ra-2L. BrentanoH. SchmidkunzEhrenfelsW. StrichF. Somlo    
 
JOSEF CLEMENS KREIBIG
Psychologische Grundlegung
eines Systems der Werttheorie

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"Die Selbstbeobachtung zeigt psychisch nichts als eine gleichartige stärkere oder schwächere Lust, gebunden an verschiedenartige stärkere oder schwächere Lust, gebunden an verschiedenartige Inhalte oder Anlässe. Die Anlässe können Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteile, Schlußakte, können alle Arten körperlicher Eindrücke und Zustände sein. Klassifiziert man die Lüste nach den Anlässen ihrer Entstehung, so bringt man ein Element hinzu, welches jedenfalls nicht zu den konstitutiven Merkmalen der Gefühle selbst zählt. Rein phänomenal gibt es  nur seelische Lust  (oder, ungenau ausgedrückt, geistige Lust) und keine körperliche. Woher stammen aber dann die Gleichungen höhere = geistige = vorzugswürdige und niedere = leibliche = nachsetzungswürdige Lust?"

"Eine weitere Quelle der Unterscheidung höherer und niedriger Lüste ist ein eingewurzeltes  metaphysisches Vorurteil,  das geschichtlich noch vor die Orphiker und Platon zurückreicht. Der Leib gilt als Kerker der Seele. Er ist ein Teil der sündhaften Materie, die Quelle allen Übels. Der Leib bedeutet das Gemeine am Menschen, die Seele das Göttliche. Solche metaphysische Voraussetzungen werden ausdrücklich oder stillschweigend auch auf die Lüste ausgedehnt: Die leiblichen Lüste sind sündhaft oder wenigstens eine Schwäche, die geistigen sind edel; ein Kernpunkt der asketischen Lebensauffassung."

2. Teil
Psychologie der Wertgefühle
und allgemeine Wertgesetze

13.  Das Gefühl als Grundseite der psychischen Phänomene.  Die Grundthese unserer Werttheorie, daß das Gefühl das Fundament des Wertes sei, soll zweierlei zum Ausdruck bringen: Alles Gewertete wird gefühlt, alles Gefühlte wird gewertet. Wenn wir also im nachstehenden von "Wertgefühl" sprechen, so ist darunter nicht etwa eine besondere Klassen von Gefühlen zu verstehen, sondern ein bloßer Hinweis auf das spezielle Interesse unserer Untersuchung des Gefühls.

Unsere Theorie ruht auf der Voraussetzung, daß das Gefühl eine eigene Grundseite der psychischen Phänomene sei. Wir unterscheiden an jeder vollentwickelten seelischen Erscheinung, wie bereits früher erwähnt, vier Grundseiten, nämlich ein Empfindungs-, ein Denk-, ein Gefühls- und ein Willenselement. Es braucht wohl nicht ausführlich erörtert zu werden, daß bei vielen seelischen Erscheinungen speziell die Seite der Empfindung so überwiegend im Bewußtsein hervortritt, daß man dieselbe als bloße Empfindung zu beschreiben geneigt ist. Bei anderen Phänomenen mag wiederum die Gefühlsseite alle übrigen Elemente zurückdrängen, wobei in diesem Fall ein solches Erlebnis ungenau als reines Gefühl bezeichnet wird. Der Nachweis, daß gleichwohl bei jedem psychischen Phänomen (selbst beim einfachsten Wahrnehmungsakt und beim Denken theoretischer Begriffe) alle vier Grundseiten in mehr oder minder bestimmter Weise vorhanden sind, würde außerhalb des Rahmens unserer Untersuchung fallen.
    Einer späteren Erörterung vorgreifend, sei hier bemerkt, daß sich Lust, von der psychischen Seite gesehen, regelmäßig an eine Förderung der Sinnes- und Denktätigkeit, Unlust an eine Hemmung dieser Aktivität gebunden einstellt.
Einer kurzen Charakteristik bedürfen jedoch die gegnerischen Theorien, welche im Gefühl keineswegs ein irreduzibles seelisches Element erblicken.
    a) Eine Gruppe von Psychologen und Physiologen behauptet, das Gefühl, und speziell der Schmerz, sei eine Art von Empfindungen (1). Die Physiologen GOLDSCHEIDER und von FREY, denen sich auch LANDOIS u. a. anschließen, glauben an das Bestehen eines eigenen "Schmerzsinnes" und stützen sich hierbei auf sorgfältige Untersuchungen der menschlichen Haut, welche ergeben haben, daß auf der Leibesoberfläche in unregelmäßiger Verteilung nicht nur Kälte- und Wärmepunkte existieren, sondern auch Schmerzpunkte, d. h. daß manche Stellen schmerzempfindlich, größere Bezirke aber entweder ganz oder fast schmerzunempfindlich seien. Die genannten Forscher berufen sich ferner darauf, daß der Schmerz sehr oft später als der damit verknüpfte sonstige Schmerzensinhalt ins Bewußtsein tritt (nicht selten mit zwei Sekunden Verspätung), ferner auf den Umstand, daß es Krankheitszustände geben soll, bei welchen Glieder des Leibes Schmerzlosigkeit (Analgesie) aufweisen, dabei aber keineswegs Empfindungsunfähigkeit (Anästhesie) zeigen. In einer kleinen Arbeit habe ich vom psychologischen Standpunkt geltend gemacht, daß diese Beweisgründe für die Aufstellung eines eigenen "Schmerzsinnes" durchaus nicht zureichen, und bemerkte später, daß auch ALFRED LEHMANN vom physiologischen Standpunkt die Theorie GOLDSCHEIDERs für ganz unhaltbar erklärt hat. Die Schmerzpunkte können und sollen jedenfalls als Druckempfindungspunkte mit besonders lebhafter Gefühlsbetonung der ausgelösten Berührungsempfindungen aufgefaßt werden, umsomehr als wahrhaft sichergestellte Fälle von Schmerzlosigkeit gewisser Glieder (Vorderarme) mit gleichzeitig voll erhaltener Empfindungsfähigkeit nicht bekannt geworden sind. Auch das Spätereintreten des Schmerzbewußtseins ist ohne Aufstellung eines eigenen "Schmerzsinns" als Reaktion auf erst später sich geltend machende Merkmale oder Stadien der betreffenden Druckempfindung verständlich.

    b) Leichter zu entkräften ist die Theorie HERBARTs und seiner Schüler (WAITZ, VOLKMANN, NAHLOWSKY), derzufolge das Gefühl ein "Vorstellungsverhältnis" und keine eigene Grundklasse sein soll.

    HERBART hat, was wir als bekannt voraussetzen, die Lehre vom "Mechanismus der Vorstellungen" aufgestellt, wonach sich inhaltlich verwandte Vorstellungen im Bewußtsein gegenseitig zu erhalten, dagegen entgegengesetzte Vorstellungen im Bewußtsein zu verdrängen streben. Bei diesem Kampf der Vorstellungen ums Dasein im Bewußtsein treten dieselben in verschiedenartige Verhältnisse zueinander und eben dies seien Gefühle.

    NAHLOWSKY, welcher ein sehr geschätztes Buch über das Gefühlsleben (Leipzig 1862) geschrieben hat, entwickelt diese Theorie in folgender Weise:

    Es gibt, sagt NAHLOWSKY, drei Hauptformen des psychologischen Lebens: das Vorstellen, das Gefühl und das Streben. "Alle jene Zustände, die auf der bloßen Perzeption (Auffassung) organischer Reize beruhen," sind Empfindungen, "alle jene Zustände dagegen, die keineswegs unmittelbare Produkte von Nervenreizen, sondern vielmehr das Resultat gleichzeitig im Bewußtsein zusammentreffender Vorstellungen sind, sind Gefühle." (Seite 27) "Demnach kann das Gefühl definiert werden, als das unmittelbare Innewerden der Hemmung oder Förderung unter den eben im Bewußtsein vorhandenen Vorstellungen." "Das Gefühl ist das unmittelbare Bewußtsein der momentanen Steigerung oder Herabstimmung der eigenen psychologischen Lebenstätigkeit." - Im Sinne dieser Theorie fällt also die sogenannte leibliche Lust und Unlust unter die Empfindungen, nicht unter die Gefühle und gelten nur die sogenannten geistigen Gefühle als echte Gefühle. - Daß HERBART und NAHLOWSKY mit dieser Theorie im Unrecht sind, ist überaus häufig literarisch erörtert worden. Die allereinfachsten Beispiele heben die Lehre sofort auf. Denken wir an das mathematische Vorstellungsverhältnis:  a + b = c.  Wer hätte wohl bei diesem Vorstellungsverhältnis ein merkliches Lust- oder Schmerzgefühl zu verzeichnen? Man mag die Vorstellungen gruppieren, wie man will, sie in alle erdenklichen Verhältnisse zueinander treten lassen, das hinzutretende Gefühl bleibt damit etwas durchaus Neues.

    c) Es ist ferner die Behauptung aufgestellt worden, daß Gefühl und Wille eine gemeinsame Klasse von Seelenerscheinungen bilden. Diese von CHRISTIAN von EHRENFELS in Prag in geistvoller Weise vertretene Anschauung soll uns noch beschäftigen, doch sei gleich hier bemerkt, daß die Analyse von Fällen, wie: "Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer," MUCIUS SEAEVOLA läßst seine Hand verkohlen," "Das Lesen über Kindesmißhandlungen erregt Unlust" auf die Notwendigkeit hinweist, die Gefühlsseite von der Willensseite bei der wissenschaftlichen Beschreibung zu trennen.

    d) Am verbreitetsten unter den von der unseren abweichenden Anschauungen ist wohl diejenige, daß das Gefühl keine seelische Erscheinung, sondern ein ausschließlich körperlicher Tatbestand sei. Die Vertreter dieser Lehre zählen (wohl mit Unrecht) HERBERT SPENCER, welcher die Lust als Tatsache der Lebensförderung, die Unlust als Tatsache der Lebenshemmung deutet, zu ihrer Partei. Eine schwankende Stellung nimmt LEON DUMONT mit seiner Theorie ein, daß Lust in einer Vermehrung der Energie, Unlust in einer Verminderung derselben bestehe. Davon später mehr. Ganz entschieden auf dem Standpunkt, daß Gefühle körperliche Prozesse seien, steht C. LANGE in Kopenhagen ("Über Gemütsbewegungen", deutsch Leipzig 1887), in welchem dieser geschätzte Forscher die Gefühle oder eigentlich die Gemütsbewegungen als vasomotorische Vorgänge (Verengung und Erweiterung der feinsten Blutäderchen) und deren körperliche Folgen beschreibt. Er sagt: "Es ist das vasomotorische System, dem wir die ganze emotionelle Seite unseres Seelenlebens, unsere Freuden und Leiden, unsere glücklichen und unglücklichen Stunden zu danken haben" (Seite 76). Die körperlichen Erscheinungen sind nicht die Wirkung der seelischen Gefühle, sondern umgekehrt, jedes Gefühl ist die Summe von physiologischen Prozessen, psychologisch gesprochen eine Summe von Organempfindungen. - "Man nehme," sagt LANGE (Seite 53), "beim Erschrockenen die körperlichen Symptome fort, lasse seinen Puls ruhig sclagen, seinen Blick fest sein, seine Farbe gesund, seine Bewegungen schnell und sicher, seine Sprache kräftig, seine Gedanken klar - was bleibt dann von seinem Schreck übrig?" Wir antworten darauf: Die ganze Hälfte der Erscheinung, nämlich die seelische Seite des Gefühles. Aus allen körperlichen Symptomen zusammen können wir nie erfahren, was in der Seele des Erschrockenen tatsächlich vorgeht. Die Materialisten übersehen eben grundsätzlich die volle Hälfte desjenigen, was es bei einer seelischen Erscheinung zu beschreiben gilt. - Der Amerikaner JAMES, welcher in seiner "Psychologie" zuerst den Standpunkt LANGEs zu teilen schien, hat später in seinem Aufsatz in der "Psychological Review" (Bd. 1, Seite 524) erklärt, daß er die Auflösung des Gefühles in vasomotorische Vorgänge als solche nicht vertrete, sondern nur eine Rückwirkung der körperlichen Zustände auf den Ablauf des Gefühls annehme. Beinahe bedingungslos teilen die Ansicht LANGEs RIBOT, SERGI und DEWEY. Auch gegenüber LANGE hat LEHMANN das richtige Wort der Erwiderung gefunden, indem er zeigte, daß an jedem Bewußtseinszustand Organempfindungen mitbeteiligt sind, das Gefühl aber jedenfalls psychologisch eine Grundklasse darstellt, während die Vorgäne in den feinsten Blutgefäßen nur als leibliche Begleiterscheinungen aufzufassen sind. - Überdenken wir die geschilderten Theorien noch einmal im ganzen, so dürfen wir wohl die Behauptung als gesichert betrachten, daß es keinem der bezeichneten Forscher gelungen ist, unsere Lehre vom Gefühl als besondere Grundseite des Seelenlebens zu widerlegen oder durch eine bessere zu ersetzen.
14.  Die allgemeinen Merkmale und Klassen der Gefühle.  Der unbefangenen Selbstwahrnehmung bietet sich als hervortretendste Tatsache des Gefühlslebens im ganzen der  Qualitätsgegensatz  Lust-Unlust dar, welcher das Wertgebiet in allen Klassen durchzieht. Daß der Lust der Charakter des Sekundären, der Unlust der Charakter des Primären zukommt, ist eine durch die innere Erfahrung nicht zu begründende Behauptung SCHOPENHAUERs und HARTMANNs. Die Unlust bedarf im Sinne des psychischen Beziehungsgesetzes ebenso wie die Lust eines qualitativen, intensiven oder zeitlichen Gegensatzes zu einem früheren Gefühlszustand, um im Bewußtsein aktuell zu werden. Will man daher die Lust als Aufhebung der Unlust deuten, so muß man andererseits die Unust zur Negation der Lust (welche den ungehemmten Lebensprozeß stetig begleitet) erklären, wodurch dann die Berechtigung entfällt, die Lust als minder ursprünglich anzusehen.

