ra-2von BelowP. Barthvon SybelE. WachlerE. MüllerSchmeidler    
 
GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Über Gesetze der Geschichte
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"Liegt das Geschehene in der Richtung schon vorher bestehender Anschauungen und Zustände, so verweist man auf ein Gesetz der Beharrung und Stetigkeit, wonach die Gesellschaft es liebt, die einmal eingeschlagenen Wege bis ans Ende zu verfolgen und am Gewohnten festzuhalten. Ist das Geschehene dagegen etwas Neues und Fremdartiges, so hat man ebenso ein Gesetz des Wechsels oder des Kontrastes zur Hand, wonach ein Volk leicht des Alten überdrüssig sich dem unbekannten Neuen zuwendet und dabei besonders geneigt ist, die seitherige Einseitigkeit mit der gerade entgegengesetzten zu vertauschen. Es ist dies ungefähr wie wenn der Darwinismus ein Gesetz der Vererbung und eines der Anpassung nebeneinander aufstellt, um aus dem einen das Beharrende, aus dem anderen das Wechselnde in den organischen Bildungen zu erklären. Eines von beiden muß ja immer zutreffen."

Der Geschichtsschreiber dürfte überhaupt das Wort "notwendig" so selten als möglich in den Mund nehmen. Er erfüllt seine ganze Aufgabe, er verdient unseren wärmsten Dank, wenn es ihm gelingt, das Geschehene durch Aufdeckung aller ineinander greifenden Faktoren anschaulich und verständlich zu machen. Auch ohne seine besondere Versicherung werden wir ihm gerne im Voraus glauben, daß, wenn alles so war, wie es gewesen ist, auch alles so kommen mußte, wie es kam, aber es ist kein Zeichen von gutem Geschmack und von richtiger Einsicht in die Grenzen seiner Kunst, wenn er an jedes: "Es kam so", auch sein: "Es mußte so kommen" anhängen zu sollen glaubt, wie wenn er die verlorenen sibyllinischen Bücher benützt hätte oder in die geheimen Ratschlüsse der Gottheit eingeweiht worden wäre, mag er sich dann auf die innere Dialektik der Idee oder auf allgemeine Gesetze menschlicher Entwicklung berufen oder einfach die Begriffe von Kausalität und Notwendigkeit miteinander verwechseln. Liegt das Geschehene in der Richtung schon vorher bestehender Anschauungen und Zustände, so verweist man auf ein Gesetz der Beharrung und Stetigkeit, wonach die Gesellschaft es liebt, die einmal eingeschlagenen Wege bis ans Ende zu verfolgen und am Gewohnten festzuhalten. Ist das Geschehene dagegen etwas Neues und Fremdartiges, so hat man ebenso ein Gesetz des Wechsels oder des Kontrastes zur Hand, wonach ein Volk leicht des Alten überdrüssig sich dem unbekannten Neuen zuwendet und dabei besonders geneigt ist, die seitherige Einseitigkeit mit der gerade entgegengesetzten zu vertauschen. Es ist dies ungefähr wie wenn der Darwinismus ein Gesetz der Vererbung und eines der Anpassung nebeneinander aufstellt, um aus dem einen das Beharrende, aus dem anderen das Wechselnde in den organischen Bildungen zu erklären. Eines von beiden muß ja immer zutreffen.

