p-4cr-2von HartmannR. WeinmannSchuppeW. WundtSchubert-Soldern     
 
WILHELM WUNDT
Über naiven und kritischen Realismus
[ 3/5 ]

    Einleitung
I. Die immanente Philosophie - 1. Allgemeiner Standpunkt
ph- 2. Immanenz und Transzendenz
ph- 3. Die Lehre von der Subjektivität der Empfindungen
ph- 4. Subjekt und Objekt
ph- 5. Aprioristische Elemente der Erkenntnistheorie
ph- 6. Identität und Kausalität
ph- 7. Die Außenwelt als Bewußtseinsinhalt
ph- 8. Psychologie und Naturwissenschaft

"Der Grundsatz des naiven Realismus lautet nicht:  Objekte sind mir, dem Subjekt, gegeben,  sondern:  Objekte sind gegeben." 

"Die Physik nimmt an, daß nicht die Töne und Farben, die wir empfinden, sondern daß bestimmte Bewegungsvorgänge, die zu diesen Ton- und Farbempfindungen in fest geregelten Beziehungen stehen, außer uns und unabhängig von uns existieren. Vielmehr ist diese Annahme das unvermeidliche Ergebnis der physikalischen Analyse der Schall-, Licht und sonstigen uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Erscheinungen. Bei dieser Untersuchung ist man ursprünglich im wesentlichen von der Voraussetzung des "naiven Realismus" ausgegangen, daß die Empfindungsqualitäten Eigenschaften der Objekte selbst seien. Diese Voraussetzung ist dann aber Schritt für Schritt verlassen worden, weil sie sich als undurchführbar erwies."

"So ist jene Urempfindung, die sich zur Mannigfaltigkeit der einzelnen Empfindungsqualitäten differenziert haben soll, offenbar nichts anderes, als der in eine Ursache umgewandelte unbestimmte Gattungsbegriff der Empfindung selbst. Das ist aber, wie die Geschichte lehrt, überall das Merkmal einer primitiven Betätigung des logischen Einheitsbedürfnisses, daß man oberflächlich abstrahierten Gattungsbegriffen eine kausale Bedeutung beilegt."

I. Die immanente Philosophie

3. Die Lehre von der Subjektivität der Empfindungen

a) Der Standpunkt der immanten Philosophie

Den deutlichsten Beleg für die Verschiedenheit jener Standpunkte, welche die immante Erkenntnistheorie auf der einen und die Erkenntnistheorie der positiven Wissenschaften auf der anderen Seite einnehmen, bildet die Lehre von der  Subjektivität der Empfindungen.  Zugleich ist sie dasjenige Gebiet, das in der augenfälligsten Weise zeigt, wie die immante Philosophie am wirklichen Inhalt jener positiven Erkenntnistheorie nichtachtend vorübergeht oder, vielleicht richtiger ausgedrückt, wie sehr es ihr der von Anfang an eingenommene Standpunkt unmöglich macht, den Inhalt und die Bedeutung derselben zu würdigen.

Unter  Empfindung  verstehe ich hier, gemäß dem Sprachgebrauch der neueren Psychologie, die nicht weiter zerlegbaren Sinnesqualitäten, unter Abstraktion von den Verbindungen, in denen sie sich regelmäßig befinden und von den Gefühlen und den aus Gefühlen zusammengesetzten subjektiven Vorgängen. (1) Die Empfindung in diesem der heutigen Psychologie geläufigen Sinn ist lediglich das Produkt der psychologischen Analyse und Abstraktion. Bei ihrem wirklichen Vorkommen im Bewußtsein ist die Empfindung stets ein Bestandteil einer Wahrnehmung oder Vorstellung, die aus zahlreichen Empfindungselementen unter Vermittlung produktiver synthetischer Prozesse zusammengesetzt ist. In diesem ihrem wirklichen Vorkommen wird nun die Empfindung stets au ein Objekt der Außenwelt, also auf einen Ort oder eine Richtung im Raum bezogen, wobei unser eigener Körper selbstverständlich ebenfalls zu dieser Außenwelt zu rechnen ist und übrigens jene räumliche Beziehung entweder unmittelbar den Empfindungen zukommt, wie beim Tast- und Gesichtssinn, oder aber erst von diesen räumlichen Sinnen auf sie übertragen wird, wie z. B. beim Gehörssinn. Es ist hier nicht der Ort, auf die psychologischen Hypothesen einzugehen, die hinsichtlich der Übertragung der räumlichen Eigenschaften von einem Sinnesgebiet auf das andere sowie der räumlichen Ordnung der Empfindungen überhaupt aufgestellt worden sind. Nicht minder lasse ich die von der immanenten Philosophie gegen solche Hypothesen erhobenen Einwände auf sich beruhen. (2) Für die erkenntnistheoretische Frage können alle diese Dinge außer Betracht bleiben. Hier genügt es, von der anerkannten Tatsache auszugehen, daß die Empfindungsqualitäten der Farben, der Töne, der Tastempfindungen usw. nicht nur ursprünglich als Eigenschaften außer uns existierender Objekte aufgefaßt werden, sondern daß diese Auffassung für das praktische Leben im wesentlichen auch heute noch gilt. Die Frage ist nun: wie stellt sich die immanente Philosophie und wie verhält sich die Erkenntnistheorie der positiven Wissenschaften zu dieser Auffassung? Ferner, wenn etwa die Standpunkte beider miteinander in Streit geraten - und wir werden sehen, daß das der Fall ist - wer hat Recht?

