cr-2ra-2R. Schubert-SoldernG. AdlerF. BitzerF. Staudinger    
 
FRIEDRICH ALBERT LANGE
(1828-1875)
Die Arbeiterfrage
[4/4]

    1. Der Kampf ums Dasein
2. Der Kampf um die bevorzugte Stellung

"Die Volkswirtschaft läßt hergebrachterweise die Kultur mit dem  Urjäger"  oder  Urfischer  beginnen, der durch einen Zufall oder ein klug ersonnenes Instrument oder durch größere Kraft und Geschicklichkeit mehr Vorräte erworben hat, als er braucht und nun einen Teil derselben einem andern, der Mangel hat, gegen gewisse Dienstleistungen abgibt. Der erste Mann in bevorzugter Stellung wäre sonach bereits ein Kapitalist. Weit einfacher und den Zuständen roher Urvölker angemessener ist die Annahme, daß statt des Urjägers und Urfischer ein frecher Räuber - oder, was dasselbe sagen will, Eroberer - die mit Gewalt Unterworfenen gegen Schonung ihres Lebens als Sklaven für sich arbeiten ließ."

"Wir hätten keine Wissenschaft, wenn nicht bevorzugte Stellungen die Denker hätten frei werden und reifen lassen. Diejenigen aber, welche deshalb glauben, es möge dabei gut sein, daß immer das eigentlich Menschliche nur in den Bevorzugten zum Ausdruck gelangt, sind im Irrtum; denn die Massen wollen das nicht mehr zugeben und dieser keimende Wille beweist ihre beginnende Reife für eine höhere Form des Daseins. Die Bevorzugten selbst aber können mit dem Wachsen menschlicher Sympathie ihre Stellung nicht mehr mit der alten Unbefangenheit einnehmen. Auch liegt der Umsturz des alten Prinzips in den Grundgedanken des Christentums, die bestimmt scheinen, erst mit dem Zerbrechen der alten kirchlichen Formen sich unter den Völkern in ihrem wahren Sinn lebenskräftig zu verbreiten."

"So lange die Kapitalmacht als solche zu schwach war, den Widerstand des Arbeiters zu brechen, aber die Kapitalisten als Personen einflußreich genug, um arbeiterfeindliche Gesetze zu erzielen, machte man in Bevormundung; seit die Kapitalmacht sich hinlänglich entwickelt hat, um den Arbeiter ohne Beihilfe der Gesetzgebung zum Sklaven machen zu können, während gleichzeitig der Staat beginnt, diesem Übel entgegenzuwirken, seitdem macht man in  Freiheit der Arbeit.  Es sind dieselben Tendenzen, dieselbe Art von Leuten, dieselben Interessen, welche ehemals für Bevormundung sprachen und jetzt für ihre  Freiheit  schwärmen. Der Zweck ist derselbe, nur das Mittel richtet sich nach den verschiedenen Umständen."


Zweites Kapitel
Der Kampf um die bevorzugte Stellung
[Fortsetzung]

Betrachtet man den Gang der Geschichte mit Rücksicht auf die allmähliche Hervorbildung des Vollkommeneren aus dem Unvollkommenen, so sieht man, wie der Kampf um die bevorzugte Stellung, gleich dem Kampf ums Dasein, von dem er ja nur eine, besonderer Betrachtung würdige Seite ist, umso rohere und schroffere Formen gehabt hat, je weiter wir zurückgehen und daß er zu allen Zeiten zum Fortschritt der Menschheit beigetragen hat, jedoch nur unter furchtbaren Opfern, deren Verantwortung wir froh sind, der unbewußt waltenden Natur überlassen zu können. Die schroffste Form der bevorzugten Stellung, das Verhältnis des  Herrn  zum  Sklaven ist zugleich die älteste und wir sehen nicht nur, wie im Altertum die vollendetste Kultur unter den bevorzugten Klassen aus dem scheußlicchen Boden der Sklaverei emporsteigt, sondern wir können uns sogar ernsthaft fragen, ob wir nicht die Sklaverei als den eigentlichen Anfangspunkt der höheren geistigen Entwicklung unseres Geschlechtes bis in die fabelhaften Anfänge jeder Kultur zurückschieben müssen. Unser Gefühl sträubt sich dagegen, in solcher Weise das Gute aus dem Schlimmen hervorgehen zu lassen; allein die Wahrheit hat oft ein Gesicht, das uns nicht gefällt. Das Schlimme ist deshalb nicht weniger schlimme und hassenswert, weil aus ihm Gutes hervorgegangen ist und so wenig wir für die Gegenwart und Zukunft mit Schändlichkeiten kapitulieren dürfen, weil sie etwa auch gute Folgen haben könnten; ebensowenig dürfen wir uns andererseits um eines Vorurteils willen einer Anschauung der Dinge entziehen, auf die wir durch wichtige Gründe geführt werden.

Die Volkswirtschaft läßt hergebrachterweise die Kultur mit dem "Urjäger" oder "Urfischer" beginnen, der durch einen Zufall oder ein klug ersonnenes Instrument oder durch größere Kraft und Geschicklichkeit mehr Vorräte erworben hat, als er braucht und nun einen Teil derselben einem andern, der Mangel hat, gegen gewisse Dienstleistungen abgibt. Der erste Mann in bevorzugter Stellung wäre sonach bereits ein Kapitalist. Weit einfacher und den Zuständen roher Urvölker angemessener ist die Annahme, daß statt des Urjägers und Urfischer ein frecher Räuber - oder, was dasselbe sagen will, Eroberer - die mit Gewalt Unterworfenen gegen Schonung ihres Lebens als Sklaven für sich arbeiten ließ. Der Räuber, von der unmittelbaren Not und Sorge um das tägliche Brot durch seine Sklaven befreit, erhält Muße, Körper und Geist zu bilden und sich in seiner bevorzugten Stellung zu einem in mancher Beziehung veredelten Wesen heranzubilden. Es wird auf diese Weise ein Bildungsgrad möglich, der unter den gleichen Verhältnissen auf keine andere Art zu erzielen ist. Aus solchen veredelten menschlichen Raubtieren scheinen sich Adels- und Fürstengeschlechter aller Zeiten und Völker herausgebildet zu haben. Die "edlen Geschlechter" aber, so verhaßt uns ihr Ursprung sein mag, sind eben doch die wichtigsten Träger der Kulturen geworden und in mancher Beziehung sogar der  moralischen  Kultur; denn erst in der sorgenfreien und bevorzugten Existenz scheinen sich jene Züge von Großmut, Ritterlichkeit, aufopfernder Tapferkeit und stolzer Offenheit entwickelt zu haben, welche unter günstigeren Verhältnissen zum Gemeingut aller besseren Menschen geworden sind. Daß dabei die demoralisierenden Wirkungen der Sklaverei - nicht nur auf die Sklaven, sondern auch auf die Herren - sich ebenfalls geltend machen und in gewissen Kulturperioden das Übergewicht erlangen, ist durchaus nicht verwunderlich, da die menschliche Natur mannigfaltig genug ist, um sehr verschiedenartigen Strömungen des Guten und Schlimmen gleichzeitig Raum zu geben. Wenn wir dann ferner sehen, wie gerade die  Freiheit  das Wesen des Menschen erst zur höchsten Vollkommenheit bringt, so haben wir darin wohl einen Wink für die Zukunft und eine Richtschnur unseres Strebens in der Gegenwart, aber keine Widerlegung unserer Anschauung von der Vergangenheit, da eben bei den roheren Formen des Kampfes ums Dasein fast nur den bevorzugten Herren ein Hauch von Freiheit zuteil werden konnte.

Eines wird man bei der Beurteilung der Vergangenheit im Auge behalten müssen: daß die Menschheit niemals jenen idealen Urzustand der Gleichheit und Glückseligkeit aller, von dem die Dichter singen, gehabt hat und daß sie ihn auch niemals haben konnte, weil sie dem Gesetz des Kampfes um das Dasein umso stärker unterworfen war, je weiter wir zurückgehen. Die Hervorbringung bevorzugter Stände war also, wo diese nicht gar zu übermächtig und übermütig wurden, vom Standpunkt der Menschheit aus betrachtet, nur ein mäßiges Opfer, weil das Leben, welches die Tyrannen vernichteten, sonst auf anderem Wege vernichtet worden wäre. Für dieses Opfer, welches freilich in der Zermalmung des Einzelnen uns seine schreckliche Seite zeigt, gewann die Menschheit nun gleichsam Muster und Vorbilder, nach denen sie ringen und streben konnte. Gewiß hätten wir keine geistige Entwicklung ohne Dichtkunst, aber auch kaum eine entwickelte Dichtkunst ohne bevorzugte Helden und Heldengeschlechte. Wir hätten keine Wissenschaft, wenn nicht bevorzugte Stellungen die Denker hätten frei werden und reifen lassen. Diejenigen aber, welche deshalb glauben, es möge dabei gut sein, daß immer das eigentlich Menschliche nur in den Bevorzugten zum Ausdruck gelangt, sind im Irrtum; denn die Massen wollen das nicht mehr zugeben und dieser keimende Wille beweist ihre beginnende Reife für eine höhere Form des Daseins. Die Bevorzugten selbst aber können mit dem Wachsen menschlicher Sympathie ihre Stellung nicht mehr mit der alten Unbefangenheit einnehmen. Auch liegt der Umsturz des alten Prinzips in den Grundgedanken des Christentums, die bestimmt scheinen, erst mit dem Zerbrechen der alten kirchlichen Formen sich unter den Völkern in ihrem wahren Sinn lebenskräftig zu verbreiten. Die Verweisung auf das Jenseits ist eine Verheißung, ein Gleichnis, ein Glaubensartikel; die Vollendung im Fleisch ist die Erfüllung, die Auslegung, das Schauen. Wann wird den Armen in diesem Sinne die frohe Botschaft verkündet?

Der Widerspruch, welcher darin zu liegen scheint, daß wir das Opfer ganzer Generationen zugunsten weniger einerseits als eine geschichtliche Notwendigkeit anerkennen, andererseits aber als den Fluch der Menschheit und als das eine große Übel betrachten, von dem unser Geschlecht erlöst werden soll und muß - dieser Widerspruch enthält nichts Unlogisches, sondern er ist vielmehr nur das reine Spiegelbild des ewigen Gegensatzes von Natur und Geist, von objektivem Erkennen und sittlichem Wollen. Aus der Unvernunft des überlieferten Daseins ringt das vernünftige Ideale sich los und niemals, so lange wir sittliche Wesen sein wollen, dürfen wir auf den Anspruch verzichten, daß heute der Tag ist, an welchem ein neues Leben beginnt, für das Individuum wie für die Menschheit. Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so zeigt sich in jenen furchtbaren Opfern unverkennbar eine gewisse  Zweckmäßigkeit;  doch nicht jene menschlich umsichtig berechnende und erbarmungslose Mechanismus, welcher durch Schaffen und wieder Vertilgen im langsamen Gang der Aeonen sich seinem Ziel unter dem Ächzen der Kreatur entgegenwälzt. Unserer Vernunft wollen sich tausend einfachere, bessere Wege aufdrängen; aber vergessen wir nicht, daß unsere Vernunft eben selbst nur ein Produkt dieser unendlichen Arbeit ist. Daher ist es ein eitles Bestreben, wenn sich die Vernunft rückwärts wendet, um den Weltplan zu kritisieren und ihre eigenen Vorbedingungen zu richten; aber vorwärts liegt ihr Recht: denn dazu ist sie in die Welt geboren und zum Durchbruch gekommen, damit fortan die höhere Gestaltung der Gesellschaft - ja der ganzen Natur, so weit die Mittel des Menschen reichen, ins Leben treten möge. Stören wir uns deshalb nicht an die Kleinmeister, die auf die Geschichte hinweisen und uns altklug noch einmal predigen, was wir uns längst an den Kinderschuhen abgetreten haben: daß zu allen Zeiten Adel und Reichtum und Stände gewesen sind, daß die Masse immer nur zum Beten und Arbeiten, zum Dulden und gehorchen dagewesen ist, daß Vernunft und Gerechtigkeit immer bloß Ideale gewesen sind und daß alle Idealisten, PLATO mit seinem Vernunftstaat an der Spitze, stets in der Praxis schmählich Schiffbruch erlitten hätten! Wir verstehen die Geschichte besser, als diese Kleinmeister; denn wir wissen, daß das tausendfältige Mißlingen dessen, das endlich doch werden soll, nur jenen wohlbekannten Grundzug des Schaffens uns Vernichtens in einer besonderen Form seiner Erscheinung darstellt. Wir wissen aber auch, daß alles Große in der Geschichte stets von Trägern einer Idee ausging, die weit über die bisherige Erfahrung hinausgriff. Wir wissen, daß auch das Ringen der Vorzeit nicht verloren ist und daß wir uns auch im schlimmsten Fall mit unserem Eifer für eine bessere Zukunft der Menschheit einer würdigen Reihe von Vorgängern anschließen und glücklichere Nachfolger haben werden. Wir wissen aber endlich auch, daß  niemals, nie, seit den Anfängen der Geschichte,  die Gesamtheit der geistigen und materiellen Bedingungen des Völkerlebens eine so große innere Umwandlung unter der schwachen Hülle der bestehenden Formen erlitten hat, als in den letzten hundert Jahren. Daß früher oder später diese Umwandlung der Geister sich auch ihr Recht in den Gestaltungen des Lebens erringen wird, ist außer Zweifel und wir können daher getrost von der Zuversicht ausgehen, daß wir in einer Epoche leben, welche mehr als irgendeine bisherige dazu angetan ist, unserem Ideal eine gewisse Geltung im Leben zu erkämpfen.

Dieser Charakter unserer Zeit verrät uns dann auch deutlich, worin die entscheidende Antwort liegt auf die Frage, ob nicht zufolge eines unerbittlichen Naturgesetzes der Gang der Differenzierung unaufhaltsam fortschreiten müsse. Dieses Naturgesetz ist vorhanden und wird auf jeder Stufe der menschlichen Entwicklung und unter allen Umständen streben, sich geltend zu machen; allein seine Wirkungen werden teils modifiziert, teils geradezu aufgehoben und durch entgegengesetzte verdrängt kraft eines anderen Naturgesetzes, welches aus dem sympathischen Zusammenleben der Menschen den Gedanken der Gleichheit und des solidarischen Fortschritts erwachsen läßt. Wie ein Kahn gleichzeitig von der Strömung abwärts gerissen, aber von kräftigem Ruderschlag aufwärts getrieben, in der Erscheinung nur derjenigen Kraft folgt, welche gerade das Übergewicht hat, während in der Tat stets beide Kräfte nach unwandelbaren Naturgesetzen auf ihn einwirken: so steht der Mensch im gleichmäßig und stetig wirkenden Strom der natürlichen Differenzierung, aber gleichzeitig unter dem Einfluß des Gedankens der Einheit und Gleichheit. Jener mehr unbewußt wirkende Zug der Natur, den der Mensch mit dem Tierreich, ja mit der ganzen organischen Welt gemeinsam hat, erlangt in allen längeren Ruheperioden das Übergewicht, bis der Gedanke der höheren Aufgabe des Menschengeschlechts plötzlich mit kräftigerem Schlag eingreift und, den trägen Zug des Stromes überwindend, die Menschheit auf's Neue ihrem ewigen Ziel entgegentreibt. Beide Wirkungen, die bewußtere, wie die unbewußtere, stehen unter unwandelbaren Naturgesetzen, welche das geistige Dasein des Menschen gleich dem physischen bestimmen, so jedoch, daß die Gesetze des bewußten Geistes in ihren Wirkungen im Lauf der Geschichte mehr und mehr das Übergewicht erlangen und den Menschen eine Bahn führen, welche sich von der aller andern Naturwesen durch den Triumph des Gedankens unterscheidet.

Ob der Sieg der Vernunft und Gerechtigkeit über die tierische Natur jemals ein so gleichmäßiger und beständiger wird, daß die Differenzierung dadurch schon im Entstehen überwunden wird, können wir nicht wissen. Bis jetzt macht sich diese Auflehnung des höheren Naturtriebes gegen den niederen nur stoßweise geltend. Periodisch nimmt die Gewalt des idealen Strebens zu und ab, wie Ebbe und Flut und die Springfluten in diesem Wechsel sind die Revolutionen in der Geschichte. Beiderlei Perioden dienen dem Fortschritt, aber auch sehr verschiedene Weise. Zu Zeiten, wo der bewußte Gedanke unserer höheren Bestimmung schlummert, schreitet die Menschheit nicht anders fort, als die organische Welt im großen Ganzen; nur schneller und sichtbarer. Das Prinzip bleibt das gleiche: die Differenzierung erzeugt gewisse Spitzen der Kultur und des Wohlseins, welche der Kampf um die bevorzugte Stellung auf eine höhere Stufe erhoben hat. Was zurückbleibt, paßt sich der niederen Stellung in kastenmäßiger Unterordnung an oder verkümmert. Die Teilung der Arbeit hebt im Kampf ums Dasein jede einzelne Leistung auf die höchste Stufe und läßt mancherlei Kunsttriebe und Fertigkeiten hervortreten. Was sich an seiner Stelle nicht behaupten kann, wird vernichtet; der Starke siegt, der Schwache geht unter und die Kraft und die Leistungsfähigkeit des Geschlechtes wird dadurch allmählich gehoben, da sich ja auch die erworbenen Fähigkeiten teilweise vererben. Da jedoch durch den in der Gesellschaft waltenden Zusammenhang die zurückgebliebenen Klassen nicht nur in eine  niedere,  sondern auch in eine  dienende  Stellung herabgedrückt werden - ein Verhältnis, welches im Tierreich nur sehr vereinzelt auftritt, so wird die Differenzierung einerseits sehr rasch gefördert, andererseits aber früher oder später wieder vom erwachenden Gefühl der Gleichartigkeit gebrochen. In diesen letzteren Perioden ist der Fortschritt der Menschheit ganz anderer Natur. Der allgemeine Wohlstand wird oft vorübergehend geopfert; in den großartigsten Katastrophen, wie beim Untergang der alten griechischen und römischen Welt, scheint das ganze Resultat einer langen Kulturperiode unterzugehen, während doch der Grund zu einem neuen und höheren Dasein der Menschheit gelegt wird. Unterdrückte Klassen der Menschheit ringen sich, bald im geistigen, bald im physischen Kampf, mächtig empor; die herrschenden Klassen verlieren die starre Sicherheit der gewohnten Herrschaft. Edle Männer, von ihren Standesgenossen verflucht, reichen den Unterdrückten die Hand; in den Tyrannen regt sich das Gewissen und lähmt die Tatkraft. Die Ahnung einer neuen Zeit durchdringt alle Gemüter; der Kampf weckt neue und ungeahnte Kräfte; die Not bricht den materiellen Sinn und der kritische Zustand der ganzen Gesellschaft zwingt zu kühneren Versuchen. Im Ganzen sind solche Perioden stets mit einem Erwachen des Geistes, mit einem Aufschwung des Höchsten und Edelsten im Menschen verbunden und auch da, wo sie scheinbar bloß nivellieren, heben sie in der Tat die Gesamtheit auf eine höhere Stufe.

Wir wollen nicht behaupten, daß sich ein solcher Durchbruch der Vernunft und des menschlichen Gemeinsinns stets in einer siegreichen und deutlich erkennbaren Sozialrevolution darstellen müsse. Der Sieg des Geistes geht oft den Weg äußerlichen Unterliegens und im Gang der Geschichte drängt sich immer eine Fülle fremden Stoffes um den Kern jeder Bewegung zusammen. Andererseits sind auch die Zeiten, in welchen das bloße Naturspiel des allgemeinen Egoismus obwaltet, nicht völlig frei und leer von idealistischen Gewittern, in welchen der Gedanke eines gemeinsamen Zieles der Menschheit umgestaltend und erfrischend das alltägliche Treiben durchbricht und den Kampf um die bevorzugte Stellung wenigstens auf irgendeinem enger begrenzten Gebiet in ein gemeinsames Ringen nach einer höheren Gestaltung des gemeinsamen Lebens verwandelt. Wenn sich dann aus der Summe solcher kleinen Revolutionen und Neuschöpfungen im Laufe einer längeren Periode eine Zunahme der Gleichheit und eine Verbesserung in der Lage der gedrückten Klassen ergibt, so sind Egoismus und Trägheit nur zu leicht mit dem Schluß fertig, das mache sich alles von selbst und man brauche die Dinge nur gehen zu lassen, wie sie im Getriebe aller egoistischen Bestrebungen von selbst gehen, um dasjenige zu erreichen, was sich die Idealisten als bewußtes Ziel ihres Strebens vorsetzen. Ist diese Ansicht an sich schon das Gegenteil des Richtigen, so ist sie doppelt irre leitend in einem Zeitalter, in welchem alle einzelnen Bestrebungen zum Ausgleich der sozialen Übel vom Bewußtsein der Notwendigkeit und des Herannahens großer Reformen getragen sind. Dieses Bewußtsein ist in unserer Generation nicht auszurotten und mehr und mehr bricht sich die Überzeugung Bahn, daß unsere Kämpfe und Arbeiten auf dem Gebiet der Volksbildung, des Genossenschaftswesens, der Erweiterung der politischen Rechte der Massen doch noch nicht die eigentliche Lösung der großen Aufgabe sind, sondern daß sie dieser Lösung nur vorangehen als die Geburtswehen einer neuen Zeit.

Es bedarf kaum eines Beweises, daß die letzte Konsequenz jener rein materialistischen Volkswirtschaft (4), die sich heutzutage unter dem beschönigenden Namen der Freihandelslehre so breit macht, auf nichts anderes hinausläuft, als auf die Beseitigung aller Schranken, welche die Menschlichkeit dem Differenzierungsprozeß noch entgegensetzt. Bei scheinbar unbegrenztem Liberalismus hält diese Lehre mit einem jeder Religionsverfolgung würdigen Fanatismus an der einen großen Schranke fest, welche heutzutage in einem Land mit völlig okkupiertem Boden der bloße Besitz von Kapital zwischen einer herrschenden und einer dienenden Klasse festsetzt. Da aber alle anderen Schranken, welche Zunftzwang, Gewerbegesetze, Schutzzoll usw. bilden konnten, vor allen Dingen auch Schranken für die volle Entfaltung der Kapitalmacht sind, so kann der Freund der letzteren sich leicht den Schein des Liberalismus geben, während er in der Tat für die größere Abhängigkeit des Arbeiters vom Kapitalisten tätig ist. Um die wahre Tendenz jener Volkswirtschaft zu erkennen, muß man sehen, wie sie die Gesetze zum Schutz der Frauen und Kinder in den Fabriken mit derselben Leidenschaft angreift und teilweise mit denselben Gründen bekämpft, wie den Zunftzwang oder den Schutzzoll. Es ist ein bleibendes Verdienst von KARL MARX (5), dieser heuchlerischen Tendenz der herrschenden Volkswirtschaftslehre die Maske abgerissen und mit aktenmäßigen Beweisen gezeigt zu haben, wie sie überall unter der Firma der Freiheit nur die Unterjochung und Ausbeutung anstrebt und jedes Gebot der Humanität, selbst die scheinbar klarsten Staatsgesetze, durchbricht oder umgeht, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Wenn wir trotzdem uns der Erkenntnis nicht entziehen können, daß jene Volkswirtschaftslehre ebenso wie die ihr entsprechende kapitalistische Produktionsweise ihre relative Berechtigung gehabt hat und teilweise noch jetzt hat, daß es ein verhängnisvoller Fehler und eine vergebliche Torheit sein würde, heutzutage die kümmerlichen Reste der mittelalterlichen Formen der Arbeit noch aufrecht erhalten zu wollen, so leitet uns dabei vor allen Dingen der einfache Gedanke, das neue, vernunftgemäße und der gegenwärtigen Reife des menschlichen Geschlechts entsprechende Formen des bürgerlichen Verkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit sich nicht ohne einen solchen Durchgangspunkt durch die Zeit des industriellen Faustrechts entwickeln konnten. Es leitet uns nicht minder die klare Einsicht in die Übelstände und Härten, mit welchen auch die ehemaligen Einrichtungen der Arbeitsteilung verbunden waren und in die Verschlimmerung ihrer Übel, die Abnahme ihrer Vorteile mit dem historischen Verfall, dem sie unter veränderten Zeitverhältissen unterworfen waren. Endlich sehen wir ja aber auch bereits, wie alle Anfänge einer neuen Zeit, sei es nun, daß wir sie suchen in den Schöpfungen eines freien Genossenschaftswesens, sei es, daß wir sie hoffen von der Durchführung großer sozialpolitischer Reformen, ihren wahren Boden in denjenigen Zuständen haben, welche die kapitalistische Produktionsweise erzeugt hat. Wie diese alle anderen Schranken einer einzigen großen Schranke - der des Kapitalbesitzes - geopfert hat, so sammeln sich auch ihr gegenüber alle Bestrebungen der Abhilfe in die einzige große Tendenz, diese letzte Schranke der menschlichen Gleichheit zu durchbrechen und dadurch den Kampf um die bevorzugte Stellung auf die Bedeutung eines freien Spiels der ihre Betätigung suchenden menschlichen Kräfte zu beschränken. Und eben deshalb, weil die furchtbare Wirkung jener einzigen großen Schranke wesentlich auf ihrer elastischen, scheinbar verschwimmenden Natur beruth, auf dem Umstand, daß sie überall und nirgends ist, im Einzelnen oft unfaßbar, im Ganzen allmächtig: eben deshalb sehen wir uns genötigt, die Basis unserer Reformbestrebungen aus den tiefsten Tiefen der menschlichen Natur heraufzuholen, nachdem wir die Quelle des Übels bis in die allgemeinen Entwicklungsgesetze aller organischen Wesen verfolgt haben.
LITERATUR Friedrich Albert Lange - Die Arbeiterfrage - Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, Winterthur 1894
    Anmerkungen
    4) Unter einer  rein materialistischen Volkswirtschaft  verstehen wir eine solche, welche keine idealen Faktoren überhaupt für Einbildungen schwärmerischer Selbsttäuschung hält, sei es, daß sie ihnen einen vom eigentlich wirtschaftlichen Lebens anerkennt, sei es, daß sie solche Faktoren überhaupt für Einbildungen schwärmerischer Selbsttäuschung hält, sei es, daß sie ihnen einen vom eigentlich wirtschaftlichen Leben gänzlich getrennten Spielraum anweist. Eine solche Volkswirtschaft wird stets auch rein individualistisch sein, da die Anerkennung des Gemeinsinns als eines Motivs für wirtschaftliche Vorgänge schon einen auf Ideen beruhenden Faktor setzt. Die rein materialistische Volkswirtschaft kennt nur Individuen, welche ihren Interessen folgen und glaubt aus dem Spiel dieser Interessen das gesamte wirtschaftliche Leben begreifen zu können. Dieses letztere Kriterium ist wesentlich, denn die Volkswirtschaft kann auch - und das war im Grunde schon die Tendenz RICARDOs - das Spiel der Interessen nur deshalb isoliert betrachten, um zu einem möglichst exakten Verfahren zu kommen, welches zunächst abstrakt richtige Sätze gibt, konsequente Folgerungen aus bestimmten Prämissen, für deren Anwendung auf die Wirklichkeit - und zwar auch auf die Wirklichkeit des  ökonomischen  Lebens - stets vorbehalten bleibt, daß die Entsprechung nur so weit geht, als die separat ins Auge gefaßten Faktoren in der Wirklichkeit vorhanden sind und ihre Rollen spielen. Eine solche Volkswirtschaft wird man, wenn sie auch die idealen Faktoren völlig beiseite läßt, noch nicht "materialistisch" nennen können, weil letzterer Ausdruck auf eine systematische Auffassung des ganzen Gebiets deutet, die den Anspruch erhebt, das Prinzip des letzteren, wie es in der Wirklichkeit ist, völlig erfaßt zu haben. Näheres über das Verhältnis der Volkswirtschaft zum ethischen Materialismus findet sich in meiner "Geschichte des Materialismus, 2. Buch, 3. Abschnitt, Seite 501f - Der Versuch, die Moral von der Volkswirtschaft absolut abzutrennen, ist besprochen in "Mills Ansichten", Vorwort, Seite 14f.
    5) Vgl. insbesondere den klassischen Abschnitt über den  Arbeitstag,  MARX, das Kapital I, Seite 198 - 281 (in der 2. Auflage, Hamburg 1873, Seite 222 - 308). Wir können uns nicht enthalten, hier eine kleine Blumenlese von Tatsachen und gutachtlichen Äußerungen aus dieser Sammlung zu entlehnen. So heißt es in den speziellen Berichten der Fabrikinspektoren von 1860: "Es wird zuweilen vorgeschützt, wenn wir Arbeiter während der Speisestunden oder sonst zu ungesetzlicher Zeit am Werk ertappen, daß sie die Fabrik durchaus nicht verlassen wollen und daß es des Zwangs bedarf, um ihre Arbeit (Reinigen der Maschinen usw.) zu unterbrechen, namentlich Samstag Nachmittags. Aber wenn die "Hände" nach Stillsetzung der Maschinerei in der Fabrik bleiben, geschieht es nur, weil ihnen zwischen 6 Uhr Morgens und 6 Uhr Abends, in den gesetzlich bestimmten Arbeitsstunden, keine Frist zur Verrichtung solcher Geschäfte gestattet worden ist."
    Ebendaselbst in Anmerkung wird folgendes "Kuriosum" mitgeteilt: "Anfang Juni 1836 ging dem Magistrat von Dewsbury (Yorkshire) Denunziationen zu, wonach die Eigner von 8 großen Fabriken in der Nähe von Batley den Fabrikakt verletzt hätten. Ein Teil dieser Herren war angeklagt, 5 Knaben zwischen 12 und 15 Jahren von 6 Uhr Morgens des Freitags bis 4 Uhr Nachmittags des folgenden Samstags abgearbeitet zu haben, ohne irgendeine Erholung zu gestatten, außer für Mahlzeiten und  eine Stunde Schlaf um Mitternacht.  Und diese Kinder hatten die rastlose, 30-stündige Arbeit im "shoddy-hole" zu verrichten, wie die Höhle heißt, worin Wollenlumpen aufgerissen werden und wo ein Luftmeer von Staub, Abfällen usw. selbst den erwachsenen Arbeiter zwingt, den Mund beständig mit Schnupftüchern zu verbinden, zum Schutz seiner Lungen! Die Herren Angeklagten versicherten an Eidesstatt - als Quäker waren sie zu skrupellos religiöse Männer, einen Eid zu leisten - sie hätten in ihrer großen Barmherzigkeit den elenden Kindern 4 Stunden Schlaf erlaubt, aber die Starrköpfe von Kindern  wollten durchaus nicht zu Bett gehen!  Die Herren Quäker wurden zu 20 Pfund Sterling Geldbuße verurteilt."
    Im London Daily Telegraph vom 14. Januar 1860 liest man Folgendes: Herr BROUGHTON, ein County Magistrat, erklärte als Präsident eines Meetings, abgehalten in der Stadthalle von Nottingham, am 14. Januar 1860, daß in dem mit der Spitzenfabrikation beschäftigten Teil der städtischen Bevölkerung ein der übrigen zivilisierten Welt unbekannter Grad von Leid und Entbehrung vorherrscht ... Um 2, 3, 4 Uhr des Morgens werden Kinder von 9 - 10 Jahren ihren schmutzigen Betten entrissen und gezwungen, für die nackte Subsistenz bis 10, 11, 12 Uhr Nachts zu arbeiten, während ihre Glieder wegschwinden, ihre Gestalt zusammenschrumpft, ihre Gesichtszüge abstumpfen und ihr menschliches Wesen ganz und gar in einem steinähnlichen Torpor [Betäubung - wp] erstarrt, dessen bloßer Anblick schauderhaft ist. Wir sind nicht überrascht, daß Herr MALLET und andere Fabrikanten auftraten, um Protest gegen jede Diskussion einzulegen ... Das System, wie Reverend MONTAGU VALPU es beschrieb, ist ein System unbeschränkter Sklaverei. Sklaverei in sozialer, physischer, moralischer und intellektueller Beziehung ... Was soll man denken von einer Stadt, die ein öffentliches Meeting abhält, um zu petitionieren, daß die Arbeitszeit für Männer täglich auf 18 Stunden beschränkt werden soll! ... Wir deklamieren gegen die virginischen und karolinischen Pflanzer. Ist jedoch ihr Negermarkt, mit allen Schrecken der Peitsche und dem Schacher in Menschenfleisch, abscheulicher als diese langsame Menschenabschlachtung, die vor sich geht, damit Schleier und Kragen zu Vorteil der Kapitalisten fabriziert werden?" (MARX, Seite 212; 2. Auflage, Seite 237).-
    Vgl. ferner folgende Auszüge aus dem Bericht der Parlamentskommission für die Frage der Kinderarbeit: WILLIAM WOOD, neunjährig, war 7 Jahre 10 Monate alt, als er zu arbeiten begann. Er "ran moulds" (trug die fertig geformte Ware in die Trockenstube, um nachher die leere Form zurückzubringen) von Anfang an. Er kommt jeden Tag in der Woche um 6 Uhr Morgens und hört auf ungefähr 9 Uhr Abends. "Ich arbeite bis 9 Uhr Abend jeden Tag in der Woche. So z. B. während der letzten 7 - 8 Wochen." Also fünfzehnstündige Arbeit für ein siebenjähriges Kind! J. MURRAY, ein zwölfjähriger Knabe, sagt aus: "I run moulds an turn trigger (drehe das Rad). Ich komme um 6 Uhr, manchmal um 4 Uhr Morgens. Ich habe während der ganzen letzten nacht bis diesen Morgen 8 Uhr gearbeitet. Ich war nicht im Bett seit der letzten Nacht. Außer mir arbeiteten 8 oder 9 andere Knaben die letzte Nacht durch. Alle außer einem sind diesen Morgen wiedergekommen. Ich bekomme wöchentlich 3 Shilling 6 Pence (1 Taler, 5 Groschen). Ich bekomme nicht mehr, wenn ich die ganze Nacht durcharbeite. Ich habe in der letzten Woche zwei Nächte durchgearbeitet." FERNYHOUGH, ein zehnjähriger Knabe: "Ich habe nicht immer eine ganze Stunde für das Mittagessen; oft nur eine halbe Stunde; jeden Donnerstag, Freitag und Samstag. (MARX, Seite 213; 2. Auflage Seite 238).
    Aus dem gleichen amtlichen Bericht teilen wir folgenden Auszug betreffend Kinderarbeit in den Tapetenfabriken samt den in Klammer erscheinenden stechenden, aber nicht ungerechten Zwischenbemerkungen von KARL MARX mit: J. LEACH sagt aus: "Letzten Winter (1862) blieben von 9 Mädchen 6 weg infolge durch Überarbeitung zugezogener Krankheiten. Um sie wach zu halten, muß ich sie anschreien." W. DUFFY: "Die Kinder konnten oft vor Müdigkeit die Augen nicht aufhalten, in der Tat, wir selbst können es oft kaum." J. LIGHTBOURNE: "Ich bin 13 Jahre alt ... Wir arbeiteten letzten Winter bis 9 Uhr Abendes und den Winter vorher bis 10 Uhr. Ich pflegte letzten Winter fast jeden Abend vom Schmerz wunder Füße zu schreien." G. APSDEN: "Diesen meinen Jungen pflegte ich, als er 7 Jahre alt war, auf meinem Rücken hin und her über den Schnee zu tragen und er pflegte 16 Stunden zu arbeiten! ... Ich habe oft niedergekniet, um ihn zu füttern, während er an der Maschine stand, denn er durfte sie nicht verlassen oder abschalten." SMITH, der geschäftsführende Teilhaber einer Maschinenfabrik: "Wir (er meint seine "Hände", die für "uns" arbeiten) arbeiten ohne Unterbrechung für Mahlzeiten, so daß die Tageszeit von 10 ½ Stunden um 4½ Uhr Nachmittags fertig ist und alles Spätere ist Überzeit. (Ob dieser Herr SMITH wohl auch keine Mahlzeit während 10½ Stunden zu sich nimmt?" Wir (derselbe SMITH) hören selten auf vor 6 Uhr Abends (er meint mit der Konsumtion "unserer" Arbeitskraftmaschinen), so daß wir in der Tat das ganze Jahr durch Überzeit arbeiten ... Die Kinder und Erwachsenen (152 Kinder und junge Personen unter 18 Jahren und 140 Erwachsene) haben gleichmäßig während der letzten 18 Monate im Durchschnitt mindestens 7 Tage und 5 Stunden in der Woche gearbeitet oder 78½ Stunden wöchentlich. Für die 6 Wochen endend am 2. Mai dieses Jahres (1863) war der Durchschnitt höher - 8 Tage oder 84 Stunden in der Woche!" (MARX, Seite 216; 2. Auflage Seite 241) -
    Ziemlich bekannt, aber von MARX überall mit genauen Angaben belegt, sind die Tatsachen betreffend der Tötung von Putzmacherinnen durch übermäßige Arbeit (umd die Prachtkleider der edlen Damen für einen Hofball zeitig vollenden zu können, arbeiten die armen Näherinnen zu 30 in einem Zimmer, das kaum ein Drittel der zum Leben nötigen Luft gewährt, oft 30 Stunden ohne Unterbrechung).
    Über die Nachtarbeit von Knaben in der Eisenindustrie erklärt Herr E. F. SANDERSON, von der Firma Sanderson, Stahl- Walz und Schmiedewerke, in Attercliffe: "Große Schwierigkeiten würden enstpringen aus dem Verbot, Jungen unter 18 Jahren des Nachts arbeiten zu lassen, die Hauptschwierigkeit aus der Vermehrung der Kosten, welche ein Ersatz der Knabenarbeit durch Männerkraft notwendig nach sich zöge. Wieviel das betragen würde, kann ich nicht sagen, aber wahrscheinlich wäre es nicht so viel, daß der Fabrikant den Stahlpreis erhöhen könnte und folglich fiele der Verlust auf ihn, da die Männer (welch' querköpfig Volk!) sich natürlich weigern würden, ihn zu tragen." Herr SANDERSON weiß nicht wie viel er den Kindern zahlt, aber "vielleicht beträgt es 4 bis 5 Shilling pro Kopf die Woche" ... Die Knabenarbeit ist von einer Art, wofür im Allgemeinen ("generally", natürlich nicht immer "im Besonderen") die Kraft der Jungen gerade ausreicht und folglich würde kein Gewinne aus der größeren Kraft der Männer fließen, um den Verlust zu kompensieren oder doch nur in den wenigen Fällen, wo das Metall sehr schwer ist (MARX, Seite 232 bzw. Seite 259 in der 2. Auflage)-
    Im gleichen Abschnitt beweist MARX geschichtlich, wie sich der Arbeitstag unter dem Einfluß der modernen Produktionsweise mehr und mehr verlängert hat, bis es endlich zu jenem Extrem kam, bei welchem die Fabrikgesetzgebung einzugreifen anfing. Die Tendenz der Kapitalisten, eine längere Arbeitszeit zu erzwingen, wird vom Verfasser eines im Jahr 1870 erschienen "essax on trade and commerce" offen ausgesprochen. "Arbeiter sollten sich nie für unabhängig von ihren Vorgesetzten halten" ... "die Kur wird nicht vollständig sein, bis unsere industriellen Armen sich bescheiden, 6 Tage für dieselb Summe zu arbeiten, die sie nun in 4 Tagen verdienen." "Zur Minderung der Armentaxe, Förderung des gewerblichen Unternehmungsgeistes und  Herabdrückung des Arbeitspreises"  schlägt der Verfasser dieser Abhandlung die Errichtung eines "idealen Arbeitshauses" vor, welches ein "Haus des Schreckens" sein müsse, mit - 12 Stunden Arbeitszeit! "Dreiundsechzig Jahre später, jetzt MARX hinzu, "als das englische Parlament in vier Fabrikzweigen den Arbeitstag für Kinder von 13 bis 18 Jahren  auf 12 volle Arbeitsstunden herabsetze,  schien der jüngste Tag der englischen Industrie angebrochen. Erst seit dieser Wendung in der Tendenz der Gesetzgebung schwärmt das Kapital für "Freiheit der Arbeit", worunter man Freiheit der Ausbeutung und Schutzlosigkeit des Arbeiters versteht. Die Geschichtes des Kampfes der Kapitalisten gegen die Fabrikgesetzgebung unter dem Vorwand der Freiheit der Arbeit mag man bei MARX nachlesen. Das Resultat der ganzen Betrachtung ist einfach: So lange die Kapitalmacht als solche zu schwach war, den Widerstand des Arbeiters zu brechen, aber die Kapitalisten als Personen einflußreich genug, um arbeiterfeindliche Gesetze zu erzielen, machte man in Bevormundung; seit die Kapitalmacht sich hinlänglich entwickelt hat, um den Arbeiter ohne Beihilfe der Gesetzgebung zum Sklaven machen zu können, während gleichzeitig der Staat beginnt, diesem Übel entgegenzuwirken, seitdem macht man in "Freiheit der Arbeit". Es sind dieselben Tendenzen, dieselbe Art von Leuten, dieselben Interessen, welche ehemals für Bevormundung sprachen und jetzt für ihre "Freiheit" schwärmen. Der Zweck ist derselbe, nur das Mittel richtet sich nach den verschiedenen Umständen.