15. Eine weitere gegebene Tatsache des Gefühlslebens spricht sich in der Erfahrung aus, daß viele Inhalte (sowohl Empfindungs- als Denkinhalte), welche bei ihrem ersten Erleben mit deutlicher Gefühlsbetonung auftraten, diesen Ton bei Wiederholung verlieren.

Man bezeichnet diesen Vorgang als  Abstumpfung  infolge einer Gewöhnung. Ohne Zweifel erweckt das Neue in uns lebhafte Gefühle, was uns oft begegnet ist, läßt uns unbewegt. Wilde und Kinder schreien und gestikulieren oft bei einer grellen Farbe oder einem schrillen Ton; der weise BEN AKIBA dagegen hat so viel erlebt, daß ihn alle Ereignisse des Tages gleichgültig lassen. Die mathematischen Vorstellungen, welche uns seit der Kindheit überaus häufig und mit sehr geringer Beziehung zu unserer Lebensförderung und Hemmung entgegentreten, scheinen der Gefühlsbetonung gänzlich zu ermangeln. (2) Der allgemeine Schluß, daß deshal der Kulturmensch im Vergleich zum Naturmenschen ärmer und stumpfer im Gefühlsleben sei und damit auch in seinen Werterlebnissen minderen Reichtum aufweise, wäre immerhin unberechtigt. Man denken an die neuen Feingefühle, welche uns beim Hören der  Meistersinger -Musik oder beim Anblick der Peterskirche beschleichen, an die Unzahl der dem Naturmenschen unbekannten heteropathischen Werte und Wertnuancen, die in der hochentwickelten sozialen Organisation bedingt sind.

16. In ihrer  Erscheinungsweise  stellen sich uns die Gefühle entweder als aktuelle oder als dispositionelle Zustände dar.
    a) Zu den ersteren rechnen wir beispielsweise alle bewußten Gefühle aus Gesichts- und Tonempfindungen, aus wahren und falschen Urteilen, aus moralischen und ästhetischen Eindrücken, ferner die Gefühle bei Zorn, Schrecken, Mitleid usw.

    b) Die dispositionellen Gefühle treten nicht in die Enge des Bewußtseins, bilden aber als "Stimmung" die Unterschicht unserer seelischen Vorgänge, welche allen übrigen Erlebnissen zugesellt ist. Der Stimmung ist die relative Undeutlichkeit des qualitativen Charakters und der geringe Intensitätsgard, andererseits aber eine relative Stabilität eigentümlich. Vermöge der letzteren übt die Stimmung einen mächtigen (wenn auch der Aufmerksamkeit sich wenig aufdrängenden) Einfluß auf den Willen.
Der Verschiedenheit der aktuellen und dispositionellen Erscheinungsweise der Gefühle entspricht unsere früher erwähnte Einteilung der Wertphänomene in aktuelle Wertungen (zum Ausdruck gelangend in expliziten Urteilen) und dispositionelle Wertungen (verbunden mit urteilsmäßigem Verhalten).

17. Die psychologisch-wissenschaftliche Analyse der Gefühle als Wertgefühle führt zur Aufstellung von  drei konstitutiven Merkmalen und drei elementaren Beziehungen  jedes Gefühlserlebnisses. Die konstitutiven Merkmale des Wertgefühls sind
    1. die Qualität, d. h. der Lust- oder Unlust-Charakter,
    2. die Intensität oder Stärke
    3. die zeitliche Bestimmtheit oder Dauer des Gefühls
Als elementare Beziehungen des Wertgefühls finden wir:
    1. das Gebundensein an einen Empfindungs- oder Denkinhalt,
    2. den Ausdruck des Wertens im Urteil oder urteilsmäßigen Verhaltens
    3. die Beziehung zur einer Willensregung gleicher Qualität (Sein- oder Haben-Wollen, Sein- oder Haben-Nichtwollen).
Der Besprechung der konstitutiven Merkmale und elementaren Beziehungen der Wertgefühle wollen wir eine Übersicht der Einteilungen oder Klassifikationen der Gefühle im allgemeinen voranschicken.

18.  Einteilung der Gefühle.  Die naheliegendste und zugleich psychisch wichtigste Einteilung der Gefühle ist jene nach der  Qualität  in Lust- und Unlustgefühle; unserer Ansicht nah gibt es eine weitere Qualitätseinteilung überhaupt nicht. Dieser Einteilung entspricht die spezielle timologische [werttheoretische - wp] in  positive  und  negative  Wertgefühle. - Unter dem Gesichtspunkt der  Intensität  unterscheiden wir auf der Lustseite die angenehmen Gefühle, die Lustgefhle im engeren Sinn und die Wollustgefühle, auf der Unlustseite die unangenehmen Gefühle, die Unlustgefühle im engeren Sinn und die Schmerzgefühle. Fast dasselbe wie Schmerz bedeutet Pein und Qual. Mit den soeben angeführten Namen sind offenbar auch die Intensitätsklassen der Wertgefühle mitbezeichnet, freilich in wenig bestimmter Weise. Die dritte im Sinne der konstitutiven Merkmale mögliche Einteilung in momentane und länger dauernde Gefühle ist bedeutungslos.

Für die wichtigste Klassifikation der Gefühle halten wir jene nach der  Art des Inhalts,  an welche sich das Gefühl knüpft. Von diesem Standpunkt aus erhalten wir die Klassen:  "Empfindungsgefühle"  und  "Denkgefühle".  Gefühlsgefühle und Wollungsgefühle, von welchen ALOIS HÖFLER (3) spricht, glauben wir zum kleineren Teil als Empfindungsgefühle, zum größeren als Gefühle aus Gedächtnis- oder Erinnerungsvorstellungen, mithin als Denkgefühle ansehen zu sollen. Wir behalten uns vor, an späterer Stelle timologisch belangvolle Beispiele für Empfindungs- und Denkgefühle zu liefern.

Eine weitere berechtigte Einteilung der Gefühle im allgemeinen ist die nach der Erscheinungsform in aktuelle und dispositionelle, womit die timologischen Klassen der  aktuellen und dispositionellen Wertgefühle  zusammenfallen.

Als letzte Einteilung führen wir jene an, welche den drei Wertgebieten entspricht, doch soll die Charaktersierung der  autopathisch, heteropathisch  und  ergopathisch  wirksamen Gefühle einem späteren Punkt der Untersuchung vorbehalten bleiben.

Wichtig erscheint für unsere Werttheorie die Kritik der im volkstümlichen und wissenschaftlichen Denken eingebürgerten Einteilung der Gefühle in  niedere  und  höhere,  welcher auch eine Sonderung der Wertgefühle in niedere und höhere - qualitativ verstanden - angepaßt zu werden pflegt. Regelmäßig werden hierbei die leiblichen Gefühle für die niedrigeren, die sogenannten geistigen für die höheren erklärt. Die Frage, ob und inwiefern qualitativ höhere und niedere Gefühle anzuerkennen sind, ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil von ihrer Beantwortung alle quantitative Wertbestimmung (auch im übertragenen Sinn) und damit die Möglichkeit der Aufstellung von Wertformeln direkt abhängt. Wir wollen die aufgestellte Frage zunächst im Hinblick auf die Lustgefühle näher ins Auge fassen.

Alle Denker, welche sich mit der Behauptung der  Ursprünglichkeit  einer Wertdifferen innerhalb der Lustgattungen eingehend beschäftigten - von EPIKUR bis FECHNER - haben an der psychologischen Berechtigung einer solchen These Anstoß genommen. Woher soll, fragten jene Denker mit Recht, ein inneres Kriterium für jene Klassifikation stammen, da doch Lust und Unlust psychische Grundphänomene sind, welchen gegenüber alle anderen Bestimmungsgründe als Posteriora und Derivativa gelten müssen. Wenn es gelänge, die erwähnte Scheinqualität in Quantität (Intensität mal Dauer) aufzulösen, so würde dies jedenfalls dem Forschungsprinzip der Ökonomie im Beschreiben und Erklären entsprehen und der Wissenschaft damit ein Dienst geleistet werden.

Uns scheint in der Tat der Versuch (welchen zuerst PALEY unternahm), die vermeintliche timologische Qualität der Lustgefühle als solche auf quantitative Elemente zurückzuführen, keineswegs fruchtlos. Vor allem ist daran zu erinnern, daß rein psychologisch die Scheidung von geistiger und leiblicher Lust der Berechtigung entbehrt. Die Selbstbeobachtung zeigt psychisch nichts als eine gleichartige stärkere oder schwächere Lust, gebunden an verschiedenartige stärkere oder schwächere Lust, gebunden an verschiedenartige Inhalte oder Anlässe. Die Anlässe können Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteile, Schlußakte, können alle Arten körperlicher Eindrücke und Zustände sein. Klassifiziert man die Lüste nach den Anlässen ihrer Entstehung, so bringt man ein Element hinzu, welches jedenfalls nicht zu den konstitutiven Merkmalen der Gefühle selbst zählt. Rein phänomenal gibt es  nur seelische Lust  (oder, ungenau ausgedrückt, geistige Lust) und keine körperliche. Woher stammen aber dann die Gleichungen höhere = geistige = vorzugswürdige und niedere = leibliche = nachsetzungswürdige Lust? Wir glauben aus dreierlei Quellen:
    1. Assoziative Verknüpfungen mit  ethischen Gesichtspunkten  sind es vor allem, welche hier irrigerweise als ursprüngliche Qualitätsmerkmale gedeutet werden.

    Es ist eine populäre Meinung, daß bei Menschen. weöcje dem sinnlichen Gefühlen (speziell den nutritiven und sexuellen) eine überwiegende Bedeutung im Vergleich zu den sogenannten geistigen beimessen, die Neigung vorherrscht, nach egoistischen Grundsätzen zu handeln, während die "Idealisten" häufig auch die besseren Menschen seien. Hierin liegt nun freilich keine allgemeingültige Regel, aber immerhin eine grob-statistische Massenerfahrung. Auch wird gesagt: Die Lust am Wohltun und an der Kunst ist von vornherein über die Lust der Pflege des eigenen Magens zu stellen. Die Lust am Wohltun wird nämlich nicht nur nach der autopathischen Wertskala positiv bewertet, sondern vor allem nach der ethischen, vermutlich auch nach der ästhetischen, so daß für diesen Inhalt eine doppelte oder dreifache Wertschätzung im gleichen Sinn erfolgt, gegen welche der autopathische Wert der Tafelfreude weitaus zurücksteht. Auch bei der Lust an der Kunst verstärkt sich der gegebene autopathische Wert, und zwar durch das Hinzukommen eines ästhetischen Faktors. Zudem wirkt die Erfahrung mit, daß Leute mit geringer intellektueller und sittlicher Bildung fast ausschließlich an körperlichen Lüsten zu hängen und auf geistig-lustbetonte Inhalte nicht zu reagieren pflegen.

    Alle diese Assoziationen mit Wertgesichtspunkten sind durchaus wohlbegründet, allein sie bedeuten kein konstitutives, d. h. zum ursprünglichen Wesen gehöriges Qualitätsmerkmal der einzelnen Lustgattung. Jede Lust, rein als Gefühl für sich betrachtet, entspricht einem positiven Wert und unterscheidet sich von einer anderen psychologisch nur durch Stärke und Dauer. Die Stellung eines Lustgefühls zu den drei Wertgegensätzen, seine Rolle bei Wert-Konglomerationen und Konflikten hat mit der Körperlichkeit oder Geistigkeit der zugeordneten Inhalte nichts zu tun und wird offenbar erst durch hinzutretende timologische Assoziationen bestimmt.

