ra-4Die Russen und der WestenDie Gleichheit von Mann und Frau
 Geschmeidige Geister
ALEXANDER HERZEN

  Golochwastow sprach nicht nur korrekt französich und deutsch, er verstand nicht nur gut Latein, sondern kannte auch seine Muttersprache und sprach korrekt und gut russisch.

So wie  Maréchal ihn für seinen besten Schüler hielt, so hielt ihn seine Mutter für ihren besten Sohn, sein Onkel für seinen besten Neffen, und Fürst  Dmitrij Wladimirowitsch Golizyn für seinen besten Beamten, als er bei ihm seinen Dienst angetreten hatte. Was aber noch wichtiger ist: das alles verhielt sich tatsächlich so. Doch merkwürdig ... man hat das Gefühl, daß irgendetwas fehlte. Er war ein kluger, tüchtiger Mensch, hatte viel gelesen und im Gedächtnis behalten; was konnte man, scheinte es, mehr verlangen?

In späterer Zeit bin ich mehr als einmal diesen Naturen begegnet, diesen "geschmeidigen" Geistern, diesen Köpfen mit dieser - bis zu einer gewissen Weite und einer gewissen Tiefe - klaren Aufffassungsgabe. Sie diskutieren gescheit, ohne vom Thema abzuweichen; sie handeln noch gescheiter, ohne vom gerade Weg abzugehen; sie sind die richtigen Zeitgenossen ihrer Zeit, ihrer Gesellschaft. Alles, was sie sagen, ist wahr, aber sie könnten auch etwas anderes sagen; alles, was sie tun, ist gut, aber sie hätten auch etwas anderes tun können. Sie sind gewöhnlich moralisch, aber der böse Geist flüstert einem ins Ohr: "Ja, können sie denn überhaupt unmoralisch sein?" Die Deutschen würden solche Leute "Verstandesmenschen" nennen; das ist das Milieu der Whigpartei in England, ein Milieu, dessen Genius und höchster Repräsentant jetzt MACAULAY ist und in vergangenen Jahren WALTER SCOTT war, das Milieu der praktischen Philosophie des Eremiten de la CHAUSSEÉE d'ANTIN und der philosophischen Lehren von WEISSE. Alles bei diesen Herren ist korrekt, wohlanständig und an seinem Platz; sie lieben die Tugend, wie es sich gehört, und fliehen das Laster, bei all dem ermangeln sie nicht jenes gewissen Reizes eines grauen Sommertags, ohne Regen und Sonne, dem aber irgendetwas fehlt ... eine winzige Kleinigkeit nur, ein Nichts, wie bei den Prinzessinen des Zaren  Nikita ... doch
    "Dieses aber fehlte just ..."
und ohne dieses Etwas ist auch alles andere nichts wert.

LITERATUR, Alexander Herzen, Mein Leben, Bd. 1, Berlin 1962