Ebenso wird wie von einem Gesetz der Geschichte gesprochen, daß die Völker wechseln müssen, daß, wie die Individuen, so auch ganze Nationen entstehen, eine Kindheit, Jugend, ein Mannesalter durchleben, dann aber allmählich sinken und schließlich absterben oder untergehen, um anderen Platz zu machen, so daß für die Menschheit im Ganzen die Reihe der Völker das wäre, was für ein Volk die Reihe der Generationen. Ich will den vieldeutigen Begriff Volk hier nicht erörtern, aber eine innere Notwendigkeit, daß eine gegebene geschlossene Gruppe der Menschheit nur durch den Ablauf der Jahrhunderte die Kraft verliere, sich aus sich selbst durch stets neue Zeugungen zu erhalten, zu vermehren, sowie ihre geistigen Kräfte den stets wechselnden Bedürfnissen ihrer Entwicklung immer aufs Neue wieder anzupassen, läßt sich nicht begründen. Sollte etwa ein Wald jemals aufhören müssen Wald zu sein? Die Erde kann ihn verschlingen, die Art des Menschen, Feuer und Wasser können ihn zerstören, aber die Bäume werden nicht aufhören Frucht und Samen zu tragen und der Boden wird nicht von selbst die Kraft verlieren, sie zu ernähren. So kann auch eine Familie, wenn man sie von einem bestimmten Stammvater aus zählt, aussterben, aber zum Wesen der Familie kann das Aussterben unmöglich gehören und die gegenwärtig vorhandenen Familien bestehen jedenfalls aus lauter nicht ausgestorbene Familien bestehen jedenfalls aus lauter nicht ausgestorbenen. Wie sollte von großen Gruppen von Geschlechtern gelten, was für das einzelne Geschlecht nicht zutrifft? Vergangenheit und Gegenwart bieten Beispiele genug, daß das ganze Stämme und Völker von anderen ausgerottet, unterworfen, assimiliert, umgebildet werden oder mit ihnen zu einem neuen Volk verschmelzen, aber als notwendig läßt sich dieser Gang der Sache nicht bezeichnen. Wenn wir zu den untergegangenen Völkern auch die des klassischen Altertums zählen, so legen wir nicht den ethnographischen, sondern einen kulturgeschichtlichen Begriff von Volk zugrunde, aber die heutigen Griechen und Italiener sind nach Sprache, Kultur und Staatseinrichtungen von ihren Vorfahren im Altertum nicht weiter entfernt als wir Deutsche von unseren heidnischen Ahnen, ohne daß wir diese ein untergegangenes Volk nennen; die Übergänge sind dort so stetig und unmerklich wie die hier und nirgends ist ein Einschnitt, der das Alte vom Neuen trennt. Ein geschichtliches Gesetz, eine innere Notwendigkeit des Veraltens und hoffnungslosen Verkümmerns ganzer Völker behaupten, heißt so viel als die Fähigkeit der Anpassung und Umbildung unter veränderten Bedingungen, die wir den Pflanzen und Tiergattungen zuzugestehen geneigt sind, allein dem intelligentesten und bildsamsten unter den Geschöpfen der Erde versagen. Überdies ist das tatsächliche Material unserer Geschichtskunde weder ansich so umfassend, noch seinem Inhalt nach so beschaffen, daß irgendein historischer Nachweis für ein solches Gesetz geführt werden könnte. Die einen Völker sind untergegangen; andere sind es nicht; ob diese auch einst untergehen werden, wer will das schon wissen?

Und was soll man zu jenen geographisch formulierten Geschichtsgesetzen sagen, wonach der Entwicklungsgang und Charakter der Völker durch Lage, Klima, Gebirge, Ströme, vorgezeichnet sein soll. Will man hier nur von kausalen Beziehungen, von fördernden oder erschwerenden, auf bestimmte Richtungen mehr als auf andere hinweisenden Bedingungen reden, so gehört ohne Zweifel die Aufzeigung solcher Relationen zwischen der Erde und ihren Bewohnern zu den anziehendsten Seiten der Geschichte wie der Erdkunde. Sollen solche Sätze aber den anspruchsvollen Namen von Gesetzen führen, die das Leben der Menschheit beherrschen, so ist ihnen hierzu auch jede Berechtigung abzusprechen. Wenn dann freilich das eine Land die Kultur seiner Bewohner dadurch fördert, daß es ihnen die Gaben der Natur mit leichter Mühe und in reichster Fülle darbietet, das andere dadurch, daß es ihnen eben diese Gaben erschwert und sie zu angestrengter Arbeit nötigt, wenn die insulare Lage ebenso zu Schifffahrt und Handel wie zu glücklicher Isolierung und Selbstgenügsamkeit einlädt, wenn die Gebirgslandschaft das einmal zu einem idyllischen Hirtenleben, das anderemal zur Unterwerfung der verweichlichten Talbewohner aufmuntert, wenn die weite Ebene bald durch ihre Einförmigkeit den Geist beschränkt, bald durch den leichten Verkehr und den weiten Gesichtskreis zur Gründung großer Staaten und Reiche die Hand bietet, so scheint daraus mehr zu folgen, daß der Mensch sich in jeder Situatione zurechtzufinden und aus jeder die seiner Eigenart entsprechenden Vorteile zu ziehen weiß, als daß die Natur ihm ihre Gesetze aufzudrängen vermöchte. Jener ewig blaue Himmel, der über Ionien lacht, versagt nun schon seit zwei Jahrtausenden die Wunderwirkungen, die er einst geübt haben soll und fast ebenso lange laden die Häfen und Buchten der phönizischen Küste vergeblich zu Handel und Schifffahrt ein.

