ra-2ra-1ra-3W. JamesG. SeliberF. C. S. SchillerC. S. Peirce    
 
LUDWIG STEIN
(1859-1930)
Der Pragmatismus
[2/2]

"Wahrheit ist nur ein bestimmter Gattungsname für alle Arten von bestimmten Arbeitswerten in der Erfahrung. Die  ewigen Wahrheiten  der Logisten lassen  James  kühl bis ans Herz, während die  Wahrheit der Fakten  seine eigentliche Domäne bilden. In dem unermüdlichen Bestreben der Logisten, Rationalisten und erkenntnistheoretischen Begriffsrealisten nach Ideen, obersten Formeln, Gesetzen und absoluten Wertmaßstäben von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit sieht der nominalistische Pragmatist nur den Ausdruck einer ruhebdürftigen Seele, die nach einem definitiven Abschluß, nach einer Art von  Nirwana der Erkenntnis  dürstet."

"In einer Welt von lauter Singularitäten wäre unsere Logik nutzlos, denn die Tätigkeit der Logik besteht darin, vom einzelnen das zu prädizieren, was von der Gattung wahr ist. Wenn keine zwei Dinge in der Welt einander gleich wären, so könnten wir aus unseren vergangenen Erfahrungen nicht auf die zukünftigen schließen. Solispsismus heißt: Zerstörung aller Wissenschaft und ihres Instrumentes, der Logik, während Pragmatismus umgekehrt bedeutet: Aufbau der Wissenschaft auf Grund einer biologisch fundierten Logik."

"Gliche die Zukunft nicht der Vergangenheit, so entzöge sie sich aller Vorausberechnung und eben damit aller wissenschaftlichen Erfassung. Aus lauter Variabeln läßt sich kein befriedigendes Weltbild aufbauen."

"Die Welt ist ihrem Wesen nach  Stoff,  und damit das, was wir aus ihr machen. Es hat keinen Zweck, sie durch das zu definieren, was sie von Anfang an war, oder durch das, was sie losgelöst von uns ist; sie  ist,  was man aus ihr  macht." 

"Der Pragmatismus faßt alle jene Tendenzen unserer philosophisch fieberhaft erregten Zeit zusammen, welche unter den Namen: Naturphilosophie, Energetik, Psychologismus, Positivismus, Phänomenalismus, Fries'scher Empirismus, Relativismus einen gemeinsamen Kampf führen gegen das  Ding ansich,  gegen alle Metaphysik, gegen Transzendenz, Idealismus, kurz gegen jenen platonisierenden Kantianismus, der am konsequentesten von der Marburger Schule vertreten und temperamentvoll verfochten wird."

"Dem englischen Denken wohnt seit dem 13. Jahrhundert eine Tendenz inne, die erst im Pragmatismus voll und rein ausklingt: der Utilitarismus. Hier hat  Roger Bacon  genauso den Grund gelegt, wie im Altertum die Sophisten und Hedoniker. Nur haben die alten Utilitaristen eine  Moral  der  Konsequenzen  verkündet, während heute die Pragmatiker eine  Logik  der Konsequenzen fordern."

III.
Die pragmatische Methode

Der "Pragmatismus" bietet uns keine neue Weltanschauung, wohl aber eine neue Klangfarbe, einen neuen Ton, eine neue Gebärde. Und so gilt es jetzt, nachdem Name und Ursprung des Pragmatismus klargelegt sind, der Methode selbst, kritisch nachprüfend, auf den Grund zu gehen.

Der Kern der pragmatischen Methode besteht in der Zurückführung alles Logischen auf das Teleologische. Jede Methode, ein Ding zu klassifizieren, sagt JAMES ("Der Wille zum Glauben", Seite 76), ist nur eine Methode, es zu irgendeinem Zweck zu handhaben.  Begriffe, "Gattungen", sind teleologische Instrumente.  Ein abstrakter Begriff kann nur in dem Fall ein gültiger Ersatz für eine konkrete Wirklichkeit sein, daß er einem besonderen Interesse entspricht, der ihn denkt. GUSTAV RATZENHOFER spricht geradezu von einem "inhärenten Interesse", das nicht nur in der Welt der sozialen Gebilde den Grundbaß allen Geschehens und Handelns darstellt, sondern daneben eine metaphysische Bedeutung beansprucht. Die pragmatische Methode anerkennt den Primat der praktischen über die theoretische Vernunft, des Handelns über das Sein. Wie bei FICHTE und noch früher bei LEIBNIZ folgt für den Pragmatiker alles "Sein" aus dem "Tun". JAMES gibt diesem Primat folgende, auf für seinen Stil charakteristische Fassung ("Der Wille zum Glauben", Seite 42: Die Grundfrage bei Dingen, die zum erstenmal ins Bewußtsein treten, ist nicht die theoretische (Frage): Was ist das?", sondern die praktische: "Halt! wer da?" oder besser, wie HOROVICZ es trefflich ausgedrückt hat: "Was fange ich an?"

Die "pragmatische Methode" wendet JAMES im Anschluß an PEIRCE und DEWEY nur an, "um philosophische Streitigkeiten zu schlichten, die sonst endlos wären" (Pragmatismus, Seite 27). JAMES selbst nannte diese Methode noch im "Willen zum Glauben" einen radikalen Empirismus. Der amerikanische Logiker JOHN DEWEY in Chicago nennt diese Methode, wie wir bereits wissen, die "instrumentale" Ansicht über den Begriff der Wahrheit. Läßt sich eine neu auftauchende Erfahrung in befriedigende Beziehungen zu anderen Teilen unserer bisherigen Erfahrungen setzen, so ist sie wahr. Noch schärfer ist die Fassung, die der amerikanische Philosoph CHARLES SANDERS PEIRCE in seinem Aufsatz "How to make ideas clear" der pragmatischen Methode gegeben hat (siehe "Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit", Seite 412): Die Überzeugungen sind die Regeln für unser Handeln. Die Gedankenarbeit führt uns zu bestimmten Gewohnheiten in unserem Handeln. Die Handlungsweise ist für uns die ganze Bedeutung des Gedankens. Um völlige Klarheit über irgendein Problem zu erreichen, brauchen wir also nur zu untersuchen, welche Empfindungen die eine oder die andere Annahme - sofort oder später - in uns auslösen würde, und wie wir unser Handeln einzurichten hätten, wenn sich unsere Annahme als war erweisen würde. (Vgl. auch "Pragmatismus", Seite 28). Schließlich fügt JAMES seine eigene Formel hinzu (Pragmatismus, Seite 33). Theorien sind  nicht  Antworten auf Rätselfragen, sondern nur Werkzeuge.' Der Pragmatismus will keine bestimmten Ergebnisse feststellen, sondern nur den Wert einer radikalen empirischen Methode beanspruchen. Er nimmt "allen Theorien ihre Steifheit, macht sie geschmeidig und läßt sie arbeiten". Da er nichts wesentlich Neues ist, so harmoniert er mit vielen alten philosophischen Richtungen. So stimmt er mit dem Nominalismus darin überein, daß er sich überall an das Einzelne hält, mit dem Utilitarismus darin, daß er überall den praktischen Standpunkt betont, mit dem Positivismus in der Verachtung, die er den bloß sprachlichen Problemlösungen, überflüssigen Fragestellungen und metaphysischen Abstraktionen entgegenbringt. (Seite 33)

Der Voluntarist JAMES hätte noch einen Schritt weitergehen und die großen Voluntaristen und Energetiker von den Scotisten angefangen bis zu FICHTEs "das Sein stammt aus dem Tun", und NIETZSCHEs "Willen zur Macht" unter seine Vorläufer einreihen dürfen. In Wirklichkeit handelt es sich im Pragmatismus um nichts anderes, als um eine konsequente Durchbildung des Primats der praktischen Vernunft, zwar nicht im Sinne eines kantisch-platonisierenden Begriffsrealismus, wohl aber im Stil jenes eingefleischten Nominalismus, der in England seit DUNS SCOTUS, ROGER BACON und WILLIAM OCCAM heimisch ist. Denn schon bei diesen englischen Nominalisten verband sich, genauso wie heute bei JAMES, ein extremer Voluntarismus mit dem Primat der praktischen Vernunft, ein erkenntnistheoretischer Nominalismus mit einem ethischen Individualismus.

Genau besehen hängen nämlich radikaler Empirismus, Nominalismus, Voluntarismus, ethischer Individualismus und politischer Liberalismus logisch aufs Engste zusammen. Es ist auch nicht zufällig, daß diese Lehre von England, dem trotzigen Inselvolk mit seinem "my house is my castle", seine "Habeas-Corpus-Akte" und seiner "Magna Charta" ausging. Überall steht das Individuum im Mittelpunkt. Gilt es dem Erkennen, so ist die persönliche Überzeugung (wir übersetzen "belief" bei JAMES besser mit "Überzeugung", mag es auch bei HUME noch "Glaube" heißen) das Kriterium der Wahrheit, und diese geht vom Ding, vom Gegenstand, von der einzelnen  Tatsache  aus. Daher jener Kultus der Tatsachen dem die Engländer unausgesetzt huldigen und schon förmliche Hekatomben von metaphysischen Systemen zum Opfer gebracht haben. Nur das Einzelne ist wirklich (Universalia post rem [Die Allgemeinbegriffe sind sekundär, die Wirklichkeit primär. - wp]) Für das  Erkennen  ist dieses Einzelne die Tatsache, für das Wollen die einzelne Handlung, für Religion und Moral das individuelle Gewissen, für den Staat schließlich der einzelne Bürger. Für die  vérités eternelle [ewigen Wahrheiten - wp] im platonischen Sinn haben die Engländer ein nur dürftig ausgebildete Organ. Die "Schule von Cambridge", die englischen Neuplatoniker, die Schotten, und die heutigen Neo-Hegelianer wie GREEN, CAIRD und BRADLEY bilden in England nur Seitenlinien, während sich der Hauptstrom des englischen Denkens seit DUNS SCOTUS, ROGER BACON, TEMPLE und FRANCIS BACON in das nominalistisch-utilitarische Strombett ergießt. - Und dieses Strombett heißt seit mehr als sechs Jahrhunderten:  Matter of fact. 

Nicht umsonst beruft sich JAMES auf JOHN STUART MILL als auf seinen dialektischen Schutzheiligen. Der Pragmatismus setzt die uralte englische Tradition des Nominalismus, die in BERKELEY und HUME ihre höchsten Triumphe gefeiert hat und in MILLs "induktiver Logik" ihre Blütenträume reifen sah, im Rahmen jener biologischen Methode fort, die seit DARWIN und SPENCER herrschend geworden ist. Das Zusammentreffen der pragmatistischen Methode mit den Ergebnissen von AVENARIUS und MACH ist kein zufälliges, wie dann auch MACH ganz unabhängig von AVENARIUS zum Prinzip der Denkökonomie gelangt ist. Denkt man nämlich im Zeitalter evolutionistischer Weltbetrachtung, die uns seit LAMARCK, ERASMUS, DARWIN und LYELL im Blut steckt, die alten Probleme unter dem Gesichtswinkel der Biologie, der seit CHARLES DARWIN und HERBERT SPENCER vorherrschend geworden ist, noch einmal durch, so muß man auf gleichlautende Lösungen verfallen, da die Denkvoraussetzungen von gleichartiger Beschaffenheit sind. Es gibt hier keinen Prioritätsstreit, sondern nur ein natürliches Zusammentreffen gleichgestimmter, empirisch gerichteter Denker, welche die alten Rätselfragen der Philosophie noch einmal durchdenken. Bei der Verwandschaft der Ausgangspunkte ist das absichtslose Zusammentreffen am Zielpunkt nicht nur begreiflich, sondern unausweichlich.

