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HEINRICH von SYBEL
Über die Gesetze
historischen Wissens

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"Jene subjektive Umgestaltung der von den Tatsachen empfangenen Eindrücke ist, wie schon ihr allgemeines Vorkommen zeigt, nichts Willkürliches. Abgesehen von den meistens leicht erkennbaren Fällen planmäßiger Lüge, vollzieht sie sich unbewußt, bald sofort bei der Auffassung, bald später bei der Wiedererzählung der Tatsache. Während der Naturforscher für die einzelnen Naturobjekte weder Vorliebe noch Abneigung hat, regt jede  menschliche  Handlung in jedem menschlichen Betrachter auf der Stelle eine Empfindung der Sympathie oder Antipathie an: man fühlt die eigene Stimmung damit ein Einklang oder Widerspruch, man findet die eigenen Bestrebungen dadurch gehindert oder gefördet. Ohne Einwirkung eines bewußten Willens wird durch diese Gefühle die Auffassung des Bildes in eine bestimmte Richtung und Haltung gedrängt und je mehr diese der eigenen Persönlichkeit entspricht, um so zäher wird sie trotz der späteren Einwendungen der kritischen Reflexion festgehalten."

Aber dieses Verständnis hat allerdings seine Schranken, innere Schranken, nach der Abstufung der individuellen Natur, eine äußere Begrenzung gemäß der Unvollständigkeit der historischen Kunde. Oft genug müssen wir darauf verzichten, das Wesen eines Gewährsmannes so weit zu erforschen und zu prüfen, wie es zur exakten Feststellung der von ihm gemeldeten Tatsachen erforderlich wäre. Dann tritt ein zweites Verfahren ergänzend ein. Ebenso wie die Wissenschaft aus einer sicheren Einzelheit auf einen weiteren Zusammenhang schließt, ebenso berechnet sie aus einem bereits festgestellten Zusammenhang eine noch undeutliche Einzelheit. Die Möglichkeit und Sicherheit dieses Schlusses beruht auf der Wahrnehmung, daß keine geschichtliche Tatsache isoliert steht. Vielmehr ist eine jede in Zeit und Raum, in Ursache und Wirkung mit der anderen verbunden, wirkt nach festen, erkennbaren Gesetzen auf dieselbe ein und wird ihrerseits von denselben bestimmt. Da diese Kontinuität der Dinge eine unverbrüchliche ist, so muß offenbar die unrichtige Auffassung der einen Tatsache sofort mit dem richtigen Bild der andern in Kollision geraten: entweder zieht der eine Fehler weitere Fehler nach sich oder es erscheint ein Riß im Zusammenhang, der auf die Quelle des Fehlers hinführt. Es wird hiermit deutlich, daß wer eine Reihe historischer Tatsachen kritisch festgestellt hat, darin ein sicheres Mittel besitzt, beim nächstanschließenden Ereignis die Genaugikeit der Berichte zu bestimmen, auch ohne die Verfasser derselben näher zu kennen. Von vornherein wird sich jeder Erzähler am meisten empfehlen, der seinerseits den offensten Sinn für jenen Zusammenhang der Dinge, für chronologische Genauigkeit, geographische Bestimmtheit, ursächliche Verkettung und Folgerichtigkeit gewährt. Auch von dieser Seite her kommen wir zu dem Ergebnis: die historische Wissenschaft ist fähig, zu völlig exakter Kenntnis vorzudringen. Auch auf dieser Seite ist die Voraussetzung, mit welcher die Sicherheit des Erkennens steht und fällt, die absolute Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung, die gemeinsame Einheit im Bestand der irdischen Dinge. Denn existierte diese nicht oder könnte sie irgendwo unterbrochen werden, so wäre es vorbei mit der Sicherheit jedes Schlusses aus dem Zusammenhang der Ereignisse, ebenso wie jede Berechnung menschlicher Personen dem Zufall anheim gegeben wäre. Die beiden Quellen der historischen Erkenntnis wären verschüttet. Der Bestand der historischen wie jeder anderen Wissenschaft reicht genau so weit wie die Anerkennung des herrschenden Gesetzes.

