschen (physiognomische Zeichen: Stirn, Handfläche, Nägel) und aus toten (Leichnamsteile usw.), Fossilien, Gewächse, Namen, Zahlen und in andere, wie Hieroglyphen, Wappen, Münzen, Zeichen des menschlichen Gemütes außer der Sprache, der Krankheit und Gesundheit. Schließlich gibt es noch zusammengesetzte Zeichen wie Sinnbilder, Gemälde mit mittelbarem Sinn, Inschriften, Chiffren. - Man sieht, die moderne Ausdruckskunde kann hier in die Schule gehen. Von der Physiognomik bis zur Graphologie, von der Traumdeutung bis zur Astrologie erhält hier alles seinen systematischen Ort in diesem System der Verstehenstheorie.
    14) Neben MEIER setzte vor allem LAMBERT (Neues Organon, 1762) LEIBNIZ' und WOLFFs Bemühungen um eine Semiotik und Charakteristik fort. Ihm war es vor allem zu tun um eine  Kombinatorik  der Zeichen, die alle Anschauung nach Möglichkeit eliminieren sollte. (Vgl. dazu SOMMER, Geschichte der Psychologie und Ästhetik, 1892, Seite 158f) Das konnte die Hermeneutik nicht weiter bringen.
    15) Über BAUMGARTEN unterrichtet gut die "Allgemeine Deutsche Biographie" (nach der Biographie seines Schülers SEMLER). Die Bedeutung dieses außerordentlich gelehrten und anregenden Mannes besteht für unser Thema vor allem darin, den Übergang von der pietistischen Theorie der Hermeneutik zu der der historisch-grammatischen Richtung zu bezeichnen. BAUMGARTENs Werk atmet den Geist der  Aufklärung In vorsichtigen Andeutungen und Winken, die erst seine Schüler fruchtbar machten, sucht er neben den Prinzipien der Glaubensanalogie und der Emphasen, die auch er vertritt, vor allem der  historischen  Auslegung ihr Recht zu schaffen. Das 3. Hauptstück seiner Schrift "Ausführlicher Vortrag der biblischen Hermeneutik" (hg. von BERTRAM 1769) handelt von den  historischen  Umständen auszulegender Schriftsteller: es kommt an auf den Urheber der Rede, die Person, zu welcher, die Zeit, wann, der Ort, wo, die Veranlassung und Umstände, unter denen geredet wird. Hier setzen HERDER, SEMLER, MICHAELIS, ERNESTI ein.
    16) Die Namen der beiden Männer bezeichnen den Anbruch einer neuen Epoche in der Geschichte der hermeneutischen Theorie, die gekennzeichnet wird vor allem durch die Lösung der Auslegungslehre vom Dogma, die Verlegung des Schwerpunkts nach der Seite der grammatisch-historischen Interpretation und spezialhermeneutisch-theologisch durch die Sonderung der für das Alte Testament und der für das Neue Testament geltenden Auslegungsprinzipien. In ERNESTI und SEMLER schafft die neue Richtung der Exegese ihre Theorie. War der erstere der größere Philologe, der exaktere Systematiker, so wirkte SEMLER vor allem durch den Reichtum der Ideen und die Kombination der Gedanken. Beides waren kritische Köpfe. Vor allem SEMLER ist durch seine historisch-kritischen Analysen das Vorbild der Schulen des 19. Jahrhunderts (SCHLEIERMACHER, F. C. BAUR) geworden. ERNESTIs Bemühungen galten vor allem dem Neuen Testament, SEMLER arbeitete auf beiden Gebieten. Beide Männer waren hervorragend philologisch und juristisch interessiert. Während aber SEMLERs reicher Geist in alle seine zahlreichen Schriften ausgegossen erscheint (schon in seiner Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik 1760 [Seite 160f] deutete er die Grundsätze seiner Verstehenslehre an, die er dann vor allem in seinem  apparatus ad liberalem Ni. Ti. interpretationem  1767 [Vet. Test. 1773] entwickelte), schuf ERNESTI in seiner berühmten "Institutio interpretis Ni. Ti. (1795, 1792) das hermeneutische Lehrbuch, an dem noch SCHLEIERMACHER sich bildete. Der scharfsinnige Mann hatte vor allem am Studium