Daß die pragmatische Methode von ARISTOTELES stammt, deutet JAMES gelegentlich selbst an. Ja, JAMES hält sogar SOKRATES für einen Anhänger dieser Richtung. Denn SOKRATES habe jenes epagogische [zum Allgemeinen führend - wp] Verfahren gefordert, das später ARISTOTELES zu einer Theorie der Induktion ausgebaut hat, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß ARISTOTELES fälschlich als einseitiger Vertreter des Syllogismus und der Deduktion hingestellt wird. Für das induktive Verfahren hat ARISTOTELES mehr Verständnis, als alle seine Nachbeter zusammengenommen. Wie für die Deduktion, so hat auch ARISTOTELES für die Theorie der Induktion logisch das Fundament gelegt. FRANCIS BACONs "Novum Organon" rannte in dieser Hinsicht nur offene Türe ein. Der jüngere MILL wußte hingegen sehr wohl, was die induktive Logik ARISTOTELES zu verdanken hat. Und so steht dann auch der heutige Pragmatismus wieder einmal unter dem Sternbild des ARISTOTELES. Genauso wie die heutigen Energetiker durch LEIBNIZ hindurch auf ARISTOTELES zurückgreifen, der zuerst ein dynamisch-energetisches Weltbild (sogar den Terminus  energeia  machte er populär) auf entwicklungstheoretischer Grundlage ausgebaut hat und ebenso wie die heutigen Neovitalisten unter Führung von DRIESCH und REINKE den aristotelischen Entelechie  [die Eigenschaft von etwas sein Ziel in sich selbst zu haben - wp]begriff aufgreifen und in den Mittelpunkt ihres Systems rücken, ganz im gleichen Sinn knüpfen die heutigen Pragmatiker an den Zweckbegriff des ARISTOTELES an, der zuerst die Lehre von der "praktischen Vernunft" aufgestellt und ihren Primat, lange vor DUNS SCOTUS und KANT, gefordert hat. HEINRICH von STEIN hat in seinen "sieben Büchern zur Geschichte des Platonismus" den überzeugenden Nachweis erbracht, daß das philosophische Denken seit zweitausend Jahren in einem ständigen Rhythmus zwischen PLATON und ARISTOTELES hin- und herpendelt. Das gilt vom zwanzigsten Jahrhundert genauso wie von seinen Vorgängern. Vor einem halben Jahrhundert brachte uns TRENDELENBURG wieder ARISTOTELES zum Bewußtsein. Der Neukantianismus unter der Führung COHENs verhalf hingegen PLATON zum Sieg. Jetzt ist auf dem Umweg über LEIBNIZ ARISTOTELES wieder obenauf. Die biologisch interessierten Denker gruppieren sich heute wieder genauso um ARISTOTELES, wie die mathematisch-logisch Orientierten sich um PLATON scharen. Auf deutschem Boden tritt dieser Zwiespalt unter der Kampfparole: Psychologismus gegen Logismus, Vitalismus gegen Mechanismus, Positivismus gegen Idealismus in Erscheinung. In Amerika und England hat er die Formel: Pragmatismus gegen Transzendentalismus geprägt.  Tout comme chez nous.  [Alles wie zuhause. - wp] Auch von den philosophischen Streitfragen, Schulen, Parteibezeichnungen und Schlagwörtern gilt das französische Sprichwort:  plus que ca change, plus c'est la même chose.  [Je mehr sich etwas ändert, umso mehr bleibt es gleich. - wp]

Sieht man den Kern der pragmatischen Methode in der Anwendung und Übertragung des Praktischen auf das Theoretische, des Brauchbaren (of power to work) auf das Erkennbare, des Teleologischen auf das Logische, kurz in der Verwandlung der Nützlichkeitswerte in Wahrheitswerte, so kann diese "neue Methode" auf eine recht ehrwürdige Tradition zurückblicken. Ihr Begründer ist, wie JAMES richtig gesehen hat, SOKRATES. "Das ist das schönste Wort", sagt PLATON (Staat V, 457b), "das jemals gesprochen wurde, und das jemals gesprochen werden wird, daß das Nützliche schön und das Schädliche häßlich ist." Ins Vulgäre, aber Packende und Handgreifliche kommentiert XENOPHON diesen sokratischen Gedanken, nach welchem die Nützlichkeit das Kriterium der ästhetischen Werte bilden soll, dahin: "Ein Mistkorb, der seinen Zweck erfüllt, ist schöner, als ein unzweckmäßig geordneter Schild." (III, 8, 3-7 und IV, 6, 9). Das Nützliche und das Gute fallen bei SOKRATES zusammen. Die Eudämonie, die Ineinssetzung von Tugend, Wissen und Glück, die Hineinbildung der Praxis des täglichen Lebens in die Theorie des Erkennens war die große Leidenschaft des SOKRATES, dem man die Worte in den Mund legt, er habe denjenigen  geflucht,  die zum ersten Mal das Nützliche vom Schönen getrennt haben. Wie in der griechischen Kalokagathie [Ideal der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit - wp] das Zusammenfallen des Ästhetischen mit dem Ethischen stillschweigend gefordert wird, so bildet sich seit SOKRATES eine Art von Alethogathie [Wahrheitsideal - wp], welcher SIMMEL die knappe Fassung gab: die Nützlichkeit des Erkennens erzeugt für uns die Gegenstände des Erkennens. - Und so würde dann JAMES, nach dem großen Vorbild des ersten Pragmatikers (SOKRATES), demjenigen fluchen, der zuerst das Nützliche vom Wahren getrennt hat, wenn Temperament und gute Erziehung ihm das Fluchen überhaupt gestatteten.

Im Übrigen war selbst PLATON, der in der ersten Periode seines Schaffens bis einschließlich seines Dialogs "Protagoras" noch nicht so wirklichkeitsfremd und sinnenfeindlich war wie im  Phaedon  oder  Phaedrus,  auch später gar nicht abgeneigt, der "praktischen Vernunft" Konzessionen zu machen. Zumindest will mir scheinen, daß die Gegenüberstellung von "praktisch" und "gnostisch", die JAMES so sehr liebt, in PLATON ihre Wurzel hat. Im "Staatsmann" (258) führt PLATON aus: Es gibt Künste, die von aller Handlung frei sind und nur ein Erkennen enthalten. Es gibt andere Künste, wie alle diejenigen, die ein Handanlegen erfordern, die eine den Handlungen immanente, von Naut ihnen verbundene Wissenschaft benutzen, indem sie bisher noch nicht seiende Dinge von sich aus verwirklichen.  Hiernach läßt sich die ganze Wissenschaft dahin einteilen, daß man die eine Art praktisch, die andere bloß gnostisch nennt.  Einen Schritt weiter geht ARISTOTELES, der die berühmte Dreiteilung vollzieht: Alles Denken ist entweder praktisch oder poietisch oder theoretisch (Metaphyik E 7, 1025. b. 25). Als echter Pragmatiker definiert ARISTOTELES das Denken wie folgt (Nikomachische Ethik, § 2, 1139 a 26): Dieses Denken ist das praktische Denken und die praktische Wahrheit; im theoretischen Denken, welches weder praktisch noch poietisch ist, tritt an die Stelle des Schönen und Schlechten das Wahre und Falsche. Wenn das Wahre und Falsche nun auch der Inhalt allen Denkens ist, so ist doch der Inhalt des praktischen Denkens nur die Wahrheit in ihrer Übereinstimmung mit dem rechten Streben. KANTs Lehre von der "praktischen Vernunft" geht, wie BRANDIS und TRENDELENBURG richtig gesehen haben, auf den  nous praktikos  des ARISTOTELES zurück, der diese Wendung, wenn auch nicht dem Wort, so doch dem Sinn nach seiner ganzen Wahrheitstheorie zugrunde legt. Denn auch darin ist ARISTOTELES der typische Pragmatiker, daß er alle praktische Vernunft nur auf Zwecke bezogen sein läßt. Ist doch der ganze Naturbegriff des ARISTOTELES so durch und durch teleologisch, daß er die krasse, schon früher berührte Behauptung wagt, die Natur tue nichts zwecklos oder vergebens. Darum macht es ihm auch nichts aus, das Teleologische, das seinen Naturbegriff beherrscht, auch in der Logische, in den  nous,  hineinzubilden.

Die praktische Vernunft besteht nach ARISTOTELES in ihrer Bezogenheit auf Zwecke. Daher nennt er sie gelegentlich die "um eines Zweckes willen beratschlagende praktische Vernunft". Der Zweck (telos) steht ein für allemal fest. Nicht über Zwecke, die sich überall von selbst verstehen, sondern nur über Mittel wird beratschlagt. Der Arzt geht nicht erst mit sich zu Rate, ob er heilen, der Rhetor nicht, ob er überzeugen, schließlich der Politiker nicht, ob er ein gutes Gesetz machen soll, sondern nachdem man sich einen Zweck gesetzt hat, forscht man nach den Mitteln, mit denen er erreicht werden soll (Nikom. Ethik 8, 1112, b, 12). Denn mit allen Tieren, weiterhin mit den Lebewesen überhaupt, haben wir das Streben nach dem Freudigen, Lustvollen emeinsam (de anima, β 414. b. 3). Der Zweck ist oberster Leitbegriff aller praktischen Vernunft. Ebenso wie jedes einzelne Geschehen in der Natur, nach der Lehre der Materialisten, dem obersten Begriff der mechanischen Gesetzmäßigkeit unterstellt werden muß, so sollte, nach der Anschauung des Erzteleologen ARISTOTELES, jede einzelne Handlung dem Zweckbegriff als dem obersten Gattungsbegriff des Handelns subsumiert werden (de anima, γ 10, 433, 15). Der Zweck ist für ARISTOTELES daher genauso die oberste Prämisse, die  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] (diese Wendung stammt freilich schon von PLATON) allen Handelns, wie das Gesetz oder die Idee nach PLATON die unerläßliche Voraussetzung und Bedingung allen Geschehens überhaupt darstellt. Dabei ist ARISTOTELES, merkwürdig genug, ein ebensolcher Indeterminist, wie JAMES, der in seinem "Willen zum Glauben (Kap. IV, Seite 121-164) das "Dilemma des Determinismus" behandelt und zu einer Willensfreiheitslehre gelangt, die FRIEDRICH PAULSEN, der Bevorworter der deutschen Ausgabe des Buches, für sich ablehnt (Seite VIII). JAMES' Lehre vom "Zufall" weist eine frappierende Übereinstimmung mit der aristotelischen Doktrin des "Möglichen" auf. ARISTOTELES argumentiert (de interpr. 9, 19, 7): Wenn es keine Freiheit gäbe, so gäbe es auch keine praktische Vernunft. Da es aber eine solche gibt, muß es auch eine Freiheit geben. ARISTOTELES wie JAMES gehen an der Schwierigkeit vorüber, daß mit der Aufstellung des Zweckes als obersten "Gattungsbegriff" des Handelns, nach ARISTOTELES, oder "Grenzbegriff" nach JAMES, der Mensch diesem obersten Gattungsbegriff gegenüber so wenig frei sein kann, wie er in seinem anatomischen Bau oder seinen biochemischen Prozessen dem Naturgesetz gegenüber frei ist. Ist der Zweckbegriff für alle Handlungen das Herrschende, heiße er nun Entelechie bei ARISTOTELES und DRIESCH. oder  Dominante  bei REINKE, so bleibt ihm jede Einzelhandlung des Menschen genauso unterworfen, wie jede seiner physiologischen Verrichtungen dem Kausalgesetz untersteht. Aus diesem Dilemma von Individuum und Gattung, von Einzelwillen und Kollektivwillen, von Exemplar und Genus, von Freiheit der Persönlichkeit und Gleichheit oder Gebundenheit durch menschliche Gattungsinteressen, von Zufälligkeit und Notwendigkeit, von Selbsterhaltung und Arterhaltung führt uns weder ARISTOTELES noch JAMES hinaus. Es ist die ewige Crux aller Philosophie - die große Antinomie des Weltalls!