Die Prüfung der Berichterstatter nach dem Wesen ihrer Persönlichkeit - und die Prüfung der Tatsachen nach ihrem Zusammenhang in Zeit und Raum und Kausalverkettung: das sind die beiden Operationen der historischen Kritik, die beiden Vorbedingungen jedes historischen Wissens.

Ich halte einen Augenblick inne. Ich weiß nicht, ob die Meisten unter Ihnen, beim Hervortreten eines so einfachen Resultates, nicht bereist die Frage getan haben: wozu so lange Erörterung und Begründung für Dinge, die sich so völlig und zweifellos von selbst verstehen? Gewiß, ich bin weiter als irgendein Mensch von der Meinung entfernt, daß diese Grundsätze theoretische einem Zweifel unterliegen könnten. Aber die wiederholte Diskussion erhält dennoch heute wie früher ihre Rechtfertigung durch die wissenschaftliche oder unwissenschaftliche Praxis, welcher die feste Betätigung jener Sätze fort und fort unendlich schwer fällt. Erlauben Sie mir hierüber einige Bemerkungen.

Jene subjektive Umgestaltung der von den Tatsachen empfangenen Eindrücke ist, wie schon ihr allgemeines Vorkommen zeigt, nichts Willkürliches. Abgesehen von den meistens leicht erkennbaren Fällen planmäßiger Lüge, vollzieht sie sich unbewußt, bald sofort bei der Auffassung, bald später bei der Wiedererzählung der Tatsache. Während der Naturforscher für die einzelnen Naturobjekte weder Vorliebe noch Abneigung hat, regt jede menschliche Handlung in jedem menschlichen Betrachter auf der Stelle eine Empfindung der Sympathie oder Antipathie an: man fühlt die eigene Stimmung damit ein Einklang oder Widerspruch, man findet die eigenen Bestrebungen dadurch gehindert oder gefördet. Ohne Einwirkung eines bewußten Willens wird durch diese Gefühle die Auffassung des Bildes in eine bestimmte Richtung und Haltung gedrängt und je mehr diese der eigenen Persönlichkeit entspricht, um so zäher wird sie trotz der späteren Einwendungen der kritischen Reflexion festgehalten. Wenn etwa heute in Deutschland ein Schriftsteller, ohne irgendeinen Gewährsmann aufzuführen, erzählenwollte, PETER der Große habe in seiner Jugend gerne Flöte gespielt und Zeitungen gelesen, sei von seinem Vater deshalb mißhandelt und nach einem mißlungenen Fluchtversuch beinahe zum Tode verurteilt worden - wenn er also gewisse Schicksale FRIEDRICHs des Großen auf den russischen Selbstherrscher ohne irgendwelche authentische Quellen übertrüge: so würde ein solcher Autor bei uns, denen PETER kein persönliches, sondern nur ein wissenschaftliches Interesse einflößt, einfach ausgelacht werden. Dagegen ist es bis auf den heutigen Tag nach Umständen sogar etwas mißlich, sich in der Schweiz verneinend über die Tellsage auszusprechen, obgleich hier ganz derselbe Fall vorliegt, daß 150 Jahre nach der Befreiung der Waldstätte, ohne irgendeinen beglaubigten Gewährsmann, mit Verletzung mehrerer urkundlicher Verhältnisse, eine altnordische Sage auf einen angeblichen Helden des Befreiungskampfes übertragen wurde. Das Herz des Volkes hängt an seinem Tell und dast das Unerweisliche und Zweifelhafte aus der Wissenschaft zu beseitigen, zieht man sich hinter die Sätze zurück, daß der Inhalt der Sage immerhin möglich sei und deshalb kein genügender Grund zu ihrer Verwerfung vorliege. In Wahrheit ist, wie man sieht, der einzige Beweis für das Leben des TELL der lebhafte Wunsch vieler Schweizer, es möchte doch der TELL gelebt haben. Für die Wissenschaft, die nur erwiesene Tatsachen kennt, existiert er nicht.