der Antike sich die Grundsätze einer echten grammatischen Interpretation entwickeln gelernt, die er jetzt auf die Auslegung des Neuen Testaments übertrug. Der Literalsinn wird wieder streng betont: ihn gilt es - man spürt den Gegensatz zur pietistischen Theorie der Hermeneutik - auf streng grammatischem Weg zu eruieren, die Erforschung des Sprachgebrauchs muß maßgebend sein. Nur hilfsweise soll die Analogie des Glaubens herbeigezogen werden; weil sie allein niemals den Sinn finden kann, erscheint es ausgeschlossen, sie als Kanon für die Auslegung gelten zu lassen. Die historische oder generische Interpretation wird nur schwach berücksichtigt. Hier leistete SEMLER als echter Schüler BAUMGARTENs Bedeutendes. Nicht nur grammatisch sollen wir, nach ihm, verstehen, sondern Zeit und Art der Abfassung der Schriften, Veranlassung, Zweck, Publikum und Lehrart berücksichtigen. Von größter Tragweite sollte der hier ausdrücklich geforderte Grundsatz der "Unvoreingenommenheit" werden. Uns interessieren dabei nicht die dogmatischen, sondern die Konsequenzen für die Theorie der Auslegung. SEMLER betont, der Interpret dürfe weder mehr noch weniger wissen als die hl. Schriftsteller für ihre Zeit. Alles das aber wurde auch mehr als Beobachtung gegeben als streng prinzipiell formuliert.
    17) Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Vorschrift, die KANT für das Verstehen der Bibel aufstellte: die Forderung der moralischen Auslegung, die allerdings erst weniger als allgemeiner Kanon gedacht worden ist denn als praktischer Hinweis. In seiner Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) öffnet er mit diesem Postulat einer sehr willkürlichen Deutung der biblischen Urkunden Tür und Tor. Der Maßstab, das Kriterium ist die Übereinstimmung mit dem abstrakten Vernunftgesetz: die moralische Besserung des Menschen. Die objektive Religion, auf die das historische Verständnis vor allem gerichtet sein wird, tritt völlig zurück.
    18) HERDERs Beitrag zum Verstehensproblem ist noch nicht systematisch untersucht worden. Eine Darstellung konnte in diesem Zusammenhang nicht in Frage kommen, denn die Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert hat seine Leistung bereits vorauszusetzen. Sie muß daher für eine andere Zeit vorbehalten bleiben. HERDER hat nirgends eine systematische Lehre vom Verstehen gegeben. Aber wie er sich nicht nur als ein glänzender Exeget und Hermeneut religiöser, literarischer und sonstiger künstlerischer Werke gezeigt hat, sondern auch selbst  neue  Wege in der Auslegung ging, wie er in einem bis dahin noch nicht gewohnten Maß die Urkunden historisch und ästhetisch zu verstehen suchte und damit mit SEMLER, MICHAELIS und EICHHORN zusammengenannt werden muß, so hat er auch gelegentlich Anmerkungen zur Theorie des Verstehens gemacht. Ich denke vor allem an die "Zwei Briefe, das Studium der Theologie betreffend" (1785), mit ihrem großen Thema, das der 1. Brief anschlägt: Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben usw., - dann aber an die Ausführungen, mit denen er seine "älteste Urkunde des Menschengeschlechts" (1774 und seinen "Geist der hebräischen Poesie" (1782) eröffnete und begleitete. Neben den religiösen waren es vor allem die literarischen Denkmale aller Zeiten und Völker, deren Verständnis er zu erschließen und zu vertiefen bestrebt war. Über die Sprache, über Dichtung und Dichter, über den Genuß von Kunstwerken hat er sich vielfach verbreitet. Psychologisch sucht vor allem seine Schrift: "Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) weiterzukommen. (Einiges dazu in der großen Biographie von HAYM, Herder, 2 Bde., 1887/85)