Die immanente Philosophie rühmt sich des Vorzugs, daß sie nicht nur mit der Auffassung des ursprünglichen naiven Realismus, sondern auch mit der fortan bestehen bleibenden "natürlichen Weltansicht" des gewöhnlichen Bewußtseins übereinstimme. Insofern der Begriff der Empfindung nur die allgemeine Gattung zu jedem einzelnen Bewußtseinsinhalt sei, den "Gattungsbegriff aller einzelnen Sinnesdata und die Art ihrer Existenz" bezeichne, erklärt sie nicht bloß die Frage, wie Empfindungen im Bewußtsein entstehen, sondern auch die andere, warum wir dieselben auf Objekte außerhalb des Bewußtseins beziehen, für eine nicht aufzuwerfende und daher nicht zu beantwortende. Denn Subjekt und Objekt seien bloße Reflexionsmomente an einem an sich unteilbaren Bewußtseinsinhalt. (3) Abstrahieren wir vom Subjekt, so bleiben nach ihr die Empfindungen mit ihren räumlichen und zeitlichen Eigenschaften übrig. Sie seien ein Gegebenes, gerades so, wie Raum und Zeit ein Gegebenes seien und objektiv, wie diese. (4) Auch die Naturwissenschaft müsse daher die Empfindungsqualitäten im selben Sinn als objektiv gegeben voraussetzen, indem sie überhaupt eine objektive Welt annehme. Selbst wenn sie hypothetische Hilfsbegriffe anwende, wie die der Atome, so müsse sie diesen ebensogut bestimmte qualitative Empfindungsinhalte wie räumliche Eigenschaften zuschreiben. Über die Ausdehnung freilich, in der die Objekte mit den verschiedenen Sinnesqualitäten ausgestattet werden sollen, sind die einzelnen Vertreter der immanenten Philosophie nicht ganz einig. Bald wird die Eigenschaft einer dem Raum gleichwertigen objektiven Realität für alle Qualitäten, Farbe, Härte, Ton usw. in gleicher Weise in Anspruch genommen, (5) bald räumt man den Qualitäten des Gesichtssinns einen Vorzug ein: die Objekte sollen sichtbar, nicht aber tast-, hörbar usw. gedacht werden. (6)

Nachdem man einmal zu dieser Unterscheidung der Sinnesqualitäten in solche, die objektiv und subjektiv zugleich und in andere, die bloß subjektiv sein sollen, gelangt ist, liegt nun noch ein weiterer Schritt nicht mehr fern. Allen Ernstes wird nämlich der Vorschlag erwogen, ob nicht die Naturwissenschaft die Vorstellung transzendenter Atome nur als einen "figürlichen Ausdruck" für qualitative Verhältnisse von Empfindungen betrachten könne, worauf dann die Mannigfaltigkeit der objektiven Empfindungen möglicherweise aus einer einzigen "Grundempfindung" abzuleiten wäre.
(7) So seltsam dieser Vorschlag klingen mag: wenn man die Prämissen der immanenten Philosophie zugibt, so wird sich die Folgerichtigkeit desselben nicht bestreiten lassen. Sind die Sinnesqualitäten erst als objektiv reale Eigenschaften anerkannt, so wird das Einheitsbedürfnis unserer Vernunft nicht ruhen, bis sie alle auf eine möglichst kleine Anzahl von Grundempfindungen, sei es auf eine einzige, sei es, wenn das nicht ausreichen sollte, vielleicht auf eine für jedes Sinnesgebiet, zurückgeführt hat. Man sieht, wir sind nahe daran die Errungenschaften der physikalischen Optik in den Wind schlagen zu sollen, um die alte aristotelische Farbenlehre für sie einzutauschen. Denn was hier verlangt wird, das hat ARISTOTELES ungefähr geleistet: er hat alle Lichterscheinungen zwar nicht auf eine, aber doch auf zwei Empfindungen, das Helle und das Dunkle, zurückgeführt. Diese merkwürdige Übereinstimmung ist in der Tat keine zufällige. Wer den erkenntnistheoretischen Standpunkt der Naturwissenschaften als einen fehlerhaften ansieht, um den "naiven Realismus" der alten Naturphilosophie an seine Stelle zu setzen, der wird wohl oder übel auch im einzelnen zu den Anschauungen jener alten Naturphilosophie zurückkehren müssen.


b) Der naturwissenschaftliche Standpunkt

Wie verhält sich nun zu dieser Erkenntnistheorie der immanenten Philosophie die allmählich in der neueren Naturwissenschaft zur Entwicklung gelangte Anschauung? Diese Frage zu beantworten ist umso notwendiger, als die immanente Philosophie das entweder gar nicht getan oder - wo sie es zu tun versuchte - der Naturwissenschaft Anschauungen untergeschoben hat, die ihr nicht oder höchstens zufällig in einzelnen ihrer Vertreter eigen sind, während sie in der positiven Wissenschaft selbst gar keine Rolle spielen.