Die Erscheinung, die wir hier beobachten, daß die Stimmung, aus welcher eine der Tatsache nicht entsprechende Darstellung entspringt, in weiten Kreisen geteilt wird und eben dadurch eine dem wissenschaftlichen Urteil trotzende Konsistenz gewinnt, wiederholt sich in zahllosen Fällen, im 19. Jahrhundert so gut wie in den früheren. Wir wissen jetzt auf das Bestimmteste, nicht nur aus erzählenden Berichten, sondern aus den Akten der Zeit, daß der große Krieg der französischen Revolution nicht von Österreich und Preußen oder gar von England, sondern daß er aus revolutionärer Angriffslust von den Parteien der französischen Jakobiner begonnen wurde. Aber die Masse des französischen Volkes hatte 1791 und 1792 das richtige Gefühl, daß seine neue Freiheit von den Mächten mit großer Feindseligkeit betrachtet wurde; später nach dem Sieg hatten die französischen Machthaber ein bestimmtes Interesse, als die ungerecht Angegriffenen zu erscheinen und damit ihre Eroberungen zu legitimieren. Aus diesen Stimmungen entsprang eine fast unabsehbare Literatur über Ursachen und Verlauf des Revolutionskriegs, in welcher die gerechte Defensive Frankreichs bis in die Gestaltung der kleinsten Einzelheiten durchgeführt war und die trotz der vollen Unwiderleglichkeit des Gegenbeweises ihren Einfluß auch heute noch, nicht bloß in Frankreich, sondern sogar weit nach Deutschland hinein geltend macht. Ein deutsches Buch er entgegenstehenden Ansicht war in das Französische übersetzt worden; der Übersetzer aber wurde in Paris mit einer Art von gesellschaftlicher Ächtung bedroht, wenn er ein so anti-französisches Werk publiziere; auf seine Einrede, daß dasselbe die aktenmäßige Wahrheit erzähle, erhielt er nur die Antwort, umso schlimmer sei es, wenn er es herausgäbe. In unserer Gegenwart freilich, welche durch und durch mit dem Geist der kritischen, unbedingten Forschung erfüllt ist, haben solche Erscheinungen nicht eben viel zu bedeuten: sie illustrieren sehr charakteristisch die Notwendigkeit der methodischen Kritik, wenn nicht alle Wahrheit anhanden kommen soll, aber sie sind trotz aller Energie der unkritischen Stimmung immer nur kurze Zeit imstande, den ungeschichtlichen Mythus aufrecht zu erhalten.