Der Primat der praktischen Vernunft, der JAMES und die Vertreter einer "instrumentalen" Logik auszeichnet, liegt übrigens der nacharistotelischen Philosophie in Griechenland im Blut. Die theoretischen Interessen weichen auf der ganzen Linie den praktischen. Und hatten schon die hedonischen SOKRATES-Schüler, die Kyniker, eine stark entwickelte utilitaristische Ader, so gewinnt in allen drei Schulen nach ARISTOTELES die Nützlichkeit als Kriterium des Handelns nicht nur, sondern auch als Wahrheitskriterium die Oberhand. Der Pragmatismus ist die herrschende Schuldoktrin in der Stoa nicht weniger, als in der ausgeprägt utilitaristischen Lehre EPIKURs. Auf seine Abhängigkeit von der Stoa hat je PEIRCE, wie wir bereits gezeigt haben, ausdrücklich hingewiesen. Tugend und Wissen fallen bei den Stoikern, wie bei SOKRATES, zusammen. Lassen sie auch den Terminus "praktische Vernunft" fallen, so betonen sie das Nützlichkeitsmoment umso schärfer. In ihrer anthropozentrischen Vermessenheit betrachten sie die ganze Natur als Nutzeffekt des Menschen - bis zur absurden Verstiegenheit. Das Ästhetische wird auf das Ethische zurückgeführt, genau wie bei SOKRATES. Nur das Schöne ist gut, sagt das Schulhaupt CHRYSIPPOS (Diogenes Laertius, VII, 101), und an anderer Stelle: Die guten Handlungen sind schön, die schlechten häßlich; das Schöne ist zu loben, das Schlechte zu tadeln. Bei den Epikureern siegt vollends der Nützlichkeitsstandpunkt auf der ganzen Linie. Sind sie doch die Ausläufer jener Gewaltrechtstheorie, welche mit THUKYDIDES einsetzt, um in der Figur des KALLIKLES im platonischen "Gorgias" ihren Höhepunkt zu erreichen. Danach sind Sitte und Recht, Gesellschaft und Staat, Religion und Moral nichts anderes als Erzeugnisse des öffentlichen Nutzens. Werden doch selbst die Gottesvorstellungen utilitaristisch motiviert und seit PRODIKUS schon in der älteren Sophistik auf Nützlichkeitsfunktionen genetisch zurückgeführt.

Die pragmatische Methode erweist sich somit als eine der ältesten Denkmethoden, die wir kennen. Im uralten Gegensatz von  physis  und  thesis,  von Natur und Satzung, welche wohl DEMOKRIT zuerst vollbewußt und mit scharf betonter Geflissentlichkeit einander gegenübergestellt hat, kommt die pragmatische Methode klar und deutlich zum Ausdruck; sie ist die Theorie der "Thesis", angewendet auf Logik und Erkenntnistheorie. Bezeichnet JAMES als das eigentliche Wesen des Pragmatismus, daß er erstens eine Methode, zweitens eine genetische Wahrheitstheorie ist (Seite 41), so glauben wir hier aufgezeigt zu haben, daß die pragmatische Methode genauso alt ist wie der Terminus "Pragmatismus". Beide stehen schon an der Schwelle jenes "Pantheons ewiger Gedanken", wie HEGEL einst die Philosophie betitelte. Die Aufdeckung des Alters dieser neuesten Richtung in der Philosophie soll vorerst kein Werturteil über ihren geistigen Gehalt ausdrücken. Das können wir vielmehr erst abgeben, wenn wir dem geschichtlichen Längsschnitt des Pragmatismus einen systematischen Querschnitt folgen lassen, indem wir uns seiner genetischen Wahrheitstheorie zuwenden.


IV. Die "genetische Wahrheitstheorie"
des Pragmatismus

Der genetische Wahrheitsbegriff des Pragmatismus fühlt sich nur heimisch und wohlig in der Nähe von Tatsachen, aber fremd und kühl in der Nähe von Abstraktionen. Wahrheit ist für ihn "nur ein bestimmter Gattungsname für alle Arten von bestimmten Arbeitswerten in der Erfahrung" (Pragmatismus, Seite 43). Die "vérités éternelles" der Logisten lassen ihn kühl bis ans Herz, während die "vérités de fait" seine eigentliche Domäne bilden. In dem unermüdlichen Bestreben der Logisten, Rationalisten und erkenntnistheoretischen Begriffsrealisten nach Ideen, obersten Formeln, Gesetzen und absoluten Wertmaßstäben von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit sieht der nominalistische Pragmatist nur den Ausdruck einer ruhebdürftigen Seele, die nach einem definitiven Abschluß, nach einer Art von "Nirwana der Erkenntnis" dürstet. Der entgegengesetzte Denktypus dieses logizistischen Klassizismus ist der gefühlsschwelgerische Romantizismus. Wie jener die Ruhe der endgültigen Antworten herbeisehnt, so dieser die ewige Unruhe des rastlosen Fragens. PARMENIDES dort, HERAKLIT hier. Diesen beiden Temperamenten innerhalb der Philosophie bin ich in meinem Buch "Sinn des Daseins" (Tübingen 1904) nachgegangen und habe die Forderung einer Psychologie der philosophischen Systembildung nachdrücklich verfochten. Ich unterschied dort den Typus des Verstandesdenkers von dem des Gefühlsdenkers, den Erkenntnisdenker vom Bekenntnisdenker. Hinterher erfuhr ich erst aus dem "Pragmatismus" von JAMES, daß mein evolutionistischer Kritizismus eigentlich ein Pragmatismus ist. Erging es doch WILHELM JERUSALEM in Wien nicht anders. In der Deutschen Literaturzeitung vom 25. Januar 1908, Seite 205, erzählt JERUSALEM: "Ich selbst habe durch  Schillers  Besprechung eines meiner Bücher erfahren, daß ich nach pragmatischer Methode philosophiere." Nur gehe ich freilich einen erheblichen Schritt über den Pragmatismus hinaus, indem ich in der Abhandlung "Der Neo-Idealismus unserer Tage" (zuerst in unserem "Archiv" 1903, erschienen) die logischen Kategorien auf genetischem Weg abzuleiten suche.

Die genetische Wahrheitstheorie des Pragmatismus leugnet so wenig ein Kriterium der Wahrheit, daß sie vielmehr kein anderes Bestreben kennt, als der Wahrheit ein biologisches Fundament zu geben. Sie will anhand der Tatsachen und in engster Berührung mit der herrschenden Wissensdisziplin unserer Tage, der Biologie, dartun, "warum die Menschen sich nach der Wahrheit richten und sich immer nach ihr richten sollten" (Pragmatismus, Seite 43). Nur werden us, wenn es nach dem Pragmatismus ginge, angeblich "ewige" Wahrheiten nicht absolutistisch von oben herab diktiert, sondern echt demokratisch von unten hinauf mittels der Erfahrung aufgebaut und durch induktive Verallgemeinerungen ("Empeireme" nennt sie WUNDT) demonstriert. Jede neue Erfahrung ist wahr nur dann und nur soweit, als sie uns behilflich ist, uns in zweckentsprechende Beziehungen zu anderen Teilen unserer Erfahrung zu setzen. Gesetze sind nichts anderes als Allgemeinerfahrungen, die wir in die Form begrifflicher Abkürzungen gebracht haben.  Universalia post rem.  Solche Begriffs-Abbreviaturen sind ein vortreffliches "Memorandum für das Gedächtnis", wie nach MILL jede Deduktion nur eine umgekehrte Induktion, aber als solche, zumindest zur Kontrolle, ein wertvoller logischer Behelf ist. Gewiß sind Begriffe nur Symbole für abgekürzte Erfahrungen und als solche leere Worthülsen (flatus vocis [Schall und Rauch - wp] sagt der mittelalterliche Nominalist); aber nicht ganz belanglos, weil nicht nutzlos, fügt der Pragmatiker hinzu. Die Rechtfertigung jeder Theorie liegt in ihrer Anwendbarkeit in der Praxis. Jedes Denkmittel ist insofern "wahr", als es Teile unserer Erfahrung zweckentsprechend verknüpft und auf den kürzesten (mit AVENARIUS und MACH zu sprechen), ökonomischsten Ausdruck bringt. Die Begriffe "wahr" und "gut" werden ineinsgebildet. Die Kalokagathie der Griechen verwandelt sich, wie schon bei SOKRATES, in eine Alethogathie. "Wahr heißt alles, was sich auf dem Gebiet der intellektuellen Überzeugung aus bestimmt angeborenen Gründen als gut erweist" (Pragmatismus, Seite 48). Gut aber ist alles, was die Lebensführung des Menschen günstig beeinflußt, die Lebensstimmung fördert, den Lebensstil hebt, kurz das Leben des Typus  Mensch  nach Höhe und Tiefe steigert. Der Pragmatismus kennt darum weder ein rationalistisches, noch ein sensualistisches Dogma, sondern nur das Dogma der "Tauglichkeit", der "Wirksamkeit" für die Erhöhung des Lebensgefühls, kurz nur das Dogma der Aktivität, des  power to work.  "Wenn theologische Ideen das können, wenn speziell der Gottesbegriff sich hierbei bewährt, wie könnte da der Pragmatismus die Existenz Gottes leugnen"? (Pragmatismus, Seite 51). Damit gewinnen wir einen Einblick in das Herz der Religionsphilosophie des WILLIAM JAMES.

JAMES hat vor dem "Absoluten" keinen Horror. Es hat den beruhigenden Vorzug, uns "moralische Ferien" zu gönnen. Und würden solche Kandidaten für den Rang eines obersten Gattungsbegriffs, wie "Etwas", "Substanz", "Seiendes" oder "Denkbares", die den Abschluß einer logischen Pyramide darstellen, ihre unbedingte Brauchbarkeit für die Lebensgestaltung erweisen können, so würde vielleicht nicht der Logiker und Erkenntnistheoretiker, wohl aber der Religionspsychologe JAMES seinen Pakt mit dem "Absoluten", mit der "Einheit der Welt" schließen, obgleich er innerlich Pluralist ist. Denn die genetische Wahrheitstheorie verschließt sich nicht der Einsicht, daß der Hang und Drang zur Einheit, die "transzendentale Einheit der Apperzeption", wie KANT sie nennt, in der Menschennatur tief begründet ist. Es fragt sich nur, ob sie unentwurzelbar festhaftet, wie es nach PARMENIDES, SPINOZA und HEGEL, den drei großen Einheitslehrern, den Anschein hat. Eine "generische Einheit" der Gegenstände untereinander leugnet auch der Pragmatismus nicht. Es ist mir darum unverständlich, warum JAMES ("The Philosophical Review", Januar 1908, Bd. XVII, Seite 17) in seinem Aufsatz "The pragmatist account of trutz and its misunderstanders" dem Solipsismus folgende Konzession gemacht hat: "It must be confessed that pragmatismu, worked in this humanstic way, ist compatible with solipsism." [Es muß zugegeben werden, daß der Pragmatismus, in seiner humanstischen Art und Weise mit dem Solipsismus verträglich ist. - wp] Hier muß ich JAMES gegen JAMES in Schutz nehmen. So zutreffend seine nachfolgende Charakteristik des Pragmatismus ist: "It joins friendly hands with the agnostic part of Kantism, with contemporary agnosticism, and with idealism generally" [Er gibt sich die Hand mit dem agnostischen Teil des Kantianismus, mit dem zeitgenössischen Agnostizismus, wie auch mit dem Idealismus im Allgemeinen. - wp], so nachdrücklich muß sich der Pragmatismus gegen ein erkenntnistheoretisches Zusammengehen oder gar Zusammengewürfeltwerden mit dem Solipsismus verwahren. Hier gilt nach wie vor das Wort SCHOPENHAUERs: der Solipsismus ist nicht widerlegbar. Aber eine Kaltwasserkur könnte ihm gut tun. JAMES selbst sagt (Pragmatismus, Seite 87): Die wichtigste Verbindung, die zwischen den Dingen besteht, ist, pragmatisch gesprochen, ihre  generische Einheit.  Die Dinge sind zu Gattungen vereinigt, es gibt viele Exemplare in jeder Gattung, und was sich aus der Gattung für ein Exemplar schließen läßt, das gilt auch für jedes andere Exemplar dieser Gattung. Wir können uns leicht vorstellen, daß jede Tatsache in der Welt allein da wäre, d. h. daß sie von jeder anderen Tatsache verschieden und einzig in ihrer Art wäre. In einer solchen Welt von lauter Singularitäten wäre unsere Logik nutzlos, denn die Tätigkeit der Logik besteht darin, vom einzelnen das zu prädizieren, was von der Gattung wahr ist. Wenn keine zwei Dinge in der Welt einander gleich wären, so könnten wir aus unseren vergangenen Erfahrungen nicht auf die zukünftigen schließen. Damit hat JAMES den Solipsismus, gerade als Pragmatiker, in seine Schranken gewiesen und wissenschaftlich überwunden. Solispsismus heißt: Zerstörung aller Wissenschaft und ihres Instrumentes, der Logik, während Pragmatismus umgekehrt bedeutet: Aufbau der Wissenschaft auf Grund einer biologisch fundierten Logik.