Zuvörderst ist nun hier anzuerkennen, daß die Ausgangspunkte der beiden zu so scharfen Gegensätzen entwickelten Erkenntnistheorien nahezu übereinstimmende zu sein scheinen. Beide beginnen nämlich mit dem "naiven Realismus". In einer wesentlichen Beziehung ist aber der naive Realismus der Naturwissenschaften ein anderer, als derjenige der immanenten Philosophie. Dieser betont nämlich mit einer geflissentlichen, kaum mehr naiv zu nennenden Entschiedenheit, daß jeder Bewußtseinsinhalt von Anfang an als ein dem wahrnehmenden Subjekt gegebener, also gleichzeitig als ein subjektiver und als ein objektiver aufgefaßt werde. Hier hat nun augenscheinlich die oben geltend gemachte Schwierigkeit, aus dem Stand der Reflexion ohne weiteres durch einen freien Entschluß zur Stufe wirklicher Naivität zurückzukehren, ihre Rolle gespielt. Wenigstens wenn wir den objektiven Zeugnissen primitiven Nachdenkens glauben, wie sie in der Geschichte der Anfänge des menschlichen Denkens, selbst des wissenschaftlichen, vorliegen und wenn wir uns auf eine unbefangene psychologische Beobachtung des gewöhnlichen Bewußtseins verlassen wollen, so verhält sich die Sache anders. Die psychologische Beobachtung findet allerdings, das ist nicht zu betreiten, Momente genug vor, wo wir uns deutlich bewußt sein, nicht nur daß Objekte gegeben, sondern auch, daß sie dem denkenden und wahrnehmenden Subjekt gegeben sind. Der Gedanke, daß Objekte nicht wahrgenommen werden können ohne ein Subjekt, das sie wahrnimmt, entwickelt sich darum gewiß sehr früh. Aber es ist doch ebenso gewiß, daß in sehr vielen Momenten von einer solchen Reflexion auf das Ich schon in der gewöhnlichen praktischen Lebenserfahrung durchaus nicht die Rede ist. Psychologisch betrachtet ist es vielmehr unter normalen Verhältnissen der gewöhnliche Zustand, daß einfach Objekte als Objekte gegeben sind, ohne daß an das vorstellende und empfindende Subjekt überhaupt gedacht wird. Wenn sich also der Satz: "Objekte können immer nur einem Subjekt gegeben sein" für das Resultat einer erkenntnistheoretischen Reflexion ausgibt, so stimme ich ihm natürlich zu. Wenn er aber behauptet, ursprünglicher Inhalt des Bewußtseins und demnach unmittelbare und nie aufzuhebende Erfahrung zu sein, so stimme ich ihm nicht zu. Man pflegt Momente, in denen gegenüber der Vorstellung der Objekte die Beziehung auf das Subjekt ganz verschwindet, Momente der "Selbstvergessenheit" des Subjekts zu nennen. Dieser Ausdruck ist nicht zu beanstanden, wenn er nur für das entwickelte Bewußtsein die jederzeit vorhandene Möglichkeit ausdrücken soll, zur Reflexion auf das Subjekt zurückzukehren; er ist aber irreführend, insofern er schon von der Neigung eingegeben ist, die Beziehung zum Subjekt als den normalen oder gar als den ursprünglichen Zustand zu betrachten. Der ursprüngliche ist er mindestens bei der Auffassung äußerer Objekte durchaus nicht, sondern diese sind nicht nur ursprünglich ohne Beziehung auf das Ich gegeben, sondern selbst im entwickelten Bewußtsein bildet dieses Verhalten die Regel. Nun kann man allerdings sagen, die psychologische Beobachtung sei hier nicht ohne weiteres zwingend für die erkenntnistheoretische Beurteilung der Sache. Aber dieser Einwand ist doch nur insoweit im Recht, als er sich auf Elemente des Bewußtseins berufen kann, die, wie die Gefühle, als eine Geltendmachung des Subjekts gedeutet werden müssen, weil sich aus ihnen das Selbstbewußtsein samt der von ihm ausgehenden Beziehung der Objekte auf das Subjekt entwickelt. Wenn also jener Einwand nur sagen will, daß die Objekte nicht früher sind, als das Subjekt, so hat er, da alle Bewußtseinselemente, die auf das Subjekt bezogen und die Objekte, gleich ursprünglich sind, recht. Wenn aber die Meinung die ist, daß mit jedem Objekt immer das Subjekt  mitgedacht  werde, so ist das nicht nur für das ursprüngliche, sondern in den meisten Fällen auch noch für das entwickelte Bewußtsein falsch. Ist es ein psychologisches Faktum, daß Objekte gedacht werden können, ohne daß dabei das denkende Subjekt sich selbst denkt, so kann zwar die später kommende logische Reflexion gleichwohl zu dem Ergebnis kommen, daß auch auf der primitivsten Stufe des Erkennens ein denkendes Subjekt erforderlich sei. wenn Objekte gedacht werden sollen und sie kann dieses Ergebnis allen Zweifeln gegenüber als ein unbestreitbares festhalten. Aber damit ist keineswegs die Behauptung gerechtfertigt, daß das Objekt ursprünglich schon nicht bloß als Objekt, sondern daß es auch als Wahrnehmung des Subjekts gedacht werde. Der Grundsatz des naiven Realismus lautet daher nicht: "Objekte sind mir, dem Subjekt, gegeben", sondern: "Objekte sind gegeben." Dieser Unterschied ist nun keineswegs bedeutungslos. Wenn wir nämlich die oben erwähnte Regel der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie, daß der unmittelbare Inhalt der Erfahrung bis zur Auffindung positiver Gegeninstanzen als real anzusehen sei, auf den zweiten dieser Sätze anwenden, so ergibt sich daraus als der bis auf etwaige Widerlegung festzuhaltende Standpunkt die Anerkennung der Unabhängigkeit der Objekte vom Subjekt. Wenn wir aber die nämliche Regel auf den ersten Satz anwenden, so liegt es nahe, hieraus umgekehrt auf die Subjektivität aller objektiven Erkenntnisinhalte zu schließen. Jenes ist in der Tat der Standpunkt der positiven Wissenschaften, dieses derjenige der subjektivistischen Erkenntnistheorien.


c) Geschichtliche Zeugnisse für die Anschauungen des naiven Realismus

Mit dem von der Erkenntnistheorie der positiven Wissenschaften eingenommenen Standpunkte stimmt es nun vollkommen überein, daß  geschichtlich  die Auffassung, von der die Wissenschaft ausgegangen ist, nicht dem naiven Realismus der Immanenzphilosophie, sondern dem der psychologischen Beobachtung entspricht. Darum gelten diesem naiven Realismus die Objekte in ihrer vom Subjekt unabhängigen Beschaffenheit als leuchtend, dunkel, farbig, tönend, süß, bitter, warm, kalt, hart usw. Zwar hatte schon in der älteren Naturphilosophie der Griechen die Unterscheidung dieser Sinnesqualitäten in Eigenschaften der Objekte und in Wirkungen dieser Eigenschaften auf das Subjekt sich ausgebildet. Bei den Tönen war man sogar schon dazu getrieben worden, die objektive Eigenschaft als etwas von der Sinnesempfindung verschiedenes zu betrachten. Aber zu einem deutlichen Bewußtsein war diese Unterscheidung noch nicht erwacht. Das zeigt namentlich die Art, wie man sich die Entstehung der Lichtempfindungen durch materielle Bilder dachte, die sich vom Objekt loslösen und in das Sehorgan eindringen sollten. Hier war man sich zwar darüber klar geworden, daß das Objekt durch seine objektive Existenz noch keineswegs für den Wahrnehmenden vorhanden, sondern daß dazu außerdem eine subjektive Auffassung desselben erforderlich sei. Aber noch entschloss man sich nicht, deshalb die Objektivität der Sinnesqualität zu opfern, sondern man ließ diese fortbestehen und suchte dem neu entstandenen Bedürfnis dadurch nachzukommen, daß man das Objekt zwar, wenn nicht selbst, so doch durch ein seine Sinnesqualität treu wiedergebendes Ebenbild auf das Subjekt einwirken ließ Der Tastsinn, bei dem das Objekt in direkter Berührung mit dem Sinnesorgan steht, mag dabei zum Vorbild gedient haben. Auch war dem nächsten Bedürfnis durch diese naive Hypothese genügt, ohne daß dabei im eigentlichen Sinn eine psychologische Verdoppelung des äußeren Objekts stattgefunden hätte. Vielmehr bewegte sich die ganze Vorstellung immer noch auf dem Gebiet physikalischer Annahmen. Die Ablösung des Bildes vom Objekt war ja ein physikalischer Vorgang und so war es, wenn auch nicht wie beim Tastsinn, das Objekt selbst, so doch ein physischer Stellvertreter des Objekts, der unmittelbar empfunden wurde. Da die Sinnesqualität sowohl dem Objekt, wie diesem von ihm losgelösten physikalischen Abbild zugeschrieben wurde, so hielt man dabei immer noch die Objektivität der Sinnesqualitäten fest. Ja, diese waren ebenso wie auf der Stufe des ursprünglichen naiven Realismus nur objektive Eigenschaften geblieben, während die subjektive Auffassung als eine unmittelbar und von selbst gegebene Folge der Existenz der Objekte erschien. Daß zur Wahrnehmung des Objekts die Auffassung desselben erforderlich sei, hatte man zwar erkannt. Aber vom Gedanken, daß die Sinnesqualitäten erst durch diese Auffassung entstehen könnten, war noch keine Rede. Darum war trotz der Unterscheidung des Objekts und seiner Auffassung der Standpunkt des naiven Realismus noch nicht verlassen: der wahrgenommene und der objektiv existierende Gegenstand waren identisch und der Akt der Wahrnehmung bestand entweder in der unmittelbaren Anwesenheit des Objekts oder in der Existenz eines ihm gleichenden, ebenfalls objektiven Bildchens, das sich vom Objekt loslösen sollte.