    2. Eine zweite Quelle der Unterscheidung höherer und niedriger Lüste ist ein eingewurzeltes  metaphysisches Vorurteil,  das geschichtlich noch vor die Orphiker und PLATO zurückreicht. Der Leib gilt als Kerker der Seele. Er ist ein Teil der sündhaften Materie, die Quelle allen Übels. Der Leib bedeutet das Gemeins am Menschen, die Seele das Göttliche. Solche metaphysische Voraussetzungen werden ausdrücklich oder stillschweigend auch auf die Lüste ausgedehnt: Die leiblichen Lüste sind sündhaft oder wenigstens eine Schwäche, die geistigen sind edel; ein Kernpunkt der asketischen Lebensauffassung. Im Wege der Suggestion teilt sich jene metaphysische Grundansicht auch heutzutage der lebensfreudigen Menge mit und wird von vielen für eine psychisch gegebene Tatsache gehalten.

    3. Nach unserer Überzeugung sind es ausschließlich  quantitative Elemente,  welche der sogenannten geistigen Lust den Primat sichern. Hierbei ist freilich als Quantität nicht eine Augenblicks-Intensität der Lust verstanden, sondern das gesamte Lustergebnis eines Inhaltes einschließlich der aktuellen und dispositionellen Folgen. Eine eingehende, wenn auch leider systemlose Durchforschung dieses Punktes verdanken wir JEREMY BENTHAM. Er lehrt in seiner "Introduction to the principles of moral and legislation" (London 1789), daß die Vorzugswürdigkeit einer Lust vor einer anderen in der Stärke, der Dauer, der Gewißheit, der Nähe, der Fruchtbarkeit in der Erzeugung weiterer Lust, der Reinheit oder Freiheit von beigemischter Unlust und der Ausdehung auf möglichst viele Personen liegen kann. Prüfen wir die geistige Lust allgemein auf diese Merkmale, so erweist sie sich (wie dies schon EPIKUR aussprach) vor allem in der Dauer, Fruchtbarkeit und Reinheit der körperlichen überlegen. Für die Tatsache, daß die maximal mögliche Intensität der geistigen Lust größer als jene der körperlichen ist, rufen wir die innere Erfahrung an. Bei der geistigen Lust pflegt der (mit der körperlichen verbundene) unlustvolle Rückschlag auszubleiben, die Dauer wird durch Erinnerung und Phantasietätigkeit verlängert, die Wiederolbarkeit ist vergleichsweise groß. An den meisten geistigen Genüssen können zahlreiche Personen teilnehmen, an den meisten leiblichen nur wenige oder einzelne. Die mächtigsten körperlichen Lüste, die sexuellen, nutritiven und narkotischen finden außerdem durch psycho-physiologische Umstände eine nicht sehr weit gezogene Intensitäts- und Dauergrenze im Gegensatz zu den Vergnügungen aus Denkinhalten, welche auch in bedeutenden Intensitäten und Längen lebensfördernd wirken, ohne schädliche Reaktionen heraufzubeschwören.
Fassen wir alle diese Vorzugsgründe der geistigen Lust im Vergleich zur leiblichen zusammen, so ergibt sich ein gesichertes Primat der ersteren  ohne  Annahme von timologisch-qualitativen Momenten. Wer solche als ein weiteres Plus anerkennen möchte, ist vor das Forum der Werttheorie und der Metaphysik zu verweisen. Psychologisch gilt unter den Gründen der Vorzugswürdigkeit der geistigen Lust einzig die sogenannte Quantität als konstitutives Merkmal, alle übrigen Aussagen (auch die BENTHAMs) stellen sekundäre Assoziationen dar.
    An dieser Stelle seien einige weitere Klassifikationen der Gefühle (ohne Absicht auf Vollständigkeit) zur Sprache gebracht.

    Der Herbartianer Nahlowsky teilt in seinem berühmten Buch über das Gefühlsleben (4) die Gefühle nach zweierlei Gesichtspunkten ein. Erstens nach dem Ton, wie er sich ausdrückt, in Lust und Schmerz, und zweitens nach den Bedingungen ihres Ursprungs, in formale (oder formelle) und qualitative Gefühle.

    Die Herbartianer verstehen unter den formalen Gefühlen solche, die durch die bloße Form der Vorstellung bedingt sind, die keine bestimmte Qualität des Vorstellens haben. Solche Gefühle sind beispielsweise die allgemeinen Gefühle der Beklemmung und Erleichterung, dann die Gefühle der Anstrengung und der Leichtigkeit, des Suchens und Findens, des Gelingens und Mißlingens, die Gefühle der Harmonie und des Kontrastes, der Kraft und Schwäche. Unter den besonderen Gefühlen erwähnt Nahlowsky: Erwartung, Hoffnung, Besorgnis, Überraschung, Zweifel, Langeweile und Unterhaltung.

    Zu den qualitativen Gefühlen rechnet Nahlowsky die niederen oder sinnlichen Gefühle, die sich an Farbe und Ton anknüpfen, und andererseits die höheren Gefühle, unter denen er die ideellen, moralischen und religiösen Gefühle begriffen wissen will.

    Eine bemerkenswerte, modern gedachte Einteilung ist die von Herbert Spencer herrührende. Spencer unterscheidet Lust und Schmerz als Grundqualitäten, von welchen die erstere bei mittlerer Aktivität, die letztere bei Untätigkeit und Überanstrengung eintritt. Da der Schmerz an zwei verschiedenartige Anlässe anknüpft, teilt er die Schmerzgefühle weiter in negative (aus Mangel an Aktivität) und positive (aus Übermaß an Aktivität) ein. (5)

    Auf völlig anderer Basis ruht die Klassifikation Wilhelm Wundts (6). Er statuiert eine dreifache Bedeutung des Gefühls im Verlauf der psychischen Vorgänge, nämlich
      1. als Modification des gegenwärtigen Zustandes, d. h. Lust und Unlust;
      2. als Einfluß auf die nachfolgenden Zustände, d. h. Erregung und Hemmung (oder Beruhigung) und
      3. als Bestimmtwerden durch den vorausgehenden Zustand, d. h. Spannung und Lösung.
    Die verschiedene Bedeutung der Gefühlsgattungen ist nach der "Ausdrucksmethode" zu bestimmen, und zwar an Hand der Pulserscheinungen. Die Beobachtung der letzteren führt zu folgendem Einteilungsschema:

    Puls
    stark schwach
    verlangsamt beschleunigt verlangsamt beschleunigt
    Lust Erregung Lösung Spannung Beruhigung Unlust


    Wir halten die hier gegebenen sechs Gefühlsklassen nicht für psychologisch zutreffend fundiert. Eine Erregung beispielsweise kann lustbetont, aber auch unlustvoll sein; warum die Beruhigung psychologisch zwischen der Spannung und Unlust figuriert, ist nicht einzusehen. Überhaupt sind weder Lösung und Spannung, noch Erregung und Beruhigung Gefühle, welche der Lust und Unlust nebengeordnet werden könnten. Physiologisch ist die Supposition der "Lösung" zu starkem, beschleunigtem Puls und jene der Unlust zu schwachem, beschleunigtem Puls mindestens sehr ungenau.

    Nicht annehmbar scheint uns ferner die Einteilung Dumonts, die sich in Frankreich großen Ansehens erfreut. (7)

    Dumont unterscheidet
      1. einen positiven Schmerz, welcher an eine zu starke Energieausgabe oder an eine zu starke Tätigkeit anknüpft, beispielsweise ein übermäßig gereiztes Ohr oder Auge, ein überanstrengter Muskel, und

      2. einen negativen Schmerz, welcher aus einer Unterdrückung der Energieausgabe oder der normalen Tätigkeit entspringen soll, worunter Dumont beispielsweise den Schmerz durch eine Wunde, aber auch Schmerz durch Langeweile, Erwartung, Mitleid, Eifersucht und alle möglichen anderen Gefühlskomplexe zält, ohne daß wir eigentlich wissen warum. Dann unterscheidet er

      3. negative Vergnügungen, die aus dem Aufhören eines positiven Schmerzes hervorgehen, z. B. die Ruhe nach der Anstrengung, das Freiheitsgefühl, die Verlangsamung des Stoffwechsels bei Genuß von Bier, Wein, Kaffee, endlich auch Heiterkeit und Enthusiasmus. Die

      4. Klasse bilden bei Dumont die positiven Vergnügungen, welche in einer Vermehrung der Erregung bestehen sollen; darunter sind die Vergnügungen aus der Beschäftigung, aus dem Geschmack und aus der Kunst verstanden.
Weit bedeutungsvoller als diese unsystematische Aufzählung erscheint uns die Einteilung Lehmanns, dem wir wohl das beste Buch über das Gefühlsleben verdanken. (8)

Nach Lehmann ist die grundlegende Klassifikation der Gefühle jene in Beziehungs- und Inhaltsgefühle. Die Inhaltsgefühle sind Gefühle, welche sich an einen Inhalt als solchen anknüpfen, beispielsweise an den Inhalt einer Gesichtswahrnehmung, einer Geschmacksempfindung oder einer Erinnerungsvorstellung; Beziehungsgefühle dagegen knüpfen an Beziehungen von mehreren Tönen, mehreren Geschmacksempfindungen, mehreren Erinnerungsvorstellungen an.

Diese beiden Hauptklassen teilt Lehmann wiederum besonders ein, und zwar unterscheidet er Beziehungsgefühle, die aus Zeit. und Stärkeverhältnissen der Vorstellung hervorgehen, wozu er z. B. Überraschung, Schreck, Verlangen rechnet, ferner Beziehungsgefühle, welche aus dem Verhältnis zwischen gleichzeitigen, verschiedene Objekte betreffenden Vorstellungen resultieren (dazu rechnet er Verwunderung, Erstaunen, Unlust aus Langeweile) und drittens Beziehungsgefühle, welche aus dem Verhältnis von Vorstellungen hervorgehen, die dasselbe Objekt betreffen; zu letzteren zählt er die Klarheits- und Unklarheitsgefühle, das Wahrheitsgefühl, das Gefühle der Leichtigkeit oder der Anstrengung des Denkens, der Erwartung, der Hoffnung und der Furcht und manche andere.

Die zweite Grundklasse, die Inhaltsgefühle, teilt LEHMANN ein in Tätigkeitsgefühle, Selbstgefühle, autopathische, ästhetische, sympathische und religiöse Gefühle.

Die Aufzählung der einzelnen Einteilungen in den neueren deutschen Psychologie-Enzyklopädien würde in diesem Rahmen wohl zu weit führen.

Wir heben nur noch eine Einteilung als eigenartig und wichtig hervor. FRIEDRICH JODL hat in seiner Psychologie den Gedanken genetischer Stufen innerhalb der psychischen Grundklassen durchgeführt und sondert das gesamte Bewußtseinsleben in drei Charaktere, die durch die Namen "Sinnenleben, Vorstellungsleben, Gedankenleben" oder "Sensation, Assoziation, Reflexion" oder "präsentatives, repräsentatives, reflexives Bewußtsein" zu bezeichnen sind. (9) Im Anschluß daran unterscheidet JODL Gefühle der primären Stufe (sinnliche Gefühle, ästhetische Elementargefühle), Gefühle der sekundären und tertiären Stufe (Formalgefühl, Persongefühl, komplexe ästhetische und ethische Gefühle). Doch bezieht sich diese Einordnung bei Gefühlen (wie bei Wollungen) lediglich auf ihr Auftreten innerhalb der genetischen Stufen. "Alle Gefühlserregungen und Willensakte sind primäre Phänomene."

19. Bevor wir auf die Darstellung der eigentlichen Wertgefühls-Gesetze eingehen, obliegt es uns, in einigen Worten den Umfang und Inhalt der einzelnen Hauptklassen der Gefühle anzudeuten. An dieser Stelle auch nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Gefühlspsychologie zu liefern, kann naturgemäß nicht unsere Aufgabe sein.
    a)  Empfindungsgefühle  und sinnliche Gefühle sind genau dasselbe, sofern man die unberechtigte Einschränkung des Begriffs der Sinnlichkeit auf  periphere  Eindrücke ablehnt.
Die Empfindungsgefühle, die wir beim Antasten von weichem Samt, bei Hauptverletzungen, beim Übergang aus eisiger Luft in ein mäßig erwärmtes Zimmer, bei den Tätigkeiten des Schwimmens und Wanderns erleben, können als typische Beispiele für das Gebiet der sogenannten niederen Sinne gelten. An "höhere" Sinnesempfindungen geknüpfte Gefühle sind beispielsweise die Lust an Geigen- und Flötentönen, die Unlust aus der Klangfarbe der Oboe, das Vergnügen an einzelnen satten Farben. Ästhetische Wichtigkeit kommt den Gefühlen zu, die sich an bestimmte Verbindungen von mehrern Tönen und Farben anschließen.