Nicht selten hören wir es auch mit dem stolzen Namen von historischen Gesetzen zu bezeichnen, daß Staaten und Herrschaften immer nur durch dieselben Mittel erhalten werden können, durch welche sie gegründet wurden oder daß nach jedem großen Sieg oder Erfolg immer auch der unterlegene Teil sich wieder aufs Neue zu stärken und zu sammeln pflege, so daß erst in wiederholtem Hin- und Herwogen der ringenden Kräfte allmählich ein die Gegensätze ausgleichender Abschluß eintrete. Beides trifft oft genug zu und läßt sich wohl begreifen, aber Gesetze sind es nicht. Wenn das Erste unbedingt gälte, so könnte eine ursprünglich durch Gewalt, Frevel und Usurpation [Eroberung - wp] entstandene Macht oder Herrschaft niemals zu friedlichem und legitimem Ansehen und geordneten Rechtszuständen gelangen; und in diesem Fall befinden sich nahezu alle gegenwärtigen europäischen Staaten. Das andere aber wird doch nur in dem Maß zutreffen, in welchem die Niederlage des Besiegten noch keine vollständige war und will dann nichts Besonderes besagen. Wer kann zweifeln, daß die Geschichte auch eine Menge vernichtender Katastrophen kennt, welche jede weitere Sammlung der Kräfte abgeschnitten haben?

Ich könnte noch eine Reihe solcher Sätze anführen, die da oder dort mit dem Namen geschichtlicher Gesetze geschmückt werden, weil sie einen Kern von Wahrheit einschließen und eine naheliegende, leicht und häufig eintretende Kausalverknüpfung ausdrücken, deren Geltung aber doch nur gerade so weit reicht, als die Zwecke und Eigenschaften der handelnden Personen im besonderen Fall nicht eine andere Richtung einschlagen.

So will sich denn nirgends, wohin wir auch den Blick richten, jene feste Ordnung, jene unfehlbare Verknüpfung von Ursache und Wirkung zeigen, die wir als das erste und entscheidende Merkmal eines Gesetzes anzusehen uns gewöhnt haben. Der Grund aber, warum wir noch kein einziges allgemein anerkanntes Gesetz der Geschichte anzugeben wissen, scheint weniger daran zu liegen, daß unsere Einsicht und Forschung eben noch nicht so weit reicht als in der Natur des Gegenstandes selbst. Auf einem Gebiet, in welchem Freiheit, Individualität und Zufall einen so großen und unausscheidbaren Anteil an den Erfolgen haben, wo kein gesellschaftlicher Zustand einem früheren genau gleichen kann, wo wir die Ungleichheiten niemals erschöpfend aufzählen und nie sicher sein können, alle wirkenden Ursachen erkannt zu haben, scheint ein Gesetz, das nach Art des Naturlebens unausbleibliche Kausalbeziehungen aufstellt, überhaupt keinen Raum zu finden. Geschichte ist für uns ein freies, zwar kein unbedingtes aber auch kein notwendiges Geschehen. Wenn die Ereignisse eingetreten und von uns in annähernder Vollständigkeit erkannt sind, können sie uns leicht durch eine Täuschung, zu werlcher uns der Kausalitätsbegriff verführt, als notwendig erscheinen; sie sind es aber nicht schon vorher, wenigsten nicht für unsere menschliche Erkenntnis, von der doch allein die Rede sein kann.

Nun kann man aber fragen: ist die Geschichte darum, weil ihr alle Deduktion und systematische Form versagt ist, eine, ich will ja nicht sagen wert- und ergebnislose, sondern eine den Disziplinen, die Gesetze aufstellen und deduktiv verfahren können, nicht ebenbürtige Wissenschaft?

