ra-4Soziale UmweltNaiver Realismus
 Weltanschauungsanalyse
ERNST TOPITSCH

  Zu den wichtigsten Leistungen der "Seele" gehört auch das Erkennen, und es konnte daher nicht überraschen, daß die Erkenntnislehre der abendländischen metaphysischen Traditionen zu erheblichem Teil aus dem Seelen- glauben hervorgegangen ist und von dessen Grundmotiven in gewissem Sinne bis heute abhängig geblieben ist. Der Seelenglaube ist der Glaube an eine vom Leib wesensverschiedene und loslösbare Seele, die über höhere Einsicht und Macht verfügt, als der Mensch in seinem Alltagsleben, und die dem Druck der Realität, Leid, Bedürftigkeit, Schuld und Tod - grundsätzlich entzogen ist oder doch entzogen werden kann. Die weitere Erforschung und Kritik dieser "Erkenntnistheologie" gehört zweifellos zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben der Weltanschauungsanalyse.

Die Formen der menschlichen Weltauffassung und Selbstdeutung besitzen keineswegs ein bloßes "akademisches Interesse", sondern sie waren und sind bis heute auch von erheblicher praktischer Bedeutung. Schon in den archaischen Hochkulturen des Nahen und Fernen Ostens spielten sie im Aufbau imperialer Herrschaftsideologien eine hervorragende Rolle und noch im Europa der Neuzeit und der Gegenwart haben sich Absolutismus, Liberalismus und Sozialismus auf sie gestützt.

Versagungen rufen im Menschen ein Bedürfnis nach illusionären Kompensationen hervor, doch gibt es keine Sozialordnung, die nicht ein mitunter erhebliches Maß an Triebverzicht fordert. Dieser Druck der Realität kann durch soziale Veränderung, Technik, Medizin zwar vermindert, aber keinesfalls gänzlich beseitigt werden. So bleibt auch das Bedürfnis, sich diese Situation durch kompensatorische Phantasien zu erleichtern. Dadurch erklärt sich auch der erbitterte Widerstand, den von allenthalben - "rechts" wie "links" - einer folgerichtigen Analyse und Kritik solcher Gedankengebilde entgegengesetzt wurde. Nicht selten wurde gegen die kritischen Bemühungen geltend gemacht, dass sie für den Entzug jener kompensatorischen Befriedigung keine entsprechende emotionale Gegenleistung zu bieten vermögen. Der Einwand besagt zwar nichts gegen die Richtigkeit der Kritik, ansonsten lässt er sich allerdings kaum zurückweisen. Ihm hat schon Sigmund Freud mit dem Eingeständnis geantwortet: "Ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen."
(Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, Seite 136)

Die Funktionen der Deutungen der Welt, des Ich und der Erkenntnis beschränken sich keineswegs auf das Spenden von Trost. Vielmehr begründete sich die menschheitsgeschichtliche Bedeutung dieser Gedankengebilde auf eine noch ungleich größere Leistungsfähigkeit, denn sie waren geeignet, "to give to every type of man what he craved for: magic and superstition to the simple-minded; faith and hope to the poor and the oppressed; mysticism to the fervent; wisdom to the speculative; and excuses and a good conscience to the rich and powerful".(Heinrich Gomperz, Philosophical Studies, Boston 1953, Seite 17)

Es ist zweifellos ein Vorgang von großer geistesgeschichtlicher Bedeutung, dass diese Denkformen im Zuge der wissenschaftlich-industriellen Revolution ihre Glaubwürdigkeit und psychologische Wirksamkeit immer mehr einbüßen. Ob wir diese Entwicklung begrüßen, bedauern oder einfach hinnehmen sollen, hängt von Werturteilen ab, über deren Dignität nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit entschieden werden kann. Was dem einen als Verlust erscheint, betrachtet der andere als Gewinn. Ich bin wenigstens der Meinung, dass Weltanschauungsanalysen zu Einsichten in die Eigenart des Menschen und seines Welt- und Selbstverständnisses führen können, auf die wir auch dann nicht verzichten sollten, wenn sie die Preisgabe altehrwürdiger, gefühlsmäßig ansprechender und politisch vielseitig brauchbarer Überlieferungen bedeuten.

LITERATUR, Ernst Topitsch, Mythos - Philosophie - Politik, Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969