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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Anarchie
- I I -

1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
  6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
11. Religion
"Das Wissensproblem ist nicht die Wirklichkeit oder eine Wahrheit, sondern unsere Subjektivität, d.h. unser Denken und Fühlen."

Die erkenntnistheoretische Problematik ist überall dasselbe: allgemeingültiges Wissen aus Erfahrung. Oder anders ausgedrückt: Wie kann aus subjektiver Erfahrung objektives Wissen werden? Die ganze erkenntnistheoretische Problematik entsteht aus diesem Verhältnis von psychologischer Wirklichkeit und überindividueller, d.h. abstrakter Konstruktion. Probleme entstehen gerade dadurch, daß sich etwas Subjektives nicht zu einem Objektivem machen läßt.

Problematisch sind Phänomene, weil sie nicht eingeordnet werden können und in keine Schublade passen. Ein Problem ist durch seine absolute Einzigartigkeit definiert. Gerade die Unvergleichlichkeit mit vergleichbaren Gegebenheiten macht das Problem zu einem ganz speziellen Vorgang. Im objektiven Denken dagegen glauben wir, Probleme lösen zu können, indem wir sie allgemein stellen. Mit der Objektivität stellt sich die Problemlösung dann praktisch automatisch ein. Die Objektivität von  richtig  und  falsch  ist aber ein Scheinproblem. Es gibt keine objektiven Probleme, daher kann es auch keine allgemeingültigen Lösungen geben. Objektive Tatsachen sind eher ein Universalmittel, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.

 Ansich  kann keine Idee wahr oder falsch sein. Erst in der Beziehung zu einer anderen Idee ergeben sich Sinn und Unsinn. Jedes Wort erhält erst im Satz eine nähere Bedeutung und erst mehrere Sätze, im entsprechenden Zusammenhang, geben ein konkreteres Bild, das aber niemals allgemeingültige Objektivität beanspruchen darf. Selbst überzeugteste Logiker und Rationalisten müssen zugeben, daß keine Tatsache jemals  rein  objektiv ist, sondern immer sind subjektive Elemente darin verwoben. Der reine Verstand führt uns immer in die Irre.

"Der  reine Geist  ist eine reine Dummheit; rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die sterbliche Hülle, so  verrechnen  wir uns - weiter nichts." 17)
Reine Individualität gibt es genausowenig, wie eine reine Allgemeinheit. Reine Rationalität ist ein Unding, ist ein logisches, aber täuschendes Ideal, das am Ende immer eine demoralisierende Wirkung ausübt.

Im abstrakten Denken werden keine Widersprüche gelöst, sondern nur auf eine andere Ebene verlagert. Die Aufhebung der Widersprüche und Gegensätze durch Abstrahierung ist eigentlich nichts als Illusion. Der Verstand schafft im Grunde die Probleme und meistens mehr, als eigentlich da sind. Das vermeintliche Wissen nimmt die Stelle des kreativen Denkens ein. An die Stelle der Problemlösung tritt die Flucht aus der Wirklichkeit mittels Verallgemeinerung. Die Probleme werden lediglich verschleppt und verschleiert. Widersprüche zwischen der Realität und dem ethischen Anspruch bleiben aber weiter bestehen. Es muß klar sein, daß Sinngebung und Wertsetzung nicht logische Folgen des Wissens sind, sondern auf subjektiven Urteilen und Entscheidungen basieren.

Wir können uns von vielen Problemen befreien, wenn wir das objektiv-logische Denken in seiner Wirkungsweise durchleuchten. Gewohnheiten, Überzeugungen und Entschlüsse können zwar durch Logik geklärt und geordnet, aber nicht gerechtfertigt werden. Viele unserer Probleme sind im Grunde keine echten Probleme, sondern Probleme, die aus einem Mißverständnis der logischen Grammatik der Sprache entstehen und die verschwinden, sobald das Funktionieren der Sprache durchschaut wird: sie werden gewissermaßen nicht gelöst, sondern sie lösen sich auf.

Viele Probleme sind Scheinprobleme und das Ergebnis sprachlicher, bzw. logischer Operationen. Eine Hauptaufgabe des sinnvollen Denkens ist darum die Kritik der Abstraktionen und Denkformen. Die Kritik der Sprache ist zugleich auch eine Kritik der Logik und des Rationalismus. Viele Fragen scheinen vom  Wesen  oder der Struktur der Wirklichkeit zu handeln, während sie in Wirklichkeit nur durch den Nebel hervorgerufen werden, der unsere Begriffe umgibt. "Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre." 18)

Das Wissensproblem ist nicht die Wirklichkeit oder eine Wahrheit, sondern unsere Subjektivität, d.h. unser Denken und Fühlen. Alle unsere Schwierigkeiten ergeben sich aus subjektiven Vorstellungen und den daraus resultierenden Gegensätzen. Konflikte zwischen Fühlen und Denken, bzw. zwischen dem einen oder anderen Gedanken wird es auch immer geben, wo nur die geringste Art von Interesse besteht. Die tatsächliche Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderen, d.h. zwischen Subjekt und Objekt, bzw. zwischen mir und der Welt bleibt immer bestehen, weil sie eine Grundeigenschaft unseres Denkens überhaupt ist.

Solange ein Mensch denkt, steht er dem uralten Widerspruch von Bestand und Wandel gegenüber. Wir stehen laufend vor der Aufgabe, feste Vorstellungen mit der fließenden Welt in Einklang zu bringen. Echte Konflikte entstehen zwischen dem was  ist  und dem, was sein  sollte.  Der Widerspruch von seelischer Vielheit und abstrakter Einheit ist aber unserem Denken eigen und nicht den Dingen - deswegen sollten wir daraus resultierende Schwierigkeiten nicht überbewerten. Letztlich sind wir selbst das Problem oder seine Lösung. Was immer wir harmonisieren oder unterscheiden, ist in Wirklichkeit indifferent.

Selbstbestimmung ist als Bindung an eine selbstgesetzte Norm zu verstehen. KANTs Prinzip der Autonomie drückt die Einsicht aus, daß wir nie das Gebot einer Autorität, und sei sie noch so erhaben, als Grundlage unserer Ethik anerkennen dürfen.  Autonomie  soll Selbstgesetzgebung bedeuten (vom griech.  auto =selbst und  nomos =Gesetz). Freiheit ist dementsprechend das Handeln gemäß eines selbstgegebenen Gesetzes. Objektive Normen sind deshalb mit der Freiheit unvereinbar.

"Frei kann das Subjekt nur mit Rücksicht auf den  Akt  genannt werden, den es vollzieht, und dieser gehört nicht zur objektivierbaren Realität." 19)
Moralische Selbstbestimmung heißt, daß das Denken und Handeln nicht mehr aus einem Mechanismus heraus geschieht, sondern eigenen Entscheidungen entspringt. Der Grundsatz der Freiwilligkeit verbietet aber keine Delegation. Eine vorübergehende und zweckgerichtete Verteilung der Kompetenzen ist etwas anderes, als einee andauernde Verinnerlichung des Autoritätsprinzips. Wir brauchen keine permanente Autorität, sondern bestenfalls eine für den Bedarfsfall. Daß einer mehr weiß, als ein anderer ist kein Grund, Macht oder Zwang auszuüben.

Führung ist etwas anderes als Herrschaft. Eine antiautoritäre  Führung  gilt nur in einer bestimmten Situation und für begrenzte Zeit. Führerschaft im Augenblick der Tat und ohne Anspruch auf Dauer, ohne Verzicht der anderen auf Urteil und Selbstbestimmung, schließt keine Freiheit aus. Nicht die Organisation als solche ist schädlich, sondern die Mechanisierung, die alle menschlichen Beziehungen einem bestimmten Schema unterordnen will. Entscheidend sind bei aller Organisation sind die Inhalte, die äußere Form ist zweitrangig.

Konflikte treten da auf, wo Organisation stattfinden soll. Organisation ist nützlich, fordert aber Gehorsam. Organisation bedeutet immer Zusammenfassung des Einzelnen in ein System und zielt deshalb auf Vereinheitlichung ab, die leicht zur Unterdrückung wird. Der Konflikt zwischen Freiheit und Organisation besteht darin, daß Organisation zum Hindernis von Freiheit werden kann. Jede Organisation, mag sie noch so klein sein, kann von Ehrgeizigen und Psychopathen bedroht sein, die eine Tribüne suchen, um ihr Wichtigkeitsgefühl zu befriedigen. Deshalb laufen alle Organisationen - die über keine Kontrollmechanismen verfügen, um Sinn und Zweck, bzw. die echte Notwendigkeit einer Organisation zu erkennen - Gefahr, zu erstarren und sich zu verselbständigen.

Die Gefahr großer Organisationen besteht darin, daß die Freiheit zugunsten einer Ordnung vernachlässigt wird. Jede Organisation neigt dazu, zum Selbstzweck zu werden. Die Organisation entwickelt sich zu einem Konditionierungsinstrument, wo es nicht mehr um das Interesse für den konkret lebenden Menschen geht, sondern um die bloße politische Verwertung abstrakter Individuen in abstrakten Organisationen.  Organisation  ist oft die ideologische Umschreibung von Herrschaft und Zwang: auf Mitbestimmung und Zustimmung wird wenig Wert gelegt.

Hochspezifische Organisationen sind Systeme, für die Uniformität und grobe Vereinfachung ein wesentlicher Faktor ist. Die politische Macht im System will expandieren, so daß fast die ganze Bevölkerung von einem gewaltigen Prozess der Vereinheitlichung ergriffen wird. Jede Systemausdehnung bedeutet aber immer einen Niedergang der moralischen Selbständigkeit. Den Einzelerscheinungen wird der Integration wegen ihre Autonomie genommen. Die libertäre Konzeption dagegen ist gleichbedeutend mit dem Fehlen autoritärer Organisation. Der  organisierenden Abstraktion  steht die  Organisation der Befreiung  gegenüber. Der Anarchismus ist dementsprechend die Empörung der lebendigen Welt gegen die Starrheit und den Schematismus abstrakter und institutionalisierender Methoden.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    17) Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, KSA 6, München 1988, Seite 181
    18) Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Ffm 1977, Seite 356
    19) Heinrich Rickert, Grundprobleme der Philosophie, Tübingenn 1934, Seite 124