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AUGUST MESSER
Einführung in die Erkenntnistheorie
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"Daß der Himmel da droben nicht blau, die Wiese hier nicht grün, sondern daß  blau und  grün nur Empfindungen  in mir sein sollen, derartiges erscheint dem Naiven höchst verwunderlich. Empfindungen oder überhaupt Wahrnehmungsinhalte, als dem Bewußtsein angehörig, von den wahrgenommenen Dingen zu unterscheiden, liegt ihm ganz fern. Die Dinge sind eben einfach da für ihn, und zwar die Dinge selbst, sozusagen in eigener Person."

"Die atomistische Auffassung hat die scheinbare Kontinuität der ausgedehnten Masse aufgelöst. Diese besteht danach aus Molekülen und weiterhin aus Atomen, die durch äthererfüllt Abstände getrennt sind, die weit die Atomgröße übertreffen. Ja, die  energetische Auffassung der Materie nimmt auch den Atomen das Stoffliche und faßt sie als ausdehnungslose, rein punktuelle Zentren von Kraftsphären. Jedenfalls ist auch beim Tastsinn eine eigentlich stoffliche Berührung ausgeschlossen."

"Das von dem Physiologen  Johannes Müller aufgestellte  Prinzip der spezifischen Sinnesenergien besagt: die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der  äußeren Körper zum Bewußtsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustands eines  Sinnesnerven  zum Bewußtsein, veranlaßt durch eine äußere Ursache; und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden."

IV. Kapitel
Naiver und kritischer Realismus

1. Die erkenntnistheoretische Naivität
als Standpunkt des praktischen Lebens

Als bedeutsamer Unterschied unter den Wissenschaftsgruppen ist uns bereits wiederholt der zwischen Ideal- und Realwissenschaften entgegengetreten. Wir haben ihre Eigenart im Anschluß an die gewöhnliche Auffassung vorläufig in der Weise bestimmt, daß sich die ersteren mit nur gedachten Objekten beschäftigen, während die letzteren eine vom Bewußtsein unabhängige Realität (11) zu erkennen suchen. Aber läßt sich diese Auffassung der Realwissenschaften auch gegenüber einer kritischen Prüfung aufrechterhalten? Ist die Außenwelt (worunter wir hier auch unsere Mitmenschen, ja unseren eigenen Leib einbegreifen) eine unabhängig von uns (genauer: von unserem Bewußtsein) existierende Wirklichkeit, und wenn sie dies ist, inwiefern kann da von ihrer Erkenntnis die Rede sein?

Zum Ausgangspunkt unserer Behandlung dieser Frage wählen wir wohl am besten diejenige Auffassung der Außenwelt, die aller erkenntnistheoretischen Reflexion vorangeht und die man darum als die "naive" bezeichnen kann. Dabei ist nicht etwa der Standpunkt des primitiven Menschen auf niederster Kulturstufe (12) und die bei ihm vorherrschende personifizierende Auffassung der Umwelt gemeint, in der die Natur belebt oder von beseelten Wesen durchwaltet erscheint. Wir denken hier vielmehr an die Auffassung des erwachsenen Kulturmenschen, der aber noch nicht über die Erkenntnis zu reflektieren begonnen hat. Nun wird freilich ein solcher selbst nicht in der Lage sein, die Eigenart seines erkennenden Verhaltens zu charakterisieren, weil er sich dieser überhaupt noch nicht bewußt geworden ist. Die eigene Naivität vermag der Naive selbst nicht zu schildern. Das naive Erkennen kann also nur der darstellen, der in die Erkenntnistheorie schon einigermaßen eingedrungen ist. Aber er hat sich dabei zu hüten, daß er nicht Ansichten einzelner erkenntnistheoretischer Richtungen oder die bestimmte Betrachtungsweise einzelner Wissenschaften, wie der Naturwissenschaft oder Psychologie, ohne weiteres in die naive Erkenntnisweise hineinträgt. Der Erkenntnistheoretiker wird am besten so vorgehen, daß er sich frägt, inwiefern in der Reflexion über das Erkennen oder im Studium der erkenntnistheoretischen Literatur ihm Gedanken aufgegangen und Auffassungen entgegengetreten sind, die ihm neu, ja überraschend und verwunderlich vorkamen. Daraus kann er erschließen, welches die bei ihm bis dahin vorhandene naive Anschauung war; denn diese verrät sich ja in einem solchen Staunen.

Allerdings wird eine solche Aufdeckung des naiven Bewußtseins (soweit sie überhaupt gelingt) zunächst nur für die eigene Person des Erkenntnistheoretikers Geltung haben, nur seine eigene naive Auffassung wird sie enthüllen. Es kann jedoch in verschiedener Weise geprüft werden, inwieweit ihr auch eine allgemeinere Geltung zukommt. Man kann sich zunächst an solche Philosophen halten, die - zumindest verglichen mit späteren - einen naiven Standpunkt des Erkennens vertreten. In diesem Sinne darf unter den großen griechischen Philosophen vor allem ARISTOTELES (384-322 v. Chr.) als Repräsentant eines naiven Standpunkts angesehen werden - besonders im Vergleich mit KANT; denn gewisse erkenntnistheoretische Reflexionen fehlen auch bei ihm nicht (13). Wir haben aber noch eine andere, näherliegende Erkenntnisquelle. Es ist unser praktisches Verhalten, das - trotz aller erkenntnistheoretischen Reflexion - im wesentlichen ungeändert bleibt, und das wir auch bei unseren Mitmenschen wiederfinden. In diesem Verhalten, wie auch vielfach in geläufigen Redeweisen, spiegelt sich das naive Erkennen deutlich ab. - Daß wir Menschen überhaupt Erkenntnisse gewinnen können und Erkenntnisse besitzen, das bildet (wie wir zu Beginn des II. Kapitels betonten) die allgemeinste Voraussetzung unserer Untersuchungen. Nun besteht aber keine unüberbrückbare Kluft zwischen dem vorwissenschaftlichen und dem wissenschaftlichen Erkennen. Wir finden vielmehr in allen Einzelwissenschaften eine große Zahl von Forschern erfolgreich tätig, die über die Erkenntnis selbst keine systematische Reflexion angestellt haben. Wenn wir deren Verhalten als erkenntnistheoretisch-"naiv" bezeichnen, so liegt dieser Benennung jede geringschätzige Nebenbedeutung fern. Es gibt zwar Erkenntnistheoretiker, die von der Höhe ihres Standpunkts auf eine solche Naivität nur mit Verachtung herabsehen, aber das darf uns nicht hindern, zumal in einer einführenden Schrift, den Ausgangspunkt auf dem Boden zu suchen, auf dem wir zunächst alle stehen und uns sicher bewegen. Sollten wir aber im Verlauf unserer Erwägungen durch einleuchtende Gründe bestimmt werden, unsere ursprüngliche Auffassung zu ändern, so wollen wir dies nur soweit tun, als es sachlich geboten erscheint. Zunächst aber ist es erforderlich, daß wir uns den naiven Begriff des Erkennens selbst möglichst vielseitig zu Bewußtsein bringen.


2. Der naive Realismus (14).

Als "Realismus" bezeichnet man diese ursprüngliche Auffassungsweise, weil wir uns dabei einer wirklichen, einer "realen" Welt gegenüber wissen. Diese Welt besteht aus zahllosen Dingen, die gewisse Eigenschaften besitzen und in bestimmten Beziehungen stehen. In ihr spiegeln sich Vorgänge ab, die ihre Ursachen und Wirkungen haben. Diese Welt ist uns mit unseren Mitmenschen gemeinsam; freilich können diese auch selbst zu ihr gerechnet werden. Es liegt mir in meinem praktischen Verhalten völlig fern, daran zu zweifeln, daß diese Welt und diese Mitmenschen genauso wirklich sind, wie ich selbst. Zwischen "Wirklichem" und "bloß Vorgestelltem" besteht für mich ein unaufhebbarer Unterschied. Ich kann mir manches in der Phantasie vorstellen, aber das bleibt vom Wirklichen geradeso scharf geschieden, wie das, was ich im Traum erlebe. Bin ich aber ausnahmsweise einmal zweifelhaft, ob das, was ich zu hören oder zu sehen glaubt, nicht etwa eine "Einbildung" ist, oder bin ich darüber unsicher,  was  es ist, so gehe ich an das Ding heran, um es zu betasten, oder ich befrage andere. Solche vereinzelte Fälle der Unsicherheit oder auch des Irrtums können meine Überzeugung, daß ich es mit einer wirklichen Welt zu tun habe, nicht im Geringsten stören.

Diese Welt nehme ich mit meinen Sinnen wahr, und zwar so, wie sie ist. Die mit Auge, Ohr und anderen Sinneswerkzeugen wahrgenommenen Eigenschaften werden den Dingen selbst zugeschrieben: die Dinge haben diese bestimmte Größe, Gestalt, Schwere, Farbe, Häre oder Weichheit. Auch ihr Geschmack und ihre Temperatur erscheinen als an ihnen haftend oder von ihnen ausgehend und ausstrahlend, ähnlich wie Schall und Duft von ihnen herkommt. Was da von ihnen ausgeht, das bleibt unbestimmt. Daß der Himmel da droben nicht blau, die Wiese hier nicht grün, sondern daß "blau" und "grün" nur Empfindungen "in mir" sein sollen, derartiges erscheint dem Naiven höchst verwunderlich. Empfindungen oder überhaupt Wahrnehmungsinhalte, als dem Bewußtsein angehörig, von den wahrgenommenen Dingen zu unterscheiden, liegt ihm ganz fern. Die Dinge sind eben einfach da für ihn, und zwar die Dinge selbst, sozusagen in eigener Person. Und zwar sind sie an der Stelle, wo er sie wahrnimmt: der rufende Kuckuck hier rechts hinter ihm; das Häuschen dort, fern am Wald. Daß Empfindungen etwa aus dem Kopf "hinausprojiziert" werden, davon weiß der Naive nicht das Geringste - sowenig er sich bei seinen Wahrnehmungen irgendwelcher Vorgänge im Gehirn bewußt ist.

Und nicht bloß auf äußere Dinge und ihre Eigenschaften, sondern auch auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erstreckt sich nach der Auffassung des naiven Realisten unmittelbar die Wahrnehmung. Wir nehmen direkt wahr, daß es das Vorüberfahren eines Wagens ist, das jenes Geräusch bewirkt, oder daß der Wind die Zweige bewegt, oder dieser Stich Schmerz verursacht.

Auch Seelisches glaubt man unmittelbar wahrzunehmen - nicht in allen Fällen freilich: man weiß wohl, daß Menschen "sich verstellen", daß sie ihre wirklichen Gedanken und Gefühle verhehlen können; daß man niemanden "ins Herz zu sehen" vermag. Aber im allgemeinen "sieht" man doch jemand unmittelbar seinen Ärger, seine Freude oder Verstimmung "an", man kann ihm diesen oder jenen Wunsch "an den Augen ablesen"; man hört die Worte der anderen nicht bloß als leere Wortklänge, sondern man vernimmt unmittelbar die in den Worten ausgedrückten Gedanken. Ihre Fragen und Erwiderungen, ihre Wünsche und Ermahnungen, ihre Versprechungen und Verbote sind geradeso unmittelbar für uns wahrnehmbar, wie ihre Gestalt und Bewegungen. Daß wir die Menschen etwa nur als Körper wahrnehmen, und daß wir alles Seelische erst durch "Introjektion" in sie hineinverlegen - dieser Gedanke liegt ganz außerhalb des Gesichtskreises des Naiven. Daß unsere Wahrnehmung des Seelenlebens unserer Mitmenschen meist kein kühl theoretisches ist, sondern sich mit Gefühlen und Willensregungen, mit Freude und Trauer, Zustimmung und Ablehnung, Furcht und Hoffnung, Begehren und Verabscheuen auf das Innigste verquickt, sei nur beiläufig erwähnt.

Ganz realistisch ist auch unsere Überzeugung davon, daß den seelischen Vorgängen und geistigen Betätigungen der Menschen gewisse bleibende Anlagen des Charakters und Fähigkeiten des Geistes zugrunde liegen, die auch da sind, wenn sie sich nicht gerade betätigen und wenn niemand sie bemerkt.

Auch bei den Dingen im Raum wird die Existenz nicht mit dem Wahrgenommenwerden gleichgesetzt. Die Dinge sind auch da, wenn ich sie nicht wahrnehme, oder wenn sie überhaupt niemand wahrnimmt. Ebenso geht alles Geschehen ruhig weiter, ganz unabhängig davon, ob es jemand wahrnimmt oder nicht. Auch über den Eistriften der Polarregion, wohin vielleicht gerade kein Auge blickt, steht die Sonne hellstrahlend am blauen Himmel, der Schnee glänzt weiß, kalt ist die Luft und die Stürme brausen. Das Wahrnehmen gilt eben als ein Erfassen der Dinge, das deren Existenz voraussetzt und das an ihrem Dasein und an ihrer Beschaffenheit nichts ändert.

Ebenso ist der Naive überzeugt, daß die Dinge in ihrem Bestand und in ihren Eigenschaften nicht verändert sind, wenn etwa die Wahrnehmung durch bestimmte Umstände verändert oder beeinträchtigt ist. In der Ferne sehen die Menschen und die Dinge ganz klein aus; bei trübem oder nebligem Wetter gewährt dieselbe Landschaft einen ganz anderen Anblick als bei klarer Luft und heiterem Himmel; bei Nacht sind "alle Kühe schwarz" oder "alle Katzen grau", aber das soll nicht eigentlich besagen, daß die Dinge im Dunkeln ihre Farben tatsächlich verlieren, man "sieht" sie nur nicht: mein hellgrauer Rock bleibt hellgrau, wenn er auch im Schrank hängt, wo kein Licht an ihn dringt. Wenn man Schnupfen hat, riecht und schmeckt man die Speisen nicht wie sonst, aber ihren Geruch und Geschmack haben sie doch. Wer scharf sieht und hört, der nimmt  mehr  wahr, und wenn wir unsere Sinne mit Mikroskop und Teleskop und anderen Hilfsmitteln unterstützen, so können wir noch gar manches an den Dingen bemerken, was uns anderfalls entgeht, denn die Dinge sind in ihrem Bestand reicher als unsere Wahrnehmungen und bieten so unserer genaueren Erforschung immer weitere Aufgaben. Wer andererseits taub und blind ist, der hört und sieht eben nichts, aber Farben und Töne sind doch da. - Obwohl derartige Erfahrungen bei genauerer Erwägung zeigen würden, wie das, was wir wahrnehmen, von den Umständen und insbesondere vom Zustand des Subjekts und seiner Sinnesorgane abhängt, so bleibt deshalb doch der naive Realismus bei der allgemeinen Auffassung, daß das Wahrnehmen ein sozusagen passives Abspiegeln der Dinge und ihrer Eigenschaften ist, und daß diese, so wie sie ansich sind, von uns erfaßt werden. Ein konsequentes Nachdenken über rein theoretische Fragen ist eben nicht Sache des praktisch sich betätigenden Menschen.

Nicht nur beim Wahrnehmuen treten wir nach der Überzeugung des Naiven in eine unmittelbare Berührung mit der Wirklichkeit, sondern auch in unserem Denken und Wissen erfassen wir Wirkliches. Der Tisch im Nebenzimmer, an den ich jetzt denke, ist genauso wirklich, wie der, an dem ich jetzt arbeite, und die ganze Welt, von der ich bloß weiß, ist ebenso wirklich wie der winzige Ausschnitt von ihr, den ich in diesem Moment überblicke. Der Brief, den ich vor drei Wochen empfing, bestimmt mich, jetzt zu antworten, wie die Reise, die ich für morgen vorhabe, mich veranlaßt, nachher meinen Koffer zu packen. Vergangenes wie Zukünftiges gehört so zu einer Wirklichkeit, von der ich weiß, und die mich in meinem Handeln bestimmt. Vielleicht nenne ich bei genauer Redeweise das Vergangene "nicht mehr wirklich" und das Zukünftige "noch nicht wirklich", aber beides glaube ich doch in meinem Denken unmittelbar zu erfassen wie das, was in der Gegenwart existiert; ich unterscheide nicht zwischen meinem jetzt erlebten Gedanken und dem darin gemeinten Ding oder Vorgang in Vergangenheit und Zukunft. Denken oder Erinnerung als vermittelnder Prozeß kommen mir hier sowenig besonders zu Bewußtsein, wie die Wahrnehmung sich vom wahrgenommenen Ding als ein besonderer Bewußtseinsinhalt abhebt. Jener stimmungsvolle Sonnenuntergang, den ich vor acht Tagen erlebte, steht mir jetzt unmittelbar vor der Seele - er selbst, nicht ein von ihm verschiedenes Gedächtnisbild.

Wie uns die Wahrnehmung gelegentlich in Ungewißheit läßt oder gar täuscht, so mag uns noch häufiger unsere Erinnerung im Stich lassen oder das Nachdenken uns in die Irre führen, aber im allgemeinen stören uns derartige, doch immerhin vereinzelte Erfahrungen nicht im Vertrauen auf Gedächtnis und Verstand. Wessen wir uns mit voller Sicherheit erinnern, das gilt uns ebenso gewiß wie wirklich, wie dasjenige, was wir eben erleben. Ebenso meinen wir durch Nachdenken Sachverhalte auch in Vergangenheit und Zukunft feststellen zu können. Der Grad der Sicherheit mag hierbei gelegentlich nur gering sein, aber das liegt dann an unserer mangelhaften Kenntnis; wo aber diese ausreichend ist, da meinen wir mit völliger Gewißheit erkennen zu können: so muß sich die Sache abgespielt haben, oder dies wird unter den und den Umständen eintreten.

Nicht weniger realistisch ist der Naive schließlich in seinem religiösen Glauben. Gott existiert für ihn, wenn er auch unserer Wahrnehmung unzugänglich bleibt, und er existiert, wenn auch niemand an ihn glaubt. In einem modernen Drama wird auf die Frage: "Gibt es einen Gott?" die Antwort erteilt: "Wenn du an Gott glaubst, dann gibt es einen Gott, wenn du aber nicht an Gott glaubst, dann - gibt es auch keinen." Diese Antwort ist nicht nach dem Sinn des naiv Gläubigen; er wird sie für die Rede eines Gottesleugners halten. Und wenn er ihn auch nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann, so glaubt doch der Fromme seinen Gott oder seinen Heiland unmittelbar zu "erfahren" oder zu "erleben". Er spricht und fleht zu ihm, und wenn er Erhörung findet, so weiß er sich unmittelbar von ihm getröstet und gestärkt, erleuchtet und beseligt.


3. Bedenken gegen den naiven Realismus

Unsere naive Überzeugung, daß eine von uns verschiedene Wirklichkeit existiert, und daß wir sie unmittelbar erfassen, wird freilich in mannigfacher Weise angefochten. Von den verschiedensten Seiten her regen sich Bedenen und Zweifel, ob sie nicht vielleicht trüglich ist, ob sie nicht einer ganz anderen Auffassungsweise weichen muß. Wir werden die bedeutsamsten dieser Einwände der Reihe nach vorführen und dabei zugleich untersuchen, inwieweit sich ihnen gegenüber der Realismus als stichhaltig erweist und inwieweit er mit Rücksicht auf sie umgebildet werden muß. Damit wird sich uns eine Umgestaltung der realistischen Überzeugung als notwendig erweisen; wir werden vom "naiven" zu einem "kritischen" Realismus geführt.

a)  Einwände von seiten des religiösen Zweifels.  Unter den Realitäten, von deren Existenz der Naive überzeugt ist, pflegen ihm zuerst die Gegenstände des religiösen Glaubens zweifelhaft zu werden. So manches, was Inhalt des naiven Glaubens ist, wird von der Wissenschaft verworfen, vor allem das Wunder. Wie sollte da der Zweifel nicht weiter dringen? Wie sehr widersprechen sich die Glaubenslehren der verschiedenen Religionen! Wie mächtig aber ist der Einfluß, den Unterricht und fromme Gewöhnung in Haus und Schule auf die allen Eindrücken hingegebene Seele des Kindes üben! Wer in christlicher Umgebung aufwächst, wird gläubiger Christ und macht innere "Erfahrungen", die der christlichen Lehre oder vielmehr ihren verschiedenen konfessionellen Ausprägungen entsprechen. Der Mohammedaner und Fetischanbeter wächst in einem anderen Glauben auf und hat andere "Erfahrungen". Auch lernt man Menschen kennen, die allen Glauben und alle religiöse Erfahrung zur Einbildung erklären. Also eine überaus große Verschiedenheit gegenüber dem, was der Glaube für wirklich hält! Andererseits in der Arbeit der Wissenschaft sicher zunehmende Erkenntnis der wahrnehmbaren Welt; trotz aller Gegensätze, trotz aller neu auftauchenden Probleme doch ein sich stetig mehrender Schatz allgemein angenommener Einsichten! Sollte da nicht der Glaube in uns wankend werden, und zwar umso mehr, je mehr wir in die Arbeitsweise der Wissenschaft eindringen und uns ihren kritischen Geist aneignen, vor dem die Berufung auf eine subjektive Überzeugung nichts gilt, sondern der allenthalben eine objektive Rechenschaft fordert und der stets bereit ist, neu zu lernen und umzulernen?

Wem aber die Existenz des geglaubten Gottes zweifelhaft wird, der braucht darum die vor Augen liegenden gewaltigen Wirkungen des Glaubens nicht zu bestreiten; denn der Glaube selbst als Zustand des Subjekts ist eben ein wirkungskräftiger Faktor im Seelenleben, der Glaube kann "Berge versetzen" und er mag die großartigsten sittlichen Wandlungen hervorzurufen und herrliche Früchte im Tun der Menschen zeitigen. Aber beweist das alles schon die Existenz des geglaubten Gottes?

Inwieweit der dem Glauben innewohnende "Realismus", also insbesondere die Überzeugung von der Existenz eines göttlichen Wesens sich gegenüber solchen kritischen Bedenken aufrechterhalten läßt, kann in fruchtbarer Weise nur im Zusammenhang mit der viel weiter greifenden Frage erörtert werden: wie überhaupt das Verhältnis zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlichem Denken zu bestimmen ist. Diese Frage soll im Schlußkapitel ihre eingehende Behandlung finden. Hier verfolgen wir zunächst die Momente weiter, die eine Umbildung des naiven Realismus herbeizuführen geeignet sind.

Viel fester als der religiöse Glaube pflegt unsere Überzeugung von der Existenz der Mit- und Umwelt zu sein. Ja, gerade im Vergleich mit ihrer handgreiflichen Realität und einer fortdauernd sich bestätigenden Wirklichkeit scheint der religiöse Glaube dem Verdacht, er sei Einbildung, erliegen zu müssen. In der Tat bleiben auch die Zweifel, die sich trotz all dem doch auch gegen unsere Gewißheit von der Außenwet hervorwagen, auf enge Kreise beschränkt, und sie sind fast nur theoretischer Natur, sie vermögen unser praktisches Verhalten im Wesentlichen nicht zu verändern. Wohl aber sind sie imstande, unsere naive Überzeugung von der Beschaffenheit der Außenwelt und von der Art, wie wir ihrer inne werden, in tiefgehender Weise umzugestalten. Unsere weiteren Ausführungen sollen dies im Einzelnen darlegen.

b)  Einwände von seiten der Physik.   Wie der naive Realismus wesentlich auf der sinnlichen Wahrnehmung beruth, so ist es auch in erster Linie die genauere Untersuchung des Wahrnehmungsprozesses, die Bedenken gegen ihn erregt. Im Altertum ist bereits DEMOKRIT (470-370 v. Chr.) zu einer bedeutsamen Umgestaltung des naiven Realismus gelangt. (15) Die Wahrnehmung erklärt er dadurch, daß außerordentlich kleine und feine Bildchen sich von den Dingen ablösen und durch die Sinne in unsere Seele gelangen. Aber diese Bildchen geben nur die Gestalt der Dinge wieder; was die Wahrnehmung sonst noch bietet: Farbe, Geschmack, Geruch usw., stammt aus der Seele. ARISTOTELES dagegen hat an der Ansicht festgehalten, daß auch diese Eigenschaften den Dingen selbst zukommen und diese Auffassung blieb unter den Philosophen bis in das 17. Jahrhundert herrschend. Seit dieser Zeit aber kommt die Ansicht DEMOKRITs wieder zur Geltung; wieder beginnt man, die Außenwelt nicht mehr selbts als eine farbige, tönende, schmeckende, riechende anzusehen. GALILEI hat es in seiner Schrift "Il saggiatore" 1623 zuerst als eine Voraussetzung der Naturforschung ausgesprochen, daß die Mateire nur nach Raum, Zeit und Quantität bestimmt zu denken ist, daß dagegen alle übrigen Eigenschaften als ihre Wirkungen auf einen empfindenden Körper angesehen werden müssen. MERSENNE ("Harmonie universelle", 1636), DESCARTES ("essais philosophiques", 1637, HOBBES ("Tractatus opticus", 1644) haben diese Auffassung näher begründet; LOCKE ("Essay on human understanding", 1690) hat sie populär gemacht. Nach ihm kommen lediglich die sogenannten "primären" Qualitäten:  Undurchdringlichkeit, Größe, Gestalt, Bewegung, Ruhe, Zahl  den Dingen selbst zu, die anderen (die "sekundären"), wie  Farbe, Töne, Gerüche, Geschmäcke  etc, sind nur in unserem Bewußtsein vorhanden. So werden also diese Eigenschaften aus der Außenwelt ausgeschieden. Und damit ist gerade diejenige Auffassung der Außenwelt erreicht, wie sie sich in der Physik als fruchtbar erwiesen hat. Sie denkt diese Welt als ein System von Substanzen, die sie lediglich quantitativ bestimmt. Infolgedessen ist es ihr möglich, durch eine Anwendung der Mathematik zu einer exakten Bestimmung ihrer Gegenstände zu gelangen. Dabei sind aber doch die "sekundären" Qualitäten aus der Welt des Physikers nicht einfach ohne jeden Ersatz weggelassen (wie man vielfach meint); wenn der Physiker sie auch erst im Bewußtsein entstehen läßt, so denkt er sie doch verursacht durch reale Vorgänge, die in letzter Linie als Bewegungsvorgänge der Materie oder des Äthers anzusehen sind. So lehrt uns also die Physik, daß den objektiven "Reiz" für das Auftreten von Farben- und Helligkeitsempfindungen Schwingungen des (hypothetisch angenommenen) Äthers bilden. Die kürzesten von 400 μμ (d. h. Millionstel Millimeter) Wellenlänge erzeugen Violett, die längeren der Reihe nach Blau, Grün, Gelb, Orange; die längsten von etwa 700 μμ Rot. Weiß und Grau werden durch das Zusammenwirken von Strahlen aller (überhaupt sichtbaren) Wellenlängen erzeugt; die Schwarzempfindung tritt dann ein, wenn Lichtreize fehlen. Die Intensität der Schwingungen bedingt die Helligkeit der Farbenempfindungen. - Die äußeren Reize für die Gehörsempfindungen sind die Schwingungen von Körpern, die sich durch die Luft fortpflanzen. Die Tonhöhe wird durch die Schwingungszahl, die Klangfarbe durch die Schwingungsform, die Tonstärke durch die Schwingungsweite (d. h. die damit gegebene Intensität der Schwingungen) erzeugt. Aber die Luftwellen selbst tönen nicht, so wenig wie die Ätherschwingungen selbst bunt sind oder glänzen. - Den Druck-, Berührungs- und Widerstandsempfindungen entspricht, streng genommen, nicht das, was der Naive in ihnen unmittelbar zu greifen meint: die solide, kontinuierliche, raumerfüllende Masse. Die atomistische Auffassung hat die scheinbare Kontinuität der ausgedehnten Masse aufgelöst. Diese besteht danach aus Molekülen und weiterhin aus Atomen, die durch äthererfüllt Abstände getrennt sind, die weit die Atomgröße übertreffen. Ja, die "energetische" Auffassung der Materie nimmt auch den Atomen das Stoffliche und faßt sie als ausdehnungslose, rein punktuelle Zentren von Kraftsphären. Jedenfalls ist auch beim Tastsinn eine eigentlich stoffliche Berührung ausgeschlossen. Was ich da als Härte und Festigkeit meines Federhalters spüre, ist nicht das Holz selbst, sondern die abstoßende Kraft seiner Oberflächenmoleküle. - Der "Reiz" für die Wärmeempfindungen sind Schwingungen der Körpermoleküle und Ätherteilchen, keine gewissermaßen stoffartige Ausstrahlung der Körper. Beim Geschmacks- und Geruchssinn bedarf es der Einwirkung materieller Teilchen auf die Riechschleimheit und die geschmacksempfindlichen Stellen der Zunge, damit Empfindungen eintreten.

So hat also die moderne Physik die naive Auffassung, daß wir in der Wahrnehmung die Dinge mit ihren Eigenschaften einfach passiv aufnehmen, gründlich geändert; die "sekundären" Qualitäten sind nach ihr Reaktionen des Bewußtseins auf die Reize, und nicht die Dinge selbst sind die Reize, sondern kausale Einwirkungen auf die Sinnesorgane, die von den Dingen aus- und meist durch gewisse Medien hindurchgehen.

c)  Einwände von seiten der Physiologie.  Wenn sich nun der naive Realist damit trösten wollte, daß wir doch wenigstens die Wirkungen der Dinge unmittelbar wahrnehmen, so zeigt die Physiologie, daß dies nicht der Fall ist. Damit, daß die Reize die Oberfläche des Körpers oder die Sinnesorgane erreichen, sind sie noch nicht  bewußt.  Sie müssen zunächst eben diese Organe oder auch die Haut (genauer: die Epidermis [äußere Zellschicht der Haut - wp]) passieren, um an die eigentlichen Empfindungsnerven zu gelangen. Dabei erleiden sie wohl zumeist gewisse Umformungen. Sie werden sodann von den Nerven zum Gehirn geleitet. Was dabei in diesen Organen vor sich geht, ist noch nicht ganz sichergestellt; wahrscheinlich dürfte die "Erregung" der nervösen Substanz in chemischen und elektrischen Prozessen bestehen. In letzter Linie wird man freilich auch diese als Bewegungsvorgänge von Körperatomen und Ätherteilchen auffassen dürfen. Denkt man nun noch an den so außerordentlich komplizierten Bau der Nerven und des Gehirns, seine zahllosen Ganglienzellen und ihre kreuz und quer gehenden Faserverbindungen, so wird man nicht annehmen können, daß der Vorgang, der auf einen Reiz hin schließlich in der Großhirnrinde eintritt, mit jenem physikalischen Reiz noch irgendeine Ähnlichkeit besitzt. Dazu kommt, daß auch gleichzeitige oder unmittelbar vorhergehende Eindrücke für den Ablauf der "Erregung" bedeutsam sind, und daß schließlich frühere Wahrnehmungen durch die Nachwirkungen (die "Spuren"), die sie in Zellen und Nervenbahnen hinterlassen, auf die späteren Eindrücke Einfluß ausüben.

Die realistische Überzeugung, daß wir in der Wahrnehmung die Beschaffenheiten objektiver Realitäten erfahren, wäre aber erst dann als völlig haltlos erwiesen, wenn durch die sich einschiebenden physiologischen Vorgänge bewirkt würde, daß überhaupt keine eindeutige Beziehung mehr zwischen objektiven Reizen und Empfindungen bestünde, wenn also bei verschiedenen objektiven Reizen die gleichen Empfindungen eintreten würden oder umgekehrt bei gleichen Reizen sich ganz verschiedene Empfindungen einstellen. Wäre dies der Sachverhalt, dann wäre allerdings ein völliger Skeptizismus gegen unsere Sinneswahrnehmung und ihre Verwertung im Sinne des Realismus am Platz.

In der Tat hat man vielfach auch solche skeptische Folgerungen aus dem vom Physiologen JOHANNES MÜLLER (16) aufgestellten "Prinzip der spezifischen Sinnesenergien" gezogen. Es besagt: die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der  äußeren Körper  zum Bewußtsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustands eines  Sinnesnerven  zum Bewußtsein, veranlaßt durch eine äußere Ursache; und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden, die "Sinnesenergien".

Man hat dieses Gesetz so ausgelegt: die Sinnesnerven reagieren immer mit den gleichen Empfindungen, wie auch die äußeren Reize beschaffen sein mögen. Wird also z. B. das Auge von ganz verschiedenen objektiven Reizen getroffen: Belichtung, Druck, Stoß, elektrischer Durchströmung, so treten stets Lichtempfindungen ein; ja, solche erfolgen auch bei einer operativen Durchschneidung der Sehnerven. Wie mittels Stecknadeln, so kann man auch durch eine elektrische Reizung der Haut die Empfindung des Prickelns und Stechens hervorrufen; wie Schallwellen, so bedingen auch pathologische Vorgänge im Gehörorgan Ton- und Geräuschempfindungen; eine mechanische, chemische und elektrische Reizung des Stumpfes der  chorda tympani,  eines Nerven, der dazu dient, uns den Geschmack von Speisen und Getränken, die in den Mund gebracht werden, zu vermitteln, erzeugt ebenfalls Geschmacksempfindungen.

Indessen ist aus derartigen Tatsachen nicht allgemein zu schließen, daß die Beschaffenheit der Empfindungen von der Natur der objektiven Reize gänzlich unabhängig ist und daß zwischen ihnen gar keine gesetzlichen Beziehungen bestehen. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung legt die Annahme nahe, daß die Sinne unter der Einwirkung der äußeren Reize ihre mannigfaltige Modifikation der Struktur und Funktion erhalten haben. Schon die Endapparate der Sinnesnerven (wo solche überhaupt vorhanden sind) zeigen sich bestimmten Arten von Reizen angepaßt. Dadurch ist der Zutritt anderen als diesen "adäquaten" Reizen erschwert, oder es wird eine Umwandlung solcher in adäquate herbeigeführt. (Dadurch erklären sich - wie beiläufig bemerkt sei - auch manche der angeführten Tatsachen. Durch einen Schlag auf das Auge entstehen wohl auch adäquate Reize: Schwingungen des Äthers im Auge; eine elektrische Reizung bewirkt eine Geschmacksempfindung nur, wenn der elektrische Strom eine chemische Zersetzung herbeiführt.) Entwicklungsgeschichtlich ist dies nur so zu begreifen, daß physikalische Reize bestimmter Art durch fortdauernde Einwirkung auf die sich entwickelnden Organismen die ihnen entsprechenden Sinnesorgane sich selbst geschaffen haben.

Ferner entstehen die "spezifischen" Empfindungen durch die Einwirkung inadäquater Reize auf die Sinnesorgane oder durch eine Reizung der Nerven oder zentraler Teile nur dann, wenn die peripheren Sinnesorgane während einer ausreichend langen Zeit den adäquaten Reizen zugänglich gewesen sind. Dem Blind- und Taubgeborenen z. B. können Licht- und Tonqualitäten nicht erregt werden, wenn auch seine Sinnesnerven und Sinneszentren ursprünglich ausgebildet waren. Also bedürfen die einzelnen spezifischen Sinnesenergien zu ihrer Entstehung und Entwicklung der normalen, durch adäquate Reize eingeleiteten Funktion. Allmählich werden dann durch die fortwährende Einwirkung der peripheren Reize teils in den Nerven selbst, teils in ihren zentralen Endgebilden gewisse molekulare Änderungen hervorgebracht, vermöge deren sie auf jeden zureichend starken Reiz in ähnlicher Weise wie ursprünglich nur auf die adäquate Reizung zu reagieren vermögen. Es empfiehlt sich also - entsprechend einem Vorschlag von WUNDT - statt von einem "Prinzip der Anpassung der Sinne an die Reize" zu sprechen. Damit ist aber gesagt, daß durch den zwischen einem objektiven Reiz und der Empfindung eingeschobenen physiologischen Prozeß keine undurchdringliche Scheidewand zwischen dem Bewußtsein und der objektiven Realtität erreicht wird, sondern daß der Verschiedenheit der physikalischen und chemischen Reizvorgänge auch eine Verschiedenheit der Empfindungen gesetzmäßig zugeordnet ist, mag auch in den - immerhin vereinzelten - Fällen einer inadäquaten Reizung diese gesetzmäßige Zuordnung nicht hervortreten. Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß die den inadäquaten Reizen entsprechenden Empfindungen diffus, monoton, zusammenhanglos und darum ohne Bedeutung für unsere Erkenntnis wie für unser Geistesleben überhaupt sind. Ganz anders steht es mit den auf adäquate Reize zurückgehenden Empfindungen! Auch sind wir ja durch sie in den Stand gesetzt, jene Ausnahmefälle als solche zu erkennen und uns so davor zu sichern, daß wir nicht durch inadäquate Reize irregeführt werden.

Ein zwingender Grund, von der realistischen Grundüberzeugung abzugehen, ist also dem Prinzip der spezifischen Sinnesenergien nicht zu entnehmen; man müßte denn auf die Erscheinungen bei einer inadäquaten Reizung ein ungebührliches Gewicht legen und nicht beachten, daß es sich hier um Ausnahmefälle handelt, die die zwischen Reiz und Empfindung bestehende Gesetzmäßigkeit im allgemeinen in ihrem Wert für die Erkenntnis beeinträchtigen.

Auch ist zu beachten, daß dieses Prinzip eine eigentliche Erklärung nicht gibt. Indem es ausspricht, daß die große Verschiedenheit zwischen den Klassen unserer Empfindungen irgendwie auf spezifischen Eigentümlichkeiten unserer Sinne beruth, läßt es ganz dahingestellt, worin denn nun diese spezifischen Eigentümlichkeiten bestehen. Diese müssen in der Tat für den Physiologen  qualitates occultae (unbekannte Eigenschaften) bleiben, wenn er sich im Rahmen der Begriffe hält, mit denen die Physik arbeitet. Sie denkt ja die Natur aus Elementen bestehend, die nur quantitativ bestimmbar sind. Es ist aber ohne weiteres klar, daß eine qualitative Verschiedenheit, wie sie zwischen Farben und Tönen oder zwischen rot und grün besteht, aus bloß quantitativen Unterschieden nicht restlos abgeleitet werden kann. Hieraus ist zu entnehmen, daß die physikalische Betrachtung der objektiven Wirklichkeit nur eine abstrahierende ist; daß sie diese nicht nach ihrer gesamten Beschaffenheit, sondern sozusagen nur nach ihrem Umriß bestimmt.
    "Außer quantitativen oder meßbaren Wirkungen müssen die Dinge auch qualitative Wirkungen austauschen, so gewiß es spezifische Empfindungen gibt; und die Empfindung stellt sich uns als die vollendete Entwicklung der Beschaffenheit der Reize dar; sie ist durch die Beschaffenheit der Sinne mitbestimmt, aber nicht durch diese allein erzeugt." (17)
d)  Einwände von seiten der Psychologie.  Neue Zweifel erheben sich gegen den Realismus aus der psychologischen Zergliederung des Wahrnehmungsvorgangs selbst. Dabei stellt sich heraus, daß diejenigen Elemente, die in der Regel allein auf den physikalischen Reiz und die physiologische Erregung unmittelbar zurückgeführt werden, die "Empfindungen", durchaus nicht die ganze Wahrnehmung ausmachen. Zunächst wirken "Spuren" früherer Empfindungen mit; so, wenn wir Eigenschaften, die wir faktisch momentan nicht empfinden, doch unmittelbar wahrzunehmen glauben, wie z. B. die Hitze eines bloß gesehenen Feuers; dazu kommen (wie ich bereits Kapitel II, 3 dargelegt habe) "vergegenständlichende Funktionen": daß wir "Dinge" mit "Eigenschaften" wahrnehmen, daß wir Vorgänge in ihrem "zeitlichen Verlauf" oder ihrer "ursächlichen Verknüpfung" wahrnehmen, ist nicht selbst "Empfindung". Man denke schließlich an die Namen der Dinge und an mancherlei Begriffe, Urteile, Erinnerungen, die in unseren Wahrnehmungen eine Rolle spielen, an Begehrungen und Wertgefühle, die sich auf das Innigste mit ihnen verknüpfen: und man wird erkennen, daß sie nicht lediglich aus Empfindungen bestehen (18). Wenn wir aber nur die Empfindungen als bedingt durch die objektiven Reize ansehen, wie soll dasjenige, was wir beim Wahrnehmen sozusagen aus Eigenem zu den Empfindungen hinzufügen, noch die Dinge selbst in unserem Bewußtsein vertreten? So ergibt sich eine erkenntnistheoretische Auffassung der Wahrnehmung und ihres Erkenntniswertes, die noch über jene Unterscheidung der sekundären und primären Qualitäten, wie wir sie bei LOCKE fanden, hinausgeht und auch die primären den Dingen abspricht und in das Bewußtsein verlegt. Als Vertreter dieser Auffassung stellt sich uns - zumindest nach der in Kapitel VI genauer zu erörternden "phänomenalistischen" Interpretation - KANT dar. Er setzt voraus, daß das, was die "affizierenden" Dinge in unserem Bewußtsein bewirken, lediglich die Empfindungen sind. Daraus ergibt sich ihm, daß alles, wodurch sich unsere Welt von einem Empfindungschaos unterscheidet: die räumliche und zeitliche Ordnung, die Gliederung in Dinge mit ihren Eigenschaften und Beziehungen und in kausal verknüpfte Vorgänge - Zutaten des Subjekts sind, das sich vermöge ihrer erst aus dem "rohen Stoff sinnlicher Eindrücke" diese geordnete Welt schafft, die der Naive einfach als "gegeben" ansieht. Damit ist die unabhängig vom Subjekt bestehende Wirklichkeit, das "Ding-ansich", zu einem unerkennbaren Etwas geworden, von dem man höchstens noch sagen kann, daß es existiert, und daß es in uns Empfindungen verursacht.

Indessen diese ganze Deduktion ruht auf dem Satz, daß lediglich die Empfindungen dasjenige sind, was auf objektive Reize zurückgeführt werden kann. Das ist aber bei KANT eine unbewiesene Voraussetzung. Auch wenn wir z. B. bei psychologischen Untersuchungen nur beachten, bei welchen objektiven Reizen eine bestimmte bestimmte Empfindung eintritt, so ist das lediglich eine durch den Untersuchungszweck bedingte Abstraktion; es ist damit durchaus nicht erwiesen, daß nur die Empfindungen (ihrer Qualität und Intensität nach) durch die objektiven Reize bedingt sind und daß unser Bewußtsein von Ort, Ausdehnung und Gestalt, von Dauer und Aufeinanderfolge der Empfindungen nicht ebenfalls durch diese Reize bewirkt ist. Damit soll nicht die naive Ansicht, daß die Wahrnehmung ein lediglich passives Aufnehmen und Abspiegeln der Dinge ist, verteidigt werden. Ja, man wird sogar erklären müssen: schon bei den bloßen Empfindungen verhalten wir uns nicht einfach  passiv,  auch sie werden uns nicht von den Dingen sozusagen als fertige eingegossen, sondern sie stellen schon Reaktionen unseres Bewußtseins auf Reize dar und enthalten insofern eine gewisse Aktivität. Worauf es uns hier ankommt, ist, festzustellen, daß auch alle jene "Zutaten", die die Wahrnehmung und überhaupt die Erfahrungserkenntnis der Welt noch außer den Empfindungen enthält, nicht als eine rein spontane Produktion des Bewußtseins zu fassen sind. Vielmehr werden wir, bis zum einleuchtenden Erweis des Gegenteils, auch die raum-zeitliche Anordnung der Empfindungen und die Anwendung von Begriffen, wie Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung, Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit, als Bewußtseinsreaktion deuten müssen, die nicht rein subjektiv ist, sondern in einer gesetzmäßigen Beziehung zu objektiven Reizen, ihren Eigenschaften und Verhältnissen steht. Es liegt ja doch nicht in unserem Belieben, ob wir einem gegebenen Empfindungskomplex die Form eines Dreiecks oder Vierecks, diese oder jene Ausdehnung und Dauer zuschreiben, und ob die Beziehung, in die wir ihn zu einem anderen setzen, die der Ursache oder die der Wirkung, die der Verschiedenheit oder die der Gleichheit ist.

Wenn unsere Erwägung richtig ist, dann ist die von uns unabhängig bestehende Realität, die den Inbegriff der objektiven Reize darstellt, doch nicht zu einem völlig Unerkennbaren geworden; auch gegenüber diesen von der Analyse der Wahrnehmung ausgehenden Bedenken hat sich vielmehr der Realismus behauptet.


4. Der kritische Realismus

Fragen wir uns nun, was sich bis jetzt vom naiven Realismus allen Zweifeln und Bedenken zum Trotz bewährt hat. Unerschüttert ist noch unsere Überzeugung, daß es eine von uns unabhängig bestehende, reale Welt gibt, die un mit unseren Mitmenschen gemeinsam ist; daß wir von ihrer Existenz wie von ihrer Beschaffenheit durch Wahrnehmungen Kunde erhalten, und daß solche Wahrnehmungen als Erkenntnis von Wirklichem sich wohl unterscheiden von von bloßer Einbildung oder vom Traum, und daß sie einen unentbehrlichen Ausgangspunkt bilden für die wissenschaftliche Arbeit, die auf eine genauere Ergründung dieser wirklichen Welt gerichtet ist.

Wenn wir in diesen wesentlichen Punkten mit dem naiven Realismus übereinstimmen, so werden wir auch unseren jetzigen Standpunkt als Realismus bezeichnen dürfen; freilich ist es kein naiver mehr; er hat die Probe erkenntnistheoretischer Reflexion bestanden und darf darum "kritischer Realismus" genannt werden. Das aber, worin er sich vom "naiven" unterscheidet, beruth im Wesentlichen auf einer tieferen Einsicht in das Wesen der Wahrnehmung und überhaupt der Erkenntnis. Daß das Erkennen kein passives Aufnehmen ist, hatte sich uns schon gezeigt, als wir (in Kapitel III, 2 und 3) die Bedeutung der leitenden Gesichtspunkte, der Fragestellungen und Hypothesen für die Erkenntnis würdigten. Nunmehr ist jene anfängliche unzureichende Auffassung auch hinsichtlich der Wahrnehmung einer besseren gewichen infolge des genaueren Einblicks in das physikalische, physiologische und psychologische Stadium des Wahrnehmungsprozesses. Sofern dieser aber bei all seiner Kompliziertheit  gesetzmäßig  verläuft, gibt er uns nicht nur von der Existenz der wahrgenommenen Realitäten Kenntnis, sondern auch von ihren Unterschieden und damit von ihren Beschaffenheiten und Verhältnissen. Wir halten also nicht mehr daran fest, daß den Dingen ihre Farben, Gerüche usw. zukommen, auch wenn niemand sie wahrnimmt. Aber wir sehen doch auch nicht alle diese Eigenschaften für lediglich subjektiv an, sondern sind der Ansicht, daß auch die Dinge, oder genauer: die von ihnen ausgehenden Wirkungen, an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. Damit ist es aber auch gerechtfertigt, daß wir - wo es auf eine genaue Unterscheidung von objektivem Reiz und subjektiver Reaktion nicht ankommt - den Dingen einfach diese Qualitäten beilegen, wie wir dies im praktischen Leben und auch in den meisten Wissenschaften tun.

Wir halten auch nicht mehr daran fest, daß wir die Bewußtseinsvorgänge an unseren Mitmenschen unmittelbar wahrnehmen. Die Grenze zwischen Physischem und Psychischem ist vielmehr gerade so zu ziehen, daß wir physisch das nennen was prinzipiell einer Vielzahl von Subjekten, psychisch dagegen das, was nur dem es erlebenden Subjekt wahrnehmbar ist - wahrnehmbar nicht mittels irgendeines Sinnesorgans, sondern durch Reflexion. Wir geben also zu, daß wir Gedanken, Gefühle und Willensregungen unserer Mitmenschen, streng genommen, nicht sinnlich wahrnehmen, sondern eigentlich nur Klänge und Geräusche, die ihre Worte ausmachen, ihre Körperbewegung und ihr Mienenspiel, ihr Erröten und Erblassen, und daß wir zu all dem ihre Bewußtseinsvorgänge hypothetisch hinzu ergänzen. Aber da diese Ergänzung mit derart instinktiver Unmittelbarkeit erfolgt und sich gewöhnlich auch als zutreffend bewährt, so werden wir auch hier, falls es auf eine genaue Unterscheidung nicht ankommt, von einer "Wahrnehmung" des Psychischen reden dürfen. Freilich wird uns die genauere Einsicht in die obwaltenden Verhältnisse eine stets Mahnung zur Selbstkritik sein, umso mehr als Vorurteil und falsche Deutung die Menschen in unheilvoller Weise trennen und verfeinden kann.
LITERATUR - August Messer, Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    11) Ich bemerke, daß ich die Ausdrücke "real", "wirklich" sein, "existieren", "dasein", "bestehen" als identisch gebrauche. Wenn dabei trotzdem ohne Tautologie ausgesprochen werden kann, daß eine "Realität existiert", so beruth das darauf, daß in im Substantiv "Realität" die Bestimmtheiten (Beschaffenheiten) des Existierenden stillschweigend mitgedacht werden. Vgl. ADOLF DYROFF, "Über den Existenzialbegriff", Freiburg i. Br. 1902, Seite 10f.
    12) Daß dieser nicht mit dem "naiven Realismus" verwechselt werden darf, betont mit Recht FRISCHEISEN-KÖHLER, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 5, Seite 291f. [?]
    13) SEVERIN AICHER, "Kants Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des Aristoteles", Berlin 1907.
    14) Die folgende Schilderung schließt sich vielfach eng an MÜNSTERBERG, Grundzüge Bd. !, Seite 44-55 und "Philosophie der Werte", Seite 83-97 an.
    15) Vgl. zum Folgenden die Anmerkung 12 zitierte Abhandlung und von HARTMANN, "Grundriß der Erkenntnislehre", Seite 63f
    16) JOHANNES MÜLLER, "Handbuch der Physiologie", Bd. 2, Koblenz 1840, Seite 249f. Für das Folgende ist benutzt: FRISCHEISEN-KÖHLER, "Die Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 30, Seite 271f; WILHELM WUNDT, "Grundzüge der physiologischen Psychologie", Bd. 1, Seite 440f; HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie, Bd. 1, Leipzig 1902, Seite 144f; WILLIBALD NAGEL, "Handbuch der Physiologie des Menschen", Bd. 3, Braunschweig 1904, Seite 4f.