    19) FRIEDRICH SCHLEGELs persönliches und sachliches Verhältnis zu SCHLEIERMACHER ist vor allem durch DILTHEYs literaturhistorische Arbeiten beleuchtet worden. Dieser unsystematische, geistreiche Kopf hat niemals zusammenhängend seine Gedanken über das Verstehen vorgetragen, das er selbst so virtuos handhabte, aber in allen seinen Schriften finden sich Ideen darüber und dazu verstreut. DILTHEY hat SCHLEGEL SCHLEIERMACHERs Führer zur philologischen Kunst genannt und auf seinen Begriff von der inneren Form des Werkes, der Entwicklungsgeschichte des Schriftstellers und dem in sich gegliederten Ganzen der Literatur, auf seinen Plan einer  ars critica  hingewiesen (die Entstehung der Hermeneutik, Seite 199). Seine literaturhistorischen Arbeiten (allgemeine Würdigung und Literatur bei HAYM, Die romantische Schule, Bd. 2, 1920) haben das Verständnis westlicher und östlicher Meisterwerke mächtig gefördert. Vgl. vor allem seine Bemerkungen zu DANTE, SHAKESPEARE, HOMER. Sie setzen die Betrachtungsart HERDERs fort, in ihnen bildet sich die ästhetische Auslegung aus, zu der die deutsche klassische und romantische Ästhetik so manchen Beitrag geliefert hat. Fäden gehen von hier aus zur Kunstlehre SCHILLERs, zur Ästhetik JEAN PAULs und SOLGERs, aber auch zur Verstehendslehre SCHLEIERMACHERs und BOECKHs hinüber, die der hier absolut gewordenen ästhetischen Würdigung in ihrer vielseitigen, systematischen Theorie der Interpretation ihre Stelle anweisen. Nicht das kritische Werten stand bei ihnen im Vordergrund wie bei FRIEDRICH SCHLEGEL, sondern das Verstehen. HUMBOLDT bezeichnet hier eine Mitte. - - - Zahlreiche  Aphorismen  SCHLEGELs kreisen auch um das theoretische Problem. Als die Aufgabe des Auslegers formuliert er in seinem berühmten Shakespeare-Aufsatz (Sämtliche Werke VII, 1846), den großen Sinn, den ein schöpferischer Genius in seine Worte legt, den er oft im Innersten ihrer Zusammensetzung aufbewahrt, rein, vollständig, mit scharfer Bestimmtheit zu fassen und zu deuten. "Die Lehre vom Geist und Buchstaben", heißt es einmal programmatisch, "ist auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann." (Kritische Fragmente 93) Oder ein andermal: "Das Nichtverstehen kommt meistens gar nicht vom Mangel an Verstand, sondern vom Mangel an Sinn." (Kritische Fragmente 78).
    20) NOVALIS war tiefer als irgendein anderer Romantiker vom symbolischen Charakter der geistigen Erscheinungen überzeugt. Sein ganzes Denken ging darauf, den Schlüssel zum Verstehen dieser Erscheinungen zu finden, die für ihne wie für HERDER ein gewaltig großes Stufenreich der Entwicklung darstellten. Wie für HERDER stand für ihn im Mittelpunkt seines Interesses der Mensch. In der realen Psychologie oder Anthropologie (BAADERs, die er rühmte), sah er den Weg "das Geheimnis zu enthüllen, welches sich der Mensch selber ist". Es ist der Weg von HERDER zu HUMBOLDT, SCHLEIERMACHER und DILTHEY. Der letztere hat zuerst die philosophische Bedeutung der Fragmente HARDENBERGs (=Novalis) erkannt, er hat sie am schönsten gewürdigt. (Das Erlebnis und die Dichtung, III. Kap.) Vgl. auch HAYM, Die romantische Schule III, Kap. 7 und Seite 490f und SIMON, Der magische Idealismus, 1906, der besonders die philosophische Grundposition zu würdigen sucht. Die volle Auswertung der Fragmente für eine Untersuchung von NOVALIS' Anschauungen über das Verstehen der Geistweilt (seine Theorie vom Erkennen der Natur hat OLSHAUSEN untersucht (Friedrich von Hardenbergs Beziehungen zur Naturwissenschaft seiner Zeit, 1905) ist noch nicht unternommen worden.