Man wird hier wohl zuerst an die Analogie des individuellen Lebens erinnern. Wer von reiferen Jahren aus auf seine Vergangenheit zurückblickt, wird wohl schwerlich jemals ein bestimmtes Gesetz seiner Entwicklung, eine Notwendigkeit seines Lebensgangs zu erkennen vermögen. Er wird den Umständen, den äußeren Einwirkungen, dem Schicksal, dem Zufall einen unabsehbar großen Anteil zuschreiben; er wird denken müssen, die Dinge hätten von jedem Punkt aus auch anders gehen können. Aber darum wird er sich doch keineswegs wie ein Produkt der Umstände, ein Spielball der Zufälligkeiten vorkommen, er wird eine innere Instanz, einen lebendigen Stützpunkt des Widerstandes und der Herrschaft in sich fühlen; Wind und Wellen hat er nicht gebieten können, aber am Steuer stehen und das Schifflein lenken, geschickt oder ungeschickt. Von den Gesetzen seines Wollens ist er sich nur solcher bewußt, die nicht ein Müssen, sondern ein Sollen ausdrücken. Es wird ihm aber gar nicht einfallen, die Bedeutung seines Lebens nach dem Maß einer Notwendigkeit zu schätzen, das darin zu erkennen ist. Es kann ihm wenn auch keine Gesetze, so doch einen reichen Schatz von Erfahrungen und Einsichten bieten, die darum noch nicht wertlos sind, weil sie keine untrüglichen Rezepte von blinder Anwendbarkeit enthalten. Das Ganze seines Lebens wird in sich selbst eine Bedeutung tragen, die trotz aller Kurven und rückläufigen Linien mit der geraden und gesetzmäßigeren aber blinden und gehaltlosen Entwicklung niedrigerer Organisationen gar nicht zu vergleichen ist.

In ähnlicher Weise wird auch die Völkergeschichte dem Staatsmann, dem Philosophen, dem Historiker, jedem Denkenden zwar nicht einfache Gesetze von leichter und sicherer Handhabung, aber eine Fülle von Anschauungen, von Lehren der Weisheit, der Erfahrung im Großen bieten, seinen Blick erweitern, die Gegenwart von ganz neuen Seiten beleuchten, sie als Glied einer Reihe begreifen, den Umfang und Reichtum menschlicher Lebensformen erkennen lassen. Es ist freilich nicht Sache der Berechnung oder logischen Deduktion, sondern des Takts und der politischen Kunst, die richtigen Analogien von Vergangenheit und Gegenwart zu treffen, das Gleichartige vom Abweichenden zu scheiden, ähnlich wie die Spruchweisheit des Volkes für die Verhältnisse des Privatlebens die mannigfaltigsten, auch sich direkt widersprechenden Sätze und Halbwahrheiten umfaßt, aber den feineren Sinn doch für jeden konkreten Fall auch die zutreffende Lehre erkennen läßt.

Überhaupt aber brauchen die Geisteswissenschaften, zu denen die Geschichte gehört, sich nicht mit dem Maßstab, der für die Naturwissenschaften gilt, zu messen. Wo die Idee der Freiheit hereingreift, der vernünftigen Selbstbestimmung, die alle Naturmomente durchdringt und beherrscht, da ändern sich auch die Methoden und Ideale des Wissens. Das Einzelne und Individuelle wird hier zur einmaligen, unwiederholbaren Tat, die ihre Bedeutung in sich selbst und nicht als bloßes Beispiel eines Allgemeinen trägt. Das Wissen vom Menschengeist, obgleich unvollkommener weil schwieriger, steht höher als alles Wissen von der Natur. Die Geschichte aber oder der Gang des Menschengeistes im Großen gleicht einer Wanderung, wo jeder Tag neue Anschauungen bringt, die sich nicht unter die früheren klassifizieren oder in ein System von fertigen Gesetzen und Regeln einfügen lassen.

Allein trotz aller seitherigen Abweisungen und Einschränkungen des Begriffs von historischen Gesetzen,  ein  großes Gesamtergebnis aller Geschichtsbetrachtung,  eine  unwidersprechliche, unfehlbare Tatsache, die wenn auch nicht als eigentliches Kausalgesetz, doch als ein empirisches Gesetz bezeichnet werden zu dürfen scheint, gibt es doch, den Fortschritt der Menschheit. Das ist wohl die einzige, ausnahmslose Wahrheit der Geschichte, daß es keinen Stillstand gibt und geben kann, daß jede Gesellschaft, jedes Volk ruhelos fortgetrieben und stets neuen Zuständen und Lebensformen entgegengeführt wird.