Nicht immer aber war in unserem Europa dieses Verhältnis vorhanden. So selbstverständlich uns in der Theorie die Grundsätze der historischen Kritik erscheinen, so erstaunlich jung ist die Tätigkeit dieser Disziplin unter den modernen Nationen. Wenn man von einer äußerst kleinen Anzahl höchst isolierter Denker absieht, existierte in den langen Jahrhunderten des Mittelalters der Sinn für kritische Geschichtsbetrachtung überhaupt nicht. Die ersten Anmeldungen desselben brachte das 15. Jahrhundert, die Zeit der sogenannten Renaissance, der Wiedererweckung des klassischen Altertums. Die eigentliche Geburtsstätte desselben ist das 16. Jahrhundert, das Zeitalter der kirchlichen Reform. Die vollendete Evolution desselben endlich gehört der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, der Zeit der philosophischen Regeneration und des weiten Durchschlagens der naturwissenschaftlichen Tätigkeit in Europa. Dem Mittelalter fehlte eine ganze Reihe von Voraussetzungen, welche für die Entstehung und Fruchtbarkeit der kritischen Betrachtung erforderlich sind. Die Quelle derselben ist eine gewisse, ich möchte sagen, männliche Reife der Bildung, eine Bildung, welche Phantasie und Verstand in ein bestimmtes Gleichgewicht setzt, welche sichere Wahrheit der erfreulichsten Einbildung vorzieht, welche der poetischen Umarbeitung eines gegebenen Stoffes ihre ideale Wahrheit gern zuerkennt, aber dieselbe von der wissenschaftlichen Realität der Dinge streng unterscheidet, welche von der Naturwissenschaft die Allgegenwart der Regel und des Gesetzes und von der Philosophie das Bewußtsein, nur in und unter dem Gesetz Freiheit und Wahrheit zu finden, gelernt hat. Von allen diesen Forderungen zeigt sich in der geschichtlichen Betrachtung des Mittelalters das gerade Gegenteil. Wohl fehlt es niemals an einzelnen Beschauern, die mit genauer Gewissenhaftigkeit einzelne ihnen auffallende Tatsachen in ihre Kalender und Jahrbücher eintragen; wohl bringt auch mancher seine eigenen Erlebnisse, mit der ruhigen Unbefangenheit des fortlaufenden Tagebuches zu Papier; wohl schreiben einzelne Verfasser, bald durch das Vorbild der Alten, bald durch künstlerische Fähigkeit angetrieben, zusammenhängende Erzählungen, zuweilen mit Fleiß und Gründlichkeit und lobenswertem Formtalent nieder. Die wissenschaftliche Geschichte kommt, wenn sie mit diesen Auszeichnungen die Überreste der Handlungen und Zustände, die Urkunden und Briefe, die Gesetze und Rechtsquellen verbindet, in den Stand, ein zwar überall höchst unvollständiges, immerhin aber zuverlässiges Bild der wirklichen Ereignisse zu gewinnen. Umso mehr aber erstaunt man, wenn man mit dieser Realität der Dingen die allgemein verbreiteten und herrschenden Vorstellungen vergleicht: es ist als wäre der gesamte Horizont von einer großen Fata Morgana erfüllt und das Bild der Wirklichkeit dadurch völlig verdeckt worden. Das 12. oder 13. Jahrhundert war wahrhaftig nicht, was man wohl eine vorhistorische Zeit nennt, eine Zeit etwa ohne Schreibkunst, ohne Gedächtnis noch Urteil, ohne Intelligenz noch Kultur. Vielmehr war es die Zeit der herrschergewaltigsten Kaiser und Päpste, die Zeit einer hohen Kunstblüte in Poesie und Architektur, die Zeit BERNHARDs und ABÄLARDs, ALBERT des Großen und THOMAS von AQUIN. Aber eben diese Zeit hatte keine Vorstellung von geschichtlichem Urteil, keinen Sinn für geschichtliche Realität, keine Spur von kritischer Reflexion. Das Prinzip der Autorität, auf religiösem Gebiet ganz unbedingt herrschend, kam wie den überlieferten Dogmen so auch jeder anderen Überlieferung zugute. Überall war man geneigter zu glauben als zu prüfen, überall hatte die Phantasie das Übergewicht über den Verstand. Man unterschied nicht zwischen idealer und tatsächlicher, zwischen poetischer und geschichtlicher Wahrheit. Die Heldengedichte galten für hohe und wahre Geschichte und die Geschichte versetzte sich überall mit epischer, novellistischer oder legendarischer Poesie. Eine langsame geschichtliche Entwicklung führte man auf eine einzige große Tat, einen einzigen persönlichen Schöpfer zurück. Fast niemand trug ein Bedenken, vorhandenen Zuständen durch erdichtete Geschichten oder Urkunden die Sanktion eines ehrwürdigen Alters aufzudrücken; die Frage, ob eine solche Herleitung wahr sei, hatte für niemand Interesse, genug wenn das Ergebnis dem bestehenden Recht, den vorhandenen Interessen, dem herrschenden Glauben entsprach. In der Geschichtschreibung disponierte man den historischen Stoff nicht nach seiner eigenen Beschaffenheit, sondern teilt ihn aufgrund einer mißverstandenen DANIELschen Weissagung in die Historie der vier Weltmonarchien, wovon die römisch-deutsche die letzte sein und bis zum Ende der Dinge reichen würde. In der Darstellung des Einzelnen schrieb ein Annalist den andern mit wunderwürdiger Unbefangenheit ab, unter allen anderen Berichten auch solche Sätze, in welchen der alte Gewährsmann erzählte, daß er, einige hundert Jahre vor der Geburt des Kopisten, die eine oder andere Begebenheit selbst ansehen habe.