Dieses biologische Fundament würde JAMES vielleicht noch tiefer gelegt und fester verkittet haben, wenn er das Werk "Mneme" von RICHARD SEMONs (zweite Auflage 1908) gekannt hätte. SEMON hat nämlich die bekannte HERINGsche Theorie von den Instinkten als "Erfahrung der Gattung" zu einem groß angelegten System ausgebildet, das ich der Beachtung der Pragmatisten ebenso empfehle, wie das soeben erschienene Werk von  Elias von Cyon,  "Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit" (Berlin 1908). Die experimentellen Untersuchungen von CYONs richten sich gegen allen Nativismus und Apriorismus der kantischen Raum-Zeit-Theorie. Den Ruf "zurück zu Leibniz", den ich im "Sinn des Daseins" und in einer Reihe anderer Schriften wiederholt ertönen ließ, findet von CYON begreiflicher und für den Naturforscher annehmbarer, als das "zurück zu Kant".  "Leibniz,  sagt von CYON (Seite XV, Vorrede) "steht dem Geist des Zeitalters der Entropie von  Clausius,  der Zellenlehre von  Schwann  und der Bakteriologie von  Pasteur  und  Koch  näher, als  Kant."  Sehr begreiflich. Wir denken heute durchweg  more biologico.  Damit ist eine teleologische Betrachtungsweise nahegelegt. Und da LEIBNIZ seine Monadenlehre, wie ich in meinem "Leibniz und Spinoza" (Berlin 1890) nachgewiesen habe, anhand der Entdeckungen der Mikroorganismen von SWAMMERDAM, LEEUWENHOEK und MALPIGHI, wenn auch nicht aufgebaut, so doch sicherlich verifiziert hat, so steht uns der Energetiker und Vitalist LEIBNIZ näher, als der Denker  more geometrico  SPINOZA und  more critico  KANT.

Der Pragmatismus gehört, gewollt oder ungewollt, in jene Gruppe der heutigen Philosophie, welche mit LEIBNIZ zum aristotelischen Entelechiebegriff zurückstrebt. Die Naturphilosophen wie OSTWALD, die Biologen wie REINKE, die Erkenntnistheoretiker wie AVENARIUS und MACH - sie sind allesamt teleologisch, evolutionistisch und energetisch gerichtet. Was sie trennt sind Nuancen; was sie eint, ist der Grundton, die philosophische Grundstimmung jenes  Heraklitismus,  der im Evolutionismus HERBERT SPENCERs seinen größten Triumph gefeiert hat. Alles fließt, Alles ist im Werden, also auch die Wahrheit. Für den Rationalismus, sagt JAMES (Pragmatismus, Seite 164) durchaus zutreffend, ist die Wirklichkeit von aller Ewigkeit her fertig und vollendet, während sie für den Pragmatismus noch im Werden ist und ihre Gestaltung zum Teil erst von der Zukunft erwartet wird. Das spricht nicht gegen die alten Erfahrungen, die JAMES vielmehr auf das Höchste respektiert. Seit AVENARIUS ist bekanntlich der naive Realismus, das Wirklichkeitsbild des erkenntnistheoretischen Durchschnittsmenschen, wieder Trumpf. Was AVENARIUS zur Ehrenrettung des naiven Realismus vollbrachte, das will die genetische Wahrheitstheorie von JAMES und SCHILLER für den "gesunden Menschenverstand" überhaupt leisten. Die alte englische  Common-Sense-Theorie,  eine Abschattung der  Communes notitiae  der Stoa, lebt im Pragmatismus wieder auf. Wie einst für die Stoa die  proletheis,  der  orthos logos [richtige Vernunft - wp] und die  konai ennoia  Kriterien der Wahrheit bedeuteten, gegen welche PLUTARCHs kritische Schrift nebst dem Heerbann der *pyrrhonischen Skepsis zu Felde zog, so erklärt JAMES: Unsere fundamentalen Denkmethoden sind Entdeckungen unserer ältesten Ahnen und haben sich durch all die folgenden Erfahrungen hindurch zu erhalten vermocht (Seite 107). Deshalb fordert er mit MACH, OSTWALD und DUHEM (warum nicht AVENARIUS?): die Rückkehr zum gesunden Menschenverstand. Das Kriterium der genetischen Wahrheitstheorie ist Fruchtbarkeit auf der einen, ihre Verifizierbarkeit durch neue Erfahrungen auf der anderen Seite. Wahre Vorstellungen, heißt es bei JAMES (Seite 125f), sind solche, wie wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können. Falsche Vorstellungen sind solche, bei denen all das nicht möglich ist. Das Wahre ist nichts anderes als das, was uns auf dem Weg des Denkens vorwärts bringt. Wir  leben  vorwärts, sagt JAMES mit einem dänischen Denker, aber wir verstehen rückwärts. Die Summe der verdichteten Gattungserfahrungen unserer Vorfahren - "Instinkt" nennt es HERING, "Mneme" heißt es bei SEMON - bilden und formen jeweils jene Überzeugungen, welche unser Handeln bestimmen. Die Wahrheit  existiert  nicht, "sie  gilt sie behauptet sich" (Seite 143), und so kondensiert dann JAMES seine genetischen Wahrheitstheorien zu folgenden zwei Sätzen (Seite 144):
    1. Wahrheit ist ein System von Sätzen, die ein unbedingtes Recht darauf haben, als gültig anerkannt zu werden.

    2. Wahrheit ist ein Name für alle Urteile, die zu fällen wir uns durch eine Art imperativer Pflicht verbunden fühlen.
Fügen wir noch hinzu, daß SCHILLER definiert: "Wahr" ist das, was "wirkt" und DEWEY festsetzt: wahr ist das, was "Befriedigung" gewährt, so haben wir die Kernsätze der genetischen Wahrheitstheorie des Pragmatismus herausgestellt. (Gegen die Deutung "Truth is what gives satisfaction" [Wahrheit ist das, was Befriedigung gibt. - wp] protestiert übrigens DEWEY (The Journal of Philosophy, Februar 1908, Seite 94). Gibt es einen Endpunkt der Wahrheit? Ist der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus, rückwärts gesehen, ein  regressus,  vorwärts betrachtet, ein  progressus in infinitium,  wie etwa der Zweckbegriff und Entwicklungsgedanken bei ARISTOTELES? Doch nicht! Wie bei SPENCER der absolute Gleichgewichtszustand des Universums einmal erreicht sein wird und bei CLAUSIUS die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt, so gibt es für JAMES auch in einer entfernten Zukunft, am Ende der Tage, in einer Anwandlung von erkenntnistheoretischer Eschatologie [Lehre von der Hoffnung auf Vollendung - wp] und Apokalypse einen absoluten Ruhepunkt - ein logisches Nirwana. "Ein absolut Wahres in dem Sinne, daß keine künftige Erfahrung es ändern kann,  das ist der ideale Punkt,  gegen den alle unsere heutigen Wahrheiten eines Tages konvergieren werden" (Seite 141). Und so mündet der Pragmatist JAMES in seiner Logik und Erkenntnistheorie genauso in einen Messianismus und Prophetismus, wie in seinem "Wille zum Glauben". Das Absolute, welches die "Transzendentalisten" rückwärts projizieren, in die Längstvergangenheit verlegen, oder gar im platonischen Ideenreich verewigen, will JAMES aus pragmatischen Erwägungen, aus teleologischen Motiven vorwärts projizieren, in die entfernteste Zukunft als weithinleuchtendes Ideal einer  melioristischen" [weltverbessernden - wp] Lebensstimmung und Lebensführung verlegen.

Die Wirkung auf die Lebensführung ist für den Pragmatiker der Prüfstein der Lebendigkeit einer Wahrheit. Die DARWINsche Kampfesformel und die SPENCERsche Selektionslehre wendet JAMES auf den Kampf ums Dasein der Ideen an. Auch philosophische Wahrheiten führen einen Kampf auf Leben und Tod miteinander. Erweist sich eine Hypothese triebkräftig, lebendig, überdauernd, so hat sie durch diese ihre selektorische Wirksamkeit ihr Daseinsrecht erwiesen, wo nicht, so ist sie eine tote "Hypothese", die zum alten Eisen geworfen wird. Dazu rechnet der Pragmatismus die metaphysische Doktorfrage, ob die Welt nur im Kopf der Menschen, also immanent, oder auch außerhalb des Kopfes Realität hat, also extramental da ist. Die Lebensführung des Menschen wird von der Lösung dieses Problems nicht betroffen - in den Orkus [Reich der Toten - wp] also mit dieser toten Hypothese! Freilich kann sich JAMES zurückhalten, selbst eine ontologische Hypothese zu wagen, die des noetischen [erkenntnisttheoretischen - wp] Pluralismus, dem er einen hohe Wahrscheinlichkeit zubilligt (Pragmatismus, Seite 102f), aber er ist bereit, auch sie zu den Toten zu werfen, sobald sie sich als unwirksam erweist.

Lebendig ist für JAMES eine wissenschaftliche, insbesondere auch eine philosophische Hypothese nur dann, wenn sie heuristischen Wert hat, Perspektiven eröffnet, Horizonte weitet, für die Zukunft also etwas  verheißt.  Die Wahrheit ist ein teleologischer Anpassungsprozeß. Die Vergangenheit hat nur Wert, soweit sie Fingerzeige für die Zukunft enthält. Alle Logik hat nur Sinn als zweckmäßige Reaktion auf das Leben, wie alle Religion darin ihren tiefsten Grund hat, daß wir auf das Leben als Totalität mit unserem Gefühl reagieren - darin folgt JAMES durchaus SCHLEIERMACHERschen Bahnen, wie WOBBERMIN gezeigt hat. Der Intellekt ist darum die tauglichste Waffe, die sich der Mensch im Kampf mit seiner Umwelt geschmiedet hat, weil der Mensch mittels seines Intellekts und seines Organs, der Logik, auf die störenden Einflüsse der Außenwelt am zweckmäßigsten zu reagieren und die fördernden auf die ökonomischste Weise auszumitteln vermag. Die Logik ist nach all dem ein Selektionsprodukt - ein Erzeugnis der Auslese jener glücklichsten Waffen, die sich der Mensch im Kampf um die Selbst- und Arterhaltung geschmiedet hat. Es gibt daher keine zeitlosen oder ewigen Wahrheiten, sondern nur eine  relative wirksame, teleologisch begründete Wahrheit für die Zeit und für den Mann. Denn Erkenntnis ist, mit MACH zu sprechen ("Erkenntnis und Irrtum", 1907), die Anpassung der Gedanken an Tatsachen, oder eben eine Anpassung der Gedanken aneinander. Und AVENARIUS definiert: Erkenntnis ist alles, was eine Vitaldifferenz auszulösen vermag. Nichts anderes besagt der "Humanismus" F. C. S. SCHILLERs ("Personal Idealism", London 1902, Seite 60): Die Welt ist ihrem Wesen nach  hyle [Stoff - wp], und damit das, was wir aus ihr machen. Es hat keinen Zweck, sie durch das zu definieren, was sie von Anfang an war, oder durch das, was sie losgelöst von uns ist; sie  ist,  was man aus ihr  macht.  Denn die Welt ist plastisch. Daß wir damit zu PROTAGORAS zurückkehren, weiß SCHILLER sehr wohl. In seinem jüngsten Buch ("Studies in Humanism", 1907) erklärt er den Homo-mensura-Satz des PROTAGORAS geradezu als Inbegriff der pragmatischen Wahrheitslehre. In seiner Ehrenrettung des PROTAGORAS, die übrigens von SCHILLER schon ERNST LAAS in seinem lange nicht nach seinem bleibenden Gehalt gewürdigten Werk vollzogen hat, vergleicht er PROTAGORAS mit PAULUS.

