ra-2A. CarnegieJ. RuskinF. OppenheimerM. J. BonnK. W. C. Schuez    
 
EDGAR JAFFÉ
(1866-1921)
Der treibende Faktor in der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung

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"Der Einzelhandel ist das Gebiet, auf dem der Konkurrenzkampf mit äußerster Schärfe entbrennt, auf dem die Ausschaltung des Unternehmergewinns am schnellsten vor sich geht, das Streben nach Erhaltung eines relativen Monopols zu einem Ringen um Sein und Nichtsein wird, wo das System der freien Konkurrenz seine merkwürdigsten und charakteristischsten Blüten treibt: Die Anreizung der Kauflust des Publikums durch besondere fortwährend erneute Anstrengungen. Hierher gehört vor allem das Gebiet der modernen  Reklame  in allen ihren Ausgestaltungen: weiße Wochen, grüne Wochen, rote Wochen, 95-Pfennig-Tage, spaltenlange Annoncen über billige Ausverkäufe, Rabatte, Sonderrabatte, Spezialrabatte, das Zugabesystem (Geschenke wertloser Artikel an die Käufer anderer)oder: wer ein Pfund Tea kauft, erhält das Teeservice gratis), die Anlockartikel (werden unter Einkaufspreis verkauft, in der Hoffnung, daß der Käufer andere Artikel ebenfalls nimmt, die er überzahlt). Aufs engste mit der Reklame verbunden ist das System der  Markenartikel  (Zigaretten!). Man gibt Tausende für die Reklame einer bestimmten Marke aus und erreicht dadurch, daß das Publikum diese Marken überall fordert und alle Einzelhändler sie führen müssen, ob sie wollen oder nicht."

Die Innehaltung eines bestimmten Abstandes zwischen den konkurrierenden Unternehmen und der eigenen ist endlich  drittens  dadurch möglich, daß man auf Märkten auftritt, auf denen noch kein Konkurrent vorhanden ist oder auf denen man wenigstens vor anderen weitgehendste Vorteile genießt.

Das führt dazu, daß alle Länder der Welt nach neuen Abnehmern durchstöbert werden, bis die Produkte der Solinger Kleineisen- oder der Manchester Baumwollindustrie in die entlegendsten Winkel der ganzen Welt getragen werden. Wenn man als erster die Gefahren der zentralafrikanischen Tropenzone oder der brasilianischen Hinterwälder überwindet, so kann man für seine Waren - falls sie das Gefallen der Abnehmer erregen - Produkte eintauschen, deren Wert, auf den europäischen Markt gebracht, alle Unkosten eventuell hundertfach decken. Kommt aber erst die Konkurrenz dazu, so werden die Gewinne sehr schnell auf einen den Produktions- und Transportkosten entsprechenden Preis sinken.

Schon in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts erzählte dem Schreiber der Reisende eines großen englischen Exporthauses, daß er nach einer mühevollen Reise ins Innere Kolumbiens (von der Küste aus einen Tag Bahnfahrt, 14 Tage Dampferfahrt und 8 Tage Maultierreise) an einen kleinen Platz kam, wo er im einzigen Hotel nicht weniger als sechs seiner intimsten Konkurrenten vorfand und von einer anderen besonders konkurrenzlustigen Manchester Exportfirma wurde zu jener Zeit als bezeichnende Anekdote erzählt, daß sie alle Inseln des Großen Ozeans, bewohnte wie unbewohnte, mit Agenten besetzt habe, deren Aufgabe es sei, den Schiffbrüchigen, die an jene Inseln geworfen wurden, die neuesten Baumwollstoffe anzubieten.

Eventuell genügt aber auch das Innehaben irgendeines  besonderen  Vorteils auf einem solche Markt zur Sicherung größerer Gewinne. So beruhte bekanntermaßen die ehemals überragende Stellung des größten englisch-schottischen Importhauses in Schanghai auf seiner Kapitalkraft, die ihm ermöglichte, eine Anzahl schneller Dampfer zu halten, die von Singapur, dem damaligen Endpunkt der europäischen Kabellinie, regelmäßig die wichtigsten Handelsnachrichten dem betreffenden Haus um eine Reihe von Tagen oder selbst Wochen früher brachten, als die Konkurrenz, die auf die selten fahrenden und langsameren Postdampfer angewiesen war, sie erhielt. Mit der Ausdehnung des Kabels bis Schanghai fiel dieses Monopol in sich selbst zusammen. - In ähnlicher Weise soll ja der Grundstock zum Vermögen des Londoner Hauses ROTHSCHILD dadurch gelegt worden sein, daß dessen Inhaber die Nachricht vom Sieg bei Waterloo 24 Stunden eher erhielt als die englische Regierung und so in der Lage war, an der Börse entsprechend zu operieren.

Eine weitere  (vierte)  Möglichkeit relativer Monopolstellung liegt in der Verfügung über technische Produktionsvorteile, die eine Herstellung gleicher Quantitäten zu billigeren Preisen oder größerer Mengen oder besserer Qualitäten zu gleichen Preisen ermöglichen.

Seitdem aber das technische Wissen infolge der Einrichtung von Hochschulen, Polytechniken und ähnlichen Instituten in weitgehendem Maße Gemeingut geworden ist, seitdem dadurch die meisten der früber so ängstlich gehüteten Fabrikationsgeheimnisse jedem neuen Konkurrenten zugänglich gemacht werden, sind derartige Vorteile nur aufgrund von Patentrechten oder aufgrund großer Kapitalkraf, die die Einführung neuer kostspieliger Produktionsmethoden ermöglicht und von denen die weniger kapitalkräftigen ausgeschlossen sind, denkbar.