Das Lustgefühl der Hör-Harmonie entsteht bekanntlich, wenn als Inhalt die Konsonanz von Tönen oder Klängen empfunden wird. Dieser Inhalt ist psychologisch ein relativ vollkomees Aneinanderpassen oder Verschmelzen von Teiltönen im Rahmen einer Gestaltqualität, während die Dissonanz in einem Mangel jener Merkmale besteht und vom Unlustgefühl der Hör-Disharmonie begleitet wird. (Von der akustischen und physiologischen Seite des Phänomens sei hier abgesehen.) Von den Hör-Harmonie- und Disharmoniegefühlen wird der ergopathische Wert der Musik konstituiert.

Die Seh-Harmonie ist die Lust aus gewissen Verbindungen von Einzelfarben, welche simultan oder sukzessiv empfunden und in einer Gestaltqualität vereinigt werden. Nach CASTELL, CHEVREUL und BRÜCKE liefern die Farben von größter Verschiedenheit und sehr kleiner Verschiedenheit, also die Gegenfarben (Farben größten Qualitätsgegensatzes, z. B. rot-grüne, gelb-blau, weiß-schwarz), sowie die Nuancen derselben Qualität (z. B. die Reihe vom Licht- zum Dunkelgrün) harmonisch wirkende Verbindungen.

Das Nebeneinander und Nacheinander von Farben. welche außerhalb dieser Qualitätsbeziehungen stehen, wirkt mehr oder weniger disharmonisch (z. B. Fleischrosa-Gelb) (10)

Sämtliche bisherige Beispiele scheinen uns deutlich zu zeigen,  daß die Lustqualität an eine Weckung oder Steigerung der psychischen Tätigkeit  (des erlebenden Subjekts)  im ganzen geknüpft ist, während die Unlustqualität regelmäßig mit einer Herabsetzung dieser Aktivität verbunden eintritt.  Was uns am Aufhören der Erstarrung, an der lebhaften Muskelbewegung, an den frischen Farben, an der Harmonie Lust bereitet, ist im letzten Grund eine Förderung unseres psychischen Lebens, entweder durch Beschäftigung der Sinne oder Anregung des Denkens oder beider, also jedesmal ein Element der Aktivität. Hemmung der psychischen Betätigung im ganzen (bei der Verletzung, der Disharmonie) kündigt sich als Unlust an.
    b) an zweiter Stelle seien einige Beispiele von Gefühlen angeführt, welche sich an  Denkinhalte  anknüpfen. Daß bereits das Spiel mit Urteils- und Schluß-Operationen genußvoll sein kann, beweisen die Rätselliebhaber und die Schachfreunde. Zu den Denkgefühlen rechnen wir unbedingt das Evidenzgefühl, welches sich dispositionell bei allen evidenten Urteilen einstellt, aber auch aktuell werden kann, wenn evidente Urteile mit nicht evidenten oder falschen in Konkurrenz kommen. Der Eigenwert der Wahrheit geht ausschließlich auf diese Gefühle zurück. Von den Künstlern wird uns die Wonne aus der Betätigung der schaffenden Phantasie in den glühendsten Farben geschildert, und die Philosophen verkündigen durch die Tat, daß das Herausfinden und Systemisieren neuer Urteile von Lust, das Entdecken von Widersprüchen von Unlust begleitet sei. Die lebhaften Gefühle beim Genießen von Kunstwerken und beim Empfangen der wissenschaftlichen Erkenntnisse machen Kunst und Wissenschaft zu wertvollsten Gütern. Die zahlreichen, oft sehr intensiven Gefühle aus Erinnerungsvorstellungen aller Art verleihen einem wesentlichen Teil unseres Seelenlebens das emotionale Gepräge (11).
Auch auf dem Gebiet der Denkgefühle tritt bei genauer Analyse des in der inneren Wahrnehmung Gegebenen deutlich die  Beziehung der Lust zur Weckung oder Steigerung, jene der Unlust zur Unterdrückung und Hemmung der psychischen Aktvität im ganzen zutage.  Auf die timologische Bedeutung dieses empirischen Sachverhaltes wird später zurückzukommen sein.

Daß die außer und neben den aktuellen Gefühlen vorhandene dispositionelle Gefühls stimmung  (12) sowohl hinsichtlich des phänomenalen Umfangs als auch vermöge der Wirkung auf das Handelns von weitgreifendster Bedeutng für das gesamte psychische Leben ist, darf als unbestrittene Tatsache hingenommen werden.

Für die Zwecke der späteren Untersuchung der einzelnen Wertgebiet erscheinen noch folgende terminologische Feststellungen erforderlich:

Affekte  sind  aktuelle,  an assoziativ konzentrierte Bewußtseinsinhalte anknüpfende Gefühlszustände, welche in einer ungewöhnlichen Erregung oder Lähmung unseres ganzen Seelenlebens und regelmäßig auch in äußerlich wahrnehmbaren Begleiterscheinungen Ausdruck finden. Die Analyse der Affekte zeigt, daß sich dieselben zu Gegensatzpaaren ordnen lassen, von welchen timologisch am wichtigsten sind: Freude - Trauer, Hoffnung - Furcht, Zorn - Hingebung, Grausamkeit - Mitleid, Mitfreude - Neid, Frechheit - Scham. Auch Liebe und Haß können in der psychischen Form von Affekten in Erscheinung treten. Psychologisch sind die Affekte nur Steigerungsformen der Gefühle (aus Bewußtseinsinhalten, die den Assoziationsverlauf konzentrisch beherrschen) und keine Grundklasse von Erlebnissen. Es ist daher auch zutreffend, unter Absehen von der Affektsteigerung, von einem Gefühl beispielsweise des Mitleids oder der Mitfreude, zu sprechen. Eine Gruppe von Affekten ist von einer erhöhten Leichtigkeit im Empfinden, Vorstellen, Urteilen und Entschließen begleitet; bei anderen Affekten erscheint die psychische Aktivität ungewöhnlich herabgesetzt. Die äußeren Vorgänge, in welchen die Affekte zutrage treten, sind Veränderungen der Puls- und Herzbewegung (zurückgehend auf vasomotorische Prozesse), sowie Erröten und Erblassen der Haut, Funktionsdrang und Widerstand in den Extremitäten. (13) (Die kantische Einteilung der Affekte in sthenische oder kraftsteigernde und asthenische oder kraftmindernde trifft jedenfalls die hervortretendste Wirkung derselben). Von der Angabe der  differentia specifica  jedes einzelnen Affekts muß hier abgesehen werden, ebenso von der Erörterung der pathologischen Gestaltungen.

In inniger psychologischer Verwandtschaftsbeziehung zu den Affekten stehen die  Leidenschaften.  Es sind dies  dispositionelle  Seelenzustände, bei welchen eine relativ eng umschriebene Gruppe von Vorstellungen vermöge ihres starken Gefühlswertes eine herrschende Rolle einnehmen und auf das Handeln eine einseitig übermächtige Wirkung üben. Die wissenschaftliche Ordnung der Leidenschaften hat sich der Klassifikation der einseitig bewerteten Güter anzupassen.

Bei dem Versuch einer solche Ordnung stellt sich die Erkenntnis ein, daß neben den gewöhnlich allein beachteten autopathisch und ethisch unwerten auch manche positiv wertbesitzende Leidenschaften vorhanden sind. Daß jedoch die unwerten Leidenschaften jedenfalls an Zahl und Bedeutung überwiegen, erklärt sich aus dem Umstand, daß jede Leidenschaft in der  einseitig  übermächtigen Wirkung einer speziellen Vorstellungsgruppe zutage tritt und daher das "seelische Gleichgewicht", dessen Wirkungswert nicht gering zu schätzen ist, stören muß.

Ein weiteres Eingehen auf diese Tatbestände ist durch den Zweck unserer Untersuchung nicht gefordert.

20.  Die Beziehungen der Wertgefühle zu den gewerteten Inhalten.  Wir haben bereits im ersten Teil ausgeführt, daß jedes Wertgefühl sich an eine Sinnesempfindung, eine Reproduktionsvorstellung oder eine Denkaktion als solche anknüpft, wenn auch diese Inhalte zuweilen undeutlich in Erscheinung treten.

Gegenteiliger Meinung sind solche Psychologen, welche das Bestehen isolierter Gefühle annehmen. Zu letzterer Annahme bekennt sich (oder bekannte sich wenigstens) OSWALD KÜLPE, indem er in seiner sehr verdienstlichen Schrift "Zur Theorie der sinnlichen Gefühle" (14) als Beispiel isolierter Gefühle die im Innern unseres Körpers (z. B. in den Eingeweiden) lokalisierten Schmerzen bezeichnet. Wir finden unsererseits gerade die Gefühle der Bauchgegend relativ deutlich an Empfindungsinhalte gebunden. Die Beschreibung jener Schmerzen als drückend, bohrend, brennend, stechend ... weist auf Druck- und Zug-Sinnesqualitäten hin, welche gewiß nicht auf der Hauptperipherie allein, sondern in sehr bestimmter Weise auch in inneren Fleischteilen wahrnehmbar sind. Die Nerven-Topographie stimmt mit dieser Tatsache der inneren Wahrnehmung völlig überein.

Am ehesten könnten die sogenannten Gemeingefühle hinsichtlich des fraglichen Punktes Zweifel erwecken. Allein auch diese Gefühle erweisen sich bei genauer Analyse als Begleiter von Empfindungen (Gemeinempfindungen) Wohlbehagen und Mißbehagen, Freiheits- und Kraftempfindung, an der Merklichkeitsgrenze stehende Atmungs- und Verdauungsbeschwerden usw. lassen die Empfindungsbestandteile Druck und Zug (im Innern und an der Haut), motorischer Muskelzustand, Wärme und Kälte erkennen, an welche Inhalte sich freilich meist so lebhafte Gefühle knüpfen, daß die Sinnesqualitäten im Bewußtsein zurücktreten, ohne ganz zu verschwinden. Die Inhalte des Gemeinempfindungssinnes erfahren wegen dieser in der Regel intensiven aktuellen oder dispositionellen Gefühlsbetonung eine korrelativ energische Wertung.

Es ist andererseits als Überzeugung der gegenwärtigen Psychologie anzusehen, daß umgekehrt jede Sinnesempfindung, reproduzierte Vorstellung und Denkaktion von einem aktuellen oder dispositionellen Gefühl begleitet und somit Wertobjekt ist. Diese Begleitgefühle können unter gewissen Bedingungen freilich in so geringen Stärkegraden auftreten, daß sie sich im Bewußtsein nicht aktuell geltend machen. Ihr Vorhandensein als dispositionelle Gefühlszustände wird jedoch der Psychologe aus den Wirkungen derselben auf das Handeln nachzuweisen vermögen. Denken wir an die gedrückte Stimmung des Übermüdeten, an die stille Heiterkeit bei einer erfolgreichen mathematischen Arbeit, an die Laune des Naturmenschen bei trübem oder bei klarem Himmel, und beziehen wir die Richtung des Handelns auf diese Situationen, so werden wir die Einsicht nicht abweisen dürfen, daß beim Fehlen aktueller Gefühle jedenfalls Gefühlsstimmungen (dispositionelle Zustände) als Begleitphänomene wirksam sind.

Selbst beim Erleben von Inhalten, welche (wie die Zahlenvorstellungen, die Farben oder Töne mittlerer Intensität) infolge der abstumpfenden Wirkung der Gewohnheit keine merklichen Gefühlsbetonungen mehr auszulösen scheinen, können wir aus der Willenswirkung auf Begleitveränderungen des dispositionellen Gefühlsuntergrundes schließen.

Wir halten aus diesen Gründen für eine Hypothese erster Ordnung den Satz:  Kein Wertgefühl ohne Empfindungs- oder Denkinhalt; kein Empfindungs- oder Denkinhalt ohne Wertgefühl. 

21. Es obliegt uns im Anschluß an die soeben formulierte Hypothese die Beschreibung der speziellen Beziehungen der Wertgefühle zu den gewerteten Inhalten.