Das ergibt sich schon als einfache Massenwirkung aus dem in jeder Menschenseele ruhenden Drang nach einer Veränderung und Verbesserung seiner Lebenslage, nach einer Steigerung seiner Glückseligkeit. Wenn alle Einzelnen unruhig vorwärts drängen, kann das Ganze nicht in Ruhe verharren, wenn auch teilweise die Ziele der einen durch die der anderen gehemmt und neutralisiert werden können. Jede einzelne Tat greift, wenn sie vollbracht ist, in das gesamte Räderwerk der realen Verhältnisse ein, wirkt auch unabhängig von ihrem Urheber darin fort und bringt eine wenn auch noch so kleine doch immer unwiderrufliche Änderung des Bestehenden hervor. Jeder gesellschaftliche Zustand trägt die Keime seiner Auflösung, die Stoffe einer sozialen Krankheit in sich. Schon die durch die mächtigsten Begierden verbürgte, naturgemäße und stetige Vermehrung der Volkszahl, die sich nur durch Mittel, die selbst wieder als Übel empfunden werden, hemmen läßt, drängt jedes System nationaler Nahrungsquellen und Güterteilungen mit stets wachsendem Druck aus den Fugen und nötigt zu neuen und eingreifenden Auskunftsmitteln der einen oder anderen Art.

Aber daraus folgt freilich nur ein Gesetz der Veränderung, aber noch keines des Fortschritts. Der ununterbrochene Wechsel der Zustände kann sich auch in ganz regellosen und rückläufigen Kurven bewegen. Und hier ist dann zuerst zu fragen: was ist Fortschritt und woran ist er zu erkennen? Darauf werden vielerlei Antworten gegeben; ich möchte der kürzesten von ihnen, der von HERDER, den Vorzug geben. Der Fortschritt liegt in der Richtung zur Humanität, er liegt in der wachsenden Erstarkung derjenigen Kräfte, welche den Menschen über das Tier erheben und zum Menschen machen, der intellektuellen, sittlichen und religiösen Triebe. Es nur eine andere Fassung desselben Gedankens, wenn man den Fortschritt als wachsenden Sieg des Geistes über die Natur bezeichnet, sobald man dabei unter Geist nicht bloß den Intellekt und unter Natur nicht bloß die Außenwelt versteht.

Im Wissen nun und in der Technik stehen große Fortschritte außer Frage. In Bezug auf den sittlichen Fortschritt mag man zuerst an das spöttische Dichterwort erinnert werden: "Ob die Menschen sich im Ganzen bessern? Ich glaub' es, denn einzeln suche man wie man auch will, sieht man doch gar nichts davon." Der Fortschritt ist hier jedenfalls nicht darin zu finden, daß in späteren Zeiten ein größerer Bruchteil der Gesellschaft oder der gleiche Bruchteil in höherem Maße den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, entspräche; er kann nur darin liegen, daß diese sittlichen Anforderungen selbst, daß der Maßstab des sittlichen Urteils eine Steigerung erfährt und daß das Gute aus dem flüssigen und unsicheren Elemente freier Sittlichkeit von Einzelnen sich zu den festeren Formen rechtlicher Ordnung und herrschender Sitte verdichtet. Einen Fortschritt dieser Art wird die Geschichtsschreibung auch ohne Zweifel nachzuweisen imstande sein. Aber den Schluß, daß, weil es bisher so war, es auch künftig so sein werde, daß also ein Weltgesetz sittlichen Fortschritts anzunehmen wäre, ist weder an sich logisch bindend noch von der Voraussetzung der Willensfreiheit aus zulässig und der Determinismus müßte aus dem Zirkel seiner formalen Notwendigkeiten vorher heraustreten, ehe er überhaupt auf eine solche Frage eine Antwort geben kann. Es ist keineswegs undenkbar, daß die wachsende Komplikation gesellschaftlicher Zustände, die mit der Volkszahl stetig steigende Erschwerung des Erwerbslebens, die Kollisionen des freien Individualismus mit den überlieferten Ordnungen soziale Aufgaben stellen, hinter deren Größe die sittlichen Leistungen zurückbleiben, daß Perioden der Verwilderung und Zerstörung eintreten, welche die Errungenschaften von Jahrtausenden wieder in Trümmer werfen. Dennoch würden wir auch dann nicht glauben, daß dies das Letzte sein könnte; im Hintergrund der Sturmwolken würde man doch irgendwo wieder ein Fleckchen blauen Himmels zu sehen meinen; die in der Menschenseele verborgen ruhende Hoffnung, daß im Weltlauf schließlich doch wieder Vernunft und Liebe das Feld behaupten müssen und unsere Ideale keine Träume und Wahngebilde sind, würde im Abschluß die Rettung erwarten und eben dadurch wohl auch herbeiführen.