Hier hat die Kritik einzusetzen. Das Sträuben gegen ein Zusammenwerfen des Pragmatismus mit einem Positivismus, Relativismus, Psychologismus und Phänomenalismus hilft ihm nichts. Alle ernsthaften Kritiker (LALANDE, LOVEJOY, CALDERONI, McTAGGART) haben diese Übereinstimmung aufgedeckt. Selbstverständlich gibt es feine Demarkationslinien, welche den Pragmatismus vom Positivismus trennen, wie sie WILLIAM JAMES im Januarheft 1908 der amerikanischen Zeitschrift "The Philosophical Review" (Seite 2) gezogen hat. Aber was den Pragmatismus vom Positivismus und Psychologismus trennt, ist die  Färbung,  was sie eint, ist die  Tendenz. 

Der Pragmatismus faßt alle jene Tendenzen unserer philosophisch fieberhaft erregten Zeit zusammen, welche unter den Namen: Naturphilosophie, Energetik, Psychologismus, Positivismus, Phänomenalismus, Fries'scher Empirismus, Relativismus einen gemeinsamen Kampf führen gegen das Ding ansich, gegen alle Metaphysik, gegen Transzendenz, Idealismus, kurz gegen jenen platonisierenden Kantianismus, der am konsequentesten von der Marburger Schule (COHEN, NATORP) vertreten und temperamentvoll verfochten wird. Wieder einmal geraten, mit JAMES zu sprechen, die "Zartfühlenden" mit den "Grobkörnigen", die "Once-born" mit den "Twice-born", wie NEWMAN diese beiden Typen drastisch benamste, mit elementarer Wucht aufeinander. Wie in jeder Denkergeneartion Rationalisten und Irrationalisten, Klassiker und Romantiker, Verstandesdenker und Gefühlsdenker, Logiker und Mystiker einander bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, so erhebt unter dem uralten, aber frisch vergoldeten Wappenschild "Pragmatismus" die lebenswarme Gefühlsphilosophie, die einst in England, dann in Deutschland (HAMANN, JACOBI) heimisch war und die jetzt in Frankreich von RIBOT und in Österreich von HEINRICH GOMPERZ vertreten wird, wieder einmal ihr Haupt gegen die alte Verstandesphilosophie der Rationalisten, Logisten und Idealisten. Der perennierende [ewig dauernde - wp] Prozeß Gefühl kontra Verstand, der ja letzten Endes nur eine unausweichliche Wiederspiegelung jener seelischen Doppelung von Gefühl (bzw. Wille) und Verstand ist, den alle Menschen in sich auszufechten haben, soll vor dem Forum des 20. Jahrhunderts wieder einmal zum Austrag gelangen.

Der Pragmatismus vergibt sich nichts, wenn er offen eingesteht, daß es sich weder um einen neuen Namen, noch um eine neue Denkmethode, sondern wesentlich und vorzüglich um die Weiterbildung jener uralten antimetaphysischen und antirationalistischen Tendenz im Rahmen unseres biologisch interessierten Zeitalters handelt, die mit PROTAGORAS einsetzt, um in HUME ihren Höhepunkt zu erreichen. Und da wir nun einmal in einem Zeitalter der dialektischen Galvanisierungsversuche [Abscheidungsversuche - wp] leben - Neukantianismus, Neufichteanismus, Neuschellingianismus, Neuhegelianismus - so würde ich als zusammenfassende Gesamtendenze all dieser Philosopheme die Bezeichnung "Neu-Humismus" zutreffender gefunden haben, als den uralten Namen "Pragmatismus". Und da JAMES in seinen Widmungsworten an MILL selbst andeutet, wie nahe sich sein Denken mit MILL berührt, so kann ihm unmöglich entgangen sein, daß es eigentlich HUME und immer wieder HUME ist, der aus dem Pragmatismus spricht, zumal MILL selbst nur der zu Ende gedachte und in die Paragraphen einer induktiven Logik gegossene HUME ist.

Seit manchem Jahr verfechte ich mit einzelnen meiner Schüler die These: KANT hat HUME  nicht  widerlegt. In meinem Buch "Der soziale Optimismus" (Jena 1905) führe ich den Nachweis, daß HUME nicht Skeptiker, sondern das Oberhaupt des Positivismus ist, und daß KANT ihn in keinem Punkt widerlegt hat. Der Prozeß ist noch nicht zu Ende. Die Akten sind aufgerollt. Schicken wir uns an, den Prozeß noch einmal durchzufechten (Seite 154).

Ein solches Plädoyer der HUME-Partei gegen die KANT-Partei liegt nun im "Pragmatismus" des WILLIAM JAMES vor. Ein Plädoyer auch in jener minder erfreulichen Nebenbedeutung des Wortes, welche den rhetorischen Schwulst und eine advokatorische Gewaltsamkeit nicht etwa aus- sondern einschließt. Wie es sich bei einem Gefühlsphilosophen von selbst versteht - man denke an HAMANN oder JACOBI -, herrscht das Temperament vor, aber mit einer so glücklichen Dosis von Humor gewürzt, daß der Pragmatismus in der Darstellung von JAMES prickelnd, belebend, zündend und anfeuernd, also propagatorisch wirken muß. Der Charakter der Darstellung ist mehr spätkynisch-stoische Diatribe, Laienpredigt im Stil von EPIKTET, MARC AUREL, EMERSON, HILTY, ohne das leidenschaftliche Pathos eines CARLYLE; aber gerade in dieser persönlichen Note des spezifisch JAMESschen Pragmatismus steckt ihr "power to work".

JAMES ist in der Geschichte des menschlichen Denkens so gut bewandert, daß ihm sicherlich nicht entgangen ist, daß die pragmatische Formel "power to work" ebenso wie seine frühere Prägung "will to believe" nur eine Abschattung jener Formel darstellen, die bei HEGEL "Wille zum Denken", bei SCHOPENHAUER "Wille zum Leben" und bei NIETZSCHE "Wille zur Macht" heißt. Der "Wille zur Macht" insbesondere steckt dem englischen Denken seit FRANCIS BACON im Blut. Sein "tantum enim possumus quantum scimus" [Wir vermögen soviel wie wir wissen. - wp] könnte man getrost an die Spitze des JAMESschen "Pragmatismus" setzen. Der Wille zur Macht, wie er bei den Gewaltrechtstheoretikern unter den Sophisten (besonders KALLIKLES im platonischen "Gorgias", der wohl das Modell von NIETZSCHEs "Übermensch" war), bei den Epikureern, bei HOBBES und SPINOZA hervortritt, ist auch das letzte Wort jenes Primats der praktischen Vernunft, den die genetische Wahrheitstheorie verkündet. Auch darin bleibt JAMES der alten englischen Tradition getreu, daß er mit dem Nominalismus und Utilitarismus den Primat der praktischen Vernunft verbindet. Lange vor SCHOPENHAUER, SPENCER und JAMES hat der Nominalist DUNS SCOTUS wörtlich diese These verfochten: der Wille ist der Herr und Gebieter, der Verstand der Diener (Voluntas imperans intellectui est causa superior respectu actus ejus, Opera ed. Ven. 1597 fol. 165 a). Und WILLIAM von OCCAM folgt der Lehre vom Primat des Willens blindlings. Und so treffen dann im Pragmatismus von PEIRCE, DEWEY, JAMES und SCHILLER die drei Haupttendenzen des englischen Denkens seit dem 13. Jahrhundert zusammen: der erkenntnistheoretische Nominalismus führt über LOCKE, BERKELEY und HUME in regelrechter Linie zu MILL und JAMES. Was dort Nominalismus hieß, bedeutet bei LOCKE Empirismus, Tatsachenkultus, den Fetischismus des "matter of fact". Was den Primat des Willens über den Verstand bei DUNS SCOTUS bestimmte, das ist als Denkmotiv in HOBBES' "Leviathan" enthalten als monarchisches Willenszentrum, als sakrosankte Staatsmacht, als Grundtrieb der Selbsterhaltung, das uns als  suum esse conservare  bei SPINOZA, im Anschluß an HOBBES und die Stoa wiederbegegnet. Dieser Primat des Willens, durch KANTs "Kritik der praktischen Vernunft" gefordert, durch FICHTEs "das Sein folgt aus dem Tun", scharf herausgestellt, endlich und insbesondere durch SCHOPENHAUERs Substanzialisierung des Willens in den Mittelpunkt der philosophischen Debatte gerückt, empfängt bei JAMES folgende Biegung. An die Stelle des blinden  Hödurs,  des blöden Weltwillens bei SCHOPENHAUER tritt bei JAMES der Primat des Gefühls, jener "morale sentiment", dessen System ADAM SMITH in Verbindung mit seinem Busenfreund HUME, aber im Zusammenhang mit der englischen Gefühlsphilosophie des 18. Jahrhunderts ausgebaut hat. Dieses Gefühl aber empfängt bei JAMES jene biologische Fundamentierung, die schon HUME im Prinzip gefordert hatte, ohne sie freilich durchführen zu können, da der Stand der Biologie zu Lebzeiten HUMEs dies nicht gestattete. Erst seit SPENCER und der neuen Vererbungslehre, sei es in SPENCERscher oder in WEISMANNscher Fassung, sind wir in der Lage, das biologische Fundament so zu sichern, wie es einst HUME vorgeschwebt hat, und diese Gedankentat vollzieht der JAMES'sche Pragmatismus. Schließlich wohnt dem englischen Denken seit dem 13. Jahrhundert eine dritte Tendenz inne, die erst im Pragmatismus voll und rein ausklingt: der Utilitarismus. Hier hat ROGER BACON genauso den Grund gelegt, wie im Altertum die Sophisten und Hedoniker. Nur haben die alten Utilitaristen eine  Moral  der  Konsequenzen  verkündet, während heute die Pragmatiker eine  Logik  der Konsequenzen fordern. Die Wahrheit ist den Pragmatikern (besonders SCHILLER) ein  Wort,  genso wie das Gute oder Schöne. Ihrer Nützlichkeit wegen werden Wissenschaften gepflegt und Wahrheiten verkündet - das ist die Quintessenz des Pragmatismus. Diese utilitaristische "Wissenschaftslehre" und ihre Begründung verdanken wir unter den Neueren ROGER BACON. Wie JAMES verlangt schon ROGER BACON ganz ebenso wie später sein Namensvetter FRANCIS BACON vor allem "Früchte". Im  Opus majus (I, 55) sagt BACON:  Aristoteles  und die anderen haben den Baum der Wissenschaft gepflanzt, aber der hat noch lange nicht alle Zweige getrieben, noch lange nicht alle seine Früchte gebracht. Diese "Früchte" verspricht er sich vom "Experiment". Wörtlich heißt es bei ROGER BACON (Werke II, Seite 167): Es gibt zwei Erkenntniswege, das Argument und das Experiment. Das erstere zieht Vernunftschlüsse und veranlaßt den Konklusionen beizupflichten, daß der Geist in der Anschauung der Wahrheit befriedigt wäre. Dies ist nur der Frall, wenn die Wahrheit durch die Erfahrung bestätigt ist. So muß also die Naturwissenschaft auf der Erfahrung beruhen; ohne sie kann man nichts sicher wissen. Diese Worte hätte ebenso im "Pragmatismus" des radikalen Empiristen JAMES wie bei ROGER BACON stehen können.