    21) Die Enzyklopädie der philologischen Wissenschaft (1886) nennt HERDERs Namen ausdrücklich (Seite 305). Über HERDERs Beziehungen zur BOECKHs Lehrer FRIEDRICH AUGUST WOLF einiges bei HAYM, Herder II, Seite 596f. Die geschichtsphilosophischen Anschauungen BOECKHs, der Humanitätsgedanke, die charakterisierende Methode in der Auffassung von Kollektiv- und Individualpsychen, vielleicht auch die bei beiden durch WINCKELMANN entscheidend bestimmte Auffassung der Antike zeigen deutlich HERDERs Nachwirkungen. Übrigens ist BOECKHs Auffassung der Antike stärker normativ betont als die mehr historisierende HERDERs, der gelegentlich gegen die überragende Vorzugsstellung der Antike protestiert. Vgl. hierzu im übrigen nicht nur die "Ideen", sondern vor allem auch HERDERs wichtige Abhandlung von 1774 "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit".
    22) Ich verzeichne eine bedeutsame Äußerung DILTHEYs: "Keine Zitate ermöglichen uns festzustellen, wie SHAFTESBURY, HEMSTERHUYS, HERDER auf ihn (Hegel) gewirkt haben; aber die Verwandtschaft mit ihren Ideen macht sich für den Kundigen überall geltend, und besonders steht HEGELs mystischer Pantheismus ebensogut unter HERDERs Einfluß als seine philosophische Geschichtsanschauung." (Die Jugendgeschichte Hegels, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Seite 148) Es kann nicht unsere Aufgabe sein, das hier im einzelnen aufzuweisen.
    23) Die Geschichte der Philologie hat sehr ausführlich BURSIAN dargestellt (1883), knapper: im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft URLICHs in der 2. (1892), von WILAMOWITZ in der 3. Auflage (1920). - Einen guten Überblick über die Geschichte der philologischen Hermeneutik gibt BERNHARDY, Grundlinien zur Enzyklopädie der Philologie, Bd. 1, 1832, Seite 59-71. Er selbst lebt in der Tradition BOECKHs.
    24) Ausführlicher Bericht über die philologischen Studien im 17. und 18. Jahrhundert bei BURSIAN a. a. O., Bd. I, Kap. 1 und 2.
    25) Mori super hermeneutica Ni. Ti. acroases academicae wurden Bd. 1 (1797) und Bd. 2 (1802 von EICHSTÄDT herausgegeben. Der gelehrte Leipziger Philologe und Theologe erweist sich hier als einer der vorzüglichsten grammatischen Ausleger des Neuen Testaments, allerdings im engsten Anschluß an seinen Lehrer ERNESTI. Weit bedeutsamer als der verhältnismäßig wenig originale allgemeinere Teil (Bd. 1) (exegetica), bei dem jedoch die Untersuchung  de significatione et sensu verborum  zu beachten ist, ist Bd. 2  historica et critica,  wobei allerdings das Grammatische das Historische stark in den Hintergrund drängt.