Wir unterscheiden an jedem Gefühl als Merkmale
    1. eine Qualität (Lust oder Unlustcharakter),
    2. eine Intensität (Stärke, Stärkegrad),
    3. eine zeitliche Bestimmtheit (Dauer);
ferner bedarf der Untersuchung das psychologische Verhalten des Wertgefühls,
    4. bei der Erneuerung (Reproduktion),
    5. beim sogenannten Umschlag der Qualität,
    6. bei der Abfolge in gleicher und in verschiedener Qualität,
    7. bei der Mischung
    8. bei der Rückwirkung ungewollter Nebenfolgen des Handelns.
22. An erster Stelle sei die Beziehung des Inhaltes zur  Qualität  des Wertgefühls untersucht. Wir sagten an früherer Stelle: Lust tritt im allgemeinen als Begleiter einer augenblicklichen Förderung der Lebensvorgänge in Seele und Leib, Schmerz als Begleiter einer augenblicklichen Hemmung dieser Vorgänge auf.

Über die zukünftige Nützlichkeit oder Schädlichkeit eines gegebenen Inhalts weissagen die Gefühle nichts, aber infolge der natürlichen Anpassung der Lebewesen an ihre Existenzbedingungen wirkt das Lusterregende sehr häufig auch in der Folgezeit nützlich und das Unlusterregende schädlich.

Einzelne Ausnahmen von dieser empirischen Regel sind wohlbekannt. Kohlenoxydgas riecht wenig unangenehm, Blausäure ist fast geschmacklos, Bleizucker sogar süß, und doch bedeuten diese Stoffe gefährliche Gifte. Andererseits können schlechtschmeckende Medikamente für die Folge sehr nützlich befunden werden. Die Revision zeigt, daß es die sogenannten niederen Sinne sind, welche beim Menschen die am wenigsten verläßlichen Warner vor Schädlichkeiten abgeben. Bei den meisten Tieren ist dies keineswegs der Fall. Kühe sondern die schädlichen Kräuter mit Sicherheit nach dem Geruch und Geschmack, und Gemsen wittern den Feind aus weiter Ferne. Der Mensch ist offenbar für seinen Schutz und Vorteil vorwiegend auf Gesicht und Gehör, vor allem aber auf die Intelligenz angewiesen.

Als Ausnahmen werden auch die Fälle der künstlichen Adaption an Alkohol, Nikotin und Arsen angeführt, mit welchen Giften eine kurzwährende Förderung der seelischen und leiblichen Aktivität auf Kosten der Gesamtsumme an psychischer und organischer Energie bestritten wird. (15)

Wir fassen unsere bisherige Beschreibung in der Erfahrungsregel zusammen:
    Lustqualität knüpft sich im allgemeinen an geistig und leiblich lebensfördernde Inhalte, Unlustqualität an lebenshemmende Inhalte. Die Ausnahmen von dieser Regel beruhen auf Unvollkommenheiten der Anpassung. 
Nicht leicht zu beantworten ist die Frage, welcher Prozeß oder Zustand eigentlich unter der Förderung, beziehungsweise Hemmung der Lebensvorgänge zu verstehen sei. Wir antworten: Physiologische Lebensförderungenn stellen sich ein, wenn die äußeren und inneren Reize in den Organen nicht mehr, aber auch nicht weniger Nervenkraft (chemische Energie) verbrauchen, als die Ernährung und der Kreislauf dem gereizten Körperteil zuführt (Ansicht ALFRED LEHMANNs) (16). Bei einem Übermaß oder Untermaß von Energieverbrauch tritt Unlust ein. Das psychische Gegenstück zur Nervenkraft ist hierbei die Fähigkeit, bewußt zu empfinden und zu denken.

Die induktiven Instanzen für die soeben entwickelte Ansicht liegen in der alltäglichen Erfahrung. Während bei einem Gesundenn ein mäßiger, lustvoller Spaziergang annähernd den gleichen Verbrauch an Energie bedingt, als Ernährung und Kreislauf zuführen, wird eine schmerzhafte Wunde oder ein Abszess stets mit einer Störung dieses Gleichgewichts verbunden sein. Alle überreizten Sinnesorgane verbrauchen mehr Kraftvorrat, als leicht ergänzt werden kann.

Für den geistig Entwickelten gibt es erfahrungsmäßig nichts Genußreicheres als die Entfaltung und Betätigung seiner intellektuellen Kräfte innerhalb der Grenzen der Krafterneuerung. Dagegen ist für ihn der Zustand erzwungener Inaktivität des Geistes mit lebhafter Unlust verknüpft.

Beim Sträfling stellen sich, sofern er zur dauernden Untätigkeit verhalten ist, alsbald unlustvolle psychische und physische Störungen ein, da die geringe geistige und leibliche Aktivität im Mißverhältnis zur angesammelten intellektuellen und leiblichen Spannung steht. Die Lust aus der Reihe nach überstarker Betätigung entspringt aber der psychischen und physischen Funktion der Kräfteerneuerung, die gleichfalls als aktives Verhalten anzusehen ist.

Wir dürfen daher den allgemeinen Satz für empirische voll gesichert erachten:  Ein lebensfördernder Inhalt ist derjenige, welcher die Entfaltung und Betätigung der psychischen und physischen Kräfte im ganzen, d. h. innerhalb der Grenzen der Kräfteerneuerung steigert. Inhalte welche diese Aktivität aufheben oder herabsetzen, sind lebenshemmend. 

Die Prüfung der von uns angeführten Fälle ergibt auch die Ungenauigkeit oder Unrichtigkeit einiger anderer Theorien über das Verhältnis von Lust und Unlust zu den zugehörigen Inhalten.

Ungenau ist die Darstellung des Sachverhaltes, wenn gesagt wird, daß Lust bei mäßiger Tätigkeit der Sinne, des Geistes oder des Leibes, dagegen Unlust bei zu schwacher oder zu starker Tätigkeit eintrete. (17)

Direkt unhaltbar erscheint uns die Lehre DUMONTs, daß Lust eine Vermehrung der Spannkraft, Unlust eine Verminderung derselben bedeutet, weil die Gefühlsqualität nicht die Menge des Zuwachses oder Abganges an Energie, sondern das  Verhältnis  zwischen Verbrauch und Erzeugung von Energie zum physiologischen Korrelat hat.

Ebenso unrichtig ist die verbreitete Lehre, daß das Gefühl nur ein  Gesamt zustand des Organismus oder des Geistes sei und daß jede Lust oder Unlust als eine Summe von "Organempfindungen" aufzufassen sei. (CARL LANGEs Ansicht) Eine solche Theorie wird weder dem psychologischen Tatbestand gerecht, daß das Gefühl eine elementare Grundseite der Erlebnisse ist, noch entspricht sie der physiologischen Erfahrung über die Funktion der sensorischen Nervenzellen.

23. Das positive Wertgefühl, das den Geruch einer kleinen Hollunderknospe begleitet, wird vom Genuß beim Durchschreiten einer blühenden Fliederalle übertroffen; eine ausgiebige Erfrischung in der sommerlichen Hitze ist stärker lustbetont als eine unbedeutende Kühlung. Allein sowohl der Geruch als die Abkühlung kann einen Stärkegrad erreichen, bei welchem die anfängliche Befriedigung von Unlust abgelöst wird. Andererseits muß ein Duft oder eine Hitzeabnahme eine gewisse Minimalintensität aufweisen, um überhaupt eine aktuelle Bewertung zu finden.

Die Unlust aus einer quälenden Vorstellung kann sich bei fortgesetzter Verdeutlichung derselben steigern, bis eine gewisse psychische Stumpfheit dem weiteren Gefühls-Intensitätszuwachs Einhalt tut.

Weitere Erfahrungsfälle dieser Art, welche sich auf das Verhältnis des  Wertgefühls zur Intensität des gewerteten Inhaltes  beziehen, lassen sich augenscheinlich in größter Zahl beibringen und liefern die Instanzen für folgende induktive Verallgemeinerungen:
    1.  Nur solche Inhalte, welche die Intensitätsschwelle überschreiten, d. h. bereits in ihrer Stärke merklich sind, werden von aktuellen Wertgefühlen begleitet.  (18)  Untermerklich  schwache Inhalte können sich jedoch in der Stimmung als Wertelement geltend machen.

    2.  Gefühlsstärke wächst im allgemeinen bei Zunahme der Intensität des gewerteten Inhalts nach gewissen Gesetzen bis zu einem bestimmten Höhepunkt an;  von diesem Punkt an bleibt die Unlust annähernd gleich, wird "stumpf" und erhält in der Bewußtlosigkeit ihren Abschluß; die Lust dagegen wird vom Höhepunkt an von einer (sich rasch steigernden) Unlust verdrängt. (19)
Für das Stärkerwerden von Lust und Unlust nach Maßgabe der Intensität des Inhaltes bis zum Höhepunkt scheint  ein dem Weber'schen ähnliches Gesetz  zu gelten.

Die Berechtigung zur hypothetischen Annahme eines solchen Gesetzes kann aus der Analyse folgender Erfahrungstatsachen geschöpft werden:

Das positive Wertgefühl, welches ein Unbemittelter bei einer kleinen Erbschaft erlebt, wird sich bei einem Reichen nicht einstellen, wenn er den arithmetisch gleichen Vermögenszuwachs erlangt. Es ist zu vermuten, daß der für eine bestimmte Freude erforderliche Zuwachs an Glücksgütern mit der Menge der bereits im Besitz des Wertenden befindlichen Güter wächst. (20) Daß der vom gleichen Lustzuwachs begleitete Güterzuwachs stets denselben Bruchteil des vorhandenen Güterbesitzes bildet, kann freilich nur vermutet werden. Für die Unwertschätzung der Güter-Abnahme gilt das gleiche Beziehungsgesetz in der Gestalt: Die ein bestimmtes Unlustausmaß bewirkende Abnahme von Glücksgütern ist in ihrer Größe von jenem der vorhandenen Gütermenge direkt abhängig. Je größer andererseits die vorhandene Gütermenge ist, desto kleiner ist im allgemeinen (unter Absehen von Kontrasteinflüsen) das Unlustausmaß, welches der Abgang einer bestimmten Teilmenge bewirkt. Im gleichen Sinn vollzieht sich die Wertung von Unlust-Zuwächsen. Bei lebhaftem Unglücksgefühl bedarf es weit intensiverer schmerzbringender Inhalte, um eine Verstärkung der Unlust herbeizuführen, als bei leichter Verstimmung. Großes Glück und großes Unglück macht gegen Zuwächse an Gütern, bzw. Übeln stumpf. [...]