Sollen alle diese historischen Nachweise dazu dienen, den Pragmatismus herabzusetzen, seinen Anspruch auf Originalität herabzumindern, wenn nicht gar zu verneinen, oder ihn eines plumpen Eklektizismus zu bezichtigen? Ist der Pragmatismus, wie seine Gegner meinen, nur eine Abladestelle für alten empiristischen Schutt und sensualistische Trümmer? Oder gar ein Sammelsurium von verschlissenen Lappen utilitarischer Theorien und abgegriffener, außer Kurs gesetzter Münzen aus einer dialektischen Kuriositätensammlung? Beileibe nicht. Wenn ich die Vorgänger, Geistesverwandten und heutigen Gesinnungsgenossen des Pragmatismus aufdecke und die Wurzeln dieser Weltanschauung in Vergangenheit und Gegenwart bloßlege, so geschieht dies nicht in der Absicht, den Pragmatismus zu verkleinern oder gar verächtlich zu machen, sondern nur um ihn zu erklären. Er ist der letzte Ausläufer einer großen Tendenz des menschlichen Denkens, die mit PROTAGORAS einsetzt und in den Nominalisten aller Grade und Schattierungen, aller Zonen und Zeiten, seit den Kynikern, den Kyrenäikern und Stoikern, Epikureern und Skeptikern eine hundertfache Vertretung und Verteidigung gefunden hat. Ich sehe im Pragmatismus so wenig einen Eklektizismus, wie ich, nach dem Vorbild DÜHRINGs etwa, in LEIBNIZ einen Eklektiker sehen vermag. Ich will den Pragmatismus weder widerlegen, noch verteidigen - ich will ihn nur erklären, indem ich ihn aus seinen geschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen ableite. Mir will scheinen, daß dieser Nachweis nicht nur nicht zum Schaden des Pragmatismus ausschlagen, sondern weit eher zu seiner Anerkennung als berechtigter philosophischer Gedankenströmung unserer Tage beitragen dürfte. Wie groß und tief muß die vom Pragmatismus im Rahmen unseres heutigen astrophysischen Weltbildes und anhand der herrschend gewordenen biologischen Methode vertretene Gesamttendenz in der Menschennatur angelegt und begründet sein, wenn diese "neueste" Denkrichtung seit 2000 Jahren immer und immer wieder warme Befürworter und eine begeisterte Fürsprache findent konnte, ja wenn sie eigentlich nur zu erfüllen sucht, was PROTAGORAS schon gefordert hat.

Gewiß ist der Pragmatismus erkenntnistheoretisch ein Nominalismus, psychologisch ein Voluntarismus, logisch ein Energismus (power to work), metaphysisch ein Agnostizismus, ethisch ein Meliorismus auf der Grundlage eines BENTHAM-MILLschen Utilitarismus. Aber diese Denkelemente sind nicht mechanisch, unverarbeitet, aneinandergeleimt, sondern organisch miteinander verbunden, innerlich verknüpft, ja verwachsen. Ist doch letzten Endes jede Weltanschauung nur eine Synthese vorhandener Denkelemente. Und faßt eine solche Synthese vollends große Tendenzen zusammen, wie dies beim Pragmatismus in seiner Ineinsbildung von Empirismus, Voluntarismus und Utilitarismus der Fall ist, und gelingt es ihm, sein Weltbild auf einen so packenden, um nicht zu sagen verführerischen Ausdruck zu bringen, wie JAMES in seinem "Pragmatismus", so wird man füglich einem solchen Weltbild das wissenschaftliche Daseinsrecht nicht absprechen dürfen.

Die Kritik des Pragmatismus muß von innen heraus, aus seinen eigenen Voraussetzungen, erfolgen, und nicht vom Standpunkt eines Idealismus heraus, wie dies MÜNSTERBERG versucht. Das sind zwei Temperamente, wie JAMES richtig gesehen hat. Temperamente sind aber nicht zu widerlegen. "Wie ich es sehe", steht nun einmal als Überschrift vor jedem Tempel, nicht bloß vor dem Pantheon der Kunst, sondern auch vor dem strengen Dom der Wissenschaft. Seine Art zu sehen kann man niemandem streitig machen. Es fragt sich nur, ob er von  seinem  Standort aus richtig gesehen hat. Und hier setzt  unsere  Kritik des Pragmatismus ein.

Das COMTEschen "voir pour prévoir" [Sehen um vorherzusehen - wp] steht an der Schwelle des Pragmatismus. Alles Wissen hat einen teleologischen Hintergrund. Es soll uns lehren, unser künftiges Leben zu gestalten. Derb ausgedrückt:  ipsissimae res sunt veritas et utilitas [Wahrheit und Nutzen sind dieselben Dinge. - wp] - so spricht der Erzpragmatiker FRANCIS BACON. Das "Begnüge die mit der gegebenen Welt" FEUERBACHs erhält vom Pragmatismus die Deutung: soweit die gegebene Welt in Gegenwart und Vergangenheit Fingerzeige für die Zukunft, "Anweisungen zum seligen Leben" enthält, wie #FICHTE sagen würde.

Anstelle der beiden Wahrheitskriterien bei PLATON (auch bei ARISTOTELES) und KANT: Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, treten hier die hedonisch-utilitarischen Kriterien der Wahrheit, individuelle Nützlichkeit und generelle Zweckmäßigkeit. Wahr und gut fallen zusammen - so fordert es die biologisch-teleologische Fundamentierung der Logik, wie der Pragmatismus sie im Anschluß zwar an frühere Denkrichtungen, aber doch mit einer sehr stark ausgeprägten persönlichen Note verkündet.

Gegen diese biologische Logik erheben sich jedoch, selbst unter Zugrundelegung des pragmatischen Ausgangspunktes, eine Reihe von Bedenken, wobei ich ausdrücklich betone, daß ich weder die Argumente wiederholen werden, welche HUSSERL in seinen grundlegenen "Logischen Untersuchungen" und MÜNSTERBERG in seiner "Philosophie der Werte" (Leipzig 1908) in imponierender Geschlossenheit gegen allen Psychologismus aneinandergereiht haben. Auch die reiche polemische Literatur der Engländer, Franzosen und Italiener gegen den Pragmatismus werde ich für meine Zwecke nicht heranziehen. Es handelt sich für mich vielmehr um Denkschwierigkeiten, die ich ungeachtet meiner sympatischen Stellungnahme gegenüber den Grundforderungen des Pragmatismus nicht unterdrücken kann. Wenn die Herren JAMES und SCHILLER sich die Mühe geben werden, meine "Wende des Jahrhunderts" (Tübingen 1899), "Der Sinn des Daseins" (1904) und "Der soziale Optimismus" (Jena 1905) durchzunehmen, so werden sie in dem, was ich den evolutionistischen Kritizismus und energetischen Optimismus nenne, viel Verwandtes mit ihrem eigenen Standpunkt, zuweilen sogar wörtliche Übereinstimmungen entdecken. Für den Fall, daß JAMES und SCHILLER mich ebenso wie WILHELM JERUSALEM für den Pragmatismus reklamieren sollten, muß ich meine Bedenken gegen Methode und Resultat zusammenfassend andeuten.

So sympathisch mich die Zugrundelegung der teleologischen Betrachtungsweise berührt, so muß ich mich dagegen verwahren, daß man in der Teleologie mehr sieht, als sie zu bieten vermag. Darin hat KANT das letzte Wort für mich gesprochen. Die Teleologie ist ein heuristisches und regulatives, aber niemals ein konstitutives Prinzip, wie die Kausalität. Darum verwerfe ich die transzendentale Teleologie, gegen welche DESCARTES, HOBBES und SPINOZA ihre tödlichen Pfeile richten, ebenso unbedingt, wie ich mit LEIBNIZ (richtig verstanden: sogar mit KANT) eine immanente Teleologie verfechte. In meiner Abhandlung "Kausalität, Teleologie und Freiheit" habe ich meine Stellung zu diesen Problemen klargelegt und einen Boden für die Freiheitslehre gewonnen, der dem Indeterministen JAMES willkommen sein dürfte. In meiner "Die soziale Frage im Lichte der Philosophie" (Stuttgart 1903) habe ich klargelegt, was ich unter immanenter Teleologie verstehe.

Unter "immanenter Teleologie" ist die notwendige Zwecksetzung menschlicher Willensgemeinschaften gemeint. Jede soziale Organisation, welche sich zu Institutionen in Sitte, Recht, Religion usw. verdichtet, stellt sich als Ausfluß einer bestimmten Zwecksetzung menschlicher Willensgemeinschaften dar. Alle soziale Kausalität erhält demnach eine teleologische Biegung; denn die hier in Betracht kommende Kausalitätsform ist nicht die Ursache und Wirkung, auch nicht die von Grund und Folge, sondern die teleologische Kausalverbindung von Zweck und Mittel. Alles Geschehen ist naturnotwendig, alle Logik ist denknotwendig, alles Handeln aber zwecknotwendig. Gilt nämlich die Kausalität, als konstitutives Prinzip, unbedingt, d. h. auch für die anorganische Natur, soweit diese Willenshandlungen, d. h. Zwecken angepaßte Bewegungen auszulösen die Eignung besitzt. Die Kausalität gilt von allem Geschehen, die immanente Teleologie nur von jeder Handlung. Die Natur ist ein System von Gesetzen, die Gesellschaft ein System von Zwecken. Aber auch diese menschlichen Zwecke haben ihre Gesetzmäßigkeit; sie heißen Zweckgesetze. Alle sozialen Einrichtungen gehen letzten Endes auf solche Zweckgesetze zurück. Die physikalische Kausalität verläuft nach Ursache und Wirkung, die psychologische nach Reiz und Empfindung, die logische nach Grund und Folge, die soziologische nach Zweck und Mittel.

Neu am Pragmatismus mit seiner genetischen Wahrheitstheorie ist nur, daß er sich als logischer Evolutionismus entpuppt. Die Wahrheit wird in den Strom des praktischen Werdens hineingestellt. Wie einst die Anhänger des Herakliteers KRATYLOS, des Lehrers PLATONs, dem er seinen gleichnamigen Dialog gewidmet hat, die "Fließenden" spottweise hießen, so kennen die Pragmatiker nur eine werdende Wahrheit, die in stufenweiser Annäherung der absoluten Wahrheit oder ihrem idealen Punkt entgegenstreben soll. Das wäre also der alte  Conatus begriff, das  "oregesthai"  des ARISTOTELES, das  hegemonikon  der Stoa, das "momentum" bei GALILEI, das "endeavour" bei den Engländern, der "impetus" bei SPINOZA, die "tendance" bei LEIBNIZ, die "Zielstrebigkeit" bei KARL ERNST von BAER, das "inhärente Interesse" bei RATZENHOFER, die "Dominanten" bei REINKE, der "Richtungsbegriff" bei GOLDSCHEID; aber von JAMES aus der Physik in die Logik verpflanzt. Wie die vorwärtsprojizierenden Mystiker allesamt erklären: Gott  ist  nicht, sondern er  wird;  er verwirklicht sich in uns durch uns, oder für FICHTE in seiner ersten Periode Gott kein Sein, sondern ein stufenweises Sichvollziehen und Sichverwirklichen, eine  ordo ordinans  bedeutet, so wäre die absolute Wahrheit für JAMES und SCHILLER kein Sein, sondern ein  Sollen die Logik also kein Abschluß, sondern ein Anfang - in instrumentales Mittel zur allmählichen Verwirklichung der definitiven Wahrheit. Unsere heutige formale Logik und in ihrem Mittelpunkt die Kategorien wären demnach nur relativ befriedigende Mittel, provisorische Denkbehelfe, während die Wahrheit selbst, die endgültige, ein immer anzustrebendes, aber nie zu verwirklichendes Ideal bleibt. Wie nach jesuitischer Maxime der Zweck  ethisch  die Mittel heiligen soll, so heiligt im Pragmatismus der Zweck, die absolute Wahrheit, die Mittel: unsere gegenwärtigen Denkmittel oder Kategorien mit ihrem nur relativen Wahrheitsgehalt.

