ra-2F. EulenburgR. LiefmannW. SombartR. Liefmann    
 
GUSTAV CASSEL
(1866-1945)
Theoretische Sozialökonomie
[3/4]

    Vorwort zur ersten Auflage
§ 1. Wesen der Wirtschaft
§ 2. Die Mittel der Bedürfnisbefriedigung
§ 3. Die Produktion
§ 4. Der fortdauernde Produktionsprozeß
§ 5. Die stationäre Wirtschaft
§ 6. Die gleichmäßig fortschreitende Wirtschaft

"Alle Dienste, die sich direkt auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse richten und den Konsumenten ohne Vermittlung materieller Güter zugute kommen, wurden als unproduktiv bezeichnet. Diese Klassifizierung ist entschieden zu verwerfen, weil sie leicht unklare Vorstellungen von einer höheren wirtschaftlichen Bedeutung der als "produktiv" bezeichneten Tätigkeiten erweckt. In dieser Auffassung liegt eine offenbare Verkennung der menschlichen Bedürfnisbefriedigung als Selbstzweck und eine wohl nicht offen proklamierte, aber doch immer latente und die ganze Wirtschaftslehre verwirrende Unterordnung der Menschen unter die materiellen Güter."

"Die großen Transportunternehmungen schließen meistens sowohl Personen- wie Gütertransport ein. Soll nun der Personentransport als unproduktiv angesehen werden, der Gütertransport dagegen als produktiv? Wie soll man dann die Arbeit der Lokomitivführer oder der Schiffsbesatzung klassifizieren? Die Arbeiter der städtischen Wasserleitung müßten wohl als  produktiv  gelten, da sie die Einwohner mit dem materiellen Gut Wasser versorgen. Dasselbst gilt für die Gasanstalt. Wie steht es dann mit dem Elektrizitätswerk? Es liefert doch kein materielles Gut, sondern lediglich den immateriellen Dienst der Beleuchtung oder Heizung und müßte also als  unproduktiv  klassifiziert werden."

"Auf jeder Stufe der Produktion wird die Mitwirkung schon vorhandener materieller Güter, sei es dauerhafter Güter oder Verbrauchsgüter, vorausgesetzt, und wenn nun auch die Entstehung dieser Güter mit in den Produktionsprozeß des Endproduktes eingerechnet werden soll, gelangt man niemals zum Anfangspunkt des ganzen Produktionsprozesses. In diesen Schwierigkeiten tritt das vollständig Hoffnungslose im Streben, den Produktionsprozeß bis an seinen technischen Anfang zurückzuverfolgen, sehr deutlich zutage."

Erstes Buch
Allgemeiner Überblick
über die Volkswirtschaft


Erstes Kapitel
Die Wirtschaft im allgemeinen

§ 3. Die Produktion

Die Knappheit eines materiellen Gutes ist zuweilen eine absolute, indem der vorhandene Vorrat des Gutes nicht vermehrt oder, wenn verbraucht, nicht ersetzt werden kann. Meistens ist es aber möglich, neue Güter derselben Art herzustellen und damit den Vorrat zu vermehren oder den Verbrauch zu ersetzen. Da ein Gut, das mit einem anderen vorhandenen oder verbrauchten identisch ist, offenbar nicht hergestellt werden kann, kann die Knappheit nur dann überwunden werden, wenn die einzelnen Güterexemplare derselben Güterart sich gegenseitig vertreten können, d. h. wenn sich das Bedürfnis lediglich auf eine gewisse Güterart, nicht auf ein individuell bestimmtes Gut richtet. Ein altes Gemälde kann wohl kopiert werden, ist aber das Verlangen wesentlich auf den Besitz des Originals gerichtet, so ist das Gemälde unersetzlich. Zuweilen hat ein Ding, as an sich nach dem allgemeinen Urteil ganz gut ersetzt werden kann, für den einzelnen Besitzer einen reinen Affektionswert, d. h. er kümmer sich nur um das ganz individuelle Exemplar und wird ein anderes, auch noch so ähnliches, keineswegs als einen Ersatz anerkennen.

Sehen wir von solchen Verhältnissen ab, so hängt die Ersetzbarkeit eines materiellen Gutes nur von der technischen Möglichkeit, ein ähnliches Gut herzustellen, ab. Diese Möglichkeit ist in Bezug auf den Boden und die in der Natur gegebenen Materialien nicht oder jedenfalls nur in bedingter Weise vorhanden. Im übrigen sind die meisten materiellen Güter, wie man sagt, reproduzierbar. Die Tätigkeit, durch welche neue Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hergestellt werden, nennen wir  Produktion

Die Produktion neuer materieller Güter ist selbstverständlich keine Erschaffung aus dem Nichts, sondern lediglich eine Umgestaltung der in der Natur vorhandenen Materialien. Die Materialien, dievon uns nicht produziert werden können oder jedenfalls nincht produziert werden, weil sie leichter direkt aus der Natur zu haben sind, nennen wir  Rohmaterialien  im eigentlichen Sinne. Die Beschaffung der Rohmaterialien aus der Natur setzt meistens eine mehr ode weniger ausgedehnte wirtschaftliche Tätigkeit voraus, die natürlich auch zur Produktion zu rechnen ist. Die Rohmaterialien, die ohne eine solche Tätigkeit gewonnen werden können, stehen der Wirtschaft im Überfluß zur Verfügung und gehören somit nicht zu den wirtschaftlichen Gütern. Betrachten wir die übrigen Materialien, die nur mit Mühe gewonnen werden können, so finden wir, daß einige von ihnen schon in der Natur in sehr knappen Mengen vorhanden sind und daß die Menschen gezwungen sind, mit denselben streng zu wirtschaften. Andere wieder, in der Tat die große Hauptmasse, sind wohl in der Natur im Überfluß vorhanden, die lokalen oder technischen Schwierigkeiten ihrer Gewinnung sind aber so groß, daß sie für die weitere Produktion nur in knappen Mengen zugänglich sind. So sind wohl Steinkohlen, wenn wir den ganzen Weltvorrat in Betracht ziehen, noch in Mengen vorhanden, die im Verhältnis zum heutigen Verbrauch als sehr reichlich angesehen werden müssen. Die Verteilung der Kohlenfelder aber ist sehr ungleichmäßig und manche Kohlenfelder liegen so weit weg, daß sie für die Befriedigung unseres Bedarfs vorläufig gar nicht in Betracht kommen oder bieten durch ihre Beschaffenheit der Kohlengewinnung zu große Schwierigkeiten. Aber auch aus den Kohlenfeldern, die tatsächlich abgebaut werden, können die Kohlen nur mit Mühe und unter gewissen Aufopferungen gewonnen werden. Aus solchen Gründen ist unsere Versorgung mit Rohmaterialien immer begrenzt. In dieser Begrenzung liegt dann auch eine bestimmte Begrenzung der Möglichkeit der Produktion materieller Güter.

Außer den Rohmaterialien brauchen wir für die Produktion auch die Benutzung dauerhafter Güter, die die Natur uns zur Verfügung stellt. Diese dauerhaften Güter pflegt man mit dem gemeinsamen Namen "Grund und Boden" zu bezeichnen, obwohl sie auch z. B. Wasserfälle und als Transportmittel dienende Ströme usw. mit einschließen. Die wichtigste aller Bodenarten, nämlich diejenige, die für die Landwirtschaft nutzbar ist oder nutzbar gemacht werden kann, ist, wenn wir die ganze Erde überblicken, in so großer Ausdehnung vorhanden, daß sie für den augenblicklichen Bedarf der Menschen wahrscheinlich ziemlich reichlich ist. Wenn trotzdem eine Knappheit solchen Bodens besteht, bedeutet das im wesentlichen, daß die Menschen lokale und technische Schwierigkeiten haben, sich den vorhandenen Boden zunutze zu machen. Da aber diese Schwierigkeiten durch eine produktive Tätigkeit in gewissem Umfang überwunden werden können, ist die Knappheit des landwirtschaftlichen Bodens keine absolute. Was vom landwirtschaftlichen Boden gilt, gilt in noch höherem Grad vom städtischen Baugrund, der wesentlich ein Ergebnis der produktiven Tätigkeit des Menschen ist. Die Knappheit der Bodenversorgung ist also wesentlich durch die Schwierigkeiten, denen die Nutzbarmachung des in der Natur gegebenen Bodens begegnet, bedingt. In dieser Knappheit liegt eine weitere selbständige Begrenzung der materiellen Güterproduktion.

Die Produktion der materiellen Güter erfordert ferner in der Regel auch die Anwendung von Maschinen, Fabrikgebäuden, Transportanlagen usw. und außerdem noch von verarbeiteten Materialien, Halbfabrikaten usw., also mit einem Wort von materiellen Gütern, die schon selbst das Ergebnis einer Produktion sind. Die Knappheit des in jedem Augenblick vorhandenen Vorrats solcher Güter bildet eine neue Beschränkung der Möglichkeit der Güterproduktion. Man kann einwenden, daß, da diese Produktionsmittel selbst produziert werden können, eine bestimmte oder selbständige Knappheit an ihnen nicht besteht. Die Produktion neuer materieller Produktionsmittel nimmt aber Zeit. Der jeweilige Vorrat derselben bildet also ohne Zweifel in jedem Augenblick eine bestimmte Begrenzung des Umfangs der Produktion.

Außerdem ist zu beachten, daß die Neigung, Produktionsmittel zu Produktion materieller Güter zu verwenden, die wieder nur der weiteren Produktion, nicht der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dienen sollen, selbstverständlich begrenzt sein muß und daß in dieser Begrenzung auch auf die Dauer eine Begrenzung der Produktionsfähigkeit im allgemeinen liegt. Diese Begrenzung ist, wie wir im folgenden finden werden, in der Knappheit derjenigen persönlichen Leistung, die wir als Spartätigkeit bezeichnen, begründet.

Schließlich bildet natürlich die Begrenzung der zur Verfügung stehenden menschlichen Arbeitskräfte eine selbständige und zwar sehr allgemeine Begrenzung der Produktionsmöglichkeiten.

Wir finden also, daß in der Knappheit der verschiedenen Produktionsmittel eine bestimmte Begrenzung der Möglichkeit, neue materielle Güter herzustellen, liegt. Durch die Produktion wird also die Knappheit der menschlichen Bedürfnisbefriedigung gar nicht aufgehoben, sondern nur auf die Knappheit der Produktionsmittel zurückgeführt.

Die Produktionsmittel, besonders die menschlichen Arbeitskräfte, können nun aber meistens in sehr verschiedenen Zweigen der Produktion verwendet werden. Diese vielseitige Verwendbarkeit der Produktionsmittel ist eine für die ganze menschliche Wirtschaft sehr bedeutungsvolle Tatsache. Die Knappheit einer besonderen Güterart ist dank derselben meistens nicht von einer absoluten Knappheit der zur Herstellung des Gutes dienlichen Produktionsmittel bedingt, sondern bestimmt sich nach der Menge der Produktionsmittel, die diesem besonderen Produktionszweig gewidmet werden und ist somit in hohem Grad relativ. Die relative Knappheit der verschiedenen Güterarten hängt dabei von der Verteilung der zur Verfügung stehenden Produktionsmittel auf die verschiedenen Produktionszweige ab. Diese Verteilung muß mit Rücksicht auf die Knappheit der verschiedenen Produktionsmittel einerseits und auf die Bedeutung der verschiedenen Bedürfnisse andererseits geregelt werden. Jede Wirtschaft wird unter solchen Umständen wesentlich ein Wirtschaften mit den Produktionsmitteln und eine vernünftige Leitung der Wirtschaft muß zu einem wesentlichen Teil in einer angemessenen Verteilung der Produktionsmittel auf die verschiedenen Verwendungen derselben bestehen. Eben deshalb, weil die Produktionsmittel so manchen verschiedenen Verwendungen zugewendet werden können, sind die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung nach ihrer relativen Zusammensetzung so überaus reich. Immer bildet jedoch die Knappheit der Produktionsmittel eine wesentliche Beschränkung der Gesamtheit der Bedürfnisbefriedigung.

Wir haben hier bei unserer Charakteristik derjenigen wirtschaftlichen Tätigkeit, die wir Produktion nennen, der Einfachheit halber zunächst nur die Herstellung materieller Güter, also einen Prozeß der Umwandlung und Veredelung von Materialien ins Auge gefaßt. Man kann auch die Produktion im engeren Sinne lediglich als eine solche Bearbeitung von Materialien auffassen. Vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt gibt es aber keinen Grund, den Begriff der Produktion so eng zu begrenzen. Der Transport von Materialien und der bearbeiteten Güter läßt sich zunächst für eine wirtschaftliche Auffassung nicht von der Bearbeitung derselben scheiden. Das erhellt vielleicht am besten, wenn man bedenkt, daß auch im Veredelungsprozeß selbst eine Menge von Transportleistungen vorkommt, so z. B. im Hochofenbetrieb und in der Land- und Forstwirtschaft. Faßt man die gesamte Herstellung materieller Güter für die Bedürfnisbefriedigung als einen einheitlichen Prozeß auf, dann können die unzähligen einzelnen Transportleistungen innerhalb dieses Prozesses nicht aus demselben ausgeschieden werden. Es gibt dann aber auch keine Veranlassung, die letzten Transportleistungen, die die fertigen Güter an die Konsumenten bringen, vom Produktionsprozeß auszuschließen. Diejenigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die unter verschiedenen Wirtschaftsorganisationen die Aufgabe haben, die Bewegung der Güter zwischen den einzelnen Teilen der Gesamtwirtschaft zu regeln und die unter modernen Verhältnissen als Handel bezeichnet werden, kann man wohl begrifflich vom Produktionsprozeß, der die Aufgabe hat, den Menschen die Mittel zu ihrer Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung zu stellen, aufgefaßt. Demgemäß ist die Produktion in ihrem Ganzen als eine besondere Seite der menschlichen Wirtschaft, nämlich als Gütererzeugung, zu betrachten. Die Wirtschaft ist jedoch immer noch der allgemeinere Begriff, denn sie umfaßt neben der Produktion auch die Regelung einerseits der Konsumtion, andererseits der persönlichen Leistungen, sie repräsentiert die Gesamtleitung, die die Bedürfnisbefriedigung und die Mittel dazu in Übereinstimmung bringt.

Die Produktion in diesem weiteren Sinne ist auch nicht auf die Beschaffung materieller Güter beschränkt. Auch alle der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dienenden Dienste, welche nach unserer obigen Begriffsbestimmung (§1) überhaupt als wirtschaftlich zu betrachten sind, müssen als produktive Tätigkeiten aufgefaßt und somit als integrierende Teile des gesamten Produktionsprozesses bezeichnet werden. Als produktive Tätigkeit ist demgemäß nicht nur die Tätigkeit der Landwirte und Fabrikanten und deren Arbeiter zu rechnen, sondern auch die Arbeit des häuslichen Dienstpersonals, der Schullehrer, der Ärzte usw. Alle nehmen sie mit ihren Leistungen am großen wirtschaftlichen Prozeß der Bedürfnisbefriedigung teil. Dieser Prozeß ist in Wirklichkeit so einheitlich, die einzelnen Glieder desselben greifen so vielfach ineinander ein, daß eine Ausscheidung der Dienste, die der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dienen, in den tatsächlichen Verhältnissen nicht begründet erscheint.

Die hier getroffene Bestimmung des Begriffs der Produktivität ist viel umstritten worden. Nach der klassischen Nationalökonomie war nur diejenige Arbeit, die sich in der Herstellung der materiellen Güter verkörpert, als produktiv zu betrachten. Alle Dienste, die sich direkt auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse richten und den Konsumenten ohne Vermittlung materieller Güter zugute kommen, wurden als unproduktiv bezeichnet. Diese Klassifizierung ist entschieden zu verwerfen, weil sie leicht unklare Vorstellungen von einer höheren wirtschaftlichen Bedeutung der als "produktiv" bezeichneten Tätigkeiten erweckt. In der Tat ist die Terminologie in derjenigen Auffassung begründet, nach welcher die Produktion materieller Güter der allgemeine Zweck der wirtschaftlichen Tätigkeit ist und also Dienste, die in materiellen Gütern nicht verkörpert werden, höchstens als "indirekt produktiv", d. h. nur in dem Maße produktiv sind, in welchem sie die materielle Güterproduktion in zweiter Linie befördern können, zu bezeichnen sind. In dieser Auffassung liegt eine offenbare Verkennung der menschlichen Bedürfnisbefriedigung als Selbstzweck und eine wohl nicht offen proklamierte, aber doch immer latente und die ganze Wirtschaftslehre verwirrende Unterordnung der Menschen unter die materiellen Güter. Ob ein Dienst die materielle Güterproduktion fördert, ist nach unserer Auffassung für die Beurteilung der Frage, ob er als wirtschaftlich und produktiv zu betrachten sei, völlig gleichgültig; das wesentliche ist, daß der Dienst ein menschliches Bedürfnis direkt oder indirekt befriedigen hilft. Sobald das der Fall ist, muß er, mit der in § 1 angegebenen Beschränkung, als wirtschaftlich und produktiv bezeichnet werden.

Erst in dieser Weise gelangen wir zu einer haltbaren Begrenzung sowohl des Begriffs der Wirtschaft, wie auch desjenigen der Wirtschaftslehre. Die Einwendung, daß mit einer solchen Begriffsbestimmung der Wirtschaft alle möglichen Disziplinen, wie z. B. Medizin, Pädagogik, Kunst, usw., mit in den Bereich der Wirtschaftslehre hineingezogen werden würden ist nicht stichhaltig. Eine auf die materielle Güterproduktion beschränkte Wirtschaftslehre würde auch nicht das enorme Wissensgebiet der modernen Technik der materiellen Güterproduktion in sich aufnehmen. Die Wirtschaftslehre kann die gesamte auf Ermöglichung der Bedürfnisbefriedigung zielende menschliche Tätigkeit in Betracht ziehen, ohne jemals auf das, was man generell als die Technik der Bedürfnisbefriedigung bezeichnen könnte, weiter als für die rein wirtschaftliche Untersuchung nötig ist, einzugehen. Jede menschliche Tätigkeit, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zielt, hat ihre wirtschaftliche Seite und liegt insofern innerhalb der Domäne der Wirtschaftswissenschaft. Diese Wissenschaft braucht nie zu befürchten, ihre natürlichen Grenzen zu überschreiten, solange sie sich nur streng an die wirtschaftliche Seite der menschlichen Tätigkeiten hält.

Eine Aufteilung der wirtschaftlichen Dienste in produktive und unproduktive, ja nach ihrer Beziehung zu den materiellen Gütern, würde auch zu den sonderbarsten Unterscheidungen führen. Alle persönlichen Leistungen, die sich auf Veredelung, Transport und Distribution der materiellen Güter beziehen, müßten natürlich unter allen Umständen als produktive gerechnet werden. Es ist schwer zu verstehen, wie man dann die häuslichen Dienste ausschließen könnte, da z. B. der wichtigste unter ihnen, das Kochen, doch als eine fortgesetzte Güterveredelung angesehen werden muß. Man mag nur versuchen, sich im einzelnen vorzustellen, wie eine Aufteilung der Arbeit unserer Dienstboten in "produktive" und "unproduktive", je nach ihrem Verhältnis zu den materiellen Gütern, aussehen würde! Die Forderung, daß die Beziehung zwischen den Diensten und den Gütern eine direkte sein soll, könnte kaum aufrechterhalten werden. In einem großen Fabrikbetrieb werden z. B. zahlreiche Arbeiten verrichtet und Veranstaltungen getroffen, die mit der eigentlichen Produktion nur in sehr indirektem Zusammenhang stehen, aber für die Arbeiter wichtig sind, z. B. Reinigung der Fabrikräume, Aufsaugen von Staub, Anordnung von Bädern, usw. Es würde schwer fallen, die hierfür nötigen Leistungen nicht unter die produktiven Dienste einzuschließen. Auch die Leistung des Fabrikinspektors und des Fabrikarztes müßten dann als "produktiv" gerechnet werden. Wo ist dann die Grenze? Die großen Transportunternehmungen schließen bekanntlich meistens sowohl Personen- wie Gütertransport ein. Soll nun der Personentransport als unproduktiv angesehen werden, der Gütertransport dagegen als produktiv? Wie soll man dann die Arbeit der Lokomitivführer oder der Schiffsbesatzung klassifizieren? Die Arbeiter der städtischen Wasserleitung müßten wohl als "produktiv" gelten, da sie die Einwohner mit dem materiellen Gut Wasser versorgen. Dasselbst gilt für die Gasanstalt. Wie steht es dann mit dem Elektrizitätswerk? Es liefert doch kein materielles Gut, sondern lediglich den immateriellen Dienst der Beleuchtung oder Heizung und müßte also als "unproduktiv" klassifiziert werden. Daß eine Scheidung der Dienste in produktive und unproduktive, je nach ihrem Verhältnis zu den materiellen Gütern, so großen Schwierigkeiten begegnet, deutet wohl an, daß dieser Unterschied keiner von wirtschaftlichem Gesichtspunkt aus wesentlichen Artverschiedenheit der Dienste entspricht, sondern ein künstlicher und unfruchtbarer ist. Wer die Konsequenz desselben so weit treibt, daß er die "unproduktiven" Dienste vollständige aus dem Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeiten und der Wirtschaftswissenschaft ausschließt, kommt zu offenbaren Absurditäten.


§ 4. Der fortdauernde Produktionsprozeß

Es ist in der Wirtschaftslehre übliche gewesen, die Produktion gewissermaßen von einem technologischen Gesichtspunkt aus zu betrachten, als ob es die Aufgabe der Wirtschaftslehre wäre, den Ursprung der materiellen Güter zu erforschen und die verschiedenen Stadien ihrer Umwandlung im Produktionsprozeß zu verfolgen, um schließlich ihren Verbrauch zu betrachten. Diese Betrachtungsweise ist ohne Zweifel dafür verantwortlich, daß man die nicht in materiellen Dingen verkörperten Dienste nicht als produktiv oder wirtschaftlich hat gelten lassen wollen und sich dadurch in unnötige Schwierigkeiten verwickelt hat. Sie hat oft die ganze Systematik der Handbücher der Wirtschaftswissenschaft bestimmt, indem man sich verpflichtet fühlte, die technisch aufeinanderfolgenden Stufen des Produktionsprozesses auch in der Wirtschaftslehre in derselben Ordnung in Betracht zu ziehen und demgemäß mit der Urproduktion zu beginnen und mit der Konsumtion zu schließen. Sie ist endlich und vor allem auch für das vollständig schiefe Bild des wirtschaftlichen Produktionsprozesses, seiner Bedingungen und Mittel, das in der Wirtschaftslehre noch zum großen Teil vorherrscht, verantwortlich.

Da also die ökonomische Wissenschaft den Produktionsprozeß als die technische Geschichte des Entstehens der einzelnen Güter zu schildern suchte, mußte auch der technische Ursprung jedes beim Produktionsprozeß mitwirkenden materiellen Gutes erforscht werden und jedes Produkt sich also in letzter Linie in Arbeit und von der Natur frei dargebotene Materialien auflösen lassen. Dieses Ergebnis wurde einer Theorie zugrunde gelegt, nach welcher die Arbeit das einzige Produktionsmittel ist und aller Reichtum von der Arbeit geschaffen wird. Wir werden uns später mit dieser Theorie, die in der ökonomischen Wissenschaft eine ebenso große Rolle wie in den sozialpolitischen Programmen gespielt hat, näher zu beschäftigen haben. Hier sei nur hervorgehoben, wie stark diese Theorie von der hier in Frage stehenden technischen Betrachtungsweise der Produktions gestützt werden mußte.

Die Tatsache, daß jede Produktion Zeit nimmt, ist natürlich für jede Wirtschaft und damit auch für die Wirtschaftswissenschaft von sehr großer Bedeutung. Dies hat die Wissenschaft zur Konstruktion des Begriff der "Produktionsperiode" veranlaßt und besonders die Zinstheoretiker haben sich um die Ausbildung dieses Begriffs viel Mühe gegeben. Solange man aber an der hier beschriebenen Auffassung der Produktion festhält, muß die Rolle der Zeit in der Produktion sehr dunkel und unbestimmbar bleiben, denn es läßt sich überhaupt kein Zeitpunkt angeben, wo die in dieser Weise aufgefaßte Produktion eines materiellen Gutes beginnt. Auf jeder Stufe der Produktion wird die Mitwirkung schon vorhandener materieller Güter, sei es dauerhafter Güter oder Verbrauchsgüter, vorausgesetzt, und wenn nun auch die Entstehung dieser Güter mit in den Produktionsprozeß des Endproduktes eingerechnet werden soll, gelangt man niemals zum Anfangspunkt des ganzen Produktionsprozesses. In diesen Schwierigkeiten tritt das vollständig Hoffnungslose im Streben, den Produktionsprozeß bis an seinen technischen Anfang zurückzuverfolgen, sehr deutlich zutage.

Eine wirtschaftliche Betrachtung der Produktion muß von der grundlegenden Tatsache ausgehen, daß die Bedürfnisbefriedigung der Menschheit oder einer geschlossenen Gruppe von Menschen einen immer fortdauernden Prozeß darstellen muß. Dieser Prozeß muß in seinem Ganzen der Gegenstand der wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchung der Produktion sein, er muß nach seinem Inhalt in einem gegebenen Augenblick dargestellt werden, die Bedingungen dafür, daß er so, wie er in diesem Augenblick aussieht, auch unverändert fortgesetzt werden könne, müssen festgestellt werden. Diese Bedingungen bilden eben die notwendige Voraussetzung für eine nach Umfang und Inhalt unverändert fortgesetzte Bedürfnisbefriedigung und stellen somit grundlegende Faktoren der Wirschaft dar. Gegebenenfalls müssen auch die Bedingungen eines gewissen Wachstums der Wirtschaft untersucht werden, diese sind als grundlegende Faktoren einer in einer gewissen Entwicklung begriffenen Wirtschaft zu betrachten.

Bei dieser Betrachtungsweise wird kein Raum gelassen für eine Erforschung der Umstände, unter welchen die heute vorhandenen materiellen Güter entstanden sind oder der Kräfte, die dabei mitgewirkt haben. Diese Fragen gehören alle der Geschichte an und können wohl wirtschaftsgeschichtlich von Interesse sein, wirtschaftlich sind sie aber völlig belanglos oder haben jedenfalls keine direkte Bedeutung für die Wirtschaftsführung. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Geschichte eines alten Gebäudes oder der Ursprung eines Gemäldes auf die Schätzungen dieser Güter seitens der jetzt lebenden Menschen und damit auch auf ihr wirtschaftliches Handeln einen wichtigen Einfluß ausüben mögen. Solche Momente der Vergangenheit wirken indessen lediglich durch das Zwischenglied der Gefühle der jetzt lebenden Menschen und kommen natürlich bei einer Untersuchung der Möglichkeit, die Bedürnisse durch Produktion zu befriedigen, überhaupt nicht in Betracht.

Wir stoßen hier auf das allgemeine und für jede wirtschaftliche Betrachtung grundlegende Prinzip, welches schon in unserer Begriffsbestimmung der Wirtschaft liegt und dessen Bedeutung in unseren folgenden Untersuchungen immer wieder hervortreten wird, daß die Wirtschaft wesentlich eine auf die Zukunft gerichtete Tätigkeit ist, für welche die Vergangenheit rationellerweise keine Rolle spielt. Wie ein materielles Gut, das jetzt existiert, entstanden ist, ist also, schon dieser unserer allgemeinen Auffassung des Wesens der Wirtschaft zufolge, prinzipiell gleichgültig. Diese Beobachtung zeigt noch einmal, wie vollständig unfruchtbar die bisher vorherrschende Betrachtung der Produktion mit ihrer Analyse der technischen Entstehungsgeschichte der Güter für die Wirtschaftswissenschaft sein muß.

Im wirklichen Leben ist die Produktion ein immer fortdauernder Prozeß, der in seinen einzelnen Teilprozessen immer abgeschlossen und immer wieder von neuem begonnen wird, der also nach einer gewissen Zeit wesentlich dasselbe Bild wie jetzt zeigt, sofern nicht der Umfang des Prozesses zugenommen oder der Prozeß durch Veränderung der Produktionsmethoden Wandlungen erfahren hat. Der gesamte Produktionsprozeß teilt mit anderen Worten nicht die Bewegung des Materials, welches bei der Produktion auf immer höhere Stufen der Veredlung hinaufsteigt, bis es schließlich als fertiges Gut aus dem Produktionsprozeß scheidet. Der Produktionsprozeß hat nicht in dem Sinne wie die Veredelungsgeschichte des konkreten Stücks Materie einen Anfang und ein Ende, sondern kann bei einer immer fortlaufenden Güterproduktion selbst unverändert bleiben. In einem solchen Produktionsprozeß findet man in einem gegebenen Augenblick ein Gut auf allen seinen Veredelungsstufen vertreten. Der Rohstoff, das Halbfabrikat, das fertige Produkt sind auf einmal nebeneinander vorhanden und zwar in solchen Mengen, daß die Produktion fortgesetzt werden kann, wenn auch vielleicht in etwas wechselndem Umfang. Die Zusammensetzung dieser Gütermenge erfährt durch die Produktion eine Veränderung nur insofern, wie der Produktionsprozeß selbst verändert wird.

Freilich gibt es in der Wirklichkeit auch Ungleichmäßigkeiten des fortlaufenden Produktionsprozesses. Für die eigentliche Industrie, z. B. die Eisenindustrie, trifft wohl das hier gegebene Bild des Produktionsprozesses zu. Neues Eisenerz und neue Kohle werden täglich und stündlich aus den Fundstätten der Natur gefördert, Roheisen wird gleichzeitig in einem stetigen Strom hergestellt und in Stahl umgewandelt und zur selben Zeit befinden sich die verschiedenen Eisen- und Stahl produkte auf allen möglichen Stadien ihrer Vollendung. Der Produktionsprozeß kann hier unter stabilen Verhältnissen so vollständig gleichmäßig ablaufen, daß Veränderungen seines Inhalts, wenigstens wenn ein größeres Industriegebiet überblickt wird, praktisch nicht ins Gewicht fallen. Nich so in der Landwirtschaft. Da ist die ganzes Produktion so von den Jahreszeiten abhängig, daß sie nur einmal im Jahr wieder begonnen wird. Die Gütermenge, die sich im Produktionsprozeß befindet, ändert also im Laufe des Jahres ihre Zusammensetzung. Überblickt man aber eine längere Periode, kann man von den wechselnden Phasen des Produktionsprozesses und damit von den Schwankungen der Zusammensetzung der Produktmenge absehen und die Aufmerksamkeit auf die Produktion als einen fortlaufenden, vielleicht unveränderlichen, vielleicht Veränderungen in Bezug auf Umfang und Methoden unterworfenen Prozeß konzentrieren. In noch höherem Grad verschwinden die verschiedenen Phasen der landwirtschaftlichen Produktion, wenn man die gesamte Weltproduktion, z. B. von Weizen, in Betracht zieht. Weizen wird nunmehr in so verschiedenen Zonen der nördlichen und südlichen Halbkugel angebaut, daß die ungleichmäßige Verteilung der Ernten über das Jahr, obwohl natürlich nicht ganz überwunden, so doch ziemlich weit ausgeglichen worden ist. Diese Ausgleichung wird in den folgenden Veredelungsstufen des Weizens fortgesetzt. Der europäische Weizenbedarf wird durch einen praktisch kontinuierlichen Strom von Weizenladungen das ganze Jahr hindurch mit ziemlicher Gleichförmigkeit befriedigt. Die durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingten wechselnden Phasen des wirtschaftlichen Produktionsprozesses sind selbstverständlich von der Wirtschaftswissenschaft, wenn sie zu den Einzelheiten gelangt, mit zu berücksichtigen und auf ihre Wirkung zu prüfen. Wenn man abe rum einen ersten Überblick über die Wesentlichkeiten der Wirtschaft zu gewinnen, eine durch Abstraktion hinreichend vereinfachte und gleichzeitig das innerste Wesen der wirtschaftlichen Vorgänge möglichst treu widerspiegelnde Wirtschaft der Untersuchung zugrunde legen will, dann läßt sich kaum bezweifeln, daß der kontinuierliche Produktionsprozeß, wie er hier charakterisiert ist, die richtige Abstraktion ist.

Dieser Produktionsprozeß ist aber noch in seiner der Wirklichkeit entsprechenden Allgemeinheit ziemlich kompliziert. Für die Wissenschaft ist es angemessen, zunächst zwei vereinfachte Fälle, die für eine wahre Auffasung wesentlicher wirtschaftlicher Tatsachen und Vorgänge besonders wichtig sind, zum Gegenstand einer eingehenderen Untersuchung zu machen. Diese Fälle sind erstens der Fall des stationären Produktionsprozesses, zweitens der Fall des gleichmäßig wachsenden Produktionsprozesses. Das Studium des ersten Falles wird uns die Bedingungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts, sofern dieses von der Produktion abhängt, zeigen und uns instand setzen, einige für jede Wirtschaft grundlegende Erscheinungen mit größtmöglicher Klarheit begriffsmäßig festzustellen. Das Studium des zweiten Falles wird die Bedingung des quantitativen wirtschaftlichen Fortschritts unter den einfachsten Voraussetzungen klarmachen und damit die genaue Charakterisierung einiger Erscheinungen, die speziell mit dem wirtschaftlichen Fortschritt verbunden sind, ermöglichen.
LITERATUR Gustav Cassel Theoretische Sozialökonomie, Erlangen/Leipzig 1923