24. Die alltägliche Erfahrung lehrt uns, daß die Wertgefühle einerseits mit der  Dauer  der zugehörigen Inhalte in gesetzmäßiger Beziehung stehen, andererseits zu ihrem Vollbewußtwerden eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Das Ergebnis der Induktion liegt in folgenden Gesetzen.
    1.  Nur solche Inhalte, welche die Dauerschwelle überschreiten, d. h. bereits in ihrer zeitlichen Bestimmtheit merklich sind, rufen aktuelle Wertgefühle hervor. Untermerklich kurz währende Inhalte können sich jedoch in der Stimmung geltend machen.  Damit das Gefühl seine endgültige Beschaffenheit gewinnt, bedarf es einer gewissen (nicht allgemein bestimmbaren) Zeit, welche scheinbar weit länger ist, als die Empfindung zum Bewußtwerden braucht, d. h. die Dauerschwelle des vollendeten Gefühls liegt für die naive Empirie höher als die der Empfindung. Zur Jllustration dieses Satzes mögen einige Erfahrungsbeispiele dienen. Die Unlust aus Verwundungen oder aus Zorn erregenden Vorfällen, der Vollgenuß aus einer Musikaufführung bedürfen einer gewissen Zeit, um ihre charakteristische Art und Stärke zu erlangen. Daß jedoch das Wertgefühl  nur scheinbar  beträchtlich später bewußt wird als der zugehörige Inhalt, stellen wir durch folgende Betrachtungen klar. Man denke sich die Druck- und Zugempfindungen aus einer Verwundung in zwei Stadien  t1  und  t2  zerlegt, von welchen das erstere aktuell-gefühlsfrei, das letztere aktuell-schmerzbetont ist. Eine differenzierende Analyse der beiden Stadien ergibt, daß die Teilempfindung  t2 durch beträchtlich gewordene organische Störungen  von  t1  unterschieden ist und daher als eine qualitativ andere gelten muß. Die Teilempfindung  t2  ist jedoch sofort bei ihrem Bewußtwerden auch aktuell schmerzbetont, was  t1  mit ihrem relativ ärmeren Inhalt (abgesehen von korrelaten unterbewußten Stimmungsänderungen) nicht gewesen war. Die qualitative und auch zeitliche Verschiedenheit von  t1  und  t2  nötigt,  t2 als eigene neue  Empfindung anzusehen, deren Begleitgefühl sich gleichzeitig mit dem Bewußtwerden des Inhalts einstellt. Allgemein behaupten wir aufgrund dieser Erwägungen: Die bisher anerkannt gewesene Lhre vom verspäteten Eintreten des Gefühlstons eines Empfindungs- oder Denkinhaltes beruth auf einer unzureichenden psychologischen Analyse. (21)  Wertgefühl und Inhalt treten gleichzeitig ins Bewußtsein. 
Daß zur Dauer des gegebenen Inhalts auch die Qualität der zugehörigen Wertgefühle in Abhängigkeit steht, beweisen Erfahrungen wie die folgenden: Der stets gleichbleibende, lang andauernde Ton einer Dampfpfeife oder eines Nebelhorns, das Einerlei des gleichförmig grauen Himmels, das endlose Plappern eines witzelnden Gesellschafters wirkt auf die Dauer unlusterregend, auch wenn diese Inhalte ursprünglich angenehm empfunden wurden. GOETHE sagt treffend, nichts sei schwerer zu ertragen, als eine Reihe von schönen (!) Tagen. Auf intellektuell höheren Gebieten finden wir denselben Tatbestand. Der immer süße MENDELSSOHN, der leiernde Hexameter VOSSENs, das Lob der Speichellecker werden schließlich peinlich. Der Sozialist FOURIER beweist Beobachtungsgabe, indem er in seinem  Phalansterium  der "Schmetterlingsleidenschaft" des Menschen durch entsprechenden Wechsel der pflichtmäßigen Beschäftigung jedes Einzelnen Rechnung trägt. Daß andererseits eine zu rasche Abfolge differenter Inhalte ermüden und damit negativ wertbeeinflussend wirkt, braucht nicht ausführlich belegt zu werden. Wir induzieren aus dem angedeuteten empirischen Material die Sätze:
    2.  Bei andauerndem Bewußtbleiben eines gewerteten Inhalts ändert das negative aktuelle Wertgefühl seine Qualität nicht, wird jedoch an einem bestimmten Grenzpunkt stumpf, während das aktuelle Lustgefühl nach Erreichung des Umschlagspunktes von interkurrierender Unlust verdrängt wird.  Diese Regel tritt im Leben nur deshalb in eingeschränktem Maß zutage, weil - nach dem allgemeinen Beziehungsgesetze - bei längerem Mangel an Wechsel alle Empfindungs und Denkinhalte die Neigung haben, ins Unterbewußtsein einzugehen. Auch wird das Gefühl bei langer Dauer der Inhalte schon deshalb rasch stumpf, weil sich allerlei Ablenkungen der Aufmerksamkeit einstellen und die neuen Inhalte auch neue Gefühlstöne bringen.
Als "Wechsel" ist in diesem Zusammenhang sowohl die merkliche Veränderung der Qualität als jene der Intensität des Inhaltes anzusehen.

Die Erfahrung lehrt, daß die mäßig rasche Abfolge qualitativ und intensiv differenter Inhalte auf die Dauer und Stärke der positiven Wertgefühle fördernd einwirkt. (Das diesen Fall einschließende Kontrastgesetz, sowie der Rhythmus werden an späterer Stelle zur Behandlung kommen.) Ein sehr rascher Wechsel verschiedener Inhalte ist andererseits von negativer Wertbedeutung.

In anderer Beleuchtung werden diese empirischen Gesetze anläßlich der Erörterung der Wiederkehr der Wertgefühle zu formulieren sein.

Die soeben besprochenen Beziehungen von Gefühl und Inhalt führen auf ein altes, vielumstrittenes Problem, ob und inwiefern von einer  Quantität des Gefühls  gesprochen werden kann. Quantität im Sinne der physischen Erscheinungswelt kommt den psychischen Phänomenen als Merkmal nicht zu. Bei Lust und Unlust kann daher der Begriff  Quantität  nur in übertragner, bildlicher Bedeutung verwendbar sein. Unter diesem Vorbehalt verstehen wir unter der  Quantität des Gefühls das gedachte Produkt aus Intensität und Dauer.  Die Heranziehung des Quantitätsbegriffs bei der Beschreibung und Erklärung der Werterscheinungen erfordert jedenfalls besondere logische Vorsicht. Der Quantitätsbegriff stellt sich als Bedingung von  timologischen oder Wertformel  dar, von welchen im VII. Teil zu handeln sein wird.

25.  Einige besondere Gesetze des Wergefühlslebens.  Eine Reihe wichtiger Einzelfragen gruppiert sich um das Problem der  Reproduktion der Wertgefühle. 

Während die nächste Vermutung dahin geht, daß Gefühle (in analoger Weise wie Empfindungs- und Denkinhalte) selbständig erneuert und durch Phantasiefunktion nacherzeugt werden können, lehrt die genaue Analyse reproduzierender Wertungsfälle, daß eine getrennte Wiedererweckung von Gefühl und Inhalt nicht stattfindet. Als Ausgangspunkt für den Nachweis dieses Sachverhaltes wählen wir einige typische Erfahrungsbeispiele.

Wenn ein heimgekehrter Pilger willens ist, das Gefühl, welches ihn beim ersten Anblick der Peterskirche gefangen nahm, zu reproduzieren, so führt ihn nur der Weg ans Ziel, sich die Empfindungen und Gedanken in jenem Zeitpunkt möglichst genau vorzustellen, wobei sich die damlas aufgetauchten Wertgefühle von selbst wieder einfinden. Das erneuerte Gefühl wird umso intensiver und qualitativ bestimmter sein, je konkretere, reichere und inhaltlich schärfere Bilder und Assoziationskonnexe das Gedächtnis liefert (22).

Ein illustrierte Zeitung spekuliert richtig auf das Emotionsbedürfnis ihrer Leser, wenn sie eine Mordtat mit allerlei relevanten Einzelheiten im Bild zur Anschauung bringt. Der Leser reproduziert mit dieser Hilfe das Geschehnis viel genauer, als er es sonst vermöchte, und verstärkt damit seine (dramatisch wirkenden) Schreckgefühle. - Am Ende bewegt sich auch die Darstellungskunst des echten Dichters und Malers in prinzipiell ähnlichen Bahnen.

Wir fassen das Gemeinsame der Fälle solcher Art in die Sätze zusammen:
    Die Möglichkeit einer Reproduktion von isolierten Wertgefühlen kann nicht angenommen werden.  Wertgefühle werden vielmehr in der Weise wiedererzeugt, daß die zugehörigen Inhalte erneuert werden, an welche sih die früher damit verbunden gewesenen Gefühle einstellen.  (23) Die Lebhaftigkeit der indirekt reproduzierten Gefühle wächst mit der Genauigkeit der Reproduktion der zugehörigen Inhalte.
Es darf andererseits als allgemeine Regel gelten, daß die aktuellen Wertgefühle bei jeder folgenden Reproduktion an Intensität und qualitativer Bestimmtheit einbüßen und sich schließlich bis zur Unmerklichkeit abstumpfen, ohne ihre dispositionelle Bedeutung zu verlieren. Die Akte des täglichen Lebens, wie wichtig sie auch für unsere Wohlfahrt sein mögen, werden erfahrungsgemäß frühzeitig zu wenig betonten mechanischen Verrichtungen. Wird aber einmal ein fleißiger Beamter in Pension versetzt, so fühlt er sich alsbald unzufrieden. (Wir kannten einen Pensionisten, dem es ein Gefühlsbedürfnis war, wenigstens täglich mehrmals um das Amtsgebäude zu gehen.) Allgemein dürfen wir sagen:
    Die oftmalige Wiederholung genau desselben gewerteten Inhalts führt zur Abstumpfung des aktuellen Wertgefühls. Den Einfluß solcher Inhalte auf die Stimmung beweist der Umstand, daß eine Störung des Gewohnten (sofern es nicht merklich unlustbetont war) mit aktueller Unlust verbunden ist.
Dagegen ist die  rhythmische Wiederholung  einer Reihe von Inhalten (sofern dieselben nicht merklich unlustbetont waren) eine reiche Quelle der Lust. Unter Rhythmus verstehen wir die festgeordnete Wiederkehr von Inhalten gleicher Modalität, sofern Zeit und Ordnung der Wiederkehr im Bewußtsein zusammgengefaßt werden. Bereits das Klappern der Mühle und die rhythmische Tanzbewegung werden mit Vergnügen wahrgenommen; höhere Wertgefühle löst das Ornament (rhythmische Formen- und Farbenreihen, welche der Blick durchläuft) und der Reim aus. In einem übertragenen Sinn kann auch von einem Rhythmus der täglichen Beschäftigung gesprochen werden, an welchen der einfache Mensch nicht geringen Wert knüpft.

26. An dieser Stelle unserer Untersuchung bedarf die bereits hervorgehobene Erscheinung des sogenannten Gefühlsumschlags einer zusammenfassenden Formulierung vom Standpunkt der Werttheorie. Unsere beiden Umschlagsregeln lauten:
    a) Das Unlustgefühl behält die Qualität, wie sehr auch die Stärke oder Dauer des gewerteten Inhalts wächst, bis die Bewußtlosigkeit dem aktuellen Zustand eine Grenze setzt.

    b) Das Lustgefühl behält die Qualität, wie sehr auch die Stärke oder Dauer des gewerteten Inhaltes bis zu einem bestimmten Wendepunkt und nimmt dann im Wege der Mischung oder Oszillation rasch ab; bei weiterem Wachsen der Stärke oder Dauer wird die Lust am Umschlagspunkt von interkurrierender Unlust verdrängt, die rasch zunimmt.
Wenn hier von einem Unlustgefühl gesprochen wird, daß es die Qualität behalte, so gilt diese Regel ohne Einschränkung für kontinuierliche, an den primären Inhalt gefesselte Zustäne, wie sie sich beispielsweise bei einer Überreizung von Organen oder bei mechanischer Verletzung des Trigeminus einstellen. Die sogenannten geistigen Schmerzen werden jedoch nicht selten von fremden lustvollen Inhalten unmittelbar abgelöst. Allbekannt ist der eigentümlich erleichternde Zustand der Wehmut nach dem Verlust eines teuren Wesens und das befreiende Lachen, das oft unmittelbar an die Stelle dumpfer Verzweiflung tritt. Solche Ereignisse bilden insofern ein Gegenstück zum Umschlag der Lust, als bei ihnen das Wissen vorhanden ist, daß der lusterregene Inhalt zum vorher gewerteten in keiner qualitativen Beziehung steht.

Andererseits lassen sich gewisse geistige Freuden (über erfolgreiche Forschung, Sieg, Ehre) aufzählen, welche bei Zunahme der Intensität und Dauer wohl einer Abstumpfung unterliegen, aber nicht eigentlich in Unlust "umschlagen" - offenbar deshalb, weil die betreffenden Inhalte von einer qualitativen Beschaffenheit sind, die den Eintritt interkurrierender Unwertinhalte nicht begünstigt.

Die angegebenen Regeln sind, wie die vorstehenden Bemerkungen zeigen, für den Fall extremer Stadien formuliert und berechtigten nicht, auf ein allgemeines Merkmal des Gefühls überhaupt zu schließen.

27. Das Verhalten der Wertgefühle im Hinblick auf ihre  Abfolge  in gleicher oder verschiedener Qualität und Intensität zeigt eine empirische Regelmäßigkeit (mit dem Merkmal des Notwendigen), welche in den allgemeinen und besonderen  Beziehungsgesetzen  Ausdruck findet.
    a) Das  allgemeine Beziehungsgesetz  der psychischen Erscheinungen nimmt bei den Wertgefühlen folgende Form an:
Zum Bewußtwerden eines Wertgefühls ist ein bestimmter qualitativer oder intensiver oder zeitlicher Unterschied zum vorhergehenden Gefühlszustand erforderlich. Anders ausgedrückt: Das Wertgefühl wird nur aktuell, wenn es die qualitative oder intensive oder zeitliche Unterschiedsschwelle überschreitet.

Untermerklich Wertgefühle gehen in die Stimmung nicht ein.

Die Instanzen für diese induktiven Sätze liegen in der Erfahrung, daß bei Untermerklichkeit des qualitativen Gegensatzes einerseits und bei untermerklich abgestuftem Ansteigen oder Abnehmen der Lust-, bzw. Unluststärke andererseits, das Wertgefühl für den gegenwärtigen Inhalt nicht zu Bewußtsein kommt. Jene Qualitätsschwelle wird offenbar bei ethisch Feinfühligen und Künstlern weit tiefer liegen als bei beschränkten Alltagsmenschen.