Oft genug kam es vor, daß ein solcher Autor mehrere Berichte benutzte, die sich an verschiedenen Stellen formell widersprachen; niemand nahm Anstoß daran, daß der Kompilator beide Erzählungen ganz fröhlich hintereinander in sein Buch einrückte. Äußerst selten zeigte sich der Trieb, die Dinge nach ihrer inneren Verbindung zu begreifen, eine Regel ihres Zusammenhangs oder ein Gesetz seiner Entwicklung wegen zu ermitteln. Desto stärker war die Neigung zum farbigen und frappanten Detail, zum Absonderlichen, Verwunderlichen, Wunderbaren - ein Zug, der in jener Zeit ebensowohl auf dem Gebiet der Naturforschung und Geographie wie der Geschichtschreibung hervortrat. Man wird bei einer solchen Beschaffenheit der Gemüter verstehn, wie allmählich eine Anschauung der früheren Jahrhunderte entstand, welche gerade bei den wichtigsten, das Interesse am stärksten anregenden Ereignissen, mit dem wirklichen Verlauf gar nichts mehr gemein hatte. Heute weiß jedermann, wie die Herrschermacht der römischen Kurie in vielhundertjähriger Entwicklung Schritt auf Schritt herangewachsen und unter welterschütternden Kämpfen allmählich zum Sieg gelangt ist. Damals aber war außer zwei oder drei Gelehrten die Welt überzeugt, daß schon im 4. Jahrhundert der Kaiser KONSTANTIN bei seiner Taufe dem Papst SYLVESTER Italien und die westlichen Länder und insbesondere alle Inseln geschenkt habe; die völlig grundlose Erdichtung kam nicht bloß in die Historien, sondern auch in die Gesetzbücher; ja es geschah aufgrund dieses Rechtstitels, daß Papst URBAN II. sich die Insel Korsika unterwarf, daß Papst HADRIAN IV. die Insel Irland der Herrschaft des eroberungslustigen Königs von England überwies. Wie der päpstlichen Weltherrschaft, erging es einem anderen weltbewegenden Ereignis der Zeit, den Kreuzzügen. Über wenige Ereignisse des Mittelalters sind wir so gut und detailliert unterrichtet, wie über ihre erste Veranlassung und die Gründung des christlichen Königreichs Jerusalem; wir wissen genau, in welchem kirchlich-politischen Zusammenhang Papst URBAN II. Europa zu diesem großen Glaubenskrieg aufbot, wie sein Legat die offizielle Leitung hatte und Fürst BOEMUND von Tarent für die diplomatisch-militärische Entwicklung das Beste tat, wie wenig Planmäßigkeit und Disziplin dabei existierte, wie geringen Erfolg man bei kolossalen Mitteln und idealer Begeisterung erreichte. Aber nicht mehrere hundert Jahre später, wie bei der konstantinischen Schenkung, sondern unmittelbar während des Ereignisses erschuf die erregte Phantasie der Teilnehmer eine völlig verwandelte Geschichte desselben. Der Ruhm URBAN II. und BOEMUND wurde auf den Einsiedler PETER und GOTTFRIED von BOULLION übertragen, welche unter CHRISTI unmittelbarer Anregung und Leitung gehandelt hätten, alle Details des Zuges wurden in diesem Sinne umgestaltet und das Ganze mit einer maßlosen Füllen von heiligem Glanz und ritterlicher Pracht umgeben. Als dann fünfzig Jahre später die auf so herrliche und gottgeweihte Art entstanden Reiche dennoch von den Türken mit drängendem Verderben bedroht wurden, setzte man seine Hoffnung auf eine neue, ebenso wunderwürdige Diversion. Wahrscheinlich nach Gerüchten von der Erhebung eines tungusisch-chinesischen Stammes, der einige christliche Missionäre unter sich hatte und von Osten her eine Weile die Türken bedränte, zeichnet Bischof OTTO von Freisingen in seiner Chronik die Geschichte auf, daß ein Nachkome der heiligen drei Könige, der Priester JOHANNES, der dann auch die von jenen beherrschten Länder regiere, nach dem Muster seiner Vorfahren einen Zug nach Jerusalem beschlossen; er habe die Türken geschlagen, sei an den Tigris gekommen, habe dort einige Jahre auf das Zufrieren des Flusses gewartet, um ihn passieren zu können und sei, als dieses nicht geschehen, wieder umgekehrt.

Später zirkulierte ein Brief dieses Priesterkönigs an mehrere europäische Herrscher, worin er die Herrlichkeiten seines Reiches nach dem Muster von SINDBADs Märchenreisen auseinandersetzte und so allgemein wurden diese Dinge geglaubt, daß Papst ALEXANDER III. zum Priester JOHANNES einen außerordentlichen Botschafter ausschickte, dessen Gesandtschaftsberichte dann freilich nicht veröffentlich worden sind. Und ähnliche Dinge wiederholen sich auf allen Seiten, auf welche Stelle der Vergangenheit oder der Ferne der dichtungdurstige Blick der Menschen sich richtet. Die Franken sind zu Nachkommen der Trojaner, die Briten des Tyrannenfeindes BRUTUS geworden. Die Dänen leiten sich von ODIN eine Reihe von Königen her, die sich mit den Römern in die Weltherrschaft teilen. In Böhmen gründet LIBUSSA, mit übernatürlichen Gaben ein großes Reich, welches eine geraume Zeit hindurch mit dem fränkischen wetteifern kann. Der Ostgote THEODERICH wird zu einer halbdämonischen Heldengestalt in der Nibelungensage, KARL MARTELL brennt nach seinem Tod im vulkanischen Feuer der liparischen Inseln. Der große Kaiser KARL hat bereits einen Zug nach Jerusalem gemacht und das heilige Land erobert. Der deutsche König HEINRICH I. wird vom Vogelherd zum Thron geholt und schenkt dann sein Herzogtum Sachsen dem Papst. In Spanien wächst der Ruf eines grausamen und treulosen Söldnerhäuptlings zum leuchtenden Ruhm eines CID CAMPEADOR heran. Dazu nehme man die Masse freier Erfindung in einer großen Zahl der kirchlichen Legenden, die Fülle der erdichteten oder umgearbeiteten Urkunden, die Menge Überbleibsel der altgemarnischen Götter- und Heldensagen, die auf das Bunteste gemischten und gemodelten Erinnerungen aus dem klassischen Altertum: man vergesse nicht, daß in einem ganzen Menschenalter vielleicht zwei oder drei oder zehn einsame Forscher an diesen phantastischen Ergüssen Anstoß nahmen, sonst aber kein Zweifel und keine kritische Erwägung bei den neben und nacheinander lebenden Millionen vorkam -: wer das alles bedenkt, wird anerkennen, daß jene Menschen geradezu in einer anderen Welt als wir existierten, in einem geschichtlichen Horizont, der vom unsrigen so verschieden ist, wie die ptolemäische Astronomie von der kopernikanischen.

Man begreift bei dem Umfang und der Dauer all dieser Täuschungen, daß die einmal erwachte historische Kritik Jahrhunderte nötig hatte, sie auf die Seite zu schaffen und wenn wir sehen, daß eine große Anzahl derselben auch heute noch in weiten Kreisen in Geltung stehen, so bemerken wir, wie tief die Neigung, der sie ihre Entstehung verdanken, in der menschlichen Natur wurzelt und was für ein Unterschied zwischen der theoretischen Anerkennung und der praktischen Betätigung der kritischen Grundsätze ist. Man sieht demnach, wenn sich der ganze Bestand unserer Wissenschaft nicht in Nebelbilder auflösen soll, daß jene Grundsätze überall mit ausnahmsloser Genauigkeit festgehalten werden müssen. Längst ist die Naturwissenschaft in allen ihren Teilen von der Gewißheit durchdrungen, daß auf ihrem Gebiet keine Behauptung erscheinen darf, die nicht auf einen kritischen Beweis gegründet, sich in den gesetzlichen Zusammenhang der Dinge einfügt. Sie läßt es völlig dahingestellt, ob auf anderen Gebieten des menschlichen Daseins eine andere Regel und Praxis gilt: innerhalb ihrer Marken aber hält sie jene Ordnung unerschütterlich aufrecht. denn sie weiß, daß das, was nicht auf einer gesetzlichen Regel beruth und nicht zur Erkenntnis einer gesetzlichen Regel führt, dem Wesen der Wissenschaft fremd ist. Nun, dieselben Prinzipien beherrschen auch das Wesen der historischen Forschung und nur deshalb ist in ihrem Gebiet das Verhalten weniger korrekt, weil, wie vorher bemerkt, hier stärker, als in der Physik, die Neigungen des menschlichen Herzens und die Wünsche der menschlichen Praxis mitreden. Die Wissenschaft aber kann nicht nach Neigung und Wünschen, sondern nur nach Wahrheit fragen.

So weit diese Prinzipien reichen, so weit reicht die Grenze des wissenschaftlichen Gebietes. Innerhalb derselben ist die Möglichkeit sicherer objektiver Erkenntnis, draußen beginnt das Spiel der unbedingten subjektiven Phantasie. Wir wollen die letztere wahrlich nicht verachten; neben der Lüge und der gehaltlosen Erfindung erschafft sie den Völkern die tiefste Poesie und vermählt sich gern mit den edelsten Gefühlen der menschlichen Brust, mit religiöser wie mit der patriotischer Begeisterung. Überall sonst mag sie ihr Recht haben, nur in der Wissenschaft, in der Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit und ihrer Gesetze hat sie keine Stelle.

König FRIEDRICH WILHELM III. hat den gelehrten Studien an zwei bedeutenden Punkten eine edle Heimat gegründet, dort in der preußischen Hauptstadt, hier in den reichgesegneten deutschen Grenzlanden. In beiden Orten ist in den Anfängen der neuen Anstalt der Gang der geschichtlichen Wissenschaft durch die Tätigkeit des Mannes geweiht worden, GEORG BARTHOLD NIEBUHR, der wie kein anderer dieses Jahrhunderts für die Betätigung der kritischen Grundsätze, für die Entwicklung echten Wissens schöpferisch gewirkt hat. Die Staaten, sagt SALLUST, werden durch den Geist erhalten, in dem sie gegründet worden sind: mögen auch auf unseren Hochschulen die kommenden Geschlechter des Geistes eingedenk bleiben, der bei ihrer Gründung gewaltet hat.
LITERATUR Heinrich von Sybel, Über die Gesetze historischen Wissens, Festrede gehalten am Geburtstag König Friedrich Wilhelm III. am 3. August 1864, Bonn 1864