Der wichtige Schritt, den die neuere Naturwissenschaft über den Standpunkt der älteren Naturphilosophie endgültig und auf allen Sinnesgebieten getan hat, ist nun der, daß sie diese naive Annahme einer Identität der Eigenschaften des Objekts mit den in den Empfindungsqualitäten gegebenen Eigenschaften der Vorstellung als unzulässig erkannte. Dabei sind aber  zwei  Entwicklungen streng voneinander zu scheiden, die in der Ausbildung dieser Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten einander parallel gehen und ineinander eingreifen, gleichwohl jedoch wesentlich verschiedenen Gedankenkreisen angehören. Die eine dieser Entwicklungen ist in der Erkenntnistheorie der exakten Naturwissenschaft enthalten, die andere in den von der Philosophie hinzugebrachten metaphysischen Hypothesen, die durch jene angeregt worden sind.


d) Die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie seit Galilei

Die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, die nicht in irgendeinem philosophischen System, sondern in den Ergebnissen der physikalischen Forschung niedergelegt ist, hat sich in mannigfachen vereinzelten Anfängen von früh an vorbereitet. Fragmente derselben sind daher, wie oben bemerkt, schon in der älteren Naturphilosophie vermengt mit den Vorstellungen des naiven Realismus zu finden. Ihren entscheidenden Ausdruck hat sie aber erst in der Naturlehre GALILEIs gefunden. Freilich ist sie auch hier nicht frei von philosophischen Konzeptionen, die den positiven Ergebnissen vorauseilen. Aber diese haben hier doch insofern ein von den bald nachher auftretenden metaphysischen Lehren abweichendes Gepräge, als sie zumeist den Charakter vorläufiger Hypothesen besitzen, deren spätere Bestätigung durch die Erfahrung nicht nur im allgemeinen möglich war, sondern auch tatsächlich innerhalb der weiteren Entwicklung der neueren Naturwissenschaft eingetreten ist. Das Gesamtergebnis dieser in der Physik GALILEIs und seiner Nachfolger enthaltenen Erkenntnistheorie besteht in der aus dem Zusammenhang der Naturerscheinungen mit zwingender Notwendigkeit entspringenden Forderung, daß die Sinnesqualitäten auf objektive, von den Sinnesqualitäten selbst verschiedene Eigenschaften und Vorgänge zurückzuführen seien. "Die Materie oder die körperliche Substanz", sagt GALILEI, "ist unbegrenzt und irgendwie gestalten, im Verhältnis zu anderen Körpern groß oder klein, irgendwo im Raum und irgendwann in der Zeit, in Bewegung oder Ruhe, berührt einen anderen Körper oder berührt ihn nicht, sie ist eins oder vieles und sie kann niemals in der Vorstellung ohne diese Eigenschaften gedacht werden. Dagegen sind Geschmack, Geruch, Farbe usw. nur die Wirkungen dieser Eigenschaften auf einen empfindenden Körper." (8) Diese Worte lassen ganz dahingestellt, was die Empfindungen als psychologische Zustände oder was sie im metaphysischen Sinn sind. Sie beschränken sich streng auf den naturwissenschaftlichen Standpunkt, der sich nur mit den objektiven Vorgängen beschäftigt, als deren Wirkungen die Empfindungen im Sinne der physikalischen Betrachtung erscheinen, so daß sie eben deshalb als subjektive Zeichen angesehen werden können, die auf jene aus den rein physischen Eigenschaften der Körper abzuleitenden Ursachen hinweisen.

Daß GALILEI in dieser Definition den Begriff der körperlichen Substanz auf die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Objekte beschränkt, ist eine unmittelbare Folge der seine gesamte Physik beherrschenden mechanischen Naturanschauung, nach welcher alle Naturerscheinungen auf die Grundbegriffe und Gesetze der
Mechanik zurückzuführen sind. Unter diesen Grundbegriffen gibt es allerdings  einen,  der nicht unmittelbar auf die von GALILEI aufgezählten räumlichen und zeitlichen Bestimmungen reduziert werden kann, das ist der von GALILEI als "impetus" bezeichnete und in der unmittelbaren Wahrnehmung durch die Empfindung der Anstrengung sich verratende Kraftantrieb. Aber indem derselbe seiner Größe nach objekte nur bestimmt werden kann, wenn er die Beschleunigung einer Masse hervorbringt, ebenso wie die Masse wiederum nur an ihrem verzögernden Einfluß auf einen Kraftantrieb zu messen ist, bleiben doch die räumlich-zeitlichen Eigenschaften als die einzigen übrig, die bei der physikalischen Untersuchung der Erscheinungen in Betracht kommen. Diese Erscheinungen selbst zerfallen aber demnach in  zwei  Klassen: in solche, die unmittelbar als räumlich-zeitliche Veränderungen gegeben sind - das Gebiet der eigentlichen Mechanik -, und in solche, die auf unmittelbar nicht wahrzunehmende Bewegungen der kleinsten Teilchen zurückgeführt werden müssen - das Gebiet der mechanischen Molekularphysik. Von diesen beiden Gebieten ist selbstverständlich nur das erste ein Ergebnis direkter Induktion und Abstraktion aus der Beobachtung. Das zweite dagegen beruht auf einer hypothetischen Übertragung, bei der überdies zumeist den in Wechselwirkung stehenden kleinsten Teilchen andere Eigenschaften zugeschrieben worden sind, als sie den wirklich zu beobachtenden Körpern zukommen. In diesem Sinne ist daher die mechanische Naturanschauung eine Hypothese. Aber diese Hypothese hat sich gerade in ihrer Anwendung auf die Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten als eine überaus fruchtbare Konzeption erwiesen, sodaß alle folgenden Untersuchungen die aufgrund derselben von GALILEI gemachte Voraussage bestätigten. Das hat sich vor allem in der weiteren Entwicklung der  Optik  bewährt. GALILEIs Behauptung, daß die Farben bloß subjektiv existierten, hatte zweifellos in den ihm zu Geboten stehenden optischen Tatsachen noch keine zureichende Stütze: sie war zunächst nur eine Voraussage aufgrund der mechanischen Naturanschauung. Aber die ganze folgende Entwicklung der Optik hat diese Voraussage auf das glänzendste bestätigt, so daß heute der Satz von der Subjektivität der Farben, gerade so, wie schon längst der von der Subjektivität der Töne, nicht mehr Hypothese, sondern notwendige Folgerung aus den Beobachtungen ist. Ja, diese Folgerung ist so zwingend, daß selbst dann, wenn man irgend einmal auf dem Gebiet der Molekularphysik die Voraussetzungen der mechanischen Naturanschaung verlassen oder durch irgendwelche Hilfshypothesen verändern sollte, dadurch an der Auffassung der Sinnesqualitäten nichts wesentliches geändert werden könnte. Wir wissen z. B. ganz bestimmt, daß dem Licht objektive Eigenschaften zukommen, die wir nicht empfinden, aber auf objektivem Weg nachweisen können; und wir wissen ebenso bestimmt, daß das Licht, ehe es auf irgendwelche Nervenapparate, deren Erregung von Licht- und Farbempfindungen begleitet ist, einwirkt, Transformationen erfährt, infolge deren es Licht im physikalischen Sinn nicht mehr genannt werden kann. Wenn wir aber dann weiterhin diese Transformationen untersuchen, so sind sie Vorgänge, die sich für die objektive Analyse in chemische Prozesse auflösen, deren physische Beschaffenheit wir wiederum aus der Empfindung nicht zu erkennen vermögen, ebensowenig wie wir umgekehrt, wenn uns nur diese photochemischen Prozesse in ihrer objektiven Beschaffenheit gegeben wären, daraus jemals auf die entsprechende Sinnesqualität zurückschließen könnten. Darum ist nun aber auch heute ein etwaiger Zweifel an der Richtigkeit der mechanischen Naturanschauung nicht mehr in dem Sinne möglich, daß man von ihr aus etwa zur aristotelischen Farbenlehre zurückkehren oder zu irgendeiner anderen Auffassung übergehen könnte, welche die Sinnesqualitäten wieder zu objektivieren unternähme; sondern höchstens in dem Sinne ist eine Veränderung der physikalischen Anschauungen denkbar, daß man die aus der Bewegung der Massen abgeleiteten Prinzipien nicht für übertragbar hält auf die Bewegungen der kleinsten Teilchen.

Hiernach ist es klar, daß die Voraussetzungen der mechanischen Naturanschauung überhaupt in  zwei  Bestandteile von verschiedenem Erkenntniswert zerfallen: in das in der oben zitierten Stelle GALILEIs ausgesprochene Postulat der ausschließlich räumlich-zeitlichen Beschaffenheit aller Naturvorgänge und in die Annahme, daß die für die Bewegungen der Massen gefundenen mechanischen Prinzipien unverändert auf die Molekularphysik übertragbar seien. Die zweite dieser Voraussetzungen bildet nur eine hypothetische Ergänzung der ersten. Der Satz von der Subjektivität der Sinnesqualitäten ist jedoch von dieser speziellen Gestaltung der mechanischen Naturanschauung nicht derart abhängig, daß er mit der Aufhebung der letzteren selber beseitigt würde. Vielmehr ist das Verhältnis das umgekehrte: die mechanische Naturanschauung fordert die Subjektivität der Sinnesempfindungen, diese würde aber auch noch mit anderen Naturanschauungen möglicherweise vereinbar sein. Sie kann daher unmöglich in jener ihren letzten Grund haben. In der Tat sind es augenscheinlich die spezifischen Erkenntniseigenschaften von Raum und Zeit, die unaufhebbare Konstanz, in denen sich aller sonstige variable Erfahrungsinhalte in diesen Anschauungsformen darbietet, worin jener Grund zu suchen ist. Mehr als ein erster Antrieb darf aber in diesen Eigenschaften von Raum und Zeit nicht gesehen werden. Die entscheidenden Beweise ergeben sich erst aus der physikalischen Forschung selbst, die mit jedem weiteren Schritt ebenso sehr die Unaufhebbarkeit der räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Objekte wie die Unmöglichkeit der Objektivierung der Sinnesqualitäten erkannte. So führt hier, wie in all den Fällen, wo wir geneigt sind, den Ergebnissen eine besondere Evidenz zuzuschreiben, die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis schließlich auf  zwei  Quellen zurück: auf eine durch die abstrakten Raum- und Zeitbegriffe bestimmte hypothetische Antizipation der objektiven Erfahrungsinhalte und auf eine dieser nachfolgede empirische Beweisführun. In diesem Sinne kann man daher sagen, daß sich die fundamentalen Prinzipien der Naturwissenschaft in der Regel aus einem apriorischen und einem empirischen Faktor zusammensetzen, die beide in dem Verhältnis zueinander stehen, daß der apriorische Faktor ohne den empirischen keine Geltung haben würde, daß aber der empirische erst durch den apriorischen den Charakter einer den bloßen Erfahrungstatsachen überlegenen Evidenz empfängt.

Indem sich der Satz von der Subjektivität der Sinnesqualitäten nur auf die physikalische Seite der Erfahrung bezieht, läßt er nun die Frage, was die Sinnesqualitäten selbst seien, abgesehen davon, daß er sie eben dem Subjekt zurechnet, ganz dahingestellt. Auch GALILEI, wenn er die Sinnesqualitäten als "Wirkungen der objektiven Eigenschaften auf einen empfindenden Körper" bezeichnet, läßt daher die Frage offen, was diese subjektiven Empfindungswirkungen selbst seien: sie liegen ihm als subjektive Wirkungen an und für sich außerhalb des Gebietes der Physik, die es nur mit den objektiven Eigenschaften der Körper zu tun hat. Damit vollzieht GALILEI jene Abstraktion vom Subjekt, durch die seitdem klar und unzweideutig der Standpunkt der exakten Naturwissenschaft bei der Untersuchung der Naturerscheinungen gekennzeichnet ist. Indem dieser Standpunkt die Frage, was das Subjekt sei, von dem bei der physikalischen Untersuchung abstrahiert wird, geflissentlich als eine nicht vor das Forum der Naturlerhe gehörige unbeantwortet läßt, bleibt der Psychologie für ihre Untersuchung der subjektiven Vorgänge freier Spielraum, währedn zugleich das Problem der Beziehungen zwischen der von der Naturwissenschaft angenommenen objektiven Welt und dem Subjekt als ein metaphysisches gänzlich aus dem Gebiet der empirischen Untersuchung ausgeschlossen bleibt. (9)


e) die materialistische Hypothese

Die von der mechanischen Naturauffassung GALILEIs beeinflußte  Philosophie  hat nun aber freilich die vorsichtige Zurückhaltung nicht mehr gewahrt, die der Begründer derselben und seine naturwissenschaftlichen Nachfolger sich auferlegten. Indem die Philosophie die mechanische Naturanschauung zum metaphysischen System erhob, nahm sie einer zukünftigen Psychologie die Untersuchung jener von der Physik mit Fug und Recht unerledigt gelassenen subjektiven Seite der Erfahrung vorweg. Die nach mechanischen Gesetzen bewegte Materie galt nun nicht mehr bloß als das hypothetische Substrat der objektiven Naturerscheinungen, sondern als das allgemeine Wesen der Dinge. Aus subjektiven Wirkungen der objektiven Bewegungen auf das Subjekt, die wegen der für die Physik transzendenten Natur des letzteren außerhalb der Grenzen der Untersuchung des Physikers bleiben, wandelten sich so die Empfindungen selbst in mechanische Formen der Bewegung der Materie um. Auf die Frage aber, was die Sinnesqualitäten seien, blieb von diesem Standpunkt aus natürlich nur noch die Antwort übrig, sie seien eigentlich nichts wirkliches, sondern Täuschungen, ungenauer oder illusorische Auffassungen der im Gehirn und in den Nerven vor sich gehenden Bewegungsvorgänge.

Der erste Vertreter dieser materialistischen Folgerungen aus der mechanischen Naturanschauung GALILEIs ist
HOBBES. Wenn er die Empfindungen als "Phantasmen" bezeichnet, welche durch die Bewegung im Sinnesorgan erzeugt würden, so hat er damit den für den modernen Materialismus charakteristischen Grundgedanken zum erstenmal entschieden ausgesprochen. Unter wechselnden Benennungen ist das derselbe Gedanke, durch den sich bis in die neueste Zeit die materialistische Metaphysik mit den Empfindungsqualitäten abzufinden sucht, falls sie nicht den anderen Ausweg einschlägt, daß sie die Empfindung unmittelbar als eine allgemeine Eigenschaft der Materie betrachtet - ein Ausweg, der aber eigentlich schon kein folgerichtiger Materialismus mehr ist. (10)

Wenn nun die Vertreter der immanenten Philosophie gegen diese materialistische Hypothese geltend machen, daß die Empfindung ein ursprüngliches Datum des Bewußtseins sei und als solches weder definiert, noch irgendwie aus anderen Daten abgeleitet werden könne,
(11) so habe ich selbstverständlich dagegen nichts einzuwenden. Aber glaube ich nicht, daß es heute noch irgendwelche in philosophischer Beziehung ernsthaft zu nehmende Physiker und Physiologen gibt, die dem nicht zustimmen werden. Gleichwohl beruth diese Polemik auf einem Mißverständnis, wenn sich mit ihr die Meinung verbindet, es gründe sich die auch noch von der heutigen Physik festgehaltene Voraussetzung, daß die Empfindungen subjektive, aber auf ein vom Subjekt unabhängiges Objekt hinweisende Vorgänge seien, auf jene materialistische Hypothese und mit der Beseitigung dieser sei darum auch jene Voraussetzung widerlegt. Der wahre Sachverhalt ist vielmehr der, daß sich zunächst bei physikalischer Untersuchung der Naturerscheinungen die Annahme einer objektiven Realität der Empfindungsqualitäten unhaltbar erwies und daß dann erst zur Erklärung dieses Verhältnisses die materialistische Hypothese ersonnen wurde. Aber wie schon in den Anfängen der neueren Naturwissenschaft jenes physikalische Motiv dieser philosophischen Hypothese voranging, so ist überhaupt nur das erstere, nicht im geringsten aber die letztere ein wirklicher Bestandteil der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie, d. h. ein solcher, der in der Naturerklärung selbst eine Rolle spielt. Darum wird aber auch durch die heute beinahe allerseits anerkannte Unhaltbarkeit der materialistischen Hypothese die Annahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie, daß die Empfindung ein subjektives Zeichen für einen objektiv nach bestimmten begrifflichen Forderungen zu konstruierenden Vorgang sei, nicht im geringsten erschüttert. Denn nicht irgendwelchen philosophischen oder nervenphysiologischen Theorie zuliebe, wie man zu glauben scheint, nimmt die Physik an, daß nicht die Töne und Farben, die wir empfinden, sondern daß bestimmte Bewegungsvorgänge, die zu diesen Ton- und Farbempfindungen in fest geregelten Beziehungen stehen, außer uns und unabhängig von uns existieren. Vielmehr ist diese Annahme das unvermeidliche Ergebnis der physikalischen Analyse der Schall-, Licht und sonstigen uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Erscheinungen. Bei dieser Untersuchung ist man ursprünglich im wesentlichen von der Voraussetzung des "naiven Realismus" ausgegangen, daß die Empfindungsqualitäten Eigenschaften der Objekte selbst seien. Diese Voraussetzung ist dann aber Schritt für Schritt verlassen worden, weil sie sich als undurchführbar erwies. So ist die Annahme der Objektivität der Empfindungsqualitäten sehr früh schon in der Physik des Schalls, viel später in der des Lichts gefallen, hier eigentlich erst mit entscheidendem Erfolg seit der Begründung der Undulationstheorie [Wellentheorie - wp]. Wenn darum GALILEI in der oben angeführten Stelle auch die Farben als bloß subjektive Zustände bezeichnete, so war das eine jener kühnen, aus der Verallgemeinerung beschränkter Ergebnisse hervorgegangenen Antizipationen, wie sie so oft der wissenschaftlichen Erkenntnis den Weg bereiten. Das logische Prinzip, auf das man sich hierbei fortwährend stützte, ohne es doch jemals eigentlich theoretische zu formulieren, war aber die Forderung des widerspruchslosen Zusammenhangs der einzelnen Erfahrungstatsachen.

Der Weg, den die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie zurückgelegt hat, ist also, wie ich meine, in der Geschichte der Wissenschaft in unumstößlichen Zeugnissen niedergelegt, in Zeugnissen zugleich, die vor so manchen in der Luft schwebenden philosophischen Spekulationen die Bürgschaft des praktischen Erfolgs voraushaben. Jener Weg bestand aber darin, daß der in der naiven Erfahrung gegebene Tatbestand zunächst als Wirklichkeit angenommen und dann noch den aus der vergleichenden Analyse der einzelnen Erfahrungen sich ergebenden Forderungen allmählich berichtigt wurde. Das Endresultat, zum dem die aus diesen Motiven hervorgegangenen Korrekturen geführt haben, liegt in der allmählich zur Herrschaft gelangten naturwissenschaftlichen Auffassung der objektiven
Wirklichkeit klar ausgesprochen. Die schon in der naiven Erfahrung vorhandene objektive Realität der Naturgegenstände ist bei allem sonstigen Wandel der Anschauungen bestehen geblieben. Aber diejenigen Eigenschaften der Naturgegenstände, die uns als Empfindungsinhalt gegeben sind, haben der objektiven Analyse nicht Stand gehalten: sie können physikalisch nur in dem Sinne verwertet werden, daß man sie als subjektive Vorgänge betrachtet, die zu bestimmten begrifflich zu konstruierenden objektiven Vorgängen in gesetzmäßigen Beziehungen stehen. Wollte man beweisen, daß diese Auffassung falsch ist, so müßte daher gezeigt werden, daß die Kette naturwissenschaftlicher Folgerungen unrichtig sei, die zu ihr geführt haben. Man kann jedoch diesen Beweis nicht dadurch ersetzen, daß eine der metaphysischen Hypothesen, die aufgrund jener naturwissenschaftlichen Anschauung möglich, durch diese aber nicht im mindesten zwingend gefordert ist, für unhaltbar erklärt.


f) Die Anschauungsformen und der Empfindungsinhalt

Nur wenn man den hier allein zulässigen Weg der kritischen Prüfung der naturwissenschaftlichen Voraussetzungen selbst einschlägt, läßt sich nun auch über die Gründe Rechenschaft geben, aus denen  Raum und Zeit  nicht in ähnlichem Sinne wie der qualitative Empfindungsinhalt subjektiviert worden sind. Die besondere Bedeutung, welche jene Anschauungsformen für die Konstituierung unserer objektiven Gegenstandsbegriffe besitzen, drängt sich natürlich so unmittelbar der Aufmerksamkeit auf, daß sie auch der immanenten Philosophie nicht entgehen konnte. Aber die Bemerkung, daß dem Raum und der Zeit keine begrifflich notwendige, sondern lediglich eine empirische, dabei aber durchaus konstante und gesetzmäßige Notwendigkeit innewohne (12), ist nicht zureichend, um die besondere Stellung zu erklären, die ihnen in unserer  wissenschaftlichen  Erkenntnis der Außenwelt eingeräumt werden muß. Über diese Stellung gibt dagegen die in der Entwicklung der Naturwissenschaft zum Ausdruck gelangte Erkenntnistheorie vollkommen zureichende Rechenschaft, indem sie zeigt, daß alle jene Versuche, die zur Subjektivierung des Empfindungsinhaltes genötigt haben, den Anschauungsformen nichts anhaben konnten, daß vielmehr Raum und Zeit, abgesehen von einzelnen subjektiven, im allgemeinen leicht zu eliminierenden Täuschungen,  sich in aller Erfahrung als objektiv gegeben bewährten.  Neben der Feststellung dieses der Geschichte der Wissenschaft leicht zu entnehmenden Resultates muß es nun als eine Aufgabe der allgemeinen Erkenntnistheorie angesehen werden, die  logischen  Motive nachzuweisen, die der Unterscheidung jener Anschauungsformen voneinander und vom Empfindungsinhalt zugrunde liegen. So lange man aber, wie es die immanente Philosophie tut, Raum und Zeit nur im selben Sinne als empirische gegeben auffaßt, in welchem es alle sonstigen "Bewußtseinsdata" auch sind, so kann ihnen für die Erkenntnis der Objekte keine andere Bedeutung beigelegt werden als die, die auch den Empfindungsqualitäten zukommt. Man muß also entweder jene für ebenso subjektiv erklären wie diese oder umgekehrt diese für ebenso objektiv wie jene. In der Tat ist das, wie wir schon oben gesehen haben, der Standpunkt der immanenten Philosophie. Sie bekennt sich in allen ihren Richtungen zu der Überzeugung, daß jedem Gegenstand ebenso gut irgendein Empfindungsinhalt wie räumliche Figur und Begrenzung zukommen müsse. (13) Von einzelnen ihrer Vertreter wird freilich in dieser Beziehung den verschiedenen Sinnesqualitäten ein verschiedener Wert eingeräumt: Härte, Ton usw. sollen z. B. "Wahrnehmungen als solche" sein, "die wir als durch etwas anderes bewirkt erkennen"; die Farbe dagegen werde auf das Ding selbst bezogen, daher dieses als farbig anerkannt werden müsse. (14) Wenn nun, wie hier angenommen wird, die Lichtqualitäten nicht bloß unserer Wahrnehmung des Lichtes, sondern den leuchtenden Objekten selbst zu kommen, dann ist offenbar die Arbeit der physikalischen Optik vergeblich getan. Wir sehen uns dann von neuem vor die Aufgabe gestellt zuzusehen, wie sich etwa die Naturerscheinungen aus Licht- und sonstigen Sinnesqualitäten zusammensetzen lassen. In der Tat fehlt es in der immanenten Philosophie nicht an Andeutungen, daß man ein solches Ziel ernstlich ins Auge faßt. So, wenn es als eine denkbare Aufgabe bezeichnet wird, die Vielheit der Sinnesqualitäten auf eine einzige "Grundempfindung" zurückzuführen und wenn daran der "vielleicht heuristisch vielversprechende Gedanke" geknüpft wird, es möge, indem man die Annahme einer Transzendenz der Atome fallen läßt, die Bewegung und Schwingung derselben nur als ein "figürlicher Ausdruck für die in verschiedener Weise auf einander folgenden Momente der Grundempfindung" betrachtet werden. (15)

Diese Vorschläge sind, wenn man die Vordersätze der immanenten Erkenntnistheorie zugibt, in der Tat durchaus folgerichtige Entwicklungen, falls nur auch die andere Forderung anerkannt wird, die so gewonnene Anschauung habe in ähnlichem Sinne, nur freilich auf völlig anderer Grundlage als die Naturwissenschaft, dem Bedürfnis nach einer Subsumtion der mannigfaltigen Erfahrungsinhalte unter einheitliche Begriffe nachzukommen. Gegen ein solches Unternehmen möchte vielleicht nichts zu erinnern sein. Sein Fehler besteht nur darin, daß man sich nicht darauf besinnt, wie sehr dieser Einheitsbetrieb der Vernunft tatsächlich die Entwicklung der
Wissenschaft von Anfang an bis zum heutigen Tag beherrscht hat und wie daher der Versuch, die nämliche Arbeit von neuem anzufangen, auch unvermeidlich wieder auf einen primitiven Standpunkt zurückführt, mag dieser noch so sehr durch Verkleidungen, die der der modernsten Phase abstrakter Erkenntnistheorie angehören, unkenntlich gemacht sein. Als Zeugnisse für das unbesiegbare Bedürfnis nach Herstellung eines begrifflichen Zusammenhangs der Naturerkenntnis sind darum jene Vorschläge einer aufgrund der unmittelbaren Empfindungsqualitäten vorzunehmenden Naturerklärung immerhin interessant. Aber indem die Philosophie dieses Bedürfnis von sich aus befriedigen will, ohne danach zu fragen, welche Gesichtspunkte die mit den Hilfsmitteln der vergleichenden und experimentellen Beobachtung arbeitende naturwissenschaftliche Analyse der Erfahrung an die Hand gibt, bleibt es bei der Aufstellung inhaltsleerer Allgemeinbegriffe, wie sie sich aus der gewöhnlichen, nicht wissenschaftlich analysierten Erfahrung gewinnen lassen. So ist jene Urempfindung, die sich zur Mannigfaltigkeit der einzelnen Empfindungsqualitäten differenziert haben soll, offenbar nichts anderes, als der in eine Ursache umgewandelte unbestimmte Gattungsbegriff der Empfindung selbst. Das ist aber, wie die Geschichte lehrt, überall das Merkmal einer primitiven Betätigung des logischen Einheitsbedürfnisses, daß man oberflächlich abstrahierten Gattungsbegriffen eine kausale Bedeutung beilegt.
LITERATUR - Wilhelm Wundt, Über naiven und kritischen Realismus, Philosophische Studien 12, Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) So in den jüngst erschienen zwei ersten Heften der "Zeitschrift für immanente Philosophie" unter Mitwirkung von WILHELM SCHUPPE und RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, herausgegeben von M. R. KAUFFMANN, Berlin 1895. Abgesehen on diesem Titel des neuen Organs spielt aber auch sonst die Hervorhebung des Prinzips der Immanenz eine hervorragende Rolle in den Schriften der Erkenntnistheoretiker dieser Richtung. Als Vertreter derselben sind außer SCHUPPE und von SCHUBERT-SOLDERN namentlich auch ANTON von LECLAIR und JOHANNES REHMKE zu nennen.
    2) Beiläufig sei nur bemerkt, daß diese Einwände teils auf das in der vorigen Anmerkung erwähnte Mißverständnis, teils aber auf die Vermengung des erkenntnistheoretischen mit dem psychologischen Standpunkt zurückzuführen sind.
    3) SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 64f und Grundriss, Seite 23f. Vgl. auch von SCHUBERT-SOLDERN, Grundlagen der Erkenntnistheorie, Seite 12f und REHMKE, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, Seite 64f
    4) SCHUPPE, Grundriss, Seite 34 und von SCHUBERT-SOLDERN, Ursprung und Element der Empfindung, Zeitschrift für immanente Philosophie, Bd. I, Seite 25
    5) RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, Grundlagen der Erkenntnistheorie, Seite 57
    6) JOHANNES REHMKE, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, Seite 187
    7) von SCHUBERT-SOLDERN, Transzendenz und Immanenz, Seite 67
    8) GALILEO GALILEI, Il saggiatore, No. 48, Opere, ed. Alberi IV, Seite 333
    9) Vgl. hierzu meine Abhandlung über die Definition der Psychologie, Philosophische Studien XII, Seite 1f
    10) THOMAS HOBBES, Elementa philosophiae, Section I, De corpore, Pars IV, cap. 25,2. Opera philos. quae latine scripsit. Amsterdam 1868, Seite 194. In seinen früheren Schriften, wie z. B. in den "Elements of Law", nähert sich die Anschauung von HOBBES noch etwas mehr der rein naturwissenschaftlichen des GALILEI, obgleich auch hier mit entschieden materialistischer Färbung. Vgl. "Elements of Law natural and politic, ed. by FERDINAND TÖNNIES, Chap. 2, 3, Seite 3f
    11) RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, Zeitschrift für immanente Philosophie I, Seite 11f
    12) WILHELM SCHUPPE, Grundzüge, Seite 117, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 452f
    13) WILHELM SCHUPPE, Grundriss, Seite 15; RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, Grundlagen der Erkenntnistheorie, Seite 56
    14) JOHANNES REHMKE, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, Seite 187
    15) Vgl. oben. Der Urheber dieses Gedankens ist, wie es scheint, AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, 1876, Seite 59f