Gegen die Relativierung aller  gegenwärtigen  Erkenntnis auf der einen, aber die  Absolutierung  aller Erkenntnis in einem fernen Ideal muß jedoch von innen heraus folgendes Bedenken geltend gemacht werden. Gilt als Kriterium der gegenwärtigen Erkenntnis ihre Nützlichkeit und Wirksamkeit, ihr "power to work", mit welchem Recht lehnt JAMES den Skeptizismus ab? (The Philosophical Review, Januar 1908, Seite 9). Der Skeptizismus hat sich gegen einen geronnenen Aberglauben und verhärtete Vorurteile als eines der mächtigsten Fermente zur Erhöhung unserer Einsicht in das wirkliche Gewebe und Getriebe der Natur erwiesen. Aller Dogmatismus wirkt einschläfernd, das wissenschaftliche Gewissen betäubend, den Fortschritt zur Annäherung an die absolute Wahrheit, die ja unser fernes Ideal sein soll, geradezu hemmend. Der Relativist JAMES hat nicht nur nicht das logische Recht, die Bundesgenossenschaft des Skeptizismus stolz zurückzuweisen, sondern im Gegenteil die Pflicht, so weit mit ihm eine Waffenbrüderschaft einzugehen, als er das Alte, Überlebte, Unhaltbare zum alten Eisen wirft. Wo der Skeptizismus negativ ist, da hat der Pragmatismus ihn in seine Gefolgschaft zu nehmen. Nur wo er depressiv wirkt, wie in seiner Lehre von der  epoche,  in seiner logischen Askese, wo er gleichsam zum Kastraten der Erkenntnis wird - da, aber nur da hat ihm der Pragmatismus das Bündnis zu kündigen.

Beim positiven Ausbau des genetischen Wahrheitsbegriffs stößt der Pragmatismus jedoch wieder an eine Mauer, die er nicht wegdekretieren oder ableugnen kann, sondern bewußt übersteigen oder überbrücken muß. Wie kommen die Empfindungen, die uns nur als isolierte Eindrucksatome, also zufällig, zusammenhangslos, in einem chaotischen Wirrwarr gegeben sind, plötzlich im Kopf dazu, Reihen, Serien, Ordnungsfunktionen zu bilden? Wie gestaltet sich das psychologische Chaos der Empfindungen zum logischen Kosmos im Kopf? Wie werden Tatsachen zu Ursachen, einzelne fragmentarische Erlebnisse zu einer auch nur relativen, aber die Zusammenhänge in der Außenwelt gleichwohl trefflich erklärenden Wahrheit? Ich will zunächst davon absehen, daß die Gefahr der genetischen Wahrheitstheorie in einem bodenlosen Subjektivismus liegt, der vom Solipsismus nur noch durch eine dünne Scheidewand getrennt ist. Ich habe ja gezeigt, wie JAMES dem Solipsismus entrinnen kann und muß. Er entflieht der Scylla des "Logismus" mit seinen "ewigen Denkformen" - ein erkenntnistheoretischer Urenkel des "qualitates occultae" der Scholastiker - indem er als echter Psychologist zur Teleologie seine Zuflucht nimmt. Es ist dies der Zug der Zeit. Der deutsche Psychologist THEODOR LIPPS ist jetzt ebenso bei einem "Pantelismus" angelangt (vgl. seine naturphilosophische Abhandlung im Sammelwerk "Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts", zweite Auflage 1907, Heidelberg) wie, völlig unabhängig von ihm, der ausgezeichnete Breslauer Denker WILLIAM STERN in seinem auf mehrere Bände angelegten großzügigen Werk "Person und Sache" (Leipzig 1906). STERN gelangt zu dem Resultat, daß es einerseits zu jeder personalen Eigenschaft ein mechanisches Äquivalenz geben muß; andererseits "muß alles Mechanische zugleich eine teleologische Bedeutung haben" (Bd. I, Seite 348). Deshalb setzt STERN anstelle eines psychophysischen Parallelismus bei SPINOZA und WUNDT eine mehr an LEIBNIZ orientierte "Teleomechanik".

Die alte "Telephobie", der eingeleischte, von DESCARTES, SPINOZA und den Materialisten genährte Haß gegen alle Zweckerklärung ist offenkundig im Schwinden begriffen. Seit KARL ERNST von BAER unter dem Beifall LOTZEs und der neueren Naturphilosophen der alten aristotelischen "Zielstrebigkeit" (oresis) wieder einmal zum Sieg verholfen hat, bietet sie je länger, desto siegreicher der mechanischen Kausalität der Materialisten ein Paroli. Mit LEIBNIZ und EDUARD von HARTMANN haben wir uns allgemach daran gewöhnt, in allem Mechanismus nur einen Spezialfall einer übergreifenden Weltzweckmäßigkeit zu sehen, weil es ja offenkundig nichts Zweckmäßigeres geben konnte als den Mechanismus.

Aber berechtigt die pragmatische Methode, der Tatsachenkultus, das hypothesenfreie Denken, die genetische Wahrheitstheorie zu  dieser  Verwertung des teleologischen Prinzips? Vortrefflich sagt DAVID KOIGEN in seinem "Jahresbericht über die Literatur zur Metaphysik" (1908, Seite 131) unseres "Archivs": Die Teleologie geht immer vom Ganzen zum Einzelnen, verfährt also immer deduktiv. Denn die Ganzheiten und die ihnen innewohnenden Daseinsziele sind schon deduktiver Natur. In jeder teleologischen Betrachtungsweise ist, im Gegensatz zur kausalen, das Ganze früher, und die Teile sind später. TRENDELENBURG hat in seinem "Logischen Untersuchungen im Anschluß an die aristotelische Voranstellung der teleologischen Betrachtungsweise, diesen Gegensatz mit leuchtender Klarheit herausgearbeitet. Der Entelechiebegriff bei ARISTOTELES und die Monade bei LEIBNIZ - man erinnere sich daran, daß LEIBNIZ, bevor er den Terminus "Monade" vom jüngeren van HELMONT aufgriff, seinen Substanzbegriff "Entelechie" genannt hatte - gehen von dem Gedanken aus, daß die Zweckursachen den Wirkursachen, wenn auch nicht der Zeit, so doch dem Rang und der Würde nach vorangehen. Denselben teleologischen Charakter tragen die Systeme von FICHTE, SCHELLING und der Frühromantik (FRIEDRICH SCHLEGEL) an sich. Die empirische Teleologie von PAUL NIKOLAUS COSSMANN und die immanente Teleologie unserer heutigen Naturphilosophen (OSTWALD, REINKE, DRIESCH) gehen eingestandenermaßen auf die aristotelische Entelechie zurück, wie DRIESCH rückhaltlos bekennt. Aber auch die MACHsche Definition des "Ich" als "Zweckeinheit" und die JAMESsche Lehre von den Begriffen oder "Gattungen" als "teleologische Instrumente" gehen von der gemeinsamen Grundüberzeugung aus, daß alles geistige Leben teleologisch ist. Die teleologische Einheit des Ich beruth, nach MACH, auf einer "unanalysierten Konstanz". Das Ich ist danach eine praktische Einheit für eine vorläufige, provisorische Beachtung. Ebenso sind Substanzbegriffe - Sein, Tun, Materie, Geist - abkürzenden Symbole zwecks leichterer Optimierung in der "Umwelt". Alle Wissenschaft schrumpft somit zu einer Praxis zusammen, wie alle Deduktion, nach MILL, nur eine Abbreviatur [Abkürzung - wp], eine umgekehrte Induktion, ein Memorandum für das Gedächtnis ist. Hier haben wir das  proton pseudos [erster Irrtum, erste Lüge - wp] des Pragmatismus und auch des HUMEschen Positivismus und aller verwandten Richtungen vor uns. Ganz abgesehen davon, daß die biologische Methode, welche JAMES und sein Anhang für die Logik fruchtbar machen wollen, schon daran scheitern dürfte, daß sich die Biologie selbst heute noch im Zustand eines gärenden Werdens, der tastenden Unsicherheit befindet, also für eine Grundlegung der sichersten aller Wissenschaften, der formalen Logik, nocht keine Eignung besitzt, begeht der Pragmatismus denselben  Circulus vitiosus  [Teufelskreis - wp], dem auch HUME nicht zu entrinnen vermochte. HUME führt Substanz und Kausalität auf Denkgewohnheiten und Assoziationsgesetze zurück. Wie sind nun aber die Assoziationsgesetze in das menschliche Gehirn hineingeraten? Warum haben alle Menschen und Tiere  dieselben  Assoziationsgesetze von Kontiguität [Angrenzung - wp] oder inhaltlicher Ähnlichkeit? HUME erschließt die Geltung der Assoziationsgesetze  mittels  der in ihm schon wirksamen Assoziationsgesetze. Er wird freilich mit KANT und HEGEL antworten: man kann nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen. Der Zirkel ist unvermeidlich. Also gut, dann soll man aber auch offen eingestehen, daß die Assoziationsgesetze ein ebensolches  psychologisch-genetisches A priori  darstellen, wie die kantischen Kategorien, die Konstanz des Ich, die transzendentale Einheit der Apperzeption ein  logisches A priori  bilden. Ohne ein A priori kommt HUME so wenig aus, wie JAMES, der ein eifriger  Gegner  der Assoziationspsychologie ist, was übrigens WUNDT in seinem "Grundriß der Psychologie" übersehen hat, da er JAMES fälschlich zu den Verfechtern der Assoziationspsychologie zählt. Aber dem hier aufgedeckten Zirkel verfällt JAMES gleichwohl, ob mit oder ohne Assoziationsprinzip. Denn ob man mit AVENARIUS und MACH das Ökonomieprinzip, das Denken nach dem "kleinsten Kraftmaß", das  parsimonium naturae  [natürliche Sparsamkeit - wp], allen Denkformen als Erklärungsmaßstab zugrunde legt, oder mit JAMES das Ausleseprinzip, das Nützlichkeitsprinzip, das "power to work" als Kriterium aller Wirklichkeits- und Wahrheitswerte hinstellt: dieses  Prinzip  ist ein A priori, von welchem als die Einzelerscheinungen deduktiv abgeleitet werden. Die Alternative lautet: Ohne ein oberstes Erklärungsprinzip, ob dieses nun Kausalität oder Teleologie heißt, haben wir nur zusammenhangslose Eindrucksatome, aber keinen zusammenfassenden Überblick über den Weltzusammenhang, d. h. Wissenschaft. Gilt aber das "voir pour prévoir" COMTEs, so müssen wir  irgendeine  Konstanz haben, sei es die "unanalysierte Konstanz" des Ich bei MACH, das Ökonomieprinzip bei AVENARIUS, die Assoziationsgesetze bei HUME, die pragmatische Teleologie der Begriffe bei JAMES oder aber die transzendentale Einheit der Apperzeption bei KANT und das "Bewußtsein überhaupt" bei den Nachkantianern. Gliche die Zukunft nicht der Vergangenheit, so entzöge sie sich aller Vorausberechnung und eben damit aller wissenschaftlichen Erfassung. Aus lauter Variabeln läßt sich kein befriedigendes Weltbild aufbauen. Irgendeine Konstanz - heiße diese nach innen gesehen:  Ich  oder nach außen projiziert: Sein oder Welt - müssen wir denknotwendig fordern, setzen oder zugrundelegen, um einen ruhenden Punkt in der Erscheinung Flucht zu haben, ansonsten fallen wir unentrinnbar einem Solipsismus anheim., der seinerseits nichts weiter bedeutet als einen erkenntnistheoretischen Fetischismus.

Durch unsere logischen Ordnungsprinzipien, durch Begriffsbildung, Kategorien, methodisches Klassifizieren und Rubrizieren haben wir nicht nur den religiösen, sondern auch den erkenntnistheoretischen Fetischismus überwunden. Es wäre fürwahr ein wunderlicher Umschweif, wenn wir jetzt über alle Wissenschaft hinweg einen atavistischen [primitiven - wp] Rückfall in jenen krassen Individualismus der Spätsophisten bekämen, welche die Parole ausgaben: nicht der  Mensch,  sondern  der  Mensch ist das Maß aller Dinge. Gerade der Pragmatiker, der den Akzent auf die Nützlichkeit des Erkennens legt, muß einen solchen Wirrwarr der Erkenntnis, der ein Auseinanderfallen aller wissenschaftlichen Einsicht und Voraussicht in isolierte Eindrucksatome unausbleiblich zur Folge hätte, geradezu perhorreszieren [ablehnen - wp]. Die utilitarische Logik - und der Pragmatismus als Methode und genetische Wahrheitstheorie ist nichts anderes - muß doch zumindest  eine  Voraussetzung von unbeirrbarer Gültigkeit haben:  eine  Konstante in einer Welt von lauter Variabeln. Bei MACH und AVENARIUS heißt diese Konstante: Ökonomie des  Denkens,  bei JAMES und SCHILLER: Ökonomie des  Handelns.  Ihr Treffpunkt ist die teleologische Betrachtungsweise. Ihre Konstanz heißt nicht, wie bei SPINOZA und den Rationalisten:  Causa,  sondern, wie bei ARISTOTELES und LEIBNIZ:  Telos.  Natürlich ist dann das Telos nicht  Folge,  sondern  Grund  all unserer Handlungen; eben damit aber wird es zum konstitutiven Faktor nicht nur allen Erkennens, aller Logik bei AVENARIUS und MACH, sondern auch allen Handelns bei JAMES und SCHILLER. Und genauso wie bei HUME  Einbildungskraft, Glauben  (belief) wie Assoziationsgesetze die konstitutiven Elemente unseres wissenschaftlichen Weltbildes darstellen, haben wir bei den Pragmatikern  Aktivität  (power to work), Denkökonomie und Handlungsökonomie - unter Zuhilfenahme biologischer Prinzipien und insbesondere DARWIN-SPENCERsche Selektionstheorien - als positive Faktoren der Weltbegreifung. Das zeigt aber klar, daß auch der Pragmatismus sein A priori hat: das Telos. Uns wenn man über den Logismus eines KANT spottet, daß er uns zumutet, der Mensch komme mit einer fertigen Kategorientafel zur Welt, so vergesse man nicht, an die eigene Brust zu pochen. Wir sind apriorische Sünder allzumal. Oder verschlägt es etwa so sehr viel, wenn der Mensch nach KANT mit einer Kategorientafel, nach HUME mit fertigen Assoziationsgesetzen, nach AVENARIUS mit einer automatisch funktionierenden Denkökonomie, nach JAMES und SCHILLER schließlich mit einer Nützlichkeits- und Ausleseapparat, gleichsam einer eingeborenen Skala der Werte, zur Welt kommt. Seien wir ehrlich, vor allem gegen uns selbst. Der Pragmatismus leistet nichts anderes, al daß er an die Stelle einer Mechanik des Bewußtseins, wie HOBBES, SPINOZA, HARTLEY, PRIESTLEY, HUME, die Naturalisten, Materialisten und Assoziationspsychologen uns geboten haben, eine Teleologie des Bewußtseins setzt. Der Pragmatismus folgt damit nur jenem gemeinsamen Zug der Zeit, der sich in den verwandten Bestrebungen der Energetiker, Neuromantiker, Neovitalisten und Naturphilosophen ausprägt, dem Materialismus ein feierliches Begräbnis erster Klasse zu bereiten, indem der Primat der mechanischen Natur- und Welterklärung aberkannt und einem teleologischen Weltbild zuerkannt wird. DEMOKRIT oder ARISTOTELES lautete die Parole im Altertum, SPINOZA oder LEIBNIZ im großen 17. Jahrhundert, KANT oder MACH heißt sie heute. Hier COHEN und die Marburger Schule, Platonismus und Kantianismus, da der Pragmatismus, der erkenntnistheoretisch die Linie des PROTAGORAS, biologisch die des ARISTOTELES fortsetzt. In der Mitte steht EDUARD von HARTMANN und sein Anhang, die mit LEIBNIZ und der Stoa alles Mechanische als glücklichen Spezialfall einer übergreifenden Weltzweckmäßigkeit erklären.

Was uns heute doppelt und dreifach not tut, ist eine erkenntniskritische Auseinandersetzung über die Zulässigkeitsgrenzen einer teleologischen Weltbetrachtung. P. N. COSSMANN hat in seinen "Elemente einer empirischen Teleologie" einen ermutigenden Ansatz genommen. Hier muß der Pragmatismus weiterbauen. Er wird weder in jene absurde Nützlichkeitstheorie verfallen dürfen, die einst die Lehre CHRYSIPPs zum Gespött aller Eingeweihten gemacht hat. Er wird sich aber ebensosehr jene "faule" Teleologie vom Leibe halten müssen, welche DESCARTES, HOBBES und SPINOZA mit Recht aus den heiligen Hallen der Wissenschaft verbannt haben. Gerade weil er das ehrliche Geständnis wird ablegen müssen, das Teleologische sei sein A priori, wird er sich über die Gültigkeit, Anwendbarkeit und Grenzen der teleologischen Wahrheits- und Wirklichkeitstheorie auszulassen haben. Der Pragmatismus muß Stellung nehmen zur kantischen Fassung des Teleologischen in der "Urteilskraft", ob und inwieweit er nämlich seiner teleologischen Ableitung der Logik auch ontologische Bedeutung beizulegen gewillt ist. Haben wir es nur mit heuristischen oder regulativen Prinzipien im Pragmatismus zu tun, oder auch mit konstitutiven? Der Unterschied von regulativer Idee und konstitutivem Prinzip ist ein fundamentaler. Dieses geht auf ein  Sein,  jene auf ein  Sollen.  Konstitutive Gesetze stellen die Tatsache fest, daß durch eine Wechselwirkung zwischen Ganzem und Teilen Einheiten entstehen; regulative Ideen aber enthalten kein Zielbewußtsein, eine Anweisung auf das Seinsollende. Ist das Reich der Natur das der Gesetze und das Reich der Geschichte das der Zwecke, so mag die Teleologie als Erkenntnismittel der Geschichte ihren Platz behaupten. Aber ist sie auch tauchlich als Erkenntnismittel der Natur, die ja nur  ist,  und nicht  soll?  Können wir aufgrund der pragmatischen Welterklärung Natur und Geschichte mit Gesetzescharakter ausstatten, oder nur Rhythmen, Regelmäßigkeiten, große Übereinstimmungen, kurz Regeln und nicht Gesetze, Tendenzen und nicht Kategorien aufstellen? Haben teleologische Welterklärungen aber nur provisorisch-orientierenden Charakter, wie JAMES will, so fragt es sich, ob man damit sein wissenschaftliches Auslangen findet und nicht vielmehr die Kausalerklärungen mit ihrem definitiven Gesetzescharakter, also konstitutiven Prinzipien, ergänzend herbeiziehen muß. Und so spitzt sich dann der leidenschaftliche Kampf zwischen Pragmatismus und Transzendentalismus in die uralte Fehde zu:  Teleologie  kontra  Materialismus. 

Ob wir diesen Urgegensatz mittels des Pragmatismus zum Austrag bringen? In seinem dehnbaren Programm besitzt der Pragmatismus, der große Tendenzen unserer Zeit zusammenfaßt und durch ein zugkräftiges Schlagwort verwandte Bestrebungen unter einer Fahne sammelt, die Geschmeidigkeit, mit seiner Korridorphilosophie (wie PAPINI sie witzig nennt) den Zugang zu allen Problemstellungen und allen Pforten der Philosophie zu finden. Er ist ein Mantel mit so reichem Faltenwurf, daß für alle Biegungen und Schattierungen reichlich Unterschlupf vorhanden ist. Vorerst wird er sich zu konzentrieren und seine Gedankentruppen, die er um die Standarte "Pragmatismus" geschart hat, logisch zu disziplinieren haben. Das Augenmerk wird mehr auf das Einigende der verwandten Bestrebungen, als auf das Trennende der zahllosen philosophischen Sekten unserer Tage zu richten sein. Seine Bedeutung liegt in dem geschickten programmatischen Weckruf, den JAMES ertönen ließ und der durch die Wucht seiner Worte einen mächtigen Widerhall gefunden hat. Jener "Anarchie der philosophischen Systeme", über welche MAX FRISCHEISEN-KÖHLER ("Moderne Philosophie", STUTTGART 1907, Einleitung) in beweglichen Worten Klage geführt hat, muß gesteuert werden, wenn das gewaltig aufgerüttelte philosophische Interesse unserer Tage wachgehalten und nicht wieder, durch eigene Zerrissenheit und Gedankenschlaffheit, eingeschläfert werden soll. Deshalb begrüßen wir den Pragmatismus, ungeachtet aller kritischen Bedenken, die Selbstbesinnung und Selbstbescheidung fordern, als zentripetale philosophische Bestrebung unserer Tage, welche dem zentrifugalen Auseinanderklaffen der Eigenbrödler einen Damm entgegensetzen soll. Vorläufig soll er nur sammeln und sichten, Verwandtes heranziehen und Gleichgeartetes unter seinem Banner vereinigen. Das Wort des führenden Pragmatikers JOHN DEWEY ("What does Pragmatism mean by Practical", Journal of Philosophy, Bd. V, Seite 4 vom 13. Februar 1908, Nr. 99): "Möglicherweise könnte sich der "Pragmatismus" als Holding-Gesellschaft für alliierte, aber getrennte Interessen und Probleme ist verfrüht. auflösen und zu seinen ursprünglichen Bestandteilen zurückgeführt werden" ist verfrüht. Nicht Analytiker brauchen wir heute, sondern Synthetiker, nicht Niederreißer, sondern Aufbauer, nicht Kritiker, sondern Gestalter. Durch unsere endlosen "Kritiken" sind wir nahe an den Rand des Abgrunds, des Zerfalls, der allgemeinen Mißachtung geraten. - Da uns die Zeichen der Zeit wieder günstig sind, wie CARL STUMPF in seiner Rektoratsrede "Die Wiedergeburt der Philosophie", Leipzig 1908, glänzend dargetan hat, und aus den Ruinen der Philosophie, die in der nachhegelschen Ära des Materialismus zerklüfteten Trümmerhaufen glich, jugendkräftiges Leben erblüht, so wollen wir wieder bauen. An Zerstörern haben wir wahrlich keinen Mangel. Aber konstruktive philosophische Phantasie, wie sie JAMES besitzt, das ist es, wonach wir lechzen.

Es verschlägt dabei wenig, daß letzten Endes FICHTE recht behält: Was für Philosopohie man hat, hängt ganz davon ab, was man für ein Mensch ist. Wir durchschauen vollständig, ja wir fordern geradezu jene Psychologie der Systembildung, welche uns einen Blick tun läßt hinter die Kulissen der landläufigen philosophischen Begriffsbildungen. Ich halte jede Weltanschauung mit XENOPHANES für einen "Anthropomorphismus" oder mit LIPPS für eine "Einfühlung". Nur füge ich noch hinzu: dieser anthropomorphisierende Zug gehört zur menschlichen Stammesnatur; er ist unaufhebbar und unaufgebbar. FRANCIS BACON rechnete diesen Zug der Menschennatur, das Weltbild durch Angleichung an das belebte Innere des Menschen zu gestalten, zu den  idola tribus.  Der Blick war richtig. Falsch war nur seine Vermutung, daß wir uns von diesen "Idolen der Gattung" jemals und irgendwie freimachen könnten. Geborene Logiker oder Mathematiker werden genauso einer rationalistischen und kausalen Welterklärung zuneigen wie Gefühlsmenschen, Schwärmer und Sinnierer einer ästhetisch-teleologischen Deutung instinktiv den Vorzug geben, oder endlich kraftbewußte Willensmenschen sich zu einem energetisch-voluntaristischen Weltbild hingezogen fühlen. Unseren drei seelischen Grundfunktionen in Empfindung, Gefühl und Wille entsprechend, wird es mindestens drei Weltanschauungstypen geben: Rationalisten, Romantiker und Voluntaristen. Die einen rationalisieren, die anderen sentimentalisieren, die dritten schließlich voluntarisieren nach ihrem eigenen Ebenbild die Welt. Der Pragmatismus ist ein neuer Sammelname für den seit SCHOPENHAUER, RIBOT, WUNDT und OSTWALD zur Vorherrschaft gelangten voluntaristischen Denktypus.
LITERATUR Ludwig Stein, Der Pragmatismus, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. XIV, Berlin 1908