ra-2Edgar JaffeAlbert Schäffle    
 
MAX NORDAU
(1849-1923)
Die wirtschaftliche Lüge
[2/3]

"Die Krisen sind die großen Erntefeste der Spekulation, die Gelegenheit zur Massenabschlachtung der ganzen erwerbenden und sparenden Menge eines Volks oder Weltteils. Da tut das Großkapital seinen Rachen auf und verschlingt nicht bloß den Wohlstand des anlagesuchenden Publikums, sondern auch den unsittlichen Erwerb des kleineren Raubzeugs der Börse, das es sonst gutmütig um sich spielen läßt wie der Löwe die Maus."

"Wenn der Industrie-Unternehmer zum Krösus wird, so geschieht das durch die methodische Ausbeutung der Arbeiter, die wie die Haustiere für ihre Leistungen Futter und Stall - beides möglichst notdürftig - unterhalten werden, während der ganze Wert ihrer Produktionen ihrem Herrn in die Tasche fließt."

"Die Gesellschaft hat nur einen begrenzten Bedarf für die Gattung Arbeit, welche der Studierte heute leistet, und so ist in den alten Kulturländern wohl die Hälfte aller Studierten dazu verurteilt, ihr Leben lang zu hoffen und zu gieren und nichts zu erlangen, um den beschränkten Bissen zu kämpfen und dabei zu verhungern, vor der Tafel der schmausenden oberen Zehntausend zu stehen und sich den Schmachtriemen eng zu schnallen. Menschenfreunde jenes Schlags, die Krieg und Pest für einen Segen erklären, weil sie Raum schaffen und den Überlebenden bessere Daseinsbedingungen gewähren, haben dann auch die Bildung für ein Übel angesehen und die Vermehrung der Mittel- und Hochschulen als ein Attentat gegen das Volksglück bezeichnet, weil dadurch nur noch mehr Deklassierte, Unzufriedene, künftige Barrikadenkämpfer und Petroleure großgezogen werden."


II.

Analysieren wir die einzelnen Elemente des im Vorstehenden gezeichneten Bildes nun etwas eingehender. Wir haben da den ohne Arbeit im Überfluß schwelgenden Reichen, den zur organischen Verkümmerung verurteilten Proletarier und den durch eine mörderische Konkurrenz erdrückten geistigen Arbeiter gesehen. Leuchten wir zunächst der reichen Minderheit ins Gesicht.

Welches sind die Quellen des Reichtums dieser Minderheit? Dieselbe hat ihr Vermögen entweder geerbt und beschränkt sich darauf, es zu erhalten oder sie hat es vermehrt oder selbst geschaffen. Von der Vererbung wird später ausführlicher die Rede sein. Hier sei nur bemerkt, daß der Mensch das einzige Lebewesen ist, welches die natürliche Fürsorge für die Nachkommen, eine der Kundgebungen des Gattungs-Erhaltungstriebes und die notwendige Ergänzung des Fortpflanzungsaktes, so übertreibt, daß es nicht nur die nächste Generation bis zu erreichten Vollentwicklung, sondern noch die fernsten Geschlechtsfolgen während ihrer ganzen Lebensdauer der Notwendigkeit, für sich selbst zu sorgen, entheben will. Die Vermehrung der ererbten großen Vermögen geschieht in den meisten Fällen ohne das geringste Dazutun des Besitzers und ist namentlich nicht die Folge seiner Arbeit. Die großen und alten Vermögen bestehen hauptsächlich in unbeweglichem Besitz, in Landgütern und Stadthäusern. Der Boden- und Häuserwert nun steigt überall von Jahr zu Jahr und das Einkommen aus diesen Vermögensquellen wächst in dem Maße, in welchem die Zivilisation zunimmt. Die Hervorbringungen des Gewerbefleisses werden billiger, die Lebensmittel beständig teurer und das Obdach wird in den unaufhörlich anwachsenden Städten immer beschränkter und kostspieliger. Einzelne Nationalökonomen leugnen das Teurerwerden der Nahrungsmittel. Sie können aber für ihre Ansicht nur sophistische Beweise anführen. Gewiß, in den Zeiten des schwierigeren Verkehrs waren Hungersnöte häufiger und Mißwachs konnte an einzelnen Orten Getreidepreise von einer Höhe veranlassen, die heute undenkbar wäre. Die Plötzlichkeit und Weite der Preisschwankungen in der Vergangenheit hat aufgehört, aber die durchschnittliche Höhe der Getreide- und Fleischpreise steigt fortwährend und dieser Anstieg wird durch die unvorsichtige Ausbeutung ungeheurer Strecken jungfräulichen Bodens in Amerika und Australien nicht aufgehalten, nur etwas verlangsamt. An dem wohl nahe bevorstehenden Tag, da der Raubbau auch die neuen Kontinente erschöpft haben und der Pflug keine herrenlosen Länder mehr zu erobern finden wird, muß der Wert der Lebensmittel maßlos wachsen, während bei den fortwährenden Vervollkommnungen der Maschinen und der immer großartigeren Ausnutzung der außermenschlichen Naturkräfte ein Aufhören des Sinkens der Preise aller Industrie-Erzeugnisse nicht abzusehen ist. Die doppelte Strömung im Wirtschaftsleben, die Neigung der Lebensmittelpreis, zu steigen, die der Industrieproduktenpreise, zu sinken, macht den Industrie-Arbeiter immer ärmer, den Grundbesitzer immer reicher. Jener muß immer mehr arbeiten, eine immer größere Menge Waren hervorbringen, um sich die zu seinem Unterhalt nötigen Naturerzeugnisse zu verschaffen, dieser kann die Hervorbringungen seines Bodens von Jahr zu Jahr gegen eine größere Menge von Industriegegenständen vertauschen. Dem Proletarier wird die Sättigung immer schwerer, dem Grundbesitzer die Vergeudung der Arbeitsprodukte des ersteren immer leichter und die Zahl der Proletarier, die für den Luxus des Grundbesitzers arbeiten, die also seine Sklaven sind, hört nicht auf, größer zu werden. Nicht sein Verdienst macht also den Erben des Landes und der Stadthäuser immer reicher, sondern die fehlerhafte Organisation des wirtschaftlichen Zustandes der Gesellschaft, die den Boden, das natürliche Arbeitswerkzeug der Menschheit, in die Hände Einzelner legt und den seines Anteils an der Erde beraubten Proletarier in den Großstädten anhäuft.

Neue Vermögen werden durch Handel, Spekulation oder Großindustrie geschaffen. Die Fälle, in welchen ein Einzelner durch die Mitwirkung des Zufalls große Reichtümer erlangt, indem er zum Beispiel Goldminen, Diamantengruben oder Petroleumquellen entdeckt und sie Dank den herrschenden Eigentumsbegriffen für sich behalten und zu seinem eigenen Vorteil ausbeuten kann, dürfen wir vernachlässigen, weil sie allzuseltene Ausnahmen sind. Immerhin haben diese Ausnahmen übrigens einen theoretischen Wert als Beweise gegen die Richtigkeit einer anderen sogenannten wissenschaftlichen These der Volkswirtschaftslehre, der These, daß Kapital in allen Fällen aufgesparte Arbeit sei. Welche Arbeit repräsentiert etwa ein Diamant von der Größe des Koh-i-Noor [Berg des Lichts, 110-karätiger Diamant - wp], den ein Abenteurer in Südafrika auf dem Boden findet und um mehrere Millionen verkauft? Ein Professor der Nationalökonomie ist um die Antwort nicht verlegen: der Edelstein ist allerdings ein Lohn der Arbeit; nämlich der Arbeit, daß der Finder sich gebückt und ihn aufgelesen hat. Die kodifizierte Wissenschaft nimmt eine solche Erklärung mit wohlgefälligem Kopfnicken auf und proklamiert die Theorie als gerettet. Der gesunde Menschenverstand aber treibt mit Fußtritten diese Pseudo-Wissenschaft von sich, die von Dummköpfen für Dummköppfe erfunden ist und den Zweck hat, die Ungerechtigkeiten des Wirtschaftslebens mit windigen Floskeln zu beschönigen und zu entschuldigen.

Der legitime Handel, das heißt derjenige, der den Verkehr zwischen dem Erzeuger und Verbraucher der Boden- und Gewerbe-Hervorbringungen vermittelt und sich seine Dazwischenkunft durch eine Steuer bezahlen läßt, die er dem letzten Käufer in Gestalt eines mehr oder minder ansehnlichen Preiszuschlags auferlegt, führt in unseren Tagen nur ausnahmnsweise zur Ansammlung großer Reichtümer. Es gibt zu viele Leute, die nicht mehr wollen, als nur ihr Leben fristen oder sich einen übermäßigen Überfluß verschaffen und der Wettbewerb um den Auftrag des Konsumenten ist ein zu großer, um dem Kaufmann einen besonders hohen Gewinn zu gestatten. Die allgemeine Tendenz des großen und kleinen Handelsverkehrs ist die, alle überflüssigen Vermittler zu unterdrücken, den Verbraucher möglichst direkt mit dem Erzeuger in Verbindung zu setzen und den Zuschlag des in vielen Fällen doch nicht völlig entbehrlichen Vermittlers zu den die Herstellungskosten im weitesten Sinne darstellenden Preisen der Güter auf einen Betrag herabzudrücken, der dem Vermittler gerade nur noch die Deckung seiner Kosten und die Erhaltung seines Lebens gestattet. Größer und dann allerdings räuberisch groß kann der Gewinne des Kaufmanns werden, wenn es ihm gelingt, die freie Konkurrenz zu lähmen oder doch abzuschwächen. Wer Waren unter schwierigen Verhältnissen oder Gefahren, in Innerafrika oder bei wilden Völkerschaften Asiens, erwirbt, der wird sie mit sehr großem Gewinn verkaufen können, weil die Zahl derjenigen, welche bereit sind, ihr Leben oder ihre Gesundheit für die Möglichkeit des Erwerbs von Reichtümern einzusetzen, doch eine geringe ist und man ihm eine Weile das Feld ziemlich ausschließlich überlassen wird. Lange dauert die konkurrenzlose Ausbeutung einer solchen Handelsbeziehung freilich nicht, da deren Gefahren in dem Maße abnehmen, in welchem sie älter und bekannter wird und die Erschließung von Ländern, welche bisher unzugänglich waren, sie unter die Herrschaft des Gesetzes eines allgemeinen Wettbewerbs stellt. In zwanzig oder dreißig Jahren wird diese Quelle großer Reichtümer voraussichtlich vollkommen versiegt sein. Man wird nach Innerafrika, Zentralasien oder China ebenso leicht und gefahrlos gelangen wie nach irgendeinem europäischen oder amerikanischen Land, die Händler werden dort mit dem Einkaufspreis so weit hinauf- und mit dem Verkaufspreis so weit heruntergehen, als es ihnen ohne Verlust möglich sein wird und beim Handel mit Elefantenzähnen am Kongo oder mit Baumwolle in China wird man auch nur seinen Lebensunterhalt finden wie beim wenig abenteuerlichen Schnupftabaksverkauf in Leitmeritz [heute Litomerice, Tschechien - wp]. Unverhältnismäßig große Gewinne können ferner gemacht werden, wenn es einem einzelnen Kaufmann oder einer geschlossenen Verbindung von Kaufleuten gelingt, einen notwendigen Gebrauchsartikel zu monopolisieren, so daß der Käufer ihn nur aus ihren Händen erhalten kann und keine andere Wahl hat, als auf den Artikel zu verzichten oder für denselben den Preiz zu bezahlen, den die verschworenen Raubgenossen für ihn fordern. Dieses Verfahren liegt aber nicht mehr im Gebiet des legitimen Handels, sondern stellt eine Gewalttätigkeit dar, welche eine gewisse Gesetzgebung (z. B. die französische) als Verbrechen ansehen und bestrafen und führt uns zur zweiten Quelle großer Vermögen, zur Spekulation.

Die Spekulation ist eine der unleidlichsten Krankheitserscheinungen im wirtschaftlichen Organismus. Die tiefsinnigen Weisen, die finden, daß alles, was ist, vortrefflich ist, haben auch die Spekulation zu verteidigen gesucht, sie berechtigt und notwendig genannt, ja sich geradezu für sie begeistert. Ich werde diesen unvorsichtigen Panegyrikern [Schmeichlern - wp] gleich zeigen, für welchen Grundsatz sie da eingetreten sind. Der Spekulant spielt im Wirtschaftsleben die Rolle eines Schmarotzers. Er produziert nichts, er leistet nicht einmal wie der Kaufmann die fraglichen Dienste eines Vermittlers und beschränkt sich darauf, den wirklich Arbeitenden den größten Teil ihres Erwerbs mit List oder Gewalt abzunehmen. Der Spekulant ist ein Wegelagerer, der den Produzenten ihre Erzeugnisse gegen geringe Entlohnung förmlich raubt und die Konsumenten zwingt, sie ihn weit teurer abzukaufen. Die Waffe, mit der er Produzenten und Konsumenten wie ein Buschklepper überfällt, ist doppelläufig und heißt "Hausse und Baisse" [steigende und sinkende Kurse - wp]. Er bedient sich seines Mordgewehrs auf folgende Weise: Wenn sein Beutezug die Plünderung der Produzenten zum Ziel hat, so verkauft er eines Tages Waren, die er nicht besitzt, um einen billigeren als den Marktpreis und verspricht, sie dem Käufer später nach vierzehn Tagen, nach einem Monat, nach drei Monaten, abzuliefern. Der Käufer deckt seinen Bedarf natürlich lieber beim Spekulanten als beim Produzenten, weil der erstere geringere Preise fordert. Der Produzent steht nun mit seiner Ware da und hat nur zwei Wege vor sich: entweder er ist reicht genug, um ohne Drangsal auf die Verwertung seiner Erzeugnisse warten zu können, dann wird sich der Spekulant dieselben an dem Tag, da er sie abzuliefern versprochen hat, allerdings nicht so billig verschaffen können, wie er gehofft hat, er wird vielmehr gezwungen sein, die vom Produzenten geforderten Preise zu bewilligen und aus dem Räuber wird ein Beraubter werden; oder der Produzent ist auf den sofortigen Verkauf seiner Ware angewiesen - und das ist der weitaus häufigere Fall -, dann muß er sich bequemen, mit seinen Preisen soweit herunterzugehen, bis er endlich Käufer findet; er muß jedenfalls den Spekulanten unterbieten und sein Käufer wird notwendig der Spekulant selbst sein, denn der Verbraucher hat seinen Bedarf bereits beim Spekulanten gedeckt; dieser wird also die billig verkaufte Ware am Lieferungstag noch billiger erhalten. Der Produzent geht dabei vielleicht zugrunde, der Spekulant aber hat sich aus dessen Flanke sein Pfund Fleisch herausgeschnitten. Ist die Razzia im Gegenteil gegen den Konsumenten gerichtet, so kauft der Spekulant alle Ware, deren er habhaft werden kann, zu dem vom Produzenten geforderten Preis; er kann das ohne Anstrengung tun, denn das Geschäft kostet ihn keinen Heller; er bezahlt seinen Einkauf nicht bar, sondern mit einem Versprechen; er braucht den Preis erst nach Wochen oder Monaten zu berichtigen; ohne einen eigenen Besitz, ohne einen Pfennig ausgelegt zu haben, ist also der Spekulant Eigentümer der Ware geworden und wenn der Konsument sich dieselbe verschaffen will, so muß er sie beim Spekulanten und zu dem von diesem geforderten Preis erstehen. Der Spekulant nimmt mit der einen Hand das Geld, das ihm der Konsument reicht, läßt davon einen möglichst ansehnlichen Teil in seine eigene Tasche fallen und gibt den Rest mit der anderen Hand dem Produzenten hin. Auf diese Weise wird der Spekulant ohne Arbeit, ohne Nutzen für die Gesamtheit reich und mächtig; das Kapital erweist ihm die höchste Gunst, indem es ihm unbegrenzten Kredit einräumt; wenn ein armer Teufel von Arbeiter sich selbständig machen will, so hat er alle Mühe, die kleine Summe geliehen zu erhalten, deren er zur Anschaffung seines Werkzeugs und Rohstoffs und zur Fristung seines Lebens bis zum Verkauf seiner ersten Produktionen bedarf; wenn dagegen ein Müßiggänger mit eiserner Stirn, der beschlossen hat, von der Arbeit der andern zu leben, spekulative Käufe oder Verkäufe ausführen will, so stellen sich ihm Produzenten und Konsumenten zur Verfügung, ohne sich einen Augenblick lang bitten zu lassen; man sagt sich, daß man ja keinerlei Gefahr laufe, daß der bewilliget Kredit bloß theoretisch existiere; der Produzent gibt die Ware nicht aus der Hand, sondern nur die Zusicherung, sie an einem bestimmten Tag zu einem bestimmten Preis abzuliefern, natürlich unter der Bedingung, daß der Preis auch bar bezahlt werde; der Konsument seinerseits bezahlt nicht den Kaufpreis, sondern erteilt nur das Versprechen, ihn an dem Tag zu bezahlen, an welchem ihm die Ware übergeben wird. Dieser theoretische Kredit genügt aber, um dem Spekulanten aus Nichts die skandalösesten Reichtümer zu erschaffen.

Jeder Arbeiter, jeder ohne Ausnahme ist dem Spekulanten tributär. Alle unsere Bedürfnisse sind vorausgesehen, alle Gebrauchsgegenstände werden von der Spekulation auf Kredit vorgekauft und uns gegen bar nach Möglichkeit verteuert zurückverkauft. Wir können keinen Bissen Brot essen, unser Haupt unter keinem Obdach ausruhen, keinen Sparpfennig in einem Wertpapier anlegen, ohne dem Getreide-, dem Grund- und Haus-, dem Börsenspekulanten seine Brandschatzung zu zahlen. Die Steuer, welche wir dem Staat leisten, ist drücken genug, doch nicht entfernt so drückend wie die, welche uns die Spekulation unerbittlich auferlegt. Man hat es gewagt, die Börse als eine notwendige und nützliche Einrichtung zu verteidigen. Erstickt der Anwalt nicht an der Ungeheuerlichkeit seiner Behauptungen? Was, die Börse soll nützlich und notwendig sein? Hat sie sich denn jemals innerhalb der Schranken ihrer theoretischen Aufgabe gehalten? Ist sie jemals bloß der Markt gewesen, wo der  bona fide  [in gutem Glauben - wp] Käufer dem bona fide Verkäufer begegnet, wo ehrliche Nachfrage und ehrliches Angebot einander ausgleichen? Das Bild, das die Börse mit einem Giftbaum vergleicht, ist schwach und namentlich unvollständig, denn es versinnlicht nur eine Seite des Börsentreibens, dessen Wirkung auf die moralischen Begriffe des Volks. Die Börse ist eine Räuberhöhle, in welcher die modernen Erben der mittelalterlichen Raubritter hausen und den Vorübergehenden die Gurgel abschneiden. Wie die Raubritter bilden die Börsenspekulanten eine Art Aristokratie, welche sich von der Masse des Volkes reich ernähren läßt; wie die Raubritter nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, den Kaufmann und Handwerker zu zehnten [den Zehent abzunehmen - wp]; glücklicher als die Raubritter, riskieren sie jedoch nicht, hoch oder kurz gehenkt zu werden, wenn sie einmal ein Stärkerer bei der Beutelschneiderei ertappt. Man tröstet sich manchmal damit, daß die Spekulatioin in Augenblicken der Krise mit einem Schlag alles verliert, was sie in Jahren ungehinderten Raubs zusammengerafft hat. Das ist aber ein schöner Wahn, mit dem sich die Pastorenmoral zu beruhigen sucht, welche gern am Ende des Verbrechens die Strafe als Schlußpunkt sieht. Selbst wenn eine Krise einen Spekulanten zwingt, seinen Raub abzugeben, so kann sie doch nichts daran ändern, daß er bis dahin, vielleicht viele Jahre lang, auf Kosten der arbeitenden Glieder des Gemeinwesens ein empörend üppiges Dasein geführt hat. Der Spekulant verliert dann vielleicht sein Vermögen, aber den Champagner, den er in Strömen hat fließen lassen, die Trüffeln, die er verschlungen, die Goldhaufen, die er am grünen Tisch verspielt, die Stunden, die er bei seiner Maitresse verbracht hat, die nimmt ihm keine Macht der Welt. Übrigens ist aber eine Krise nur einzelnen Spekulanten, nicht aber der Spekulation im Allgemeinen verhängnisvoll. Im Gegenteil, die Krisen sind die großen Erntefeste der Spekulation, die Gelegenheit zur Massenabschlachtung der ganzen erwerbenden und sparenden Menge eines Volks oder Weltteils. Da tut das Großkapital seinen Rachen auf und verschlingt nicht bloß den Wohlstand des anlagesuchenden Publikums, sondern auch den unsittlichen Erwerb des kleineren Raubzeugs der Börse, das es sonst gutmütig um sich spielen läßt wie der Löwe die Maus. Große Baissen werden vom Großkapital herbeigeführt und ausgenützt. Es kauft dann alles auf, was Wert und Zukunft hat und verkauft es bald darauf, sowie das Ungewitter vorübergezogen und der Himmel wieder heiter geworden ist, mit ungeheurem Nutzen an dieselben Leute zurück, welche das Papier früher zu Spottpreisen abgegeben haben, um es bei einer neuen Krise wieder sehr billig zu erstehen und dieses grausame Spiel zu erneuern, so oft einige Jahre friedlichen Erwerbs die periodisch geleerten Spartruhen der Produzierenden wieder gefüllt haben. Finanzkrisen sind einfach die regelmäßigen Kolbenstöße, mit welchen das Großkapital den gesamten Erwerbsüberschuß eines Volks in seine eigenen Sammelbecken pumpt.

Die Verteidiger der Spekulation sagen: Der Spekulant hat im Wirtschaftsdrama eine berechtigte Rolle, sein Gewinn ist der Lohn größeren Scharfblicks, weiserer Voraussicht, rascherer Beurteilung einer Lage und kühneren Wagens. Das Argument gefällt mir; halten wir es fest. Weil also der Spekulant über Mittel, sich zu unterrichten, verfügt, die dem großen Publikum unzugänglich sind, weil er vor Verlusten weniger Angst hat, als der redliche Sparer und allerlei Möglichkeiten schlauer abschätzt als dieser, so hat er das Recht, dem Arbeitenden seinen Erwerb wegzunehmen und im Müßiggang Reichtümer aufzuhäufen. Dieses Recht beruth demnach darauf, daß er bessere Waffen hat - seine Information, größeren Mut - das Geld anderer aufs Spiel zu setzen und überlegen Kraft - des Urteils und Verstandes. Nun will ich einmal annehmen, daß Proletarier noch bessere Waffen haben - Repetiergewehre oder Dynamitbomben, noch größeren Mut - den, ihr Leben in die Schanze zu schlagen, und noch überlegenere Kraft - der Muskeln und Knochen. In diesem Fall müssen die Verteidiger der Spekulation den Proletariern also das Recht zugestehen, ihrerseits den Spekulanten ihr Geld wegzunehmen, oder die Theorie, mit welcher man die Berechtigung der Spekulation nachzuweisen sucht, ist eine Lüge.

Die dritte Quelle großer Reichtümer ist die Großindustrie. In dieser beutet ein Besitzer oder Nutznießer von Kapital die Tagelöhner aus, die ihm ihre Arbeitskraft vermieten, Der Unterschied zwischen dem wirklichen Wert dieser Arbeitskraft, wie er im Preis ihrer Erzeugnisse ausgedrückt ist, und dem Lohn, der für dieselbe gezahlt wird, bildet den Gewinn des Unternehmers, der in den meisten Fällen ein unverhältnismäßiger, wucherischer ist. Dieser Gewinn wird oft als der Lohn der geistigen Arbeit des Unternehmers angesprochen. Allein darauf ist zu erwidern, daß die geistige Arbeit, welche die technische und kaufmännische Leitung einer großen Fabrik erfordert, keinen Vergleich mit der aushält, welche in wissenschaftlicher Forschung oder literarischer Produktion verbraucht wird und höchstens mit der eines höheren Staatsbeamten oder Gutsverwalters in eine Linie gestellt werden kann, also mit der von Personen, deren Leistungen die bestehende wirtschaftliche Ordnung nicht entfernt so hoch bewertet, wie das Jahreseinkommen eines großen Fabrikanten. Als bloße Kapitalsverzinsung kann der Unternehmergewinn ebenfalls nicht angesehen werden; denn kein Fabrikant bemißt den Preis seiner Erzeugnisse nur gerade so hoch, daß ihm nach Abzug der Herstellungskosten, zu denen ich auch die Entlohnung seiner eigenen geistigen Arbeit rechnen will, die vier- bis sechsprozentige Rente bleibt, welche das Kapital heute bei risikofreier Anlage auch dem Müßiggänger abwirft; diesen Preis bestimmt vielmehr die Rücksicht einerseits auf den Wettbewerb der übrigen Fabrikanten, andererseits auf das größere oder geringere Angebot der Arbeitskraft. Der Fabrikant trachtet zunächst, dem Arbeiter möglichst wenig zu zahlen, und dann, dem Käufer möglichst viel abzunehmen. Wenn ihm der Andrang von Arbeitern gestattet, solche um einen Spottpreis zu mieten, und die Abwesenheit von Konkurrenz oder sonstige Umstände ihm ermöglichen, das Fabrikat sehr teuer zu verkaufen, so bedenkt er sich auch keinen Augenblick lang, einen Gewinn zu nehmen, der nicht vier bis sechs, sondern hundert oder noch mehr Prozent des Kapitals ausmachen kann. Die Verteidiger der kapitalistischen Ausbeutung des Arbeiters sagen, die Verteilung des Unternehmergewinns an die Arbeiter würde wohl den Fabrikanten arm, aber die Arbeiter nicht reich machen und ihren Tagelohn nur unwesentlich, oft bloß um einige Pfennige täglich, erhöhen. Ein edles, ein sittliches Argument fürwahr! Nicht auf die Höhe des Betrags, auf den der Arbeiter geschatzt [taxiert - wp] wird, kommt es an, sondern auf die Tatsache, daß er zugunsten eines Kapitalisten überhaupt geschatzt wird. Es ist möglich, daß der Tagelöhner täglich nur um einige Pfennige mehr verdienen würde, wenn er die ganze Frucht seiner Arbeit für sich behalten könnte. Aber mit welchem Recht nötigt man ihn, auch nur den allerkleinsten Teil seines Erwerbs an einen Unternehmer zu verschenken, der ohnehin bereits die Zinsen seines Kapitals und den überreichen Lohn seiner problematischen Geistesarbeit verloren hat? Man denke sich nur einmal, daß ein Gesetz bestimmte, jeder Bewohner des deutschen Reichs habe jährlich einen Pfennig an irgendeinen SCHMIDT oder MEYER, nicht als Dank für Verdienste um das Gemeinwesen, nicht als Lohn für irgendeine Leistung, sondern als einfaches Geschenk, zu zahlen! Der so Begünstigte erhielte dadurch eine Jahresrente von fast einer halben Million Mark; jeder einzelne Steuerzahler aber würde seinen Beitrag gar nicht empfinden. Ein Pfennig! das ist so wenig, daß man darüber kein Wort zu verlieren braucht. Und doch würde ein solches Gesetz von der ganzen Nation mit einem Schrei der Entrüstung beantwortet werden und jeder Bürger würde sich gegen dessen rohe Willkür und Ungerechtigkeit empören. Allein das wirtschaftliche Gesetz, welches einem Teil der Nation, dem ärmsten, den Proletariern, eine Steuer, nicht von einem Pfennig, sondern im bescheidensten Fall von 30 bis 40, oft von 2 bis 300 Mark jährlich zugunsten dieses selben SCHMIDT oder MEYER auferlegt, finden die, welche ihm nicht unmittelbar unterworfen sind, ganz natürlich. Die Ungerechtigkeit ist in beiden Fällen genau dieselbe. Man fühlt aber die, welche am Proletarier begangen wird, wenig oder gar nicht, weil sie seit Jahrhunderten besteht, weil man sich an sie gewöhnt hat, vielleicht auch, weil sie nicht in der paradoxalen Form auftritt, die eine Wahrheit annehmen muß, um in verschlossene Geister einzudringen.

Wir haben also gesehen, daß großer Reichtum in allen Fällen nur durch die Aneignung der Frucht fremder, nie durch eigene Arbeit erworben wird. Mit eigener Arbeit kann man meist nur sein Leben fristen, manchmal etwas für die Zeit des Alters oder der Krankheit erübrigen, selten mäßigen Wohlstand erlangen. Einzelne Ärzte, Advokaten, Schriftsteller, Maler und darstellende Künstler vermögen allerdings ihre direkten, persönlichen Leistungen so hoch zu verwerten, daß sie Jahreseinkünfte bis zu einer Million Mark beziehen und am Ende ihres Lebens ohne Hilfe der Spekulation, ohne illegitimen Gewinn ein Vermögen von zwanzig Millionen aufgehäuft haben können. Aber solche Persönlichkeiten leben gleichzeitig in der ganzen zivilisierten Welt wahrscheinlich nie mehr als zweihundert, vielleicht nicht einmal hundert. Und auch ihr Reichtum hat, wenn man genauer zusieht, eigentlich bereits einen parasitären Charakter, welcher einzig und allein dem Schriftstellers nicht anhaftet. Wenn ein solcher eine Million verdient, weil er imstande war, ein Buch zu schreiben, das in einer oder zwei Millionen Exemplaren abgesetzt wurde, so stellt diese Million einen Lohn der Geistesarbeit dar, den die ganze Menschheit freiwillig und gern bezahlt hat. Wenn aber ein Maler ein Bild um eine halbe Million verkauft, ein Chirurg für eine Operation 50.000 Mark erhält, einem Advokaten für eine Verteidigung dieselbe Summe bezahlt wird oder eine Sängerin für eine Vorstellung 20.000 Mark bekommt, so drücken diese Beträge nicht einen von der Masse legitim befundenen und unbedenklich bewilligten Lohn individueller Leistungen aus, sondern sind der arithmetische Beweis der Tatsache, daß es in der Kulturwelt eine Minderheit von Millionären gibt, denen, weil sie ihren Reichtum nicht mit eigener Arbeit erworben haben, jeder Maßstab für den Wert einer Leistung fehlt, die jede Laune ohne Rücksicht auf die Kosten befriedigen und seltene Produktionen, wie ein gewisses Bild, den Gesang einer bestimmten Künstlerin, die Tätigkeit dieses einen Arztes oder Advokaten und keines anderen, einander um jeden Preis streitig machen. Sieht man jedoch von den Wenigen ab, die in den freien Berufsarten ganz ausnahmsweise erfolgreich sind, so bleibt keine einzige Ausnahme von der Regel bestehen, daß die großen Vermögen von der Ausbeutung der Nebenmenschen herrühren und schlechterdings keinen anderen Ursprung haben. Wenn der ererbte Landbesitz des Grundeigentümers eine große Wertzunahme erfährt, so ist es, weil die Zahl der von Grund und Boden losgerissenen Arbeiter wächst, die Industrie an Ausdehnung gewinnt, die Großstädte überwuchern, die hauptsächlich auf das Gewerbe gerichtete Arbeit der zivilisierten Gesellschaft den Preis der Nahrungsmittel in demselben Maß steigert, in welchem sie den der Industrieprodukte herabdrückt, mit einem Wort, weil andere Individuen arbeiten, nicht, weil der Grundbesitzer selbst tätig ist. Wenn der Spekulant Millionen anhäuft, so erwirbt er sie durch Mißbrauch einer überlegenen Kraft, heiße diese nun Klugheit oder Informationen oder Verbindungen, mit welcher er den Arbeitenden und Sparenden ihr Vermögen abpreßt, wie der Brigant [Straßenräuber - wp] dem Reisenden seinen Geldbeutel mit dem Tromblon [Kurzgewehr - wp]. Wenn der Industrie-Unternehmer zum Krösus wird, so geschieht das durch die methodische Ausbeutung der Arbeiter, die wie die Haustiere für ihre Leistungen Futter und Stall - beides möglichst notdürftig - unterhalten werden, während der ganze Wert ihrer Produktionen ihrem Herrn in die Tasche fließt. In diesem Sinne ist der übertriebene und darum unwahre Aussprucht PROUDHONs, daß Eigentum Diebstahl sei, richtig zu stellen. Dieses Wort kann man nur dann richtig nennen, wenn man sich auf den sophistischen Standpunkt stellt, daß alles Seiende für sich selbst vorhanden ist und aus der Tatsache seines Daseins sein Recht, sich selbst anzugehören, schöpft. Mit einer solchen Anschauung stiehlt man allerdings den Grashalm, den man rupft, die Luft, die man atmet, den Fisch, den man angelt; aber dann stiehlt auch die Schwalbe, wenn sie eine Fliege schluckt und der Engerling, wenn er sich in eine Baumwurzel einfrißt, dann ist überhaupt die Natur nur von Erzdieben bevölkert, dann stiehlt überhaupt alles, was lebt, das heißt von außen Stoffe, die ihm nicht gehören, in sich aufnimmt und sie organisch verarbeitet und ein Platinblock, der nicht einmal aus der Luft etwas Sauerstoff anwendet, um sich zu oxidieren, wäre das einzige Beispiel von Ehrlichkeit auf unserer Erdkugel. Nein, Eigentum, das vom Erwerb, das heißt vom Austausch eines bestimmten Maßes Arbeit gegen ein entsprechendes Maß von Gütern, herrührt, ist nicht Diebstahl. Wohl aber ist Großkapital, das heißt die Anhäufung von Gütern in einer Hand, die ein Individuum auch bei höchster Bewertung seiner Arbeit in einem Menschenleben nie mit eigener Produktion erwerben kann, immer ein an anderen Arbeitenden begangener Raub.

Die Minderheit von Räubern, für welche das ganze Gemeinwesen arbeitet, hat sich mächtig organisiert. Sie hat vor allem die Gesetzgebung, die seit Jahrhunderten in ihrer Hand ist, ganz und gar ihrem Interesse dienstbar gemacht. Bei jedem Gestz der zivilisierten Staaten möchte man mit MOLIERE ausrufen: "Vous etes ortévre, Monsier Josse!" [Sie sind ein Goldschmied, Monsier Josse! - wp] "Sie sind ein reicher Mann Herr Gesetzgeber, oder hoffen es zu werden und erklären alles für ein Verbrechen, was Sie hindern könnte, Ihren Reichtum zu genießen und zu mißbrauchen." Alles, was ein Mensch anders als mit offenbarer Faustgewalt an sich raffen kann, ist sein und bleibt sein. Und selbst wenn die Genealogie eines Vermögens zu buchstäblichem Raub oder Diebstahl (Eroberung, Einsteckung von Kirchengütern, politischer Vermögenskonfiskation) führt, so wird auch das Verbrechen zu einem unantastbaren Besitztitel, sofern man nur das Eigentum durch so und so viel Jahre festzuhalten vermocht hat. Das Staatsgesetz, das den Gendarmen in Bewegung setzt, genügt dem Millionär nicht. Er macht auch den Aberglauben zu seinem Bundesgenossen und verlangt von der Religion ein Schloß für seine Geldspinde, indem er in den Katechismus einen Satz einschmuggelt, der das Eigentum für heilig, den Neid nach dem Besitz des Nachbarn für eine mit Höllenfeuer strafbare Sünde erklärt. Er fälscht sogar die Moral, auf daß sie seine selbstsüchtigen Zwecke fördere, indem er der für ihn arbeitenden und von ihm ausgebeuteten Mehrheit ohne das geringste Lächeln weismacht, Arbeit sei eine Tugend und der Mensch bloß zu dem Zweck da, möglichst viel zu arbeiten. Wie kommt es, daß die besten und ehrlichsten Geister diesen Unsinn jahrtausendelang geglaubt haben? Arbeit soll eine Tugend sein? Kraft welches natürlichen Gesetzes? Kein Organismus in der weiten Lebewelt arbeitet, um zu arbeiten, sondern stets nur zum Zweck der Selbst- und Gattungserhaltung und gerade nur so viel, wie dieser Doppelzweck erfordert. Man macht wohl geltend, daß Organe nur durch Arbeit gesund bleiben und sich entwickeln, jedoch verkümmern, wenn sie feiern. Die Verteidiger der großkapitalistischen Moral, die dieses Argument aus der Physiologie holen, verschweigen aber, daß Organe durch übermäßige Arbeit noch viel rascher zerstört werden als durch gar keine. Ruhe, behaglicher Müßiggang ist dem Menschen wie allen anderen Tieren unendlich natürlicher, angenehmer und wünschenswerter als Arbeit und Anstrengung. Diese ist nur eine peinliche Notwendigkeit, durch die Erhaltung des Lebens bedingt. Der Erfinder des Märchens vom biblischen Paradies hat dies in seiner Naivität ganz klar empfunden, indem er seine ersten Menschen im Zustand der ursprünglichen Seligkeit ohne alle Bemühung dahinleben läßt und die Arbeit, die den Schweiß von der Stirn rinnen macht, als härteste Strafe für das Verbrechen des Sündenfalls hinstellt. Die natürliche, zoologische Moral würde die Ruhe als höchstes Verdienst erklären und dem Menschen nur so viel Arbeit als wünschenswert und rühmlich erscheinen lassen, wie zur Fristung seines Daseins unerläßlich ist. Dabei würden aber die Ausbeuter ihre Rechnung nicht finden, deren Interesse erfordert, daß die Masse mehr arbeitet, als für sie nötig ist und mehr hervorbringe, als ihr eigener Verbrauch erheischt, weil sie sich eben des Überschusses der Produktion bemächtigen wollen und darum haben sie die natürliche Moral unterdrückt und eine andere erfunden, durch ihre Philosophen begründen, ihre Prediger preisen, ihre Dichter besingen lassen, nach welcher Müßiggang aller Laster Anfang und Arbeit eine Tugend, die vornehmste aller Tugenden sein soll.

Freilich widersprechen die Ausbeuter sich selbst auf das unvorsichtigste. Sie vermeiden es zunächst sorgfältig, sich ihrem eigenen Moralkodex zu unterwerfen und beweisen damit, wie wenig erst sie ihn nehmen. Der Müßiggang ist nur bei den Armen ein Laster. Bei ihnen ist er ein Attribut höheren Menschentums und das Erkennungszeichen ihres vornehmeren Ranges. Und die Arbeit, die ihre zweiseitige Moral für eine Tugend erklärt, ist gleichzeitig in ihrer Anschauung eine Schande und bedingt eine gesellschaftliche Inferiorität [Teufelei - wp] Der Millionär klopft dem Arbeiter auf die Schulter, schließt ihn aber aus seinem Verkehr aus. Die Gesellschaft, welche sich die Kapitalistenmoral und Denkweise angeeignet hat, rühmt den Fleiß mit ausgesuchten Lobsprüchen, weist aber dem Fleißigen den untersten Rang an. Sie küßt die behandschuhte Hand und spuckt auf die schwielige. Den Millionär sieht sie wie einen Halbgott, den Tagelöhner wie einen Paria [Ausgestoßenen - wp] an. Warum? Aus zwei Grünen. Erstens wegen des Nachwirkens mittelalterlicher Vorstellungen, zweitens weil Handarbeit in unserer Kultur mit Unbildung gleichbedeutend ist.

Im Mittelalter war Müßiggang das Vorrecht des Adels, das heißt der höheren Rasse von Eroberern, Arbeit die Zwangsleistung des Volkes, das heißt der niederen Rasse von Besiegten und Unterjochten. Dadurch, daß man arbeitete, bekannte man sich als Sohn der Leute, die auf dem Schlachtfeld den Beweis geringerer Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit geliefert hatten und der freie Herr, der seinen Lebensunterhalt von einem Lehngut oder seinem Schwert verlangen durfte, sah auf den mit produktiver Arbeit Beschäftigten mit der Geringschätzung herab, die der Weiße für den Buschmann oder Papua empfindet und die im Selbstgefühl anthropologischer Überlegenheit begründet ist. Heute haben Müßiggang und Arbeit aufgehört, Rassenmerkmale zu sein. Die Millionäre sind nicht mehr die Nachkommen des Erobererstammes, die Proletarier nicht mehr die Söhne des unterjochten Volkes. Allein wie in so vielen anderen Fällen hat auch in diesem das geschichtliche Vorurteil die Verhältnisse überdauert, aus denen es entsprang, und der Reiche, der sich vom Armen unterhalten und ihn für sich arbeiten läßt, sieht in diesem noch in unseren Tagen wie vor Jahrhunderten der Edelmann in seinem Hörigen nur eine Art Haustier und durchaus keinen ihm ebenbürtigen Vollmenschen.

Handarbeit ist ferner in unserer Kultur mit Unbildung gleichbedeutend. In der Tat: die ganze Organisation der Gesellschaft macht dem Besitzlosen eine höhere Bildung unzugänglich. Der Sohn des Armen kann kaum eine Volksschule, geschweige denn das Gymnasium und die Universität besuchen, weil er auf Erwerb angewiesen ist, sowie er für seine Kräfte überhaupt einen Mieter finden kann. Man bewundere einmal an diesem Beispiel die Zweckmäßigkeit der bestehenden Einrichtungen: die kostspieligen Unterrichtsanstalten werden vom Staat, das heißt von den Steuerzahlern, also von den Arbeitern, den Proletariern so gut wie von den Millionären, unterhalten, kommen aber nur denen zugute, die mindestens soviel besitzen, daß sie bis zu ihrem 18. oder 23. Lebensjahr ohne Erwerbstätigkeit leben können. Der Proletarier, der seinem eigenen Sohn keine höhere Bildung angedeihen lassen kann, weil er zu arm dazu ist, muß dennoch den Sohn des Reichen auf seine Kosten studieren lassen, indem er mit die Steuern zahlt, aus denen Mittel- und Hochschulen unterhalten werden. Die Engländer, die Amerikaner sind noch bis zu einem gewissen Punkt logisch. Ihre höheren Unterrichtsanstalten, wenn sie schon nicht der Gesamtheit zugänglich sind, werden wenigstens auch nicht zu einer Last für die Gesamtheit, sondern sind Privatunternehmungen oder leben von Stiftungen. In den Kontinentalstaaten aber wird, getreu dem in ihnen herrschenden System der Ausbeutung des Volks zum Nutzen einer kleinen Minderheit, das höhere Unterrichtswesen vom Budget, das heißt von den Steuerleistungen aller genährt, obwohl seine Wohltaten bloß einer geringen Anzahl Privilegierter, noch lange nicht einem Prozent der Bevölkerung, zugewendet werden. Und wer sind die Bevorzugten, für die der Staat aus den Steuerbeiträgen der Gesamtheit Gymnasien, Realschulen, Fakultäten mit einem Aufwand von vielen Millionen erhält? Sind es die Fähigsten einer Generation? Sorgt der Staat dafür, daß in die Hörsäle seiner Lehranstalten nur solche Einlaß finden, bei denen der Unterricht der teuer bezahlten Professoren fruchtbringend angelegt ist? Sicher er sich eine Bürgschaft, daß sich nicht Strohköpfe der Plätze auf den Schulbänken bemächtigen, die bloß für Intelligenzen da sein sollten? Nein. Der Staat, der seinen höheren Unterricht nicht für alle, sondern nur für sehr wenige hat, trifft seine Auswahl nicht mit Rücksicht auf die geistige Berechtigung der Schüler zu reicherer Ausbildung, sondern mit Rücksicht auf ihre Vermögenslage. Der talentloseste Klotz kann sich auf Gymnasien und Fakultäten breit machen und die ihm gereichte geistige Nahrung ohne Nutzen für das Gemeinwesen absorbieren, wenn er nur wohlhabend genug ist, um die Kosten des Studiums zu bestreiten, der begabteste Jüngling dagegen bleibt vom höheren Unterricht ausgeschlossen, wenn es ihm an den nötigen Mitteln fehlt, zum großen Schaden der Gesamtheit, die dadurch vielleicht einen GOETHE, KANT oder GAUSS verliert.

So verketten sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Mißstände zu einem circulus vitiosus [Teufelskreis - wp], aus dem es keinen Ausweg gibt: der Arbeiter ist verachtet, weil er ungebildet ist, er kann sich aber nicht bilden, weil Bildung Geld kostet, das er nicht hat. Die Reichen haben sich nicht nur alle materiellen, sondern auch alle geistigen Genüsse mit Ausschluß der Armen vorbehalten; die erhabensten Güter der Zivilisation: Geisteskultur, Poesie, Kunst, sind tatsächlich nur für sie vorhanden und Bildung ist mit eines der vornehmsten und drückendsten ihrer Privilegien. Wenn sich ein Sohn der unteren Klassen durch Entbehrungen oder Erniedrigungen, durch Bettel oder übermenschliche Anstrengung dennoch die höhere Schulbildung angeeignet, Universitätsdiplome errungen hat, so kehrt er nicht etwa zur Arbeit seiner Väter zurück, so hat er nicht das Bestreben, das Vorurteil, welches den Männern der Handarbeit den untersten Rang in der Gesellschaft anweist, zu brechen, indem er das Beispiel eines Handarbeiters zeigt, der auf derselben Stufe geistiger Kultur steht wie der tintenklecksende Beamte oder stubenhockende Professor, sondern er beeilt sich, dieses Vorurteil zu bestärken, indem er auch die Handarbeit verachtet, eine Stelle in den Reihen der Privilegierten beanspruchend und sich wie die übrigen Mitglieder der höheren Klassen vom arbeitenden Volk ernähren lassen will. Es gibt Handwerke, in denen man bei einiger Geschicklichkeit ohne Mühe 3000 Mark jährlich verdienen kann; andererseits gewähren neun Zehntel aller Anstellungen im Staats- und Gemeinde-, Eisenbahn- und Handelsdienst bei ungleich größerer individueller Abhängigkeit nicht über 2400 Mark Jahresgehalt. Der Studierte zieht dennoch unbedenklich die 2400 Mark mit Bürosklaverei den 3000 Mark mit Freiheit vor, denn als Beamter gehört er zu den gesellschaftlich Privilegierten, zur geschlossenen Bruderschaft der Bildungsphilister, als Arbeiter aber steht er außerhalb der gesellschaftlich in Betracht kommenden Kasten und wird als Barbar betrachtet, der nicht in derselben Geistesatmosphäre atmet wie der Gebildete. Das würde an dem Tag anders werden, an dem ein Studierter sich an die Hobelbank stellen wollte, an dem man einem Mann in Schurzfell mit dem HORAZ in der Hand begegnen würde und an dem der Schmied ode Schuster gewordene Abiturient nach getaner Arbeit in einem ästhetischen Teekränzchen ganz so mitschwatzen könnte wie der Referendarius oder Kanzlei-Assessor. Denn die ehrliche Arbeit ansich hat die gleiche Würde, ob sie die Erzeugung von Überröcken oder die Herstellung von Eisenbahnen bezweckt und gleiche Geistesbildung vorausgesetzt, hat am Feierabend der Ingenieur nicht den geringsten Anspruch auf Vorrecht vor dem Schneider. Der Studierte tut aber nichts zur Herbeiführung solcher vernünftigen Verhältnisse; er läßt die Bluse die Uniform des Kafferntums bleiben und ehe er sich in dieser sattessen würde, darbt er lieber im schäbigen Überrock. Daraus ergibt sich eine der drohendsten Formen der sozialen Frage: die Überfülltheit aller freien Berufsarten. Der Studierte hält sich für zu gut - und muß sich bei den herrschenden Anschauungen für zu gut halten -, um in die tiefste Schicht der Gesellschaft, in den Stand der Handarbeiter niederzutauchen und verlangt von der Gesellschaft, daß sie ihn wie einen Herrn ernähre. Die Gesellschaft hat aber nur einen begrenzten Bedarf für die Gattung Arbeit, welche der Studierte heute leistet, und so ist in den alten Kulturländern wohl die Hälfte aller Studierten dazu verurteilt, ihr Leben lang zu hoffen und zu gieren und nichts zu erlangen, um den beschränkten Bissen zu kämpfen und dabei zu verhungern, vor der Tafel der schmausenden oberen Zehntausend zu stehen und sich den Schmachtriemen eng zu schnallen. Menschenfreunde jenes Schlags, die Krieg und Pest für einen Segen erklären, weil sie Raum schaffen und den Überlebenden bessere Daseinsbedingungen gewähren, haben dann auch die Bildung für ein Übel angesehen und die Vermehrung der Mittel- und Hochschulen als ein Attentat gegen das Volksglück bezeichnet, weil dadurch nur noch mehr Deklassierte, Unzufriedene, künftige Barrikadenkämpfer und Petroleure großgezogen werden. Sie haben beim heutigen Stand der Dinge nicht Unrecht. Solange sich der Studierte durch Handarbeit erniedrigt fühlt, weil der Arbeiter verachtet ist, solang er in seinem Diplom eine Anweisung auf Versorgung durch die Gesellschaft sieht und sich durch seine Bildung zum Schmarotzerdasein der Reichen berechtigt glaubt, wird ihn die letztere in fünf Fällen von zehn weit unglücklicher machen, als er es ohne sie im Handwerker- oder selbst Tagelöhnerdasein je hätte sein können. Dem ist nur dadurch abzuhelfen, daß man der Bildung ihre natürliche Rolle wiedergibt. Sie muß Selbstzweck werden. Man muß zur Anschauung gelangen, daß die Bildung ansich ein ausreichender Lohn der Anstrengung ist, um sie zu erlangen, daß man kein Recht hat, für diese Anstrengung noch einen anderen Lohn zu erwarten und daß die Bildung der Pflicht produktiver Arbeit nicht enthebt. Der Gebildete hat ein reicheres und volleres Bewußtsein seines Ichs, er erfaßt die Erscheinungen der Welt und des Lebens tiefer, ihm sind künstlerische Schönheiten und geistige Genüsse zugänglich und sein Dasein ist ein ungleich weiteres und intensiveres, als das des Unwissenden. Es ist undankbar, von der Bildung außer dieser unschätzbaren Bereicherung des inneren Lebens auch noch das Brot zu verlangen, das zu liefern Pflicht der Hände ist. Wenn aber seinerseits der Gebildete die unmittelbare Güterproduktion nicht verschmähen sollte, so müßte andererseits die Gesellschaft die Bildung allen Bildungsfähigen auch dem Maß ihrer Fähigkeit entsprechend zugänglich machen. Der Schulzwang ist dazu nur ein schwacher Anfang. Wie will man arme Eltern anhalten, ihre Kinder bis zum zehnten oder zwölften Jahr zur Schule zu schicken, wenn sie nicht imstande sind, die Kinder zu ernähren und zu bekleiden und dieselben arbeiten lassen müssen, damit sie zu ihrem Unterhalt beitragen? Und ist es berechtigt, ist es logisch, daß der Staat sagt: "Du mußt Schreiben und Lesen lernen, darüber hinaus aber darfst du nicht gehen!" Warum hört der Schulzwang bei der Elementarschule auf? Warum erstreckt er sich nicht auf den höheren Unterricht? Entweder ist Unwissenheit ein nicht bloß dem Individuum, sondern auch der Gesamtheit gefährliches Gebrechen oder sie ist kein solches. Ist sie keines, dann wozu die Kinder auch nur zum Elementarunterricht zwingen? Ist sie eines, warum es nicht durch ausgedehntere Bildung möglichst vollständig heilen? Ist die Kenntnis der Naturgesetze nicht ebenso wertvoll, wie die des Einmaleins? Braucht der künftige Wähler, der die Geschicke seines Vaterlandes mitbestimmen wird, keine Bewandertheit in der Geschichte, Politik und Nationalökonomie? Kann er aus der ihm herbeigebrachten Kunst des Lesens den vollen Nutzen ziehen, wenn man ihn nicht bis zum Verständnis der poetischen und prosaischen Meisterwerke seiner Literatur führt? Das setzt mindestens Mittelschulbildung voraus. Warum dann den Schulzwang nicht auch auf die Mittelschule ausdehnen? Das Hindernis ist ein materielles. Der arme Mann, der schon so große Not hat, sein Kind auch nur bis zum Verlassen der Volksschule zu unterhalten, könnte unmöglich die Last der Versorgung desselben bis zu einem vorgerückten Alter, etwa bis zum achtzehnten oder zwanzigsten Lebensjahr, tragen. Er ist gezwungen, die Arbeitskraft des Kindes so früh wie möglich zu verwerten. Damit die Mittelschulbildung ebenso allgemein werde, wie die Volksschulbildung, müßte entweder die Arbeit der Schuljugend so organisiert werden, wie in gewissen Bildungsanstalten der Vereinigten Staaten, wo die Zöglinge neben dem Studium Ackerbau und Handwerke mit genügendem Erfolg betreiben, um sich vom Ertrag ihrer Arbeit, allerdings unterstützt durch menschenfreundliche Stiftungen, ernähren zu können, oder, was weit logischer und besser wäre, das Gemeinwesen müßte nicht bloß für den Unterricht, sondern auch für den vollen, materiellen Unterhalt der studierenden Jugend sorgen. "Das wäre der reinste Kommunismus!" rufen wohl die entsetzten Anhänger jenes organisierten Egoismus, den man die bestehende Wirtschaftsordnung nennt. Ich könnte ihnen den Gefallen tun, das grausame Wort zu vermeiden, zu sagen: Nein, das wäre nicht der Kommunismus, sondern die Solidarität. Ich verschmähe es aber, mit dem Gedanken des Versteckens zu spielen. Nun denn: ja, das wär ein Stück Kommunismus! Aber stecken wir denn nicht ohnehin im vollen Kommunismus? Ist es nicht Kommunismus, daß der Staat für die ganze Kindergeneration vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr unentgeltlichen Schulunterricht besorgt? Ist die so gereichte Geistesnahrung nicht auch eine Nahrung? Kostet sie nicht auch Geld? Ist es nicht die Gesamtheit, die dieses Geld aufbringt? Und die Armee? Beruth sie nicht auf reinem Kommunismus? Unterhält nicht die Allgemeinheit eine ganze Generation von Jünglingen zwischen dem 20. und 23. Lebensjahr und zwar vollständig, nicht bloß mit geistiger, sondern auch mit leiblicher Nahrung, mit Wohnung und Kleidung? Weshalb sollte es schwerer oder unvernünftiger sein, eine Million Kinder während der vollen Schulzeit bis zur Universität, als eine halbe Million Jünglinge während der Militärdienstzeit auf Gemeinkosten zu unterhalten? Die Kosten? Sie wären nicht größer als die der Armee-Unterhaltung. Und die Heranbildung einer Armee ist für die Sicherheit und das Gedeihen einer Nation nicht wichtiger als die höhere Schulung der heranwachsenden Generation. Und übrigens: Weshalb sollte man nicht beide Zwecke verbinden? Weshalb nicht die ganze männliche Jugend bis zum siebzehnten oder achtzehnten Jahr wie jetzt das Heer auf Staatskosten kleiden und ernähren und ihr neben dem Volks- und Mittelschulunterricht gleichzeitig die militärische Ausbildung geben? Die nationale Arbeit würde die ökonomisch wertvolleren Arme 20- bis 23-jähriger Arbeiter gegen die minder kostspieligen Arme von Knaben einlösen und der Gewinn, welcher der Gesamtheit daraus erwüchse, würde genügen, den Betrag zu decken, um den eine Schülerarmee mehr kosten würde als die gegenwärtige Armee zu dreijähriger Unproduktivität verurteilter vollentwickelter Arbeitskräfte.

Damit ein solches System vollständig sei, setzt es noch eine Einrichtung voraus. Nicht jede Intelligenz ist geeignet, höhere und höchste Bildung in sich aufzunehmen. Wenn der Staat die ganze Schuljugend unterhält und dadurch die Bildung auch dem Sohn des Ärmsten zugänglich macht, so muß er dafür sorgen, daß seine Wohltat nur solchen zukomme, die ihrer würdig sind und denen sie zum Nutzen wird. Am Ende eines jeden Schuljahres müßte eine mit jeder Stufe strengere Wettprüfung vorgenommen werden und nur die als Sieger aus ihr hervorgehen, hätten das Recht, in die höheren Lehranstalten vorzurücken. So würde der Unbegabte die Schule mit dem leichten, aber für seine Tragkraft gerade ausreichenden Gepäcke der Elementarkenntnisse, der mäßig Begabte sie mit einigem oder dem ganzen Mittelschulwissen verlasen und nur der Hochbegabte zu den obersten Lehranstalten, zu den Fakultäten und wissenschaftlichen, technischen oder Kunstfachschulen zugelassen werden. So ist es zu erreichen, daß höhere Bildung zum Gemeingut des ganzen Volkes wird und nicht länger das Vorrecht der Reichen bleibt; die Bluse des Handarbeiters ist dann nicht mehr mit Rohheit gleichbedeutend und der Studierte vergibt sich nichts, wenn er seinen Lebensunterhalt von der unmittelbaren Gütererzeugung verlangt; die Überfüllung der freien Berufsarten mit anmaßenden und unberechtigten Mittelmäßigkeiten ist verhütet; das wirkliche Talent, das gezwungen war, in einem Dutzend Wettprüfungen immer schwerere Proben seiner vollen Begabung zu liefern, findet nach der letzten Prüfung in seinem Diplom eine absolute Garantie ehrenvollen Erwerbs, die Deklassierten verschwinden, das Elend im Überrock hört auf und eine der gefährlichsten Wunden am Gesellschaftskörper ist geheilt.

Neben der Minderheit reicher Müßiggänger, die von der Arbeit der Fleißigen leben und der Gruppe der Unnötigen, die aus dem Besitz eines Diploms irgendwie das Recht ableiten zu dürfen glauben, gleich den Millionären zu schmaroten, haben wir in unserem Bild der wirtschaftlichen Zustände den besitzlosen, von der natürlich nährenden Scholle losgerissenen Industriearbeiter gesehen. Welch' eine tragische Gestalt mitten in unserer gerühmten Zivilisation, dieser Proletarier, welch' eine furchtbare Kritik unserer Kultur! Man zitiert oft die Zeilen, in denen La BRUYERE den leibeigenen französischen Bauern seiner Zeit schildert: "eine Art finsteren, scheuen Tiers, ausgemergelt, in Höhlen wohnend, auf allen Vieren Gras fressend, mit Lumpen bedeckt, bei der Annäherung eines Menschen erschrocken fliehend und doch mit einem menschlichen Gesicht versehen, und doch ein Mensch." Die Schilderung gilt vom Tagelöhner unserer Tage. Elend genährt, hauptsächlich auf Kartoffeln und Fleischabfälle in Wurstform angewiesen, mit Fusel vergiftet, von dem er den Selbstbetrug eines lügnerischen Kraft- und Sattheitsgefühls verlangt, schlecht gekleidet, in eine besondere Tracht gehüllt, die ihn schon von weitem als den Armen, den Enterbten bezeichnet, aus Mangel an Zeit und Geld zur körperlichen Unreinlichkeit verurteilt, steckt er in den finstersten, schmutzigsten Winkeln der Großstädte. Er hat nicht nur keinen Anteil an den besseren Nahrungsmitteln, welche die Erde hervorbringt, auch Licht und Luft, die doch in unbeschränkter Menge für alle Lebewesen da zu sein scheinen, sind ihm aufs kargste zugemessen oder ganz vorenthalten. Seine ungenügende Nahrung und sein übermäßiger Kraftverbrauch erschöpfen ihn so, daß seine Kinder rachitisch werden und er selbst einem frühen Tod anheimfällt, dem oft genug ein langes Siechtum vorangeht. Seine ungesunde Wohnung macht ihn und seine Nachkommenschaft unrettbar zur Beute der Skrophulose [Halsdrüsengeschwulst - wp] und Tuberkulose. Er ist eine Art verlorener Posten, den jede Seuche zu allererst niedermetzelt. Er ist schlechter daran als der Sklave des Altertums, denn ganz so gedrückt, ganz so abhängig von Herrn und Vogt, wie dieser, kann er für den Verlust seiner Freiheit nicht einmal auf die beständnige Haustierversorgung mit Stall und Futter rechnen und hat überdies vor seinem antiken Leidensgenossen das fressende neuzeitliche Bewußtsein seiner Menschenwürde und seiner natürlichen Rechte voraus. Er ist aber auch übler dran als der Wilde, der in den Urwäldern Amerikas oder Grasebenen Australiens umherschweift, denn gleich diesem ganz allein auf seine eigene Kraft angewiesen, gleich diesem Tag für Tag aus der Hand in den Mund lebend und vom Hunger heimgesucht, wenn er einige Stunden lang nichts erbeutet hat, ist er überdies des hohen Genusses beraubt, den die volle Auslebung aller Leibes- und Geisteskräfte im Kampf mit natürlichen Hindernissen, Tieren und Menschen gewährt und er muß von seinem ohnehin weitaus unzulänglichen Arbeitsertrag auch noch einen ansehnlichen Teil an das Gemeinwesen abgeben, das ihm als Gegenleistung Ketten und Hiebe bietet. Die Zivilisation, die ihm Befreiung und Wohlbefinden versprochen, hat ihm allein nicht Wort gehalten. Er ist von ihren höchsten Gütern ausgeschlossen. Die moderne Hygiene, die das Heim des Wohlhabenden so behaglich gestaltet, ist in seine Schlupfwinkel nicht eingedrungen; in der vierten Wagenklasse der Eisenbahnen reist er bequemer als einst zu Fuß oder in einem Planwagen, den eine Schindmähre zog; die Errungenschaften der Forschungen gelangen nicht bis zu seinem Verständnis; die Hervorbringungen der schönsten Künste, die dichterischen Meisterwerke seiner Sprache bereiten ihm keinen Genuß, weil er nicht erzogen ist, sie zu begreifen; selbst die Maschine, die ihm zum Segen werden sollte, hat seine Sklaverei eher erschwert als erleichtert. Es ist gewiß ein großer Schritt zur Beglückung der Menschheit, daß man die Naturkräfte zur Verrichtung aller brutalen Arbeit einspannen kann; denn das Wesentliche und Hohe am Menschen ist nicht seine Muskulatur, sondern sein Gehirn; als Kraftquelle steht er hinter dem Rind und Maulesel und wenn man von ihm bloß mechanische Arbeit verlangt, so erniedrigt man ihn zum Rang eines Saumtiers [Schleppesel - wp]. Allein die Maschine ist bisher nicht der Heiland, der Erlöser und Befreier des Arbeiters geworden, sondern hat ihn im Gegenteil zu ihrem eigenen Diener gemacht, weil seine Enterbung von Grund und Boden und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit, der Natur seinen Bedarf an ihren Erzeugnissen unmittelbar abzuringen, ihn nach wie vor auf die bloße Verwertung seiner Muskelkraft in der Industrie anweist und zum schwächeren, unvollkommeneren, demütigen Konkurrenten der Maschine hinabdrückt. Die Solidarität des Menschengeschlechts empfindet er nur insofern, als sie ihm viele Pflichten auferlegt, während sie ihm kaum irgendein Recht einräumt. Wenn er seine Arbeitskraft nicht verwerten kann oder durch Krankheit oder Altersschwäche an nützlicher Tätigkeit verhindert ist, so übernimmt es die Gesellschaft wohl, für ihn zu sorgen; sie schenkt ihm Almosen, wenn er bettelt, sie legt ihn auf ein Spitalbett, wenn er fiebert, sie steckt ihn - manchmal - in ein Armenhaus, wenn er vor Bejahrtheit nicht weiter kann; aber mit wie unwirschen, mürrischen Mienen erfüllt sie diese Pflichten! Sie reicht ihrem unwillkommenen Kostgänger mehr Demütigungen als Bissen und währen sie auf der einen Seite mit Ächzen und Krächzen seinen Hunger stillt und seine Blöße bedeckt, erklärt sie es auf der anderen Seite für die größte Schande, diese Wohltaten aus ihrer Hand anzunehmen und hat für den Unglücklichen, der ihre Milde in Anspruch nimmt, die tiefste Verachtung. Für seine Tage der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und des Alters selbst zu sorgen ist dem Proletarier unmöglich. Wie sollte er, der nicht das Nötigste verdient, noch etwas erübrigen? Für seinen Arbeitstag einen Preis zu fordern, der ihm mehr gewähren würde als die Befriedigung seiner allerdringendsten Bedürfnisse, daran kann er nicht denken, denn die Zahl der Enterbten ist zu groß und die Enterbung der Massen macht noch immer Fortschritte und es werden sich notwendig Wettbewerber finden, die sich für ihre Arbeit mit einem Lohn begnügen, der sie eben nur davor bewahrt, gleich Hungers zu sterben. An diesem Verhältnis kann der Proletarier aus eigener Kraft schlechterdings nichts ändern. Es hilft ihm nichts, noch so fleißig zu sein, mit der größten Anspannung seiner Kräfte wird er nie über die strikte Befriedigung seiner unmittelbarsten Bedürfnisse hinausgelangen, ganz abgesehen davon, daß selbst das niedrigste Ausmaß des Tagelohns bereits die äußerste Ausnützung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters zur Voraussetzung hat. Im Gegenteil: je mehr der Proletarier arbeitet, umso mehr verschlimmert er seine Lage. Das scheint paradox und ist doch durchaus wahr. Produziert der Proletarier mehr, so wird sein Erzeugnis billiger und seine Entlohnung bleibt dieselbe, wenn sie nicht geringer wird; so verdirbt er sich durch angestrengte Tätigkeit selbst seinen Markt und entwertet nur seine Arbeitskraft. Diese Erscheinung würde nicht eintreten, wenn die Produktion der Großindustrie durch die Nachfrage bestimmt würde. Dann könnte eine Überproduktion nie vorkommen, der Preis der Güter würde nicht durch ihre Menge gedrückt und der Arbeiter erhielte für mehr Arbeit auch höheren Lohn. Der Kapitalismus fälscht aber dieses natürliche Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. Ein Unternehmer legt eine Fabrik an und läßt Waren herstellen, nicht weil er die Überzeugung erlangt hat, daß für die letzteren unbefriedigter Bedarf vorhanden ist, sondern weil er Kapital besitzt, für dasselbe Verzinsung sucht und einen Nachbarn kennt, der mit seiner Fabrik Reichtümer erworben hat. So tritt individuelle Laune oder Unverstand an die Stelle der Wirtschaftsgesetze und der Markt wird mit einem Überschuß von Gütern überschwemmt, weil ein Einzelner auf der Jagd nach Millionen eine falsche Fährte verfolgt. Der Irrtum rächt sich freilich; der Unternehmer drückt die Preise, bis sie nicht mehr lohnend sind und geht zugrunde; alle übrigen Fabrikanten desselben Artikels werden mit ihm zu Boden gerissen; über einen ganzen Produktionszweig bricht eine Landes- oder Weltkrise herein. Das eigentliche Opfer ist aber doch der Proletarier, der, bis der Unternehmer sein Kapital erschöpft hat und nicht mehr weiter kann, gegen immer geringeren Lohn immer mehr hat arbeiten müssen und am Schluß des ungleichen Kampfes zwischen Nachfrage und Angebot, der mit der Besiegung des letzteren endet, auf kürzere oder längere Zeit sogar völlig brotlos wird. Das ist die Rolle des Proletariers und Unternehmers in der Großindustrie; der erstere ermöglicht dem letzteren die Anhäufung mächtiger Kapitalien; die Kapitalien suchen Verwertung und glauben sie in der Anlage neuer Fabriken zu finden; dadurch entsteht Überproduktion und scharfe Konkurrenz mit ihrem Gefolge von Preisverfall und Lohn-Dumping und zuletzt tritt die Krise ein, die den Arbeitern ihren Erwerb raubt. So macht der Industriesklave seinen Herrn reich, dafür wird ihm sein Brot zuerst geschmälert und zuletzt entzogen. Gibt es eine schönere Jllustration der Gerechtigkeit des bestehenden Wirtschaftszustandes?
LITERATUR Max Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig 1889