Eine sehr allmähliche Verringerung des Frostes in den Gliedern oder eine Vermehrung des Vergnügens aus einer Lektüre wird erst dann bemerkt, wenn durch eine zeitliche Unterbrechung der Zustandsreihe das Eintreten einer Erinnerungsvorstellung an einen hinreichend differenten früheren Zustand ermöglicht. Das Unterscheiden des gegenwärtigen vom früheren Zustand ist sodann von einem aktuellen Wertgefühl begleitet.

Da das psychische Leben (im Wachzustand wenigstens) ein Kontinuum darstellt, so ist ein merklicher  zeitlicher Abstand  zweier Gefühle voneinander nur durch das Dazwischentreten eines dritten Gefühls von differenter Beschaffenheit gegeben, worauf durch Vermittlung der Reproduktion das frühere und spätere Gefühl zur Unterscheidung gelangen können.
    b) Als  besondere Beziehungsgesetze  des Wertgefühlslebens finden wir:

    1. Das Kontraststeigerungs- und Abstumpfungsgesetz
    2. das Gesetz für Reihen-Gesamtwerte
    3. das Wertgesetz für Endgefühle
    4. die Mischungsgesetze>

    1. Wir betrachten zunächst das  Kontrastgesetz  für Wertgefüle anhand der Erfahrung. Auch dem ungelehrten Menschen ist die Tatsache wohlbekannt, daß Lust durch den Gegensatz zu vorangegangener Unlust an Lebhaftigkeit gewinnt und umgekehrt eine Unlust nach Lust intensiver auftritt. Der Genuß aus der Auflösung einer Dissonanz in der Musik, die überschwängliche Bewunderung eines ethischen Märtyrers inmitten allgemeiner Verderbnis beruth auf einem solchen Qualitätskontrast. Ein gutes Wort kann bei einem Unglücklichen eine überraschende Wirkung hervorbringen.
Die volkstümliche Wendung "ein Schlag aus heiterem Himmel" und das berühmte "nessun maggior dolor che ricordarsi del tempo felice nella miseria" [Kein größerer Schmerz als sich erinnern glücklich heiterer Zeit im Unglück. - wp]drücken gleichfalls Erfahrungen über die Wirkung von vorhergehenden Gefühlen entgegengesetzter Qualität auf die Stärke der nachfolgenden aus.

Daß andererseits die Intensität vorangegangener Gefühle gleicher Qualität die Stärke der gegenwärtigen beeinflußt, beweisen zahlreiche Vorfälle des täglichen Lebens. Die Freuden des Mannes aus dem Volke gewinnen durch den Hintergrund der wenig lustvollen Arbeitstage eine Bedeutung, welche dem blasierten Glückskind (abgesehen von der Art des gewerteten Inhalts) unbegreiflich erscheint. Auf der Unlustseite zeigen sich entgegengesetzt wirkende Einflüsse. Der auf ein Todesurteil gefaßte Verbrecher wird durch die Verkündigung seiner vieljährigen Kerkerstrafe nur wenig erschüttert. Wenn sich aber ein Familienvater durch Zufälle gezwungen sieht, die bisherige Einschränkung zu verdoppeln, wird er sich weit unglücklicher fühlen, als  ceteris paribus  [unter vergleichbaren Umständen - wp] ein anderer, der von jeher mit so geringen Mitteln zu wirtschaften genötigt war.

Aus den Erfahrungen dieser Art induzieren wir folgende  Kontrastgesetze für Wertgefüle: 
    a)  Ein Wertgeühl gewinnt an Stärke, wenn es auf ein anderes von entgegengesetzter Qualität folgt.  (Intensitätssteigerung durch sukzessiven Qualitätskontrast)

    b) ein positives Wertgefühl verliert an Stärke, wenn es auf stärkere Lust folgt, und wird durch vorausgehende schwächere Lust gesteigert; ein negatives Wertgefühl erfährt durch vorherige stärkere Unlust eine Abschwächung, durch vorherige schwächere Unlust einen Zuwachs an Intensität. (Intensitätssteigerung und Abstumpfung durch sukzessiven Intensitätskontrast.)
Ein Gefühl, das auf ein gleich intensives Gefühl derselben Qualität folgt, würde - isoliert gedacht - unverändert eintreten. Da jedoch das wiederholte Empfinden und Denken desselben Inhaltes von integrierender Ermüdung begleitet ist, so erleiden Lustgefühle bei ihrer Wiederkehr eine Abstumpfung, d. h. Intensitätsverminderung. Unlustgefühle dagegen steigern sich bei wiederholtem Eintreten deshalb, weil die den Lebensprozeß hemmende Störung interkurrierend anwächst.

Beide Kontrast-Wertgesetze gelten nur in dem Ausmaß, als das vorangehende und das nachfolgende Gefühl  unverschmolzen  in das Bewußtsein treten.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß hinsichtlich der  zeitlichen  Bestimmtheit zweier Gefühle Kontrastwirkungen in der Erfahrung nicht gegeben sind.

Die Frage, ob es bei Wertgefühlen (ähnlich wie bei Empfindungen) außer den besprochenen sukzessiven Kontrasten auch  simultane  gibt, kann dahin beantwortet werden, daß Kontraste zwischen gesonderten Gefühlen, die in denselben Bewußtseinsakt fallen, einen seltenen Grenzfall des sukzessiven Kontrastes bedeuten. In der Regel verschmelzen nämlich simultane Gefühle zu Mischzuständen, deren Qualität und Intensität durch andere Gesetze bestimmt werden.
    2. Das  Gesetz des Reihen-Gesamtwertes,  welches dem  Folgegesetz  FECHNERs entspricht, stellt sich als eine Determination des allgemeinen Kontrastgesetzes dar. Zur Aufstellung eines Gesetzes der Reihenwerte führen vorwiegend Erfahrungsfälle ästhetischer Art. Ein Drama gewinnt in der Wirkung im ganzen, wenn die einzelnen Akte fortschreitend packender werden: ein schwächliches Ende verdirbt den Gesamteindruck in unerwartetem Maße.
Für die Wertschätzung eines Inbegriffs angereihter gewerteter Inhalte ist auch die Art der Abfolge der Qualitäten von Einfluß. Wenn die unlustbetonten Reihengliede  d1 d2 d3  die lustbetonten  v1 v2 v3  in einem Komplex zusammentreten, so wird (bei der nur theoretisch möglichen Annahme gleicher Intensität aller Glieder) der Komplex eine neue, höhere, positive Wertschätzung erfahren, wenn die Anordnung im Sinne der höchsten Kontraststeigerung getroffen ist. Ein Beispiel für den letzteren Fall liefern technisch vollendete Romane (beispielsweise SCHEFFELs  Ekkehard;  NAPOLEONs Lebensgeschichte übertrifft in diesem Punkt alles künstlich Erdachte. Auch der versöhnliche Schluß einer wechselvollen Dichtung ist meist eine richtige Spekulation auf die Gesamtbefriedigung des Genießenden. (Wenn manche Autoren auf dieses Mittel verzichten, so geschiecht dies im Interesse der Mächtigkeit einer bezweckten Gemütserschütterung, welcher ein höherer Wert in einer anderen Richtung zukommen kann.)

Das Gesetz der Reihen-Gesamtwerte formulieren wir: der Gesamtwert eines aus Gliedern oder unterschiedenen Teilen bestehenden Ganzen ist von der Qualitäts- und Intensitätsabfolge der Einzelgefühle im Sinne der Kontraststeigerung oder Abstumpfung abhängig.

Das gewertete Ganze, an welchem hier das Gesetz der Gesamtwerte zutage tritt, besitzt, sofern es ein anschauliches ist,  Gestaltqualität.  Wir verstehen unter Gestaltqualität die Tatsache, daß das zwischen den Gliedern oder unterschiedenen Teilen eines anschaulichen Ganzen bestehene  Band innerer Relationen  diesem Ganzen eine  Gestalt  aufdrückt, welche als neues Gesamtmerkmal zur bloßen Summe der Merkmale aller Glieder oder Teile hinzutritt.(24)
    3. Eine weitere Determination des allgemeinen Kontrastgesetzes bedeutet für das  Wertgesetz für Endgefühle,  welches bei FECHNER als (ästhetisches) Versöhnungsgesetz bezeichnet wird. Dasselbe besagt: Das letzte Gefühl einer Reihe von Wertgefühlen ist in seiner Intensität von der Qualitäts- und Intensitätsabfolge der Einzelgefühle im Sinne der Kontraststeigerung oder Abstumpfung abhängig. Der Kunstgriff der griechischen Dramatiker, knapp or der Katastrophe eine Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang zu wecken, um sie alsbald wieder zu vernichten, erstrebt die Endwirkung der Qualitätsabfolge; dagegen benützen die Kontraststeigerng durch Anreihung immer stärkerer Gefühlsintensitäten an schwächere solche Symphoniker, welche gegen Ende des Satzes das Hauptthema in vollster Pracht und Stärke erklingen lassen. Von solchen Abfolgewirkungen weiß übrigens selbst das Kind, wenn es beim Essen die besten Stücke zuletzt genießt.
28.  Die Mischungsgesetze der Wertgefühle.  a) Wertgefühle zeigen die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen mehr oder weniger innig zu einem Gesamtzustand zu verschmelzen. Die Erfahrung lehrt, daß  gleichartige  Teilgefühle sich kumulieren können, wenn sie gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander ins Bewußtsein oder in die Stimmung eintreten. Doch ist eine solche Kumulierung nicht als arithmetische Addition zu denken, sondern erfolgt im Sinne der Beziehungsgesetze für das Gefühlsleben. Der so entstehende Gesamtzustand knüpft sich an eine Gestaltqualität.  Ungleichartige  Teilgefühle kompensieren sich nach Maßgabe ihrer Stärke, jedoch nicht im Weg einer arithmetischen Subtraktion, sondern nach den Beziehungsgesetzen. Der Kompensationszustand hat Gestaltqualität. Solche Kumulationen und Kompensationen vollziehen sich im Leben vorwiegend innerhalb der Stimmung. Die Gefühlsqualität des Gesamtzustandes wird durch das intensive Überwiegen der positiven oder der negativen Teilgefühle bestimmt.

Kumulationen und Kompensationen von Wertgefühlen (derselben Wertklasse) zu komplexen Zuständen bieten sich der inneren Erfahrung eines jeden Menschen im reihsten Maße dar. Klassische Fälle liefert die Kunst, doch fehlt es auch auf dem autopathischen und ethischen Gebiet nicht an einschlägigen Beispielen. Wenn im ersten Akt von HALBEs  Jugend  der Student an das Fenster tritt und die Gefühle aus Farben, Düften und Klängen zu einer Frühlingsstimmung verschmilzt, so liegt darin ein typischer Fall der Kumulation. Eine solche stellt sich auch beim Leser der Novelle "Der Untergang des Hauses Usher" von EDGAR ALLEN POE ein, in welcher der Dichter eine Unzahl schwacher Gefühle des Unbehagens, Ekels und Mitleids zu einem Zustand grausiger Ergriffenheit zu sammeln weiß.

Dagegen liegt in den Freuden des schuldbeladenen  Rustan  GRILLPARZERs eine Beimischung von geheimner Verzweiflung, welche mächtig kompensativ wirkt.
    b) Solche Gefühlszustände können offenbar einen sehr verschiedenen Grad von Innigkeit der Verschmelzung der Teilgefühle aufweisen, welcher zum Maße des Verschmolzenseins der Teilinhalte in der Empfindung oder Assoziation im Abhängigkeitsverhältnis steht. Ist die Verschmelzung nicht innig genug, um eine Sonderung der Teilgefühle durch willkürliche Aufmerksamkeit unmöglich zu machen, so spricht man (mit ALFRED LEHMANN) von  Gefühlsmischung.  Dagegen bezeichnet man als  Mischgefühle  solche Gesamtzustände, bei welchen die Teilgefühle auch durch willkürliches Aufmerken nicht mehr gesondert werden können. Natürlich kommen die mannigfaltigsten Übergänge zwischen diesen beiden Arten von Zuständen vor. Daß es der wissenschaftlichen oder dichterischen Analyse gelingen kann, auch bei vielen scheinbaren Mischgefühlen die verschmolzenen Teilgefühle aufzuzeigen, macht die Aufstellung eines solchen Grenzbegriffes nicht überflüssig.
Die aktuellen und dispositionellen Wertgefühle des täglichen Lebens sind wohl niemals rein einfache oder Einzelgefühle, sondern regelmäßig zusammengesetzte Gefühle, nämlich Gefühlsmischungen oder Mischgefühle mit mehr oder minder deutlicher Gesamtqualität im Sinne der Kumulation oder Kompensation. Als Beispiel einer deutlichen Wertgefühls-Mischung führen wir den Gefühlszustand eines Beamten an, welchem der Tod des Freundes die Beförderung sichert. Als Wert-Mischgefühl ist die Wehmut anzusehen. Als Gefühlsmischungen oder Mischgefühle können auch jene Zustände gelten, welche sich bei  Konfluenzen  und  Konflikten  von Wertungen desselben Inhaltes  nach verschiedener Wertklassen  ergeben, wovon später die Rede sein wird.
    c) Manche Zustände treten in einer Gefühlsmischung ähnlichen Weise ins Bewußtsein, erweisen sich aber bereits bei kunstloser Selbstwahrnehmung als  Gefühls-Oszillation,  d. h. als rascher Wechsel unterscheidbarer Gefühle. Auch zwischen diesen Oszillationen und den echten Mischzuständen finden sich unmerklich abgestufte Übergänge. Das SCHILLER'sche "Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" oder der Wechsel von Angst und Stolz, welche die zuschauende Mutter beim erfolgreichen Wettkampf ihres Sohnes fühlt, sind Beispiele von Wertgefühls-Oszillationen.
Es darf nach dem Bisherigen als außerordentlich wahrscheinlich gelten, daß der gesamte Wachzustand des Menschen von einem ununterbrochenen Fluß von Wertgefühlen begleitet ist, wobei jedes folgende Gefühl nach Maßgabe der Mischungs- und Beziehungsgesetze von den vorhergehenden Zuständen in Qualität, Stärke und Dauer beeinflußt erscheint (Hypothese der Kontinuität des Wertgefühl-Ablaufs). Der Untergrund dieses Ablaufs ist der dispositionelle Gefühlszustand oder die "Stimmung" im weitesten Wortsinn, aus welcher sich die aktuellen Gefühlsphänomene zum Bewußtsein erheben.

Als Spezialfall der Mischungsgesetze und der Kontinuitätshypothese fassen wir das  Expansionsgesetz  LEHMANNs (25) auf, demzufolge "reproduzierte Gefühle auf spätere Bewußtseinszustände influieren". Als Folgewirkung der Mischung und Abstumpfung ist die als  Verschiebung des Wertgefühls  bekannte Erscheinung anzusehen. Es ist von vielen Psychologen auf den Tatbestand hingewiesen worden, daß ein Inhalt, der ursprünglich Mittel zum Zweck war (Wirkungswert besaß), schließlich selbst zum Zweck werden kann (Eigenwert erhält). Als Musterbeispiel pflegt der Geizhals angeführt zu werden, der zuletzt das Geld als solches liebt, statt die gegen dasselbe eintauschbaren Genüsse. Wir stellen uns den Prozeß in der Weise vor, daß der Geizhals ursprünglich dem Geld nur Wirkungswert beimaß, später aber wegen der konsequenten Nichtrealisierung der eintauschbaren Eigenwerte die assoziative Verbindung der Geldvorstellung mit dem Genuß aus dem Auge verlor. Der Wirkungswert des Geldes mußte  nach Verlust  dieser Assoziation als echter Eigenwert gefühlt werden.

Eine Verschiebung des Wertgefühls liegt nach unserer Anschauung in der Unbedingtheit der Verwerfung der Lüge durch KANT. Die Lüge hat nämlich ethisch nur  Wirkungs- Unwert und bloß in dem Ausmaß autopathischen Eigenunwert, als infolge unserer psychischen Organisation erkannt falsche Urteile mit Unlust wahrgenommen werden. Wenn FICHTE der Pflicht "absoluten" Wert zuspricht, so macht auch er sich einer nicht zu billigenden Wertgefühls-Verschiebung schuldig. Wir werden weiteren Fällen von solchen Verschiebungen bei der Erörterung der einzelnen Wertgebiete begegnen.

29. Es erübrigt uns nocht die Besprechung des Verhaltens der Wertgefühle  bei der Rückwirkung ungewollter Nebenflogen des Handelns.  Bekanntlich hat WUNDT das nicht geringe Verdienst, auf ein Gesetz der  Heterogenie der Zwecke  hingewiesen zu haben. (26)

Dieses Gesetz besagt, daß bei den Handlungen des Menschen nach einem bestimmten Zweck stets noch Nebeneffekte entstehen, die zwar ursprünglich nicht gewollt wurden, aber infolge ihres Eintretens neue Zweckvorstellungen wachrufen, welche den ersten Zweck umändern und weitere Handlungen auslösen. Im Anschluß an diesen WUNDTschen Gedanken stellen wir folgendes allgemeineres  Gesetz der Heterogenie der Werte auf: 
    Bei den Willensäußerungen, welche auf die Verwirklichung vorgestellter Eigenwerte (Hauptwerte) gerichtet sind, stellen sich ungewollt infolge der Begleitumstände fremde Inhalte ein, welche Wertbetonung (Nebenwerte) mitführen. Die Nebenwerte (welche Wirkugns- oder Eigenwerte sein können) kumulieren, bzw. kompensieren sich mit dem ursprünglichen Hauptwert oder treten selbst als neue Hauptwerte an die Stelle des früheren in den Vordergrund. In diesem Gesetz erblicken wir eine wissenschaftlich nützliche Spezialisierung der von uns erörterten Beziehungs- und Mischungsgesetze, sowie der Kontinuitätshypothese.
Beispiele für Wert-Heterogenien zeigt jedes Wertgebiet in Fülle. Solche liegen vor, wenn etwa die intelligenzfördernde Wirkung einer Erholungsreise oder das gute Beispiel, das der Lebensretter gibt, oder der physiologische Einfluß der Tanzkunst-Pflege sich in einer Beeinflussung oder Verschiebung der Hauptwerte geltend macht.
LITERATUR - Josef Clemens Kreibig, Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie, Wien 1902
    Anmerkungen
    1) Man sollte es kaum für möglich halten, daß nicht wenige Physiologen die psychologische Unterscheidung der Namen Empfindung und Gefühl völlig vernachlässigen. Sie sprechen von Gemeingefühl, Muskelgefühl, Tastgefühl, ... und meinen Gemeinempfindungen, Muskelempfindungen, Tastempfindungen. Dem populären Sprachgebrauch "Lustempfindung", "Schmerzempfindung" darf in wissenschaftlichen Erörterungen jedenfalls nicht Raum gegeben werden. - - - Andererseits begegnet man in psychologischen Schriften nicht selten das sonderbare Bemühen, das Gefühl irgendwie zu definieren, als müßte man sich schämen, bei einer solchen Grundseite an der Grenze der Definierbarkeit zu stehen. Glücklicherweise sind gerade die nicht mehr definierbaren elementaren Erlebnisse das Bekannteste, das es gibt, und sie erscheinen deshalb der Definierung durchaus nicht bedürftig.
    2) Allein der Versuch des Laien, sich ungeheuer große und außerordentlich kleine Zahlen oder Räume möglichst anschaulich vorzustellen, pflegt wiederum deutlich gefühlsbetont zu sein.
    3) ALOIS HÖFLER, Psychologie, Wien 1897, Seite 387f
    4) NAHLOWSKY, "Das Gefühlsleben". Dargestellt aus praktischen Gesichtspunkten, nebst einer kritischen Einleitung, Leipzig 1862.
    5) HERBERT SPENCER, Die Prinzipien der Psychologie, Bd. 1, Stuttgart 1882, Seite 284
    6) WILHELM WUNDT, Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1897, Seite 101f
    7) LÉON DUMONT, Vergnügen und Schmerz, Zur Lehre von den Gefühlen, Leipzig 1876, Seite 145f
    8) ALFRED LEHMANN, Grundgesetze des menschlichen Gefühlslebens, Leipzig 1892. - Neue Beiträge zur Gefühlslehre bringt derselbe Verfasser in seinem Werk "Die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände", Leipzig 1899, Teil 1, Seite 104f, namentlich Seite 136
    9) FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie, Stuttgart 1896, Seite 152
    10) Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß sich der geschätzte Wiener Architekt CAMILLO SITTE vor kurzem gegen diese Farbenharmonie-Regeln ausgesprochen hat. (Zentralblatt für das gewerbliche Unterrichtswesen, Wien 1900, Seite 1f)
    11) LEHMANN hat den Begriff der  emotionellen Komplexe  bestimmt. Es zeigt sich, daß sich beim Menschen eine Anzahl von Vorstellungen und zusammengehörigen Gefühlen zu einer gewissen Einheit zusammenschließen, welche Einheit bei der Beschreibung der betreffenden Person als ein Grundzug seines Wesens hervortritt. Als Beispiel ei die Vaterlandsliebe genannt. - Daß LEHMANN nichts anderes als eine Gestaltqualität höherer Ordnung vorschwebt, ist klar.
    12) Wenn die Stimmung die Eigentümlichkeit zeigt, in relativ kurzen Intervallen und in sprunghafter Weise die Qualität zu wechseln, sprechen wir von  Laune. 
    13) Die Einzelheiten gibt CARL LANGE, Über Gemütsbewegungen, an. Eine psycho-physiologische Studie, Leipzig 1887, Seite 40 und 76 u. a.; LEHMANN, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens, Leipzig 1892, Seite 91, 95, 112, 115, 133, 139, 141f. Derselbe, "Die körperlichen Äußerungen psychischen Zustände", Leipzig 1899, Seite 104 und 136 und Z. OPPENHEIMER, Physiologie des Gefühls, Heidelberg 1899.
    14) OSWALD KÜLPE, Zur Theorie der sinnlichen Gefühle, Leipzig, Seite 21, 26, 29. Von solchen inneren Teilen sagt KÜLPE: "... es ist bekannt, daß dieselben empfindungsfrei sind, wohl aber der Sitz heftiger Schmerzen sein können".
    15) Die ausführlichste Untersuchung der Bedeutung von Lust und Unlust für die Arterhaltung und der Anpassung durch Gefühle liefert G. H. SCHNEIDER, Der menschliche Wille vom Standpunkt der neueren Entwicklungstheorien (des "Darwinismus"), Berlin 1882, Seite 15, 16, 37, 39 (hier künstliche Adaption), 177, 181 - 190.
    16) LEHMANN, Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens, Seite 156, 160
    17) Schon LOTZE hatte in seiner Medizinischen Psychologie (Leipzig 1852) die Lust an den Einklang des Reizes, die Unlust an den Widerstreit desselben mit den Bedingungen der Nervenerregbarkeit geknüpft. - - - DELBOEF, "Thérie générale de la sensibilité, Bruxelles 1876, findet im  Gleichgewicht  zwischen der Tätigkeit der Sinnesnerven und dem äußeren Reiz die Ursache der sinnlichen Lust. Andere wiederum behaupten, daß die Herstellung dieses Gleichgewichts Lust, die Störung desselben Unlust bewirke. Vgl. über diese Kontroversen, SCHNEIDER, Der menschliche Wille, Seite 177f; HORWICZ, "Psychologische Analysen III, Seite 38f. Die älteren Gefühlstheoren bespricht DUMONT, Vergnügen und Schmerz, Seite 30, 68 - 82.
    18) Diese und ein Teil der folgenden Gesetze hat als erster LEHMANN zu formulieren gesucht, a. a. O., Seite 180, 182, 204, 207, 210.
    19) Vgl. hierzu die abweichenden Ausführungen von HORWICZ, Psychologische Analysen II, 2., Seite 26
    20) Das Beziehungsgesetz für die Gefühle erörtert ausführlich HÖFFDING, Psychologie, Seite 383f.
    21) Diese Überzeugung halten wir auch HORWICZ (Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage, Bd. 1, Halle 1872) gegenüber aufrecht, welcher seine Ansicht, daß das Gefühl das psychische Grundphänomen sei, durch die Anführung von Fällen des Eintretens von Gefühlen  vor  den zugehörigen Empfindungen stützen will.
    22) Die Reproduktion von Inhalten denken wir uns nicht in der Weise, daß ein vorhanden gewesener, im Unterbewußtsein aufbewahrter Inhalt neuerdings im Bewußtsein auftaucht, sondern als aktive Erzeugung des Gedächtnisbildes, für welche die frühere Empfindung oder Denkaktion eine psychische Anlage (Disposition) geschaffen hatte. - - - Die potentielle Fähigkeit des Intellekts zu solchen Nacherzeugungen nennen wir  Gedächtnis.  Das Reproduzieren von Inhalten, welche das Merkmal aufweisen, bereits als wesentlich gleiche erlebt worden zu sein, nennen wir  Erinnern;  tritt dagegen der nacherzeugte Inhalt mit dem Charakter des Selbstgeschaffenhