tb-4AnarchismusWilliam GodwinMax StirnerMichail Bakunin   
   
Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Anarchie
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"Heimtücke, Hinterlist und Verrat sind die grausamen Waffen der autoritären Gesinnung. Für den Leib die Gewalt - für die Seele die Lüge."


Die Ansichten der Autoritäre lassen sich ungefähr auf diesen Nenner bringen:
  • Die Eroberung der politischen Macht ist das einzige Mittel, um der Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende zu bereiten. Revolution kann man nur auf eine Art machen, nämlich mit Waffen.
  • Nach einer proletarischen Revolution muß ein revolutionärer Staat aufrechterhalten und nicht zerstört werden, weil das hieße den einzigen Organismus zu vernichten, mit dem die eroberte Macht geltend gemacht und der Gegner niedergehalten werden kann usw.
  • Wer die Macht des dunklen Geistes überwinden will, muß dessen Methoden gegen ihn selbst anwenden: mit allen Mitteln, Kunstgriffen, illegalen Methoden, Hinterhältigkeiten, falschen Vorspiegelungen, Verteufelungs-, Vernebelungs- und Verschleierungstaktik, so Lenin. Intrigen gehören nunmal zur Politik und wenn es einem guten Zweck dient, ist dagegen nichts einzuwenden.
Heimtücke, Hinterlist und Verrat sind die grausamen Waffen der autoritären Gesinnung. Für den Leib die Gewalt - für die Seele die Lüge. Die autoritären Ideologen erheben einen absoluten Wahrheitsanspruch für ihre Lehren, der dann zur Rechtfertigung des Vorgehens dient. Wer gegen diese Wahrheiten Widerstand leistet, wird unschädlich gemacht. Die politischen Gegner werden offen durch Gewalt und Terror ausgeschaltet: sie werden verhaftet, mißhandelt ermordet, in die Emigration oder Illegalität gezwungen. Was nicht beherrscht werden kann, wird zerstört.
"Es ist natürlich einfacher einen Menschen umzubringen, als ihn zu überzeugen." 20) Die Massenvernichtung von Andersdenkenden ist im totalitären Staat Routine.
J e d e  politische Organisation hat enorme Tendenzen zu einer Herrschaftsorganisation zu werden, die zugunsten bestimmter Gesellschaftsschichten agiert. Auch wenn das "Proletariat" die politische Macht an sich reissen wollte, müßte es am Ende zu einer herrschenden und ausbeuterischen Klasse werden.
"Die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse wird in Wirklichkeit zur Übernahme der Arbeiterklasse durch die Staatsmacht." 21)
Deshalb ist die Vernichtung jeder politischen Macht die erste Pflicht revolutionärer Kräfte. 22) In einer sozialen Revolution darf es nicht darum gehen die Macht zu erobern, sondern die zentrale Organisation und die organisierte Macht überhaupt zu beseitigen. Nicht mehr die militärisch-bürokratische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie radikal abschaffen. Sind nämlich die Revolutionäre autoritär organisiert, so wird auch die von ihnen errichtete nachrevolutionäre Gesellschaft auch autoritär sein.
"Dort, wo die  Organisation der Macht  beginnt, endet die  Organisation der Revolution;  der Ausdruck  revolutionäre Macht  ist ebenso sinnlos, wie  warmes Eis  oder  kaltes Feuer:  er hat keinen Sinn." 23)
Weil es unmöglich ist, die Freiheit mit Mitteln zu verwirklichen, die selber unfreiheitlich sind, ist es auch kaum möglich, die Macht mit Machtmitteln zu vernichten. Von der offiziellen Politik haben wir deshalb keine Emanzipation zu erwarten. Es gibt keine Emanzipation durch Politik, diese ist immer nur scheinbar und illusorisch und kostet weit mehr, als sie wert ist. Niemand soll sich von der Idee verleiten lassen, daß die politische Macht dazu benützt werden kann, die Freiheit unter den Menschen zu verwirklichen.

Die Maxime des Machtdenkens heißt: Der Zweck heiligt die Mittel. Es gibt aber keinen größeren Irrtum als den Glauben, Ziele und Zwecke seien eine Sache, Methoden und Taktiken eine andere. Mittel und Zweck können nicht getrennt werden, denn sie bilden einen einzigen unteilbaren Vorgang. Es sind immer die Übergänge, die Probleme aufwerfen, nicht die Ziele selbst. Kein noch so  guter  Zweck rechtfertigt  schlechte  Mittel. Ein politische Richtung darf darum nie nach den  Zielen  beurteilt werden, die sie lauthals verkündet, sondern nur nach den  Mitteln,  die sie zu ihrer Verwirklichung einsetzt.

Wo Freiheit der Zweck ist, darf Unfreiheit kein Mittel sein. Ein Ziel, das ungerechte Mittel braucht ist kein gerechtes Ziel. Die Organisation einer (angeblich provisorischen) revolutionären Organisation von politischer Macht hat nur geringe Chancen kein Betrug zu sein. Jede politische Macht schafft unvermeidlich für diejenigen, die sie ausüben Privilegien. Sie verletzt so von Anfang an das Prinzip der Gleichheit.

"Die kleine Erfahrung habe ich, wie viele andere, im Inneren der Organisationen gemacht, die sich revolutionär nennen, die auch eine Autorität ausübten im Namen der revolutionären Wissenschaft, eine Autorität der Chefs über die einfachen Kämpfer, der einfachen Kämpfer über die unorganisierten Massen, und auch die Autorität wurde ausgeübt mit Terror im Namen der Wissenschaft oder im Namen eines zukünftigen Staates, der vorgibt, im Namen aller zu handeln." 24)
Es besteht immer die Gefahr, daß neue Privilegien geschaffen werden, wenn die alten abgeschafft sind und sich neue Verhältnisse von Über- und Unterordnung etablieren.  Freiheit  muß deshalb schon während der Revolte und erst recht nach deren Sieg sofort und um jeden Preis gewährleistet sein, weil sie sonst auf unabsehbare Zeit verloren geht.

Für BAKUNIN muß die Organisation einer Revolte zukünftige Gruppen- und Gesellschaftsstrukturen vorwegnehmen. Revolte ist die Permanenz dessen was früher  Revolution  genannt wurde.  Revolte  ist jeder Moment, in dem autoritäre Bezüge aufbrechen, so daß sich eine freie Ordnung bilden kann. Mittel, Bedingung und Hauptzweck einer sinnvollen Revolte ist die Vernichtung des Autoritätsprinzips in allen Ausdrucksformen. Revolten sind der Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde.

Autorität und Zwang werden entweder mit roher Gewalt oder im Namen der Allgemeinheit ausgeübt. Wir dürfen nicht vergessen, daß die ideologische Gewalt der physischen in nichts nachsteht. Viel Unterdrückung wurde schon im  Namen  der Freiheit ausgeübt. Die politische Freiheit ist eine abstrakte, das heißt sie existiert nur auf dem Papier und nicht in Wirklichkeit.

Abstraktheit ist Beziehungslosigkeit. In der Praxis der Herrschaft werden die Menschen als isoliert und unverbunden mit der Welt existierend angesehen. Die Isolation des Einzelnen ist der Preis für die staatliche Einheit. Die beziehungslose, objektive Freiheit aber ist ein Phantom und Spuk. Erst im Kampf um die Freiheit beginnen wir diese auszuüben. Freisein ist nichts, frei werden alles. Niemand bekommt mehr Freiheit, als er sich erobert. Eine passive Befreiung gibt es nicht. Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden. Wer Freiheit will, muß Freiheit achten und gewähren. Nicht dadurch ist die Freiheit am meisten bedroht, daß sie freien Menschen geraubt werden könnte, sondern dadurch, daß wir verlernen, sie zu achten und dadurch, daß wir sie nicht mehr verstehen. Freiheit ist Freiheit und nicht das Gute.

Autonomie ist das Recht zur Selbstorganisation. Autonomie und Selbstorganisation dürfen aber nicht als Freibrief für Ausbeutung und Unterdrückung verstanden werden. Selbstbestimmung ja, aber ohne Privilegien. Freiheit darf kein Vorrecht, d.h. keine Ungerechtigkeit sein. Freiheit und Gleichheit bedingen sich gegenseitig, zusammen sind sie die Eckpfeiler der Moral. Wo Freiheit konkret wird, steht sie in Beziehung zur Gleichheit. Wir sollten einer Freiheit ohne Gleichheit genauso mißtrauisch gegenüber sein, wie einer Gleichheit ohne Freiheit. Nur wo Freiheit auf der Idee der Gleichberechtigung basiert, kann der Mißbrauch der Freiheitsidee eingeschränkt werden. Die gleiche Freiheit aller ist die  moralische  Freiheit.

Notwendige Bedingung jeder moralischen Autonomie ist die gegenseitige Achtung der Eigenständigkeit. Durch nichts wird Freiheit im gleichen Maße gefördert, als wieder durch Freiheit. Freiheit konstituiert sich dadurch, daß Freiheit anerkannt wird. Autonomie ohne Gleichberechtigung ist ein Unding. Die libertäre Organisation der Gesellschaft heißt darum gegenseitige Vereinbarung entsprechend den unendlich verschiedenen und den immer wechselnden Bedürfnissen von Land und Leuten. Anarchie bedeutet vollständige und unbeschränkte Selbstherrschaft und damit Abwesenheit einer jeden Fremdherrschaft.

Die gleiche Freiheit von Menschen als höchster Wert erträgt keine Regierung, gleich welcher Legitimation, auch nicht die der Scheindemokratie. Besitzt jemand das Recht der Selbstbestimmung, dann ist jede fremde Regierung Tyrannei. Die Mehrheit hat im Prinzip kein Recht, ihren Willen der Minderheit aufzuzwingen. Der Anarchismus lehnt deshalb die Mehrheitsdemokratie als eine Form der Staatlichkeit ab. Auch das Prinzip des  demokratischen Sozialismus  bedeutet Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit. Die Kategorie des Einzelnen ist  jeder  Allgemeinheitspolitik entgegengesetzt.

"Der Geist der Demokratie kann nicht von außen aufgepfropft werden, er muß von innen heraus kommen." 25)
Die Anarchie ist die konsequente Weiterentwicklung dessen, was mit Demokratie eigentlich gemeint sein muß. Demokratie heißt permanenter Abbau von Herrschaft. Einen demokratischen Untertanen kann es nicht geben. Kein Mensch darf seine Entscheidungsmacht verlieren. Das Autonomiemodell basiert deshalb auf der dezentralen Organisation gleichberechtigter Gruppen, ohne institutionalisierte Führer, in welcher Zuneigung, Selbstvertrauen und Selbstachtung Tugenden sind.

Für Anarchisten gilt das Prinzip der Selbstorganisation  und  der gegenseitigen Hilfe. Die Anarchie ist die einzige Alternative und der alleinige Widerpart der Macht, die mit Ausnahme der Anarchisten, sämtliche politische Strömungen erringen wollen.  Anarchismus  heißt Verneinung einer Rechtmäßigkeit jeden Anspruchs auf Autorität. Selbstbestimmung ist das Recht jeder ethnischen Einheit, eines Volkes oder einer anderweitigen Gruppierung, seine Angelegenheiten ohne die Eingriffe fremder Mächte selbst zu regeln. Jede Provinz und jede Gemeinde hat das Recht, frei und autonom zu sein. Föderalismus heißt, daß nur immer die über eine Sache entscheiden dürfen, die selbst davon betroffen sind.

Unmittelbare Demokratie bedeutet: keine Übertragung von Autorität und ist deshalb nur in kleinen Gemeinschaften möglich, in denen jedes Mitglied noch an der Entscheidungsfindung aktiv teilnehmen kann. Wirksame Mitbestimmung und Demokratie kann nur in kleinen Gesellschaften gelingen. Die Neuordnung des öffentlichen Lebens muß deshalb von den Gemeinden her geschehen. Wenn menschliche Gemeinschaften zu groß werden, dann müssen sie in kleinere Gruppen aufgeteilt werden, sonst verschwindet sowohl der humane, als auch der demokratische Geist.

Die direkte Demokratie hat die Übereinstimmung, d.h. letztlich eine Einstimmigkeit zum Ergebnis. Es werden keine Mehrheitsentscheidungen gefällt: Wo nicht ein jeder einverstanden ist, muß eben noch mal diskutiert werden. Selbstverwaltung bedeutet auch eine eigene Gerichtsbarkeit. Was nur die Gemeinden angeht, ordnen die Gemeinden für sich in Selbstverwaltung. Wo moderne Technik verantwortlich angewandt wird, können auch viele Hindernisse lokaler Eigenständigkeit überwunden werden. Heutzutage gibt es Kommunikationsmedien, die eine Autonomie der Regionen erlauben würden, ohne wieder in eine provinzielle Isolation zu verfallen. Jede Form der Fremdverwaltung muß Schritt für Schritt in Selbstverwaltung übergeführt werden. Selbsthilfe geht vor Fremdhilfe. Darum müssen auf breiter Basis Möglichkeiten geschaffen werden, unabhängig vom zentralisierten Staat und monopolistischer Wirtschaft zu handeln. Die organisatorischen Bedingungen dürfen aber nicht von außen aufgesetzt werden, sondern müssen aus einem echten gemeinsamen Interesse heraus entstehen.

Das anarchistische Organisationsprinzip heißt  Freiheit.  Freie Menschen müssen nicht organisiert werden, sie organisieren sich selber. Soziale Beziehungen haben nur dann Bestand, wenn sie freiwillig sind und wirklichen Bedürfnissen der Menschen entspringen. Echte Organe der Selbstverwaltung verzichten auf Manipulation und Unterwerfung. Eine aus der Zwangslosigkeit entwickelte Ordnung wird um einiges dauerhafter sein und in einem viel engeren Verhältnis zu unseren Bedürfnissen stehen, als irgendeine von außen aufgezwungene Ordnung. "Eine Gesellschaft, deren grundlegendes Ziel die Selbstverwaltung in allen Lebensbereichen ist, kann nur durch Selbst-Tätigkeit erreicht werden." 26) Für den philosophischen Anarchismus ist keine Regierungsform legitim. Die wahre Demokratie ist eine Verneinung des zentralen Staates und auch nicht ohne die Abschaffung der wirtschaftlichen Rigorismen denkbar. Ein Anarchist will keine Macht, duldet aber auch nicht, daß andere sie sich nehmen.

Herrschaftslosigkeit ist ein altes und hohes Menschheitsideal. Autonomie bedeutet, sich in seinem Urteil von dem anderer unabhängig zu machen. Im Prinzip der Selbstbestimmung gibt es letztlich keine andere Autorität, als die eigene. Moralische Erziehung ist immer Erziehung zur Autonomie. Selbstverwaltung hat einen großen erzieherischen Wert. Eine Erziehung dagegen, die Menschen nur dressiert, ist Anpassung zur Unterwerfung.

Im staatlichen Erziehungssystem wird immer zuviel Wert auf bloße Informationsaneignung gelegt und zuwenig auf die Einführung in ein unabhängiges und reifes Denken. Der Geist des unabhängigen und freien Fragens wird verdrängt vom autoritären Duckmäusertum. Dagegen bedeutet freie Erziehung, Bedingungen zu herzustellen, in denen das Prinzip der Selbstregulierung entwickelt werden kann. Eigenverantwortung fördert zwar Ungehorsam, aber der Ungehorsam ist auch der erste Schritt des Kindes zur Autonomie. Jeder muß die Freiheit haben, Fehler zu begehen, auch wenn er nichts daraus lernt.

Auch wenn wir für Vielfalt und Freiheit mit Unsicherheiten und Selbstdisziplin bezahlen müssen, gilt im Zweifelsfall: lieber zuviel, als zuwenig Freiheit. Freiheit ist der beste Erzieher. Die beste Erziehung ist die zum selbständigen Denken. Das Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft muß darum Leitziel jeder moralischen Erziehung sein. Was wir freiwillig tun, das tun wir besser, als alles andere.

Der Anarchismus, wie ich ihn verstehe, ist eine besondere Einstellung zum Problem der gesellschaftlichen Organisation: Wo zentralisierte Organisationen zu einer sozialen Gefahr werden, bedeutet die Organisation der Befreiung eine Methode, die über die Dezentralisierung von Macht zu ihrer Auflösung führt. Ausgangspunkt des Anarchismus sind die Einzelmenschen, die konkreten Individuen. Anarchie ist das Gegenstück zu allen Vertretungen des Allgemeinen. Niemals wird deshalb Anarchie eine Sache von Menschen mit einem standardisiertem Bewußtsein sein. Wer unfähig ist, kritisch zu denken, muß unkritisch glauben, ist also nicht für Vernunftgründe empfänglich, sondern reagiert aus Angst. Eine Autorität aber ohne ein echtes Warum ist ein irrationaler Wahn.

Die Gewöhnung an Gehorsam verdirbt nicht nur, die Bevormundung tötet auch jede Art von Initiative.  Anarchie  dagegen setzt geistige Emanzipation voraus. Autoritätslosigkeit stellt höhere Anforderungen an die persönliche Verantwortung als das kritiklose Befolgen von Vorschriften. Wo die Autoritäten fallen, müssen wir uns auf unsere eigene Vernunft verlassen.

"Eine Organisation ohne Hierarchie muß (deshalb) gefunden werden, der Spielleiter darf niemals zum Chef werden. Der spielerische Geist bietet die beste Garantie gegen die autoritäre Sklerose." 27)
Wenn es so etwas wie ein menschliche Geschichte überhaupt gibt, dann ist es die Geschichte des Bewußtseins der Menschen. Wissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie sind Ausdrucksformen dieser Bewußtseinsentwicklung. Jedes Bewußtsein entsteht aus dem Unbewußten heraus. Das Unbewußte ist immer älter, als das Bewußte. Mit der Geburt unseres Bewußtseins und denkenden Ichs beginnt unsere eigentliche Menschwerdung. Individualität und Entwicklung des Bewußtseins sind eins. Der Kampf um Emanzipation ist deshalb hauptsächlich ein Kampf um die Befreiung unseres Bewußtseins von unbewußten Einflüssen, die von außen auf uns ausgeübt werden, aber auch in uns selber entstehen können.

Alle Freiheit der Individualität bemißt sich dem Verhältnis von Bewußtem und Unbewußtem. Unser Bewußtsein ist jedoch im Grund nur eine dünne Schicht auf einem riesigen unbewußten Bereich.

"Der Gegensatz zwischen der bewußten und bewußtlosen Tätigkeit ist notwendig ein unendlicher, denn wäre er je aufgehoben, wäre die Erscheinung der Freiheit aufgehoben, welche einzig und allein auf ihm beruth." 28)
Kreativität ist ein Ausdruck dieser Befreiung. Gestaltungskraft resultiert aus einem Bewußtwerdungsprozess. Geschöpft wird aus dem Ozean des Unbewußten, dem Universum in uns. Die  schöpferische  Bedeutung der Persönlichkeit steht im Gegensatz zur mechanischen Kausalität des bloß zweckmäßigen, d.h. organisatorischen Denkens. Ein schöpferischer Mensch bricht deshalb notgedrungen mit vielen Konventionen. Die schöpferische Betätigung verträgt keinen Zwang. Auch wenn es nicht ganz ohne praktische Organisation abgeht, ist Kreativität selbst nie durch bloße Organisation zu erreichen.  Kreativität  ist immer frei. Jedes wahrhafte Bemühen erreicht den Punkt, wo es sich über sich selbst erhebt und zweckfrei wird. Der Bereich der Kunst ist von dem des Praktischen abgetrennt. In der Kunst gibt es keine Zwecke. Die Kunst ist - wie die Welt - um ihrer selbst willen da. Kunst geht, wie auch die lebendige Religion, über den Begriff hinaus.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    20) Maxim Gorki, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Ffm 1974, Seite 160
    21) André Gorz, Abschied vom Proletariat, Ffm 1980, Seite 33
    22) Vgl. Hector Zoccoli, Die Anarchie und die Anarchisten, Berlin 1980, Seite 442
    23) Voline, Die unbekannte Revolution II, Bremen 1976, Seite 267
    24) André Glucksmann, Tabula Rasa, Bremen o.J. Seite 8
    25) Mahatma Gandhi in Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand, Waldkirch 1980, Seite 18
    26) Murray Bookchin, Die Formen der Freiheit, Telgte-Westbevern 1977, Seite 29
    27) Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die jüngere Generation 1977, Seite 261
    28) G.W.F. Hegel in Georg Lukacs, Der junge Hegel II, Ffm 1973, Seite 538