So ist denn auch dieses Gesetz des Fortschritts schließlich doch mehr Sache des Glaubens als eine beweisbare Erkenntnis. Das beste Unterpfand dieses Glaubens bildet jener unleugbare Fortschritt des Wissens. Während sittliche Güter von jedem wieder neu zu erwerben sind, tritt jedes Geschlecht ein vermehrtes Kapital der intellektuellen Bildung an. Zwar zeigt uns das Mittelalter wie die heutige Welt des Islam, daß auch eine schon errungen gewesene Kultur wieder verloren gehen kann. Wissen und Kunst wird nicht übernommen wie die Grundstücke, Häuser und beweglichen Sachgüter, sie erfordern eine Aneignung und ein Interesse dafür, nach dem Spruch: "Was du ererbst von deinen Vätern, erwirb es um es zu besitzen." Wenn in einem Geschlecht die reine Liebe zur Wahrheit verschwindet, wird auch alles überlieferte Wissen in Bälde zu einem toten Schatz und auch im günstigen Fall gleicht die Menschheit in diesem Punkt einer Familie, die zwar ihr Besitztum stetig vermehrt, für die aber gleichzeitig ebenso die Bedürfnisse wachsen und alte Güter entweder ganz wertlos werden oder eine mühsame Umgestaltung erfordern. Dennoch wird der Zusammenhang zwischen den Idealen des Denkens und Wollens immer eine Bürgschaft dafür bleiben, daß der Fortschritt des Wissens auch ein sittliches Sinken, wenn nicht verhindert, doch erschwert und aufhält.

Wenn man nun aber auch in solcher Weise den wachsenden Sieg des Geistes über die Natur oder den Fortschritt in der Richtung zur Humanität als das große Thema der Weltgeschichte anerkennt, so würde man sich doch getäuscht sehen, wenn man glaubte, in dieser oder einer ähnlichen Formel einen Schlüssel oder ein Schema zu besitzen, um einen erkennbaren Plan und gegliederten Gang des Ganzen daraus abzuleiten. Man hat über die Reihe und Stufenfolge der Zeitalter und Völker schon viel Wahres und Geistvolles gesagt und wird das unendlich reiche Thema niemals erschöpfen, da sich immer wieder neue Gesichtspunkte bieten und jedes weitere Jahrhundert das Panorama erweitert und verändert, aber man wird nie darüber hinwegwegkommen, daß man es mit einem durchaus positiven, tatsächlich gegebenen, jeder deduktiven Methode sich entziehenden Material zu tun hat. Was man Philosophie der Geschichte nennt, ist vielleicht das höchste unter allen Problemen menschlicher Erkenntnis, aber es ist wenigstens bis jetzt immer nur eine mehr oder weniger geistvolle und mehr oder weniger sachkundige Übersicht über das Ganze der Tatsachen daraus geworden, auch da, wo es den Anspruch und den Anschein einer genetischen Konstruktion aus Begriffen und Prinzipien behauptet hat.

Es scheint nun freilich eines solchen Ausblicks auf das Große und Ganze gar sehr zu bedürfen, um bei der Geschichtsbetrachtung nicht mut- und hoffnungslos zu werden. Denn im einzelnen bietet sie des Abstoßenden und Entsetzlichen weit mehr als des Erfreulichen und Erhebenden. Man hat gesagt, die Hand Gottes sei im Buch der Natur deutlicher zu lesen, als im Buch der Geschichte. Ja man könnte glauben, der Mensch sei eigentlich nur knapp und notdürftig für die Größe der Aufgaben ausgestattet, die ihm auferlegt sind, er sehe sich in wichtigeren Dingen überall nur vor die Wahl zwischen zwei oder mehr Übeln gestellt und es bleibe ihm auch das Äußerste an Jammer und Elend nicht erspart. Über das Lebensglückt von Tausenden, über Blut und Leichen wälzen sich die großen Völkerschicksale hin und ein Unterschied der späten und neuesten Zeiten vor den alten ist dabei kaum mit Sicherheit zu erkennen. Man hat die Wege der Menschheit mi denen des Wanderers in der Wüste verglichen; vor ihm und hinter ihm spiegelt die  Fata morgana  am Horizont lachende Landschaften mit fruchtbaren Bäumen, mit labenden Schatten und Gewässern, aber das Bild weicht vor ihm zurück, wenn er ihm näher zu kommen glaubt und tritt stets wieder an den Rand des Horizonts. So verlegen die Träume der Menschheit ein goldenes Zeitalter in die Vergangenheit und Zukunft, aber jede Gegenwart ist eine eiserne Zeit. Es gehört ohne Zweifel viel Abstraktion und Selbstverleugnung dazu, um Trost und Beruhigung hiergegen daraus zu schöpfen, daß wenn auch die jeweils lebende Menschheit ihren Weg immer mit Seufzen gehen muß, doch wenigstens die Idee der Menschheit zu einer höheren Entwicklungsstufe vorschreitet. Es will uns ja überhaupt schwer fallen, uns für den nebelhaften und unfaßbaren Begriff der Menschheit zu erwärmen. Auch die Vorstellung von sittlichem Fortschritt scheint uns ein einheitliches Bewußtsein zu erfordern. Wenn sich die einzelnen Stufen desselben an verschiedene Personen verteilen sollen, so glauben wir die Linie, die dieselben zu  einem  Ganzen verbindet, in die Luft zu zeichnen. Fruchtbarer und lohnender erscheint die Betrachtung, die sich nach der entgegengesetzten Seite hinwendet. An der einzelnen Menschenseele, nicht an jenen engeren und weiteren Kollektivbegriffen haftet alles Gefühl und Bewußtsein von Glück und Unglück, von Schuld und Schicksal, von sittlichem Fortschritt oder Rückgang. Wenn auch das Geschick des Einzelnen in das der Gemeinschaft immer verflochten bleibt, so sind ihm doch die Mittel nicht versagt, das Geschick selbst zu lenken oder zu bezwingen. Nicht immer und nicht allen, aber Vielen und vor allem solchen, die es suchen, ist im engen Kreis ein Asyl geboten vor den Stürmen des Zeitalters. Die Bande des Bluts, der Liebe und der Freundschaft, der Segen der Arbeit, der Genuß des Schönen, die Freuden der Erkenntnis, der Trost des Glaubens können eine Quelle von Lebensglück werden, die zwar nicht unabhängig ist von Zeit und Gesellschaft, aber doch in der Hauptsache auf eigenem Wollen und Leisten beruth. Und schließlich wird doch auch kein anderer und besserer Weg dazu genannt werden können, daß es um Volk und Staat, Zeitalter und Menschheit wohl bestellt sei, als daß der Einzelne in dem engen Kreis, in dem er sich versetzt findet, seinen Plätz ausfülle und auf das wahre Glück und Heil der eigenen Seele wohl bedacht sei.

Diese Betrachtung leitet mich aber zugleich auf den Abschluß meines Themas hin. Ich hatte versprochen, von den Gesetzen der Geschichte zu reden und scheine Sie nun zu dem reinen negativen Ergebnis geführt zu haben, daß es gar keine solche gebe. Ich meinte damit jedoch nur, daß es keine Naturgesetze gebe, die ein Müssen, eine unfehlbare Verknüpfung von erkennbaren Bedingungen und Folgen ausdrücken. Wenn sich auch ein wachsender Sieg des Geistes über die Natur nicht als erweisbares Kausalgesetz, sondern nur als ein unzweifelhaftes tatsächliches Ergebnis der bisherigen Geschichte unseres Geschlechts bezeichnen läßt, so konnte das doch auch nichts Zufälliges, die bloße Gunst eines blinden Schicksals sein. Es sind vielmehr jene Gesetze des Sollens, die ethischen Gesetze, die einen solchen Erfolg allein herbeiführen konnten. Sie sind ja nicht als bloße Einbildungen und Postulate begreiflich zu machen, sondern als der Ausdruck und die Gebilde unserer eigenen sittlich religiösen Anlagen und Triebe, die als solche zugleich tätige und treibende Kräfte sind.
LITERATUR Gustav von Rümelin - Über Gesetze der Geschichte, Reden und Aufsätze I, Neue Folge, Freiburg i. B. und Tübingen 1881