    26) Ein Kontakt SCHLEIERMACHERs mit den  zeitgenössischen  Arbeiten auf dem Gebiet der hermeneutischen Theorie läßt sich nicht ohne weiteres nachweisen. An bedeutenderen Arbeiten jener Zeit wäre aus dem theologischen Lager vor allem auf KEILs "de historica libr. sacr. interpretatione ejusque necessitate" (1788), in dem ein kräftiger Vorstoß zugunsten der historischen Auslegungsweise unternommen wird, hinzuweisen, ferner auf BECKs Schriften zur Hermeutik des Alten und Neuen Testaments (de interpretatione veterum Scriptorum, 1780), die heute wieder stärkere Beachtung finden (vgl. GIRGENSOHN, zuletzt: Die Inspiration der Heiligen Schrift 1925, nachdem übrigens vor ihm schon in den letzten Jahren andere Theologen [RUDOLF OTTO, KARL BARTH, GOGARTEN usw.] wieder ein die grammatisch-historische Auslegung ergänzendes Verständnis postuliert hatten). In ihnen wird der grammatisch-logisch-historischen Interpretation wieder die pneumatische gegenübergestellt. Wie in der Übung der ersteren, so ist der bedeutende Philologe und Theologe auch in der von ihm geforderten und geleisteten Untersuchung des  individuellen  Charakters besonders der neutestamentarischen Schriftsteller ein Nachfolger des MORUS. - - - Schließlich will ich noch auf eine ganz vergessene recht kluge kleine Abhandlung verweisen: BÖHME, Über das Verhältnis der Geistesbildung zwischen dem Interpreten und seinem Autor (in KEILs Analekten für das Studium der exegetischen und systematischen Theologie, Bd. III, 1816, Seite 80f), die vom KEIL-STÄUDLINschen Streit ihren Ausgang nimmt und ein dreifaches Verhältnis von Autor und Interpreten statuiert und dieses in dreifacher (intellektueller, ästhetischer, moralischer, religiöser) Hinsicht.
    27) Ich nenne hier nur LOWTH "de sacra poesi Hebraeorum", 1768, einst vielbeachtet und auch von HERDER gekannt.
    28) HAMANN hat, wie später HERDER, ein tiefes praktisches und theoretisches Interesse an den Problemen des Verstehens genommen. Wesentlich Aphoristiker, hat er sich auch hierüber nie ausführlicher systematisch verbreitet, aber oft rührt er von theologisch-hermeneutischen Problemen, psychologischen und charakterologischen Beobachtungen oder Fragen der ästhetischen Interpretation bewegt, diese Fragen an. - - - UNGER hat sich in seinem grundlegenden Werk "Hamann und die Aufklärung", Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (1911) veranlaßt gesehen, gelegentlich seiner Charakterisierung des pietistischen Geistes auch der Interpretationstheorie und -praxis dieser Richtung, in die HAMANN stark hineingehört, zu gedenken (Bd.1, Seite 77f) Gerade die Tendenz zur psychologischen und moralischen Auslegung, die der Pietismus beförderte, ist bei HAMANN ganz stark entwickelt. Einige charakteristische Äußerungen HAMANNs zu unserem Thema gesammelt bei GILDEMEISTER, Hamanns Leben und Schriften, Bd. IV, Seite 7, 10, 28 und öfter.
    29) Vgl. hier Anmerkung 18 und DECHENT, Herder und die ästhetische Betrachtung der Heiligen Schrift, 1904
    30) Vorbildlich mußte hier das Verstehen wirken, das WINCKELMANN, der Vater der Kunstgeschichte, der Erzieher aller unserer großen Hermeneutiker: HERDERs, WOLFs, HUMBOLDTs, SCHLEGELs, geübt hatte. Eine neue Art, Werke der bildenden Kunst zu verstehen und auszulegen, bezeichnet vor allem durch ein bestimmtes Verhältnis von normativen und historischen Gesichtspunkten (beide erschienen schon rein äußerlich getrennt), hat er in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) geschaffen. Vgl. hierzu vor allem JUSTI, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. III, 1898, Kap. 2. - Besonders durch HERDER und die SCHLEGEL sind WINCKELMANNs Gedanken für die Theorie der Auslegung und Deutung künstlerischer Werke fortgesetzt und fruchtbar gemacht worden.
    31) Ich skizziere diese Zusammenhänge nur noch kurz und andeutungsweise, da die eingehende Behandlung dem 2. Band vorbehalten ist. Entscheidend ist jedenfalls das Erscheinen von DILTHEYs Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) gewesen. - Er hat es, um nur eine statt vieler Äußerungen in diesem Sinne anzuführen, immer wieder betont: daß für die moderne Grundlegung der Geisteswissenschaften gerade in der Hermeneutik ein Ausgangspunkt von höchstem Wert gegeben ist. "Bereitet doch", so sagt er (Gesammelte Schriften II, Seite 115) ausdrücklich, "die Hermeneutik mein eigenes Unternehmen einer solchen Grundlegung vor."
    32) Es genügt hier der Arbeiten EDUARD SPRANGERs zu gedenken. Vgl. vor allem seinen später in den "Lebensformen" (1925) aufgegangenen Aufsatz in der Volkelt-Festschrift: Zur Theorie des Verstehens (1918) und seine Psychologie des Jugendalters (1924). Durch ihn wird, ebenfalls ganz im Sinne DILTHEYs, besonders die  Psychologie  des Verstehens untersucht, und damit der Psychologie überhaupt wieder nachdrücklich die Wichtigkeit der Fragestellung vor Augen geführt. - - - Vgl. auch den Vortrag von ELSENHANS, Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften.
    33) Vgl. vor allem seine "Probleme der Geschichtsphilosophie" (1923) und den Vortrag: Vom Wesen des historischen Verstehens (1918),  Goethe  (1913).
    34)  Einen  originellen Vorgänger zumindest - wie ja bekannt - hat er allerdings doch gehabt, CHLADENIUS, der in seiner "Allgemeinen Geschichtswissenschaft" (1752) in einer sehr originellen und gedankenreichen Weise über die historische Erkenntnis reflektiert. So konnte ERNST BERNHEIM in seinem systematischen Lehrbuch (1908), in dem er auch den Zusammenhang zwischen Historik und Theorie des Verstehens ins Auge faßt, diesen Denker als den ersten bezeichnen, der das Verhältnis der historischen Methode zur allgemeinen Erkenntnistheorie und Logik eingehender zu bestimmen versucht hat, was nach ihm lange keiner wieder unternahm (Seite 183). - Das merkwürdigste an diesem Buch ist das 5. Kapitel, in dem zum meines Wissens ersten- und auf lange (Dilthey-Simmel?) hinaus letztenmal der Versuch unternommen wird, die Relativität des historischen Verstehens nicht erkenntnistheoretisch-kulturphilosophisch (Humboldt) zu erweisen, sondern psychologisch, und sie durch einen sehr interessanten methodischen Kunstgriff zu überwinden: durch die Theorie der  "Sehpunkte". - GERVINUS muß dann genannt werden, der in seinen "Grundzügen der Historik" (1837 , vgl. besonders § 1, 3, 26, die Frage nach dem Wesen und den Formen des historischen Verstehens gestellt hat. Die weitere Entwicklung der Dinge im Laufe des 19. Jahrhunderts haben wir hier noch nicht zu untersuchen.
    35) Grundriß der Historik, 1882, Neudruck 1925 (Philosophie und Geisteswissenschaften, Bd. 1)
    36) ERNST BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie 1889, 1908. Vgl. auch A. MEISTER, Grundzüge der historischen Methode, 1913; E. MEISTER, Moderne Geschichtswissenschaft (1924), Seite 47f.
    37) Die Untersuchung der Probleme der Beziehungen zwischen Menschen, in Gemeinschaft und Gesellschaft, muß eigentlich zu dieser Fragestellung führen. Ganz deutlich sind diese Zusammenhänge gesehen bei MAX SCHELER (am ausführlichsten in "Wesen und Formen der Sympathie", 1923, Abschnitt C), VIERKANDT, Gesellschaftslehre, 1923, Abschnitt III, besonders Seite 209; WIESE, Allgemeine Soziologie, Bd. 1, 1924, bes. Kap. II-IV, bei LITT, Individuum und Gemeinschaft, 1924, bes. Abschnitt I, II, VII, aber auch bei älteren Soziologen sind sie angedeutet. Von der Sprache her untersucht sie VOSSLER, vgl. seinen Beitrag in der Erinnerungsgabe für MAX WEBER (1924): Die Grenzen der Sprachsoziologie. Die soziologische Relevanz des Verstehens, seinen soziologisch bedingenden und bedingten Charakter haben von je die  französischen  Soziologen und Sprachforscher besonders berücksichtigt. (So die Schulen DURKHEIMs und des SAUSSUREs.)
    38) Vgl. "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (1921). Dem RICKERTschen Standpunkt logisch nahe stehen MAX WEBERs Abhandlungen, die sich mit dem Problem beschäftigen. Vgl. vor allem: "Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie" (1903/06), "Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1913).
    39) WILHELM WUNDT, Logik, Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden der wissenschaftlichen Forschung, Bd. 3, 1921, besonders I. und II. Abschnitt.
    40) Hier kommen besonders die "Logischen Untersuchungen" in Betracht. DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, 1905.
    41) In ihrer ganzen Bedeutung für die  Sprachtheorie  und  Sprachforschung,  die bis dahin im Zeichen der psychologischen Theorie PAULs, WUNDTs, DIETRICHs, SAUSSUREs und noch MARTYs stand, wurde die neue Betrachtungsart von VOSSLER erkannt, der philosophisch, besonders durch CROCE beeinflußt, sie in mehreren größeren Untersuchungen auszubauen gesucht hat. (Zuerst "Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft", 1904, "Sprache als Schöpfung und Entwicklung", 1905, Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie, 1923). Die Wendung zu Anschauungen HUMBOLDTs ist hier besonders deutlich. Die übrigen Philologien sind später gefolgt. Vgl. als Überblick über den heutigen Stand der Sprachwissenschaft die Festschrift für W. STREITBERG, Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft, 1924 (bes. Seite 1f, 126f und 585f). Auch die  Psychologie  zeigte dann den Einfluß der neuen Strömung. Vor allem wandte sich die sie statt atomisierender Analys jetzt eine Betrachtung anwandte, die dem Ganzheitscharakter geistiger Erscheinungen und dem Sinnproblem Gerechtigkeit widerfahren läßt. (HÖNIGSWALD, Die Grundlagen der Denkpsychologie, 1921; BÜHLER, über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, 1913 und "Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes", Indogermanisches Jahrbuch VI, 1918, Seite 1-20, "Über das Sprachverständnis" (Bericht des III. Kongresses für experimentelle Psychologie, 1918, Seite 94-130); KRÜGER, Der Strukturbegriff in der Psychologie (Bericht des VIII. Kongresses, 1924)
    42) Aus der philosophischen Literatur ist hervorzuheben: ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1920; FREYER, Theorie des objektiven Geistes, 1923; TROELTSCH, Der Historismus und seine Probleme 1922, bes. Kap. III; ROTHACKER, Das Verstehen in den Geisteswissenschaften, Vortrag auf dem IV. Hochschultag; LITT, Erkenntnis und Leben, 1923 und "Geschichte und Leben", 1925. Auch die SCHELER-Schule hat sich dem Verstehensproblem zugewandt, vgl. SCHELER, Wesen und Formen der Sympathie 1923, Abschnitt C; auch LÜTZELER, Formen der Kunsterkenntnis, 1924. Auch  meine  Religionswissenschaft, Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung beschäftigen sich (Kap. IV) mit ihm. - - - Die einzelwissenschaftliche (kunst-, literatur-, sprach- und wirtschaftswissenschaftliche) Literatur zum Verstehensproblem führe ich nicht auf, aber ich gedenke des großzügigen und bedeutsamen Versuchs, den CASSIRERs "Philosophie der symbolischen Formen" darstellt. Nicht nur, daß hier im Anschluß an die große philosophische Tradition (Leibniz-Kant-Humboldt) eine Systematik der symbolischen Formen zu entwerfen gesucht wird im Rahmen einer Philosophie des Geistes, sondern es werden damit zugleich die Brücken wieder zu schlagen gesucht zur Philosophie und Wissenschaft von der Sprache (vgl. das lehrreiche Kap. I: Das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie). - - - Die Diskussion reicht bis in die Grenzdisziplinen hinüber. In der Psychopathologie ist besonders durch JASPERS das Verstehen zu einem wichtigen Hauptbegriff - vgl. seine Einteilung in verstehbare und nicht-verstehbare pathologische Erscheinungen (Psychopathologie, 1920, Kap. III) - und seine Anwendung in der Psychiatrie in die Wege geleitet worden. Vgl. KLEIST, Die gegenwärtigen Strömungen in der Psychiatrie, 1925.
    43) Vgl. die ausgezeichnete Rede "Vom Auslegen insonderheit des Neuen Testaments", die 1922 von DOBSCHÜTZ als Rektor von Halle gehalten hat. Von ihr wird man neben den beiden gleich zu nennenden Arbeiten das Wiederaufleben des Interesses an den Problemen der hermeneutischen Theorie in der Theologie datieren. - Streng systematisch angeordnet und reich an historischem Material ist die viel zu wenig in ihrer prinzipiellen Bedeutung gewürdigte Hermeneutik des Alten Testaments von KÖNIG (1916), die einzige seit fast vierzig Jahren, wie der Verfasser selbst im Vorwort anmerkt. Nächst DILTHEY kommt diesem Theologen das Verdienst zu, die große geistesgeschichtliche Tradition aufrecht erhalten zu haben in einer Zeit, die sie zu vergessen drohte. - Bekannter geworden ist HOLLs wichtige Abhandlung über LUTHERs Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst (zuerst Preußische Akademie der Wissenschaften, 1920), ("die Geschichte der Auslegung gehört bei uns [in der Theologie] zu den allervernachlässigtesten Gebieten", Seite 414). - - - Ich möchte an dieser Stelle noch ausdrücklich des Interesses gedenken, mit dem in neuerer Zeit in der  Jurisprudenz  Probleme der Auslegung, die Frage des Verstehens der Gesetze, diskutiert werden. Eine sehr gute Einführung in die Literatur und in den Stand der Auslegungstheorien bietet das allerdings von einem ganz bestimmten Standpunkt aus unter Befürwortung einer bestimmten Methode angelegte Werk von PHILIPP HECK, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914. Wer die juristischen Theorien der juristischen Auslegung selbst kennenlernen will, wird gut tun, bei den Methodologen, sodann aber bei den Vertretern der historischen Interpretatoin (wie ENNECCERUS, Lehrbuch I, § 48f; STAMMLER, Theorie der Rechtswissenschaft, Seite 614f, BIERLING, Juristische Prinzipienlehre, 1911, § 230, Seite 256f) und der objektiven Auslegung (von THIBAUT, Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts, 1799 über BINDING, Handbuch des Strafrechts (1888), WACH, Handbuch des Zivilprozesses (1885) bis zu CARL SCHMITT, Gesetz und Urteil (1911) zu vergleichen. Zur Verdeutlichung der  Parallelen  und der  Unterschiede  in den Problemen, besonders im Hinblick auf die Theorie und Praxis der Pandektenexegese, wird laufend eine den hier behandelten Denkern zeitgenössische Theorie der juristischen Hermeneutik, also etwa THIBAUT, a. a. O. und für die neuere Auffassung ein Lehrbuch wie WINDSCHEID-KIPP (1900) heranzuziehen sein. Eine Bibliographie der älteren Theorien bei CLOSSIUS, Hermeneutik des römischen Rechts (1829, Einleitung und Abschnitt I.-V.). Als methodologische Orientierung neueren Datums: BAUMGARTEN, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methoden, Bd. 1, 1920, § 13, besonders Seite 293f.