ra-2Friedrich MuckleDie Arbeiterfrage    
 
ADOLF HELD
Zur sozialen Geschichte Englands
von 1760 - 1832

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    Einleitung
§ 1. Die Grundbesitzer
§ 2. Handelspolitik
§ 3. Die unteren Klassen
§ 4. Arbeitergesetze
§ 5. Armen- und Heimatgesetze
§ 6. Stocken der Gesetzgebung
Vorbemerkung über die neuen politischen Ideen

"Es begannen schon im Anfang des 17. Jahrhunderts die Klagen, daß die obligatorische Armenunterstützung den Müßiggang befördere und daß das Armengesetz ungenügend ausgeführt werde. Im Jahre 1622 wurde in vielen Kirchspielen keine Armenunterstützung gewährt, sondern die Armen wurden fortgejagt und das Land mit ihnen überschwemmt. 1628 war es notwendig zu bestimmen, daß die Aufseher Armenkinder allen Personen, nicht nur einzelnen Gewerben zuweisen können und daß die Aufseher einen Gewerbebetrieb  lediglich  zur Beschäftigung von Armen, nicht zu ihrem Gewinn einrichten dürfen."

"Nach dem Gesetz 8 und 9 von Wilhelm III. mußten Personen, die Armenunterstützung empfangen, ein Merkmal auf der rechten Schulter tragen. Unverheiratete konnten Heimatrecht nicht durch einjährigen Dienstkontrakt, sondern nur durch wirkliches Aushalten eines einjährigen Dienstes erwerben. Die Pflicht, Armenkinder als Lehrlinge anzunehmen, wurde verschärft."

Einleitung

§ 5. Armen- und Heimatgesetze

Ehe wir die Entwicklung und Ausführung dieses Gesetzes in der Folgezeit schildern, müssen wir die korrespondierende Armengesetzgebung besprechen, welche schon wegen des Arbeitszwangs mit der Gewerbeordnung zusammenhängt und welche ebenfalls unter ELISABETH eine für lange Zeit maßgebende Zusammenfassung erfuhr.

Schon 1376 wurden vagabundierende Bettler bestraft. Eine Verpflichtung der Heimatgemeinde zum Unterhalt der Armen bestand nach EDEN schon 1378 und 1388; im letzteren Jahr (RICHARD II.) wurde auch zuerst bestimmt, daß arbeitsunfähige Bettler an ihrem letzten Wohnort oder Geburtsort bleiben sollen. Die Armen waren, wie aus einer Bestimmung von 1391 hervorgeht, hauptsächlich auf Kirchenmittel angewiesen.

Das Verschwinden der Leibeigenschaft und das Aufkommen von Handel und Gewerbe mit ihren freien Arbeitern schufen nicht die Armut und das Elend, wohl aber die Notwendigkeit einer Armenpflege durch öffentliche Mittel.

1530 begegnen wir der durchgreifenden Scheidung zwischen arbeitsunfähigen (aged and impotent) und arbeitsfähigen (vagabonds and idle persons) Armen, nachdem schon 1388 und 1495 zwischen "beggars able to labour" und "beggars impotent to serve" unterschieden war. Erstere bekamen Lizenzen zum Betteln in bestimmten Bezirken, letztere wurden zur Arbeit an ihren letzten Wohnort gezwungen. Bald trat durch HEINRICH VIII. (1535) an die Stelle der Lizenzen zum Betteln die Armenunterhaltung in den Kirchspielen durch Almosen, welche eingesammelt werden und zu denen die Geistlichen ermahnen mußten; dasselbe Gesetz verfügt die Zwangs-Lehrlingsschaft von Armenkindern. Durch die Aufhebung der Klöster und die Säkularisation des Kirchenguts wurde die Armennot größer und es folgten allerlei harte Gesetze gegen Vagabunden etc. ELISABETH machte die Almosen obligatorisch und erließ verschiedene andere Gesetze, z. B. in Bezug auf Errichtung von Korrektionshäusern, bis ELISABETH (1601) endlich ihre und die Gesetze ihrer Vorgänger zusammenfaßte. Da dieses Gesetz von ähnlich weittragender Bedeutung wie das sogenannte Lehrlingsgesetz ist und bis in unser Jahrhundert herein die Grundlage der Armenpflege blieb, so soll auch sein Inhalt exzerpiert werden.

Der Titel des aus 20 Artikeln bestehenden Gesetzes ist: An Act for the Relief of the Poor.

Artikel 1 führt die Armenaufseher ein, welche von den Friedensrichtern für jedes Kirchspiel alljährlich ernannt werden. Sie bestehen aus den Kirchenvorstehern (churchwardens) und je nach der Größe des Kirchspiels aus 2 - 4 wohlhabenden Hausbesitzern. Dieselben sollen, unter Zustimmung von mindestens zwei Friedensrichtern, Kinder von Leuten, die ihre Kinder nicht behalten und ernähren können, zur Arbeit bringen; ebenso erwachsene Personen ohne Unterhaltsmittel und ohne ständige, den Unterhalt gewährende Arbeit. Dann sollen sie Steuern erheben, um Rohstoffe verschiedener Art zu kaufen, mit denen die Armen beschäftigt werden sollen, um die Arbeitsunfähigen zu unterstützen und Kinder als Lehrlinge anzustellen. Die Steuern werden auf alle  Bewohner  und Realitätenbesitzer in der Gemeinde, wie es den Aufsehern geziemend erscheint, verteilt. Die Aufseher müsen mindestens allmonatlich einmal Sitzung und Beratung halten, am Schluß des Jahres Rechenschaft ablegen (Artikel 2).

Ist ein Kirchspiel zu arm, um seine Armenlast zu tragen, so können die Friedensrichter anderer Kirchspiele in derselben Hundertschaft, ist letztere zu arm, in derselben Grafschaft heranziehen. (Artikel 3)

Säumige Steuerpflichtige werden exequiert [herangezogen - wp] und eventuell in das Common goal [Schuldturm - wp] gesperrt. Mit der gleichen Strafe werden solche belegt, die die aufgetragene Arbeit verweigern und Armenaufseher, die keine Rechenschaft ablegen - alles unter Autorität, bzw. durch Spruch der Friedensrichter (Artikel 4). Für die arbeitsunfähigen Armen sollen die Armenaufseher auf Kosten der Kirchspiele oder Hundertschaften etc. Häuser bauen (Artikel 5). Die Friedensrichter können die Aszendenten und Kinder arbeitsunfähiger Armer zum Unterhalt der Armen zwingen, wenn sie dazu fähig sind (Artikel 7). Die den Friedensrichtern in den Grafschaften zustehenden Befugnisse werden in inkorporierten Städten von den dortigen Majors etc. ausgeübt (Artikel 8). Die folgenden Artikel befassen sich mit der Regelung verschiedener Kompetenzverhältnisse, der Verwendung der Geldstrafen, den Extrasteuern der Kirchspiele für die armen Gefangenen von King's Bench und Marchalsea, sowie für Hospitäler; mit Geldstrafen, Appellation an die Quartalsitzungen, sowie einer Menge anderer Einzelheiten und Formalitäten. Der letzte Artikel endlich spricht aus, daß das Gesetz nur probeweise bis zum Ende der nächsten Parlamentssitzung gelten solle - es wurde durch CHARLES I. (1627) und CHARLES I. (1640) erneuert.

Das Gesetz macht also die Armenlast principaliter [grundsätzlich - wp] zu einer Last der Kirchspiele, jedoch so, daß die nächsten Verwandten zuerst verpflichtet sind, daß sich arme und reiche Kirchspiele gegenseitig bis zu einem gewissen Grad ausgleichen müssen; es verwandelt die Almosen in Steuern, es legt die Ausübung der Armenpflege in die Hand der Aufseher, die von den Friedensrichtern ernannt und beständig beaufsichtigt sind. Es stellt den Grundsatz auf: Arbeitszwang gegen Arbeitsfähige, Unterstützung für Arbeitsunfähige.

Die Auflage der Armensteuer auf die einzelnen Kirchspielbewohner steht einfach im Ermessen der Aufseher unter Zustimmung von Friedensrichtern - bei den Extrasteuern für Gefängnisse und Hospitäler kann die (6 Pence pro Woche und Kirchspiel nicht übersteigende) Gesamtsumme von den Kirchspieleingesessenen unter ihnen selbst durch Einverständnis verteilt werden. - Das Gesetz spricht nicht davon,  welche  Armen jedem einzelnen Kirchspiel zur Last fallen sollen - es meint offenbar, daß jedes Kirchspiel die in seinen Grenzen vorhandenen Armen zu versorgen hat. - Man muß bedenken, daß das Lehrlingsgesetz alle Arbeiter zu dauernd ansässigen Leuten zu machen strebte und daß es Gesetze gegen die Vagabunden gab, so daß zunächst die Kirchspiele Überflutung durch fremde Arme nicht sehr zu befürchten hatten - engherziger Ängstlichkeit der Kirchspiele und den in denselben herrschenden Grundbesitzern zu schmeicheln lag aber nicht im Geist eines starken Königtums von ELISABETH.

Unter JAKOB I. wurden die Gesetze gegen Landstreicher und Vagabunden verschärft, unter Königin ANNA jedoch wieder gemildert. Ebenso wurde durch JAKOB I. (1604) die Lohnfestsetzungsbefugnis der Friedensrichter auf  alle  Arbeiter ausdrücklich ausgedehnt und zwar so, daß die Friedensrichter die Löhne in Bezirks- und Grafschaftssitzungen feststellen und der Sheriff sie veröffentlichen solle, ohne vorherige Sendung an den Lordkanzler. Doch durfte kein Tuchmacher als Friedensrichter die Löhne für die in der Tuchindustrie beschäftigten Arbeiter festsetzen. Letztere Bestimmung ist ausdrücklich  nur  für die Tuchmacher gegeben, deren Gewerbe frühzeitig besondere Aufmerksamkeit seitens der Gesetzgebung erfuhr, zumal es sich um eine Industrie handelte, die frühzeitig Export trieb und im Großen betrieben wurde. Hier mag vielleicht die exzeptionelle Bestimmung dadurch hervorgerufen worden sein, daß Tuchfabrikanten häufiger als Gewerbemeister Friedensrichter wurden. Zugleich wurde der Besuch von Wirtshäusern beschränkt. Auch zum Armengesetz folgten viele Zusätze. JAKOB I. verfügt die Errichtung von Korrektionshäusern für müßige Leute in allen Grafschaften; denn die im ELISABETH-Act zuerst erwähnten Korrektionshäuser, in denen die Müßigen beschäftigt, die Liederlichen bestraft werden und die sich zumeist durch das Produkt der geleisteten Arbeit selbst unterhalten sollten, waren eine notwendige Ergänzung der Gesetzgebung von ELISABETH.

Es begannen schon im Anfang des 17. Jahrhunderts die Klagen, daß die obligatorische Armenunterstützung den Müßiggang befördere und daß das Armengesetz ungenügend ausgeführt werde. Im Jahre 1622 wurde in vielen Kirchspielen keine Armenunterstützung gewährt, sondern die Armen wurden fortgejagt und das Land mit ihnen überschwemmt. 1628 (CHARLES I.) war es notwendig zu bestimmen, daß die Aufseher Armenkinder allen Personen, nicht nur einzelnen Gewerben zuweisen können und daß die Aufseher einen Gewerbebetrieb  lediglich  zur Beschäftigung von Armen, nicht zu ihrem Gewinn einrichten dürfen. Besonders deutlich zeigt die Verordnung CHARLES' I. von 1630, wie ungenügend das Gesetz ausgeführt wurde.

Der wichtigste Zusatz, den das Armengesetz im Laufe der Zeit erfuhr, war das Heimatgesetz: An Act for the better relief of the Poor of this Kingdom von 1662. Das Gesetz hatte verschiedene Vorläufer 1388, 1494 und 1597, in welchen Jahren schon der Rücktransport von Vagabunden nach ihrem letzten Wohnort oder auch nach ihrem Geburtsort verfügt wurde. Unzweifelhaft waren auch nähere präzise Bestimmungen über die Verteilung der Armenlast unter verschiedenen Kirchspielen notwendig. Nichtsdestoweniger zeugt das Heimatgesetz von 1662 von der erstarkten Tendenz der Gentry in den einzelnen Bezirken,  sich  von der Armenlast zu befreien und da das Heimatrecht im Laufe der Zeit mit weit mehr Energie und Leidenschaft ausgeführt wurde als die allgemeinen Bestimmungen des Armengesetzes selbst, so verkam dabei die ganze Armenpflege. Das Gesetz wurde erlassen in einer Zeit, in der der allgemeine Reichtum bedeutend gewachsen war. Die Löhne waren gestiegen, der Zinsfuß gesunken, Handel und Gewerbe hatten einen gewaltigen Aufschwung genommen. Die Soldaten der republikanischen Armee, denen zu Ehren die Pflicht der 7-jährigen Lehrlingszeit aufgehoben wurde, kehrten sich dem produktiven Gewerbe zu und fanden ohne Schwierigkeit lohnende Arbeit - und eben in dieser wirtschaftlichen und spezielle gewerblichen Fortschritts gelang es dem Großgrundbesitz-Interesse ein kleinlich reaktionäres Gesetz durchzusetzen. Es war dieselbe Zeit, der CHARLES II. (1670) bestimmte, daß Korn stets gegen die Zölle der Tonnage and Poundage Act ausgeführt werden könne ohne Rücksicht auf den inländischen Preis, während die Korn-Einfuhrzölle erhöht und (1663) für die zweite Jahreshälfte hohe Vieh-Einfuhrzölle auferlegt wurden.

Ich lasse nun das Heimatgesetz im Auszug, den Artikel 1 (mit Auslassungen) im Wortlaut folgen:
    "In Erwägung, daß die Bedürfnisse, die Zahl und die beständige Zunahme der Armen sehr groß sind und außerordentliche Lasten verursachen, was von einigen Mängeln der Gesetzgebung in Bezug auf das Heimatsrecht der Armen und vom Mangel gehöriger Maßregeln zur Regulierung der Unterstützung und Beschäftigung der Armen in ihren gesetzlichen Heimatgemeinden herrührt;

    in Erwägung, daß dadurch manchen zu unverbesserlichen Landstreichern werden, andere Hungers sterben;

    in Erwägung, daß ältere Gesetze und Statuten in Bezug auf Ergreifung von Landstreichern und Vagabunden und für das Wohl der Armen nicht getreulich ausgeführt werden;

    in Erwägung, daß infolge von Mängeln des Gesetzes arme Leute nicht verhindert sind, von einerm Kirchspiel in das andere zu wandern und daher streben, sich in solchen Kirchspielen niederzulassen, wo der größte Reichtum ist, die ausgedehntesten Gemeindeländereien, um Häuser darauf zu errichten und die meisten Wälder zum Verbrennen und Zerstören sind;

    in Erwägung, daß die Leute, wenn sie das alles verzehrt haben, dann in ein anderes Kirchspiel wandern und zuletzt Landstreicher und Vagabunden werden -

    soll es gesetzlich erlaubt sein, daß auf Klage der Kirchenvorsteher oder Aufseher eines Kirchspiels von einem Friedensrichter innerhalb von 40 Tagen nach erfolgter Niederlassung einer solchen Person in einem Besitztum unter dem Wert von 10 Pfund jährlich, je zwei Friedensrichter - Personen, die voraussichtlich dem Kirchspiel, in das sie einziehen, zur Last fallen werden, ausweisen und in das Kirchspiel spedieren [verfrachten - wp] dürfen, in dem diese Personen zuletzt heimatberechtigt waren durch Geburt, Haushaltung, Aufenthalt, Lehrlingsschaft oder Dienstverhältnis von mindestens 40 Tagen, es sei denn, daß diese Personen eine nach der Ansicht der Friedensrichter genügende Sicherheit für Entschädigung des Kirchspiels geben."
Gegen einen solchen Spruch von zwei Friedensrichtern ist Appellation an die nächsten Quartalssitzungen nach Artikel 2 gestattet. Artikel 3 verfügt, daß Arbeiter zwecks Übernahme bestimmter Arbeiten ihren Heimatort verlassen dürfen, wenn ihnen durch Atteste des geistlichen Kirchenvorstehers und Armenaufsehers bezeugt war, daß sie ein Wohnhaus haben, in dem sie Familienangehörige zurücklassen und daß sie Einwohner sind. Sie erwerben aber an dem Ort, an dem sie arbeiten, kein Heimatrecht, können vielmehr nach Vollendung der Arbeit oder, wenn sie arbeitsunfähig werden, zurückspediert, im Weigerungsfall in ein Korrektionshaus oder öffentliches Arbeitshaus eingesperrt werden. Kirchenvorstände und Aufseher der Heimatgemeinde, welche die Aufnahme verweigern, können vor den Assisen [mittelalterliche Rechtsversammlung - wp] belangt werden.

Danach konnte sich jede Gemeinde aller Zuwandernden innerhalb von 40 Tagen wieder entledigen - vorausgesetzt, daß der Zuwandernde ein Heimatrecht in England besaß. Die Strenge des Ausweisungsrechts war also auf Ausländer nicht anwendbar.

Die 40 Tage Aufenthalt, durch die man Heimatrecht gewann, sollten seit JAKOB II. erst von der Anmeldung bei den Kirchenvorstehern und Aufsehern des neuen Wohnorts, seit WILHELM und MARIA erst von der Veröffentlichung dieser Anmeldung in der Kirche ab gerechnet werden. Indem so der Erwerb von Heimatrecht durch Aufenthalt ganz in das Belieben der neuen Gemeinde gestellt wurde, wurden dafür andere Rechtsgründe für Erwerbung von Heimatrecht eingeführt, nämlich
    - Zahlung von Steuern
    - Übernahme eines öffentlichen Amtes im Kirchspiel während eines Jahres
    - Durchmachen einer Lehrlingsschaft,
    - einjähriges Dienstverhältnis
woran sich durch Gerichtspraxis die weiteren Titel für Erwerb des Heimatrechts durch Geburt und Heirat schlossen.

Da durch das Heimatrecht nicht bestimmte Gemeinden verpflichtet wurden, bestimmte Arme zu unterhalten, sondern jeder Arbeiter, ehe er wirklich arm war, ausgewiesen werden konnte, so artete das Heimatrecht in volle Aufhebung der Freizügigkeit für Vermögenslose aus. Der Erwerb des Heimatrechts durch einjähriges Dienstverhältnis statt durch 40-tägigen Aufenthalt durchkreuzte sogar direkt die Tendenzen des sogenannten Lehrlingsgesetzes, indem, wie schon ADAM SMITH bemerkt, infolgedessen einjährige Dienstkontrakte seltener wurden, die früher die Regel waren und welche das Gesetz wesentlich begünstigte. Da die Ausweisung auch erfolgen konnte und wirklich erfolgte, weil jemand bald Kinder bekommen wird, die der Gemeinde zur Last fallen, so schreckte das vom Heiraten ab und bewirkte eine Vermehrung der unehelichen Kinder. Die Frage, ob jemand in einer bestimmten Gemeinde heimatberechtigt war oder nicht, war in vielen Fällen außerordentlich schwer zu beantworten und gab zu zahllosen widerlichen Rechtsstreitigkeiten Veranlassung, in deren Verfolgung sich Scharfsinn und Willenskraft der Gemeindehäupter erschöpften. Das Recht, fremde Arbeiter, sowie sie arbeitsunfähig werden, auszuweisen, bewirkte eine unmenschliche Behandlung von Kranken. Da die Beschränkung der Freizügigkeit die Armenlast direkt erhöhte, indem häufig Personen nur deshalb unterstützungsbedürftig wurden, weil sie sich anderswo keine Arbeit suchen konnten, wurde das auswärtige Arbeiten mit Attesten erleichtert, indem bestimmt wurde, daß solche Personen nur ausgewiesen werden dürfen, wenn sie wirklich, nicht wenn sie nur wahrscheinlich dem Kirchspiel zur Last fallen. Dafür aber konnten Personen mit Attesten in ihrem neuen Wohnort auf keine Weise heimatberechtigt werden, es sei denn durch ein Anwesen von 10 Pfund jährlicher Rente oder durch Ausübung eines Kirchspielamtes. Lehrlinge und Diener von Personen mit Attesten können kein Heimatrecht erwerben. Nach dem Gesetz 8 und 9 von WILHELM III. mußten Personen, die Armenunterstützung empfangen, ein Merkmal auf der rechten Schulter tragen. Unverheiratete konnten Heimatrecht nicht durch einjährigen Dienstkontrakt, sondern nur durch wirkliches Aushalten eines einjährigen Dienstes erwerben. Die Pflicht, Armenkinder als Lehrlinge anzunehmen, wurde verschärft.

Erst durch GEORGE III. wurde das Recht, Personen, die voraussichtlich dem Kirchspiel zur Last fallen werden, auszuweisen, gänzlich abgeschafft. Bis dahin bewegte sich die Armengesetzgebung vornehmlich in Künsteleien am Niederlassungsrecht (GNEIST) und die ganze Armenpflege sank zu einem gemeinschädlichen Wettkampf von Kirchspielinteressen herab. Ein Act GEORGE II. mußte speziell die Ausweisung von Lehrlingen bekämpfen, da es immer häufiger vorkam, daß Kirchspiele zu ihrer Erleichterung Kinder als Lehrlinge nach auswärts schickten und die auswärtigen Kirchspiele dann ihrerseits wieder schikanöse Maßregeln ergriffen. Der Zwang zur Arbeit gegen Arbeitsfähige wurde nur sehr lässig ausgeübt, man begnügte sich mit der bequemen Erhebung und Verteilung der Armensteuer, deren Gesamtertrag 1776 auf 1 530 800 Pfund Sterling gestiegen war, um von da an noch weiter rapide zu steigen. Eine reichliche Literatur voll Klagen über das Unwesen in der Armenpflege entstand seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Betreffs der Verteilung der Armenlast unter die Bewohner des Kirchspiels blieb es bei der vagen Bestimmung des Gesetzes ELISABETH, welche durch die Praxis zu einer proportionalen Besteuern des Einkommens der Inhaber von Liegenschaften, Häusern, Zehnten etc. wurde. Es wurden zwar vor GEORGE III. noch Gesetze über das Armenwesen erlassen, die aber die Selbständigkeit der lokalen Selbstverwaltungsbehörden und das Niederlassungsrecht nicht alterierten, so daß sie gleich den früheren Gesetzen unter GEORG III. selbst vergebens gegen die herrschenden Mißbräuche ankämpften. Von diesen Gesetzen ist zu erwähnen: 13. ANNE stat. 2, c 26 (1713), ein Gesetz, das den Begriff der Landstreicher und Vagabunden erweitert und Razzias gegen dieselben anordnet etc., ferner 5 GEORGE I. c 8 (1718), wonach die Konfiskation der Güter von Ehemännern und Eltern, die ihre Frauen, bzw. ihre Kinder verlassen, zur Entlastung des Kirchspiels angeordnet wird, endlich 9. GEORGE I., c 7 (1722): danach sollte, um eine Verschwendung der Mittel zu verhüten, kein Friedensrichter Unterstützung eines Armen ohne eidliche Bekräftigung eines gerechtfertigten Grundes anordnen; es sollte Buch über alle Armen geführt werden; einzelne oder verbundene Kirchspiele dürfen und sollen Arbeitshäuser (1) kaufen oder mieten, so daß die den Eintritt verweigernden Armen des Unterstützungsrechtes verlustig werden. Außerdem beschäftigt sich das Gesetz mit dem Niederlassungsrecht, indem unter anderem bestimmt wird, daß man durch Kauf eines Anwesens nur heimatsberechtigt wird, wenn der bona fide [im guten Glauben - wp] bezahlte Kaufpreis mindestens 30 Pfund Sterling beträgt und nur so lange man auf dem Anwesen wohnt.


§ 6. Stocken der Gesetzgebung

Das Unwesen in der Armenpflege steigerte sich aufs Höchste unter GEORGE III. Seit dieser Zeit wurden auch die Versuche gesetzlicher Reform häufiger, die wir nicht im Einzelnen verfolgen. Hier war nur zu zeigen, daß die erleuchtete und am Ende des 16. Jahrhunderts zeitgemäße Gesetzgebung der ELISABETH einige Grundsätze von dauerndem Wert enthielt, für die das rechte Verständnis allmählich abhanden kam. Sie löste das Problem des gleichmäßigen Schutzes von Freiheit und Ordnung für ihre Zeit; sie hätte weiter entwickelt werden müssen in dem Sinne, daß die Ordnungen unter wachsender Aufhebung der lokalen Gebundenheit ausgebildet worden wären - statt dessen verschärft das Gesetz aber die Gebundenheit an die Scholle, während gleichzeitig Anarchie eintrat. Engherzige Klassenpolitik machte sich anstelle eines wahrhaft staatlichen Geistes breit. Auch die Arbeitshäuser bewirkten nur vorübergehend eine Besserung der Zustände und eine Verminderung der Armenlast. Sie wurden Manufakturunternehmungen auf Rechung der Armenkasse, beschäftigten jede Art schlechter Arbeiter und entmutigten die guten - kurz sie wurden zu Nationalwerkstätten im Kleinen (siehe EDEN I, Seite 269f). Daß die Strenge gegen die Eltern unehelicher Kinder und die Findelhäuser (unter GEORGE II.) nicht helfen konnten, ist selbstverständlich. Das Gebot der Veröffentlichung der Armensteuerauflagen (1744) zeugt nur von der bisherigen Verwirrung und Rechtlosigkeit auf diesem Gebiet. Die beständigen Gesetze gegen Landstreicher und Vagabunden (so 17. GEORGE II., c 5, das Prämien auf das Ergreifen von Vagabunden setzt) sind auch ein beredtes Zeugnis für die Unwirksamkeit der Armengesetze.

Gleichzeitig mit der Lässigkeit der Friedensrichter und Armenaufseher in Ausführung des Zwangs zur Arbeit gerieten auch die Lohnfestsetzungen durch die Friedensrichter vielfach außer Gebrauch. ADAM SMITH bezeichnet sie in Buch I als ganz abgekommen. Der Zwang zur 7-jährigen Lehrlingszeit wurde auf Städte mit Korporationsrechten und Marktflecken und auf die Gewerbe, die zur Zeit des Erlasses des Gesetzes von ELISABETH bestanden, beschränkt. Die mangelhafte Durchführung des Gesetzes in diesen Punkten lag namentlich im Interesse derjenigen Gewerbe, in denen sich Produktion in einem größeren Maßstab zu entwickeln begann, sie untergrub aber die Sicherheit der Stellung des Arbeiters. Dies und die Verknöcherung der Zünfte führte schon frühzeitig, wie namentlich LUJO BRENTANO nachweist, zu Koalitionen der Arbeiter, deren Tendenz zumeist auf Erhaltung der alten zugleich sie schützenden Ordnungen gerichtet ist.

All das trat unter GEORG III. erst recht deutlich hervor; der Prozeß der Auflösung der alten Ordnungen, die man fruchtlos in falscher Richtung zu stärken und verschärfen versuchte, begann aber schon mit dem 17. Jahrhundert. Eine irgendwie bemerkenswerte Weiterentwicklung des Arbeiter rechts  fand seit dem Lehrlingsgesetz der ELISABETH überhaupt nicht statt. Zahlreich waren die Zollgesetze, deren protektionistischer Charakter seit der Zeit der STUARTs immmer schärfer hervortrat; auf die eigentliche Gewerbe- und Arbeiterpolizei beziehen sich aber nur wenige Gesetze, wie z. B. das wohltätige Verbot des Trucksystems (der Lohnzahlung in anderen Waren als Geld). Das 1. ANNE stat. 2, c18, führt im Geist von ELISABETH als Motiv an, "Unterdrückung der Arbeiter zu verhüten". Andere unter die Gewerbepolizeit fallende Gesetze beförderten den Abfluß müßiger Arbeitskräfte nach den Kolonien oder in den Schiffsdienst. 7. GEORG I., c 34 (1725) verbietet Koalitionen der Tuchmacher, erhöht aber zugleich die Geldstrafe für Truck. 20. GEORG I. c 34 (1747) überträgt die Entscheidung in allen Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern den Friedensrichtern,  auch  wenn in diesem Jahr keine obrigkeitliche Lohntarifierung stattgefunden hat. 22. GEORG II. c 27 (1749) dehnt die Koalitionsverbote auf alle Arbeiter aus - lauter Gesetze, welche die Mängel der älteren Gesetzgebung nicht durch prinzipielle Reformen, sondern meist nur durch fruchtlose Versuche größerer Strenge zu heben suchten.

Nur die wichtigsten Teile der eigentlich sozialen Gesetzgebung konnten in dieser Einleitung etwas eingehender besprochen werden. Wir sehen, der regierende Großgrundbesitz mißbrauchte seine Macht, um seinen Besitz zu befestigen und auszudehnen, um sich Kornzölle zu verschaffen, um die übermäßig dezentralisierte Verwaltung, namentlich auf dem Gebiet des Armen- und Gewerbewesens, verknöchern und verkommen zu lassen.

Es kam dazu, daß die regierende Gentry keineswegs bedachte war, die Mittelklassen politisch zu erziehen. Vielmehr ließ sie die Pflichten des Dienstes in der Jury und der Miliz einschlummern, dachte nicht an Reform der Municipalverfassungen und herrschte umso unbedingter auf politischem Gebiet gegenüber dem erwerbenden Bürgertum.

In glorreichem Kampf war es der englischen Nation gelungen, den Absolutismus fern zu halten. Die aristokratische, wenngleich freie Verfassung, die seit der Entsetzung der STUARTs unbedingt zu Recht bestand, litt aber am Gebrechen, daß der Egoismus einer der herrschenden Klassen sich in wachsendem Maß Geltung verschaffte.

Dennoch hat diese regierende Gentry eben noch unter GEORG III. die größten politischen Taten vollbracht. Wir erlebten noch in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts die großartigste Entfaltung parlamentarischer Intelligenz, die gewaltigste Aktion nach Außen. Die öffentlichen Zustände litten an großen Gebrechen - indessen ein erleuchteter Staatsmann, ein energischer König hätte bei dem unerschöpflichen Fond politischer Tüchtigkeit in der Gentry und gesetzlicher Freiheitsliebe im ganzen Volk durch eine Reformgesetzgebung von ähnlicher kraft wie die der ELISABETH war, ohne durchgreifende Umwälzungen alle gerechtfertigten Wünsche befriedigen können, denn nirgends war unerträglicher Druck, nirgends waren unheilbare Mißstände.

In der Tat hat auch England weder am Ende des vorigen Jahrhunderts, noch 1830 oder 1848 eine Revolution erlebt; aber es haben sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts erst in kleinen Anfängen, dann immer gewaltiger Massenbewegungen und Agitationen kämpfender Parteien und Stände entwickelt, die allmählich die sozialen und politischen Zustände des Landes völlig umgestalteten. Es kam keine Revolution; es genügte aber auch nicht die eigene und freie Einsicht der herrschenden Klassen und das aufgeklärte Anknüpfen an die alten Traditionen.

Diese langsam und gesetzlich vollzogenen, aber doch gewaltigen Umwälzungen haben ihren Grund nur sehr teilweise in der Verknöcherung der alten politischen und sozialen Institutionen. Die hauptsächlich treibenden Mächte waren das Eindringen demokratischer Ideen und die Entwicklung der Großindustrie.

Eine geistige Bewegung, die sich zu den Traditionen der Nation in Widerspruch setzte und eine materielle Entwicklung, die mit unwiderstehlicher Kraft alle Verhältnisse umgestaltete, so daß sie von Vielen selbst als eine Revolution bezeichnet wird - sie waren es, die den Charakter des neuen Englands bestimmten.
LITERATUR Adolf Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands von 1760 - 1832, Leipzig 1881
    Anmerkungen
    1) Die Arbeitshäuser als obligatorische Einrichtung empfahl schon HALE in seinem 1683 veröffentlichten, aber früher geschriebenen Werk "A discourse touching Provision for the Poor". Die Gesetzgebung hatte sich auch schon früher mit Arbeitshäusern beschäftigt und die Errichtung einzelner Arbeitshäuser war durch Gesetz verfügt worden, z. B. 1703 in Worcester, 1707 in Plymouth, wo sogar Unterricht der armen Kinder eingeführt wurde.