Aber beide Voraussetzungen sind nicht dauernder Art: Patente laufen ab oder werden überholt, wie schon oben erwähnt. Kapitalkraft aber ist heute kein monopolistisch ausschlaggebender Faktor mehr, seitdem die Form der Aktiengesellschaft auf der einen, die großartige Konzentration des Leihkapitals in unseren Effektenbanken auf der anderen Seite, jedem vertrauenswürdigen Unternehmer die Möglichkeit großzügiger Kapitalverwendung bieten. Wo dies nicht ausreicht, da hilft die überall zum Durchbruch kommende Konzentrationstendenz nach, hinter der als treibende Kraft ja nichts anderes steht, als die Notwendigkeit, gewisse Vorteile, die die Großen genießen, auch den Kleineren zugänglich zu machen, dadurch, daß eine Reihe dieser Kleinen sich zu einem neuen, konkurrenzfähigen Großbetrieb zusammenschließen. Auch alle Vorteile, die eine nur im Großbetrieb mögliche Verbesserung der  Organisation sei es im Absatz, sei es in der Produktion, bietet, fallen in diese gleiche Richtung.

Die im vorhergehenden unter drittens und viertens erwähnten Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung einer relativen Monopolstellung beziehen sich auf das Gebiet der industriellen Produktion (technischer Fortschritt) und auf dasjenige des Exporthandels im großen (Ausdehnung auf immer neue Märkte). Es bleibt nun noch ein drittes Gebiet übrig: der innere Handel. Der Absatz im eigenen Land oder auf Märkten, die schon intensiv bearbeitet worden sind, das große Gebiet des  Detailhandels. 

Hier handelt es sich also nicht so sehr um die Gewinnung neuer, bisher noch unberührter Absatzmöglichkeiten, sondern vor allem um den Kampf um ein bereits besetztes Gebiet. Hier ist naturgemäß die Lage am schwierigsten; die Erringung einer auch nur vorübergehenden Monopolstellung scheint auf den ersten Blick ausgeschlossen, zunächst was die Preisfestsetzung anlangt. Der einzelne Detaillist kann gegenüber seinem Konkurrenten nicht auf einen Preisvorteil rechnen, denn die Fabrikanten und Grossisten müssen alle ihre Abnehmer zu ungefähr gleichen Preisen bedienen. Ferner gibt es im Detailhandel kein während einer längeren Dauer aufrechtzuerhaltendes Monopol für gewisse Warenklassen oder Muster. Der Fabrikant solcher Spezialitäten hat das größte Interesse daran, diese an möglichst  viele  Detaillisten zu verkaufen, um seinen Absatz zu steigern. Außerdem werden seine eigenen Konkurrenten schon dafür sorgen, ähnliche Muster und Stoffe auf den Markt zu bringen wie er, so daß der Detaillist, der nicht von Fabrik Nr. 1 kaufen kann, doch in der Lage ist, seinen dort kaufenden Nachbarn an der Ausnutzung jener Vorzugsstellung zu verhindern, indem er ähnliche Dinge aus anderen Fabriken bezieht und zu gleichen oder niedrigeren Preisen anbietet.

Der Detailhandel ist dann auch das Gebiet, auf dem der Konkurrenzkampf mit äußerster Schärfe entbrennt, auf dem die Ausschaltung des Unternehmergewinns am schnellsten vor sich geht, das Streben nach Erhaltung eines relativen Monopols zu einem Ringen um Sein und Nichtsein wird, wo das System der freien Konkurrenz seine merkwürdigsten und charakteristischsten Blüten treibt.

Verschiedene Möglichkeiten bieten sich in diesem Kampf:
    a) Ausnutzung aller Vorteile des Großbetriebs: Einkauf im großen und deshalb zu billigsten Preisen, Erhöhung des Umsatzes durch Vereinigung möglichst vieler, ja sogar aller nur denkbaren Artikel in einem Laden, Herabsetzung der Mieten und Bodenpreise durch äußerste Ausnutzung des Raumes (Verkauf in allen Etagen), Herabsetzung der Arbeitskosten pro verkaufte Einheit durch Verwendung vieler, möglichst billiger Arbeitskräfte, kurz das Prinzip des  modernen Großbazars. 

    b) Im Gegensatz zum erstgenannten: Das  System der Spezialisierung. 

    Man beschränkt sich auf einen oder ganz wenige Artikel, versucht in diesen billiger zu kaufen, den Geschmack des Publikums besser zu trefen, durch hervorragende Qualität die zahlungsfähigeren Abnehmer heranzuziehen, für die es unter ihrer Würde ist, im Ramschbazar zu kaufen. Es ist das System des modernen Spezialgeschäfts, das aber auf die Dauer weit erfolgereicher erscheint, als dasjenige des Großbazars, neben dem sich jene auf die Dauer nicht mehr halten können.

    c) Die Anreizung der Kauflust des Publikums durch besondere fortwährend erneute Anstrengungen. Hierher gehört vor allem das Gebiet der modernen  Reklame  in allen ihren Ausgestaltungen: weiße Wochen, grüne Wochen, rote Wochen, 95-Pfennig-Tage, spaltenlange Annoncen über billige Ausverkäufe, Rabatte, Sonderrabatte, Spezialrabatte, das Zugabesystem (Geschenke wertloser Artikel an die Käufer anderer) "given away with a pound of tea" (wer ein Pfund Tea kauft, erhält das Teeservice gratis), die Anlockartikel (werden unter Einkaufspreis verkauft, in der Hoffnung, daß der Käufer andere Artikel ebenfalls nimmt, die er überzahlt), die sogenannten Coupon-Tage, eine Erfindung der "Grand Magazines du Louvre", die ursprünglich an solchen Tagen die übriggebliebenen Seidenreste billig verkauften, dann aber fanden, daß es sich lohnte Woche für Woche Tausende von ganzen Stücken Seidenzeug zu Resten zu zerschneiden, da diese von der Damenkundschaft höher bezahlt wurden als die reguläre Stückware (die Spekulation auf diejenigen, "die nicht alle werden").

    Aufs engste mit der Reklame verbunden ist das System der  Markenartikel  (Zigaretten!). Man gibt Tausende für die Reklame einer bestimmten Marke aus und erreicht dadurch, daß das Publikum diese Marken überall fordert und alle Einzelhändler sie führen müssen, ob sie wollen oder nicht.

    d) Die Erhaltung eines entsprechenden Gewinnüberschusses durch die Darbietung immer  neuer  Waren,  neuer  Muster,  neuer  Qualitäten, deren Preise den gewünschten Unternehmergewinn enthalten und die über Bord geworfen werden, sobald oder vielmehr ehe die Konkurrenz etwas gleiches oder ähnliches bietet und hierdurch die Preise drückt, den Gewinn ausschaltet.
Wie anders doch früher! Da wurden die gleichen bewährten Stoffe, Muster und Qualitäten jahraus jahrein gekauft und getragen, da war aber auch kein Unternehmergewinn möglich, denn die Konkurrenz unter den verschiedenen Handwerkern sorgte dafür, daß sich die Preise so stellten, daß lediglich Materialkosten und Arbeitslohn in ihnen enthalten waren. Damals war aber Unternehmergewinn auch nicht erforderlich, das Streben des Handwerkers gint nicht auf Gewinn, auf Überschuß, auf Vermögensansammlung, sondern er war zufrieden, wenn er mit seiner Hände Arbeit sein standesgemäßes Auskommen fand. Diesem entsprach genau das, was er als Lohn seiner Arbeit aus dem Verkaufspreis erzielte: das war der "goldene Boden" des alten Handwerks.

Heute dagegen beruth die Wirtschaft auf Profit, auf Überschuß über die Kosten, zu welchen letzteren die eigene Arbeitskraft ebenso zu rechnen ist wie der Mietwert des Ladens im eigenen Haus und die Verzinsung des eigenen Kapitals. Dieser Überschuß ist aber nur möglich, wenn es gelingt, immer neue Artikel auf den Markt zu bringen, auf die die Konkurrenz ihren Preisdruck noch nicht hat ausüben können.

Die Folgen dieses Systems fühlen wir auf allen Seiten. Will man eine Ergänzung eines im vorigen Jahr gekauften Eßservices, so erhält man die Antwort: "Das führen wir nicht mehr, das wird nicht mehr gemacht." Frägt man "warum?", so heißt es: "das Publikum will stets etwas Neues" - aber die richtige Antwort wäre: "Am alten Artikel ist nichts mehr zu verdienen, den haben schon alle anderen Geschäfte auch."

Hierher gehört auch die Erscheinung der fortwährenden Übertragung von Mustern und Formen wertvoller Artikel auf wertlose: die Muster, die heute auf Seidenwaren gehen, erscheinen morgen auf Wolle, übermorgen auf Baumwolle; die Muster und Formen, die heute das feinste Porzellan schmücken, finden wir morgen auf Fayence [Tonwaren mit porösen Scherben - wp] und billigem Steingut, um so dem minderwertigen Artikel die Anziehungskraft des besseren zu geben. Alles um, wenn auch nur auf ganz kurze Zeit, eine Insel "relativen Monopols" zu gewinnen.

Nichts kann vielleicht eine bessere Jllustration geben für den Geist, dessen Walten wir hier andeuten möchten, als die folgenden tatsächlichen Erlebnisse des Schreibers dieser Zeilen mit seinem früheren Geschäftsteilhaber: er war der führende Großhändler im größten Manufaktur-Exportgeschäft der englischen Textilindustrie, ein Mann, der ohne Kapital nach England kam und als vielfacher Millionär starb. Dabei hat er eigentlich niemals etwas anderes getan, als die  gleiche  Ware zu verkaufen wie seine Konkurrenten. Niemals hat er sich auf eine Spezialität geworfen, stets hat er nur geliefert, was seine Konkurrenten schon vor ihm lieferten, nie hat er einen  neuen  Markt erschlossen, stets nur diejenigen, die vor ihm dagewesen waren, aus dem Markt, aus der Kundschaft verdrängt.

Und wie hat er das ermöglicht? Wo er die Ware der Konkurrenz fand, da hat er eine ähnliche an ihre Stelle gesetzt, die um einige Prozent billiger und minderwertiger war als die andere, aber stets so, daß die eine die andere ersetzen konnte. Zählten die Baumwolltuche, die bisher gangbar waren, 19 = 19 Fäden auf den Viertel-Quadratzoll, so verkaufte er Tuche mit 19 = 18, war die alte Ware 70 cm breit, so offerierte er solch in 68 cm. Folgte die Konkurrenz seinem Vorbild und kam mit einer noch niedrigeren Qualität, so lieferte er wiederum eine geringere und so fort, bis am Schluß die Tuche so minderwertig waren, daß sie den Ansprüchen des Marktes nicht mehr entsprechen konnten. Dann aber setzte er sich aufs hohe Pferd, teilte seinen Kunden mit, daß die Konkurrenz die Waren so verschlechtert habe, daß die besten Qualitäten jetzt nur noch Ausschuß seien und gab den Rat, jetzt eine erheblich bessere Ware zu beziehen, natürlich zu entsprechend höheren Preisen, um so "völlig konkurrenzlos" dazustehen und dann - ging dasselbe Spiel von neuem an!

Seinen Höhepunkt erreichte das System, als ein südamerikanischer Kunde einen besonders großen Auftrag auf eine bewährte Qualität erteilte und unser Freund ihm schreiben ließ, wer werde den Auftrag zur Hälfte in der alten, zur Hälfte in einer etwas billigeren Qualität zur Ausführung bringen. Als der Kunde aber antwortete, er wolle das nicht, denn er brauche den  ganzen  Auftrag in der bewährten guten Ware, da schrieb er zurück, es solle seinem Wunsch entsprochen werden, aber er werde nun die billigere Qualität dem schärfsten Konkurrenten des Kunden anbieten, denn er müßte seinen Ruf aufrechterhalten, stets der billigste zu sein!

Und warum? Weil - ihm selbst vielleicht unbewußt - der ganzen Handlungsweise das Prinzip zugrunde lag: Profit ist nur so lange möglich, als ich etwas  anderes  bringe, als das, was der Konkurrent gleichzeitig liefern kann.

Kann es uns im Hinblick auf diese überragende Bedeutung des steten Wechsels für den ganzen Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wundernehmen, wenn diese sich eine Einrichtung geschaffen hat, die eine ganze Seite unseres Kulturlebens beherrscht und die doch keinen anderen Sinn, keine andere Aufgabe hat, als diesen steten Wechsel in Permanenz zu erklären?

Es ist die  Mode. 

Ohne hier zu berücksichtigen zu können, welche historischen Gründe  anderer  Art für die Entstehung dessen, was wir heute Mode nennen, vielleicht ausschlaggebend gewesen sind, können wir doch, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, behaupten, daß das, was die Mode heute  ist,  mit all den merkwürdigen kulturellen und sonstigen Problemen, die mit ihr zusammenhängen, nur ausreichend zu erklären ist, als ein bewußtes Mittel jener kapitalistischen Notwendigkeit.

Jeder, der sich mit diesen Dingen beschäftigt, weiß, oder sollte wenigstens wissen, wie die moderne Mode  gemacht  wird. Sie entsteht natürlich nicht dadurch, daß einige mehr oder minder schöne und mehr oder minder tugendhafte Damen auf dem Rennen zu Auteuil oder Longchamps in neuen Toiletten auftreten, die so bezaubern sind, daß alle Welt nur noch den einen Wunsch hat: In den gleichen Toiletten oder in solchen, die  aussehen  als seien sie die gleichen und die dabei noch bedeutend weniger kosten, zu erscheinen.

In Wirklichkeit ist jede neue Mode, ebenso wie der ganze Apparat, mit dem sie in Szene gesetzt wird, ein Produkt der allerintensivsten kapitalistischen Spekulation und noch dazu einer sehr riskanten Spekulation. Damit die erwähnten Dämchen in den erwähnten Toiletten auftreten können, sind Vorbereitungen erforderlich, die sich auf Monate, ja zum Teil auf ein oder mehrere Jahre zurück erstrecken. Da müssen Jahr für Jahr neue Muster entworfen, neue Stoffe und Herstellungsweisen erfunden werden, es müssen vielleicht neue Maschinen aufgestellt werden, die die Herstellung der betreffenden Stoffe in großen Mengen und zu billigen Preisen ermöglichen; es müssen Muster dieser neuen Stoffe den Großhändlern vorgelegt und daraufhin die Ware von diesen bestellt werden, sie muß alle Stadien der Fabrikation durchlaufen, vom Fabrikanten zum Grossisten, von diesem zum Einzelhändler, von hier zu den grandes toilettes der neuen Saison verarbeitet zu werden. Und dann kommt der große Moment, wo WORTH oder POIRET oder wie sie sonst heißen mögen, diese Toiletten ausstellen, wo Hunderte von Abgesandten der Londoner und Petersburger, Berliner oder Wiener Großgeschäfte sich auf geraden oder krummen Wegen Abbildungen und Muster dieser "derniéres nouveautés" [letzte Neuheiten - wp] zu verschaffen suchen. Dann erst kommt der Tag, an dem die neue Mode "erscheint", dann entscheidet sich, wer richtig und wer falsch kalkuliert hat, wer das Neueste liefern und dementsprechend hohe Preise und Gewinne einheimsen kann, während der kurzen Spanne Zeit, bis der minder schneidige Konkurrent den Vorsprung einholt und den Gewinn drückt und dann der Kampf von neuem beginnt.

Das, was sich so in Paris abspielt, verpflanzt sich später nach den Hauptstädten der anderen Länder und von hier aus hält die Mode ihren Siegeszug über die ganze Welt, um nach Wochen oder Monaten, vielleicht auch nach Jahren die Kleinstadt und das platte Land mit ihren Segnungen zu beglücken. Während aber der Siegeszug des Schlitzrockes oder des neuesten Damenhutes sich in der Stadt in wenigen Wochen vollendet, so dauert der Kampf da draußen oft Monate und Jahre. Die Mode von heute ist vielleicht schon lange zur Mode von dazumal geworden und wenn die Frau des Magistratsassessors aus der kleinen Stadt einmal in der Hauptstadt erscheint, so findet sie entrüstet, daß man sie anstaunt, nicht weil sie sich übermodern trägt, sondern weil die Mode von gestern schon wieder verdrängt und vergessen ist. Dann aber schwört sie in ihrem Innern, das nächstemal die neueste Toilette direkt bei TIETZ oder WERTHEIM zu bestellen und sie ahnt gar nicht, wieviel mögliche "Inseln relativen Monopolgewinns" in Stadt und Land durch diesen Entschluß in das Meer der Konkurrenz versinken, um niemals wieder aufzutauchen.

Die Mode aber entsteht täglich neu, weil sie  eine  der Möglichkeiten darstellt, auf dem Gebiet eines alten Absatzes den Unternehmergewinn zu stützen. Kein Wunder, daß das Reformkleid und der Jugendstil so kurzlebig waren: die Welle hebt sie, die Welle verschlingt sie; die Bewegung ist alles, das Ziel nichts.


Die Neuorganisation des Wirtschaftslebens auf monopolistischer Grundlage

Wir haben bereits gezeigt, wie einerseits die gesamte kapitalistische Wirtschaftsordnung auf der Erhaltung des Unternehmergewinns beruth, andererseits aber diese Basis unter einem System der freien Konkurrenz fortwährenden Angriffen ausgesetzt ist und nur durch immer weitergehende Ausdehnung auf bisher noch unberührte Gebiete vor dem Versinken gerettet werden kann.

Mit der Zeit wird aber diese Ausdehnung immer schwieriger. Auf allen Absatzmärkten der Welt macht sich der internationale Wettbewerb immer schärfer fühlbar. Neue Märket können nur in abnehmender Zahl und mit stetig steigenden Kosten erschlossen werden, auch der technische Fortschritt untersteht dem Gesetz des abnehmenden Ertrages; die freie Konkurrenz gräbt sich selbst ihr Grab, indem sie die Rohstoff liefernden Länder industrialisiert und zu gefährlichen Konkurrenten der alten Welt heranzieht.

Während in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts der Siegeszug des Kapitalismus extensiv wie intensiv ein ungehemmter war, beginnen sich seit den 70er und 80er Jahren und ungemein verstärkt seit der Wende des Jahrhunderts die natürlichen Schranken fühlbar zu machen. Auf allen Gebieten stößt die Weiterentwicklung auf Hindernisse, die allmählich das Sicherheitsventil des ganzen Systems schließen, den Druck der Konkurrenz zunächst auf bestimmten Gebieten bis zur Unerträglichkeit steigern.

Die Folge ist, daß zuerst hier und da, dann allgemein, vor allem auch gerade beim ruhigeren und besonneneren Teil des Unternehmertums, sich Zweifel erheben an der unbedingten Gültigkeit des Satzes, den die englische klassische Ökonomie verkündet hatte: daß der freie Wettbewerb, der Kampf aller gegen alle, zugleich den größten Vorteil aller bedeutet.

Historisch erscheint dieser Widerstand zunächst in einer Form, die für unsere Betrachtung von besonderem Interesse ist: nicht als ein Kampf gegen die freie Konkurrenz, sondern als ein solcher gegen die Verwandlung einer relativen Monopolstellung in eine definitive. Also ein Streben der freien Konkurrenz eine sichere Grundlage zu geben.

Diese Bewegung gipfelt in der Lehre von FRIEDRICH LIST von den nationalen Produktionskräften und vom "Erziehungszoll", dessen Aufgabe es sein sollte, das relative Monopol Englands, das auf dem Vorsprung in der technischen Ausrüstung seiner Industrie beruhte, solange auszuschalten, bis durch die Erstarkung des nationalen Gewerbes ein wirklich freier Wettbewerb möglich wird. Das war in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Als dann aber in den 70er und 80er Jahren der oben geschilderte Druck auf das Erwerbsleben sich immer stärker fühlbar machte, da wird die LISTsche Lehre umgebogen zum BISMARCKschen Zollsystem, zum Ideal des lückenlosen Schutzes der nationalen Arbeit.

Der Zeitpunkt war gekommen, in dem die Verringerung des Unternehmergewinns zu einer vollständigen Veränderung des bisherigen Systems nötigte. Die freie Konkurrenz war das Panier, weil und solange sie die Möglichkeit zu immer neuen Gewinnen bot; sie mußte weichen in dem Augenblick, in dem sie dieses Kleinod des Kapitalismus zu bedrohen beginnt und sie wird ersetzt durch das Streben nach einer neuen Grundlage, die besser geeignet erscheint, die Sicherheit dieses Palladiums [schützendes Heiligtum - wp] zu garantieren: durch das  Monopol. 

Die Zauberformel des freien Wettbewerbs hatte ihre historische Mission erfüllt. Die neue Herrenschicht, die Bourgeoisie, war geschaffen. Jetzt brauchte man eine Form, die es ermöglichte, die errungene Herrschaft zu behaupten gegen alle Neukommer und den geschaffenen Zustand zu einem dauernden zu machen. Das war nur möglich durch die Ausschaltung des freien Wettbewerbs, die allen Angriffen ausgesetzte Position des  relativen  Monopols mußte ersetzt werden durch eine solche des  absoluten. 

Das parteipolitische Spiegelbild dieser Umwälzung in Deutschland war die Wandlung der preußischen Fortschrittspartei der 60er in die Nationalliberalen der 80er Jahre.

So entsteht das moderne nationale Schutzzollsystem, das so ziemlich alle Länder der Welt mit der einzigen wichtigen Ausnahme Englands umfassend, das gerade Gegenteil anstrebt von dem, was FRIEDRICH LIST gewollt hatte, die Monopolisierung des inneren Marktes für die eigene Produktion und möglichsten Ausschluß aller ausländischen Fabrikate.

Das war aber lediglich der erste Schritt; fast gleichzeitig beginnen die Bestrebungen auch  innerhalb  der nationalen Grenzen die freie Konkurrenz durch ein neues System zu ersetzen. In Deutschland zeigen sich diese Tendenzen zuerst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre im Kohlenbergbau. Die in den 60er Jahren durchgeführte "Bergfreiheit" hatte zu einer großartigen Entfaltung des Kohlenbergbaus unter Aufwendung riesiger Kapitalien und dann zu schärfster Konkurrenz geführt. Diese machte in der Depressionsperiode seit 1873 - 75 einen großen Teil der Unternehmungen im Kohlenbergbau dividendenlos und drohte bei weiterem Fortschreiten den Verlust des größten Teils des investierten Kapitals durch eine Außerbetriebsetzung vieler Zechen zur Folge zu haben. So führten die besonderen Verhältnisse zunächst in dieser und dann auch bald in der unter ähnlichen Bedingungen (dauernde Festlegung großer Kapitalien und die Unmöglichkeit der Anpassung der Produktion an starke Konsumschwankungen, da bei einem Rückgang des geförderten Quantums die Gestehungskosten pro Einheit unverhältnismäßig steigen) arbeitenden Großeisenindustrie zu Bestrebungen, die zunächst lediglich die Anpassung der Produktion an den Konsum und die Erzielung von Mindestpreisen zum Ziel hatten.

Der Druck der Konkurrenz führte zum Zusammenschluß der bestehenden Unternehmungen in jeder Branche mit dem Ziel, die Verkaufspreise auf einer Höhe zu erhalten, die es auch den unter den ungünstigsten Bedingungen arbeitenden Unternehmern gestattet, ihre Produktionskosten dauernd zu decken. So ensteht zunächst das  Kartell  als ein "genossenschaftliches Monopol" mit mittelständlerischen Zielen. Das bedeutet aber lediglich die Ausschaltung der Konkurrenz der Außenseiter, der neu auftauchenden Mitbewerber - innerhalb des Kartells bleibt der Drang lebendig nach einer Erhöhung der Gewinne und nach Vergrößerung des Absatzes; das gelingt aber nur den kapitalkräftigen und unternehmenden Teilnehmern, die durch den Fortschritt der Technik ihre Produktionskosten herabsetzen und durch eine gleichzeitige Vergrößerung der Betriebe den Absatz erhöhen. Sie spielen dann eine Zeitlang die Rolle des Hechtes im Karpfenteich, bis sie zuletzt so übermächtig werden, daß die kleineren Genossen sich ihrer nicht mehr erwehren können.

Dann verwandelt sich das genossenschaftliche Monopol in die Alleinherrschaft der Großen, an die Stelle des demokratischen Kartells tritt der aristokratische  Trust. 

Es würde zuweit führen, an dieser Stelle zu schildern, wie sich im Laufe der letzten 30 - 35 Jahre aus diesen ersten Anfängen das uns allen heute gegenwärtige neue System der regulierten Großindustrie zunächst in der Kohlen- und Eisenindustrie entwickelt hat, wie dieses System dann weiter hier langsamer dort schneller auf immer neue Gebiete sich ausgedehnt hat und heute schon so erstarkt ist, daß man sagen darf: fast unsere gesamte Großindustrie - Montan-, Eisen-, Maschinen-, Elektrizitäts-, chemische Industrie, unser Transportwesen, soweit es nicht verstaatlicht ist, unser Kreditbankwesen, bedeutende Teile des Großhandels und des Einzelhandels usw., haben sich dem neuen System angepaßt, das auch auf fast allen anderen Gebieten, mit einziger Ausnahme der Landwirtschaft, im Fortschreiten begriffen ist. Wir wollen, wie gesagt, diesen Prozeß hier nicht im einzelnen schildern, wir brauchen es auch nicht, denn unsere Aufgabe ist gelöst.

Wir wollten zeigen, daß die Grundlage des Kapitalismus, der Unternehmergewinn, unter einem System des freien Wettbewerbs heute nicht mehr intakt erhalten werden kann, daß die Notwendigkeit, ihn zu sichern, zu einer Ersetzung der freien Konkurrenz durch das Monopol als dem einzigen Ausweg aus diesem Dilemma führen mußte.

Wir wollten ferner nachweisen, daß die Entwicklung des Kapitalismus nicht lediglich auf rein psychischen Momenten, ebensowenig wie auf den rein materiellen beruth, sondern daß die  besondere  Form, in der der Kapitalisus sich historisch entwickelt hat, vor allem dazu beigetragen hat, ihm die Welt zu unterwerfen. Es ist der Mechanismus der freien Konkurrenz, der auch die Widerstrebenden mitreißt und zur Gefolgschaft zwingt, der auch diejenigen, die ihrer ganzen inneren Konstitution nach zum stärksten Widerstand gegen die moderne Wirtschaftsordnung prädestiniert sind (z. B. fromme Calvinisten und Quäker), mit zu Trägern derselben gemacht hat. Aber dieselbe freie Konkurrenz ist durch ihre Tendenz zur Verringerung des Unternehmergewinns auch zum treibenden Faktor in der Weiterentwicklung des Kapitalismus zur neuen monopolistischen Form geworden.

Das Resultat unserer Untersuchung läßt sich dahin zusammenfassen, daß - ganz gleichgültig aus welchen historischen  Ursachen  sie entstanden ist - der kapitalistischen Wirtschaftsweise eine  immanente  Entwicklungskraft innewohnt, die nicht aus ihrer Verursachung folgt; daß das kapitalistische System eine Eigengesetzlichkeit rein  ökonomischer  Natur besitzt, die nur ihm zukommt.

Aber diese Eigengesetzlichkeit führt nicht, wie MARX annimmt, zur Selbstaufhebung des Kapitalismus, sie würde im Gegenteil  - solange nur rein ökonomische Kräfte am Werk sind -  nach Ersetzung des obsolet gewordenen Systems der freien Konkurrenz durch das Monopol, wahrscheinlich zu einer Verewigung des Kapitalismus in neuer Form gelangen.

Rein  ökonomisch  betrachtet ist das System des Kapitalismus möglich sowohl auf der Grundlage der  freien Konkurrenz  wie auf derjenigen des  Monopols.  Ja, wir möchten annehmen, daß das letztere sogar die geeignetere Form sei, daß sie die Möglichkeit gibt, die einmal gegebene Einkommensverteilung zu verewigen. Ein Industriefeudalismus ist also rein ökonomisch nicht nur möglich, sondern als Resultat der sich selbst überlassenen wirtschaftlichen Entwicklung sogar wahrscheinlich.

Wir können diese Gefahr - und daß es eine ungeheure Gefahr für unsere Kultur wäre, unterliegt wohl keinem Zweifel - aber bereits als überwunden ansehen. Die Stufe des Monopols erweist sich als ein Übergangsstadium zu völlig neuen Formen der wirtschaftlichen Organisation. Dadurch, daß die Bedrohung des Unternehmer gewinns das System der freien Konkurrenz in sein Gegenteil verwandelt, überschreitet die Bewegung die Grenze, die der kapitalistischen Wirtschaftsordnung selbst gesetzt ist. Der treibende Faktor dieser Ordnung reiß sie über sich selbst hinaus einer neuen Zukunft entgegen, aber nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus  politischen  Gründen. Entscheidend wirkt letzten Endes nicht die immanente Naturgesetzlichkeit des Wirtschaftssystems, sondern das auf bestimmte Ziele gerichtete  Wollen  der Menschen.

Die wirtschaftliche Entwicklung steht nicht allein, sie vollzieht sich nicht sozusagen im luftleeren Raum, sondern sie ist aufs engste verknüpft, steht in stärkster Wechselwirkung mit der Entfaltung des ganzen politischen und sozialen Lebens.

Diese aber ist in der alten wie in der neuen Welt zu weit fortgeschritten, als daß die Beugung der modernen Völker unter inen Industrie- und Wirtschaftsfeudalismus noch möglich oder auch nur denkbar erschiene. Dazu sind die Spannungen und Widerstände zu groß, irgendeine dauernde Bindung des modernen Lebens auf einer einmal erreichten Stufe zu aussichtslos. Und was das Merkwürdigste ist, diese Widerstände und Spannungen gehen nicht lediglich von einer Seite aus, sondern es erwachsen der Bewegung Helfer von rechts und von links, von oben wie von unten.

In den Vereinigten Staaten hat der wachsende Widerstand des alten demokratischen Gedankens auf der Seite der Intellektuelle wie des gewerblichen und des agrarischen Mittelstandes die ganze Nation gegen das Überwuchern von Trust und Monopol ins Feld gerufen. Zuerst versuchte man dem Trustprinzip den Boden abzugraben durch strikteste Aufrechterhaltung des überlieferten Grundsatzes des freien Wettbewerbs, der ja sogar in die Verfassung der Vereinigten Staaten übergegangen ist (Against restraint of trade [gegen eine Einschränkung des Handels - wp]). Der Versuch ist gescheitert und mußte scheitern, denn das Rad der Geschichte läßt sich nicht rückwärts drehen. Jetzt beginnt man zögernd zu ersetzen durch Eingriff des Staates (Panama-Kanal, neueste Bankgesetzgebung).

In England, dem Geburtsland des Ideals des freien Wettbewerbs, hat die monopolistische Gestaltung bisher nur vergleichsweise geringfügig Fortschritte machen können, besonders weil der Individualismus auch auf wirtschaftlichem Gebiet zu stark war und ferner die Hilfe des Schutzzolls fehlte. Um so überraschender ist die plötzliche Entfaltung gemeinwirtschaftlicher Ideen, wie sie der sozialen Gesetzgebung der liberalen Ära und speziell von Schatzkanzler LLOYD GEORGE zugrunde liegt. Gehen doch die neuesten Maßnahmen auch prinzipiell weit über das hinaus, was in Deutschland auf diesem Gebiet vorbildliches bereits geschaffen worden ist, so besonders in der Frage der Festlegung von Minimallöhnen, ebenso wie im großzügigen Plan der Verstaatlichung des Grund und Bodens, der allerdings noch der Ausführung harrt.

Wir sagten: nach dem Vorbild Deutschlands, denn Deutschland ist das Land, das den neuen Weg zuerst betreten hat: Übernahme der Monopole in Besitz und Verwaltung der Allgemeinheit. Das bedeutet aber zugleich Ausschaltung der kapitalistischen und Ersatz derselben durch eine  gemeinwirtschaftliche  Ordnung. Der Beginn wurde gemacht mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen, der staatlichen Arbeiterversicherung, der Beteiligung des Staates an der industriellen Betätigung (Kohlen- und Kalibergbau), durch das geplante Petroleum- und Branntweinmonopol u. a. mehr. Dazu tritt die gerade in Deutschland besonders stark ausgebildete wachsende wirtschaftliche Tätigkeit der Kommunen (Wasser, Gas, Elektrizität, Trambahnen), der gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen usw.

Allerdings: die  prinzipielle  Bedeutung dieser Entwicklung wird noch nicht überall klar erfaßt. Zum Teil übernehmen Regierung und Volksvertretung diese neuen Aufgaben nur unter dem Druck der Verhältnisse. Sie betonen immer wieder, daß eine Ausdehnung auf weitere Betriebe möglichst vermieden werden müsse, wollen die freie Konkurrenz nicht antasten, die ja in Wahrheit schon nicht mehr vorhanden ist. Aber die Bewegung ist am Zug und ihre prinzipielle Anerkennung wird nicht mehr lange aufzuhalten sein. Je stärker die Monopole werden, umso mehr muß sich alles von ihnen bedrückt und bedroht fühlen. Ist doch z. B. die rein sozialistische Forderung der Verstaatlichung aller Kohlenbergwerke bereits im preußischen Herrenhaus von ultrakonservativer Seite befürwortet worden.

Letzten Endes gehen die Forderungen fast aller Parteien auf wirtschaftlichem Gebiet auf das gleiche hinaus. Die konservative Idee des sozialen Königtums und der Obmacht [Vorherrschaft - wp] des Staates auch auf wirtschaftlichem Gebiet, die mittelständlerischen Zunftideen und die in diesen Kreisen lebendige Abneigung gegen den freien Wettbewerb wie gegen private monopolistische Übermacht, die auf christlich katholischer Basis ruhende Wirtschaftsanschauung des Zentrums, der Kampf, den die Sozialisten durch gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisation gegen die Ausbeutung der Arbeiter führen, überall finden wir Kräfte am Werk, die sich - heute noch einander bekämpfend - zusammenschließen müssen gegen die Gefahr eines neuen Feudalismus auf privatwirtschaftlich-monopolistischer Grundlage.

Damit aber ist die weitere wirtschaftliche Entwicklung in den führenden Ländern schon über diese privatwirtschaftliche Grundlage hinausgedrängt und genötigt, sich neue Grundlagen zu schaffen. Wo der freie Wettbewerb ausgeschaltet wird, wo an die Stelle der privaten die öffentliche oder die genossenschaftliche Unternehmung tritt, da ist der Unternehmergewinn verschwunden, zugunsten der Allgemeinheit mit Beschlag belegt. Da ist aber auch der Kapitalismus tot, denn er lebt von nichts anderem, als eben vom Unternehmergewinn.  Mit  diesem und um dieses willen ist er entstanden, mit ihm muß er von der Bildfläche verschwinden.


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Unser Wirtschaftssystem ist hiermit an einem Wendepunkt angelangt, von dem aus die Weiterentwicklung nicht mehr wie bisher von rein ökonomischen, sondern in entscheidender Weise - von  sozialen  und  politischen  Kräften bestimmt und beeinflußt wird.

Gerade in diesem Augenblick erleben wir aber das allergrößte politische Ereignis der Neuzeit: den Ausbruch des Weltkrieges, der - eben weil er, wie jeder Krieg, vor allem politischer Natur ist - auch das Wirtschaftsleben in weitgehendstem Ausmaß  politischen  Zwecken unterzuordnen genötigt ist.

Während aber alle früheren Kriege seit 1815 das Wirtschaftsleben der Kriegführenden und der Neutralen nur nebenher beeinflußten, sind in diesem Krieg die finanziellen wie die rein wirtschaftlichen Kämpfe von fast ebenso großer Bedeutung wie die militärischen.

Damit treten aber an das Wirtschaftsleben Anforderungen heran, denen das System des freien Spiels der Kräfte nicht gewachsen ist. Überall, wo dieses System nicht sofort durch bereitgehaltene gemeinwirtschaftliche Maßnahmen gestützt wurde, hat es völlig versagt und wir sind gezwungen, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um schleunigst auch auf diesen Gebieten das privatwirtschaftliche durch das System der Gemeinwirtschaft zu ersetzen. An die Stelle des Wahlspruchs "jeder für sich und Gott für uns alle", tritt das Wort: "einer für alle und alle für einen".

Was das aber für die  Zukunft  auch des sozialen und wirtschaftlichen Lebens bedeutet, das können wir heute höchstens in unsicheren Umrissen ahnen. Eines aber ist gewiß:  nach  diesem Krieg, im kommenden Frieden wird unser Wirtschaftssystem nicht mehr das gleich sein wie vorher. Ob wir wollen oder nicht, der Krieg wird auch hier einen ungeheuren Ruck nach vorwärts bedeuten und dieser Fortschritt kann kein anderer sein, als der auf dem Weg zur Gemeinwirtschaft. Was heute unter dem Druck der militärischen Notwendigkeiten geschieht, wird und kann mit diesen nicht wieder verschwinden; wahrscheinlich sind die Kriegsmaßregeln nur der Auftakt zu prinzipiellen Neugestaltungen, deren Umfang noch nicht abzusehen ist.

Damit erwachsen der deutschen Wirtschaftswissenschaft neue, ganz große Aufgaben. Denn nur dasjenige Volk, das als erstes die kommenden Notwendigkeiten in ihrer ganzen Fülle begreift und in die Tat umsetzt, das allein hat ein Anrecht auf die Zukunft.
LITERATUR Edgar Jaffé, Der treibende Faktor in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Festschrift für Lujo Brentano zum 70. Geburtstag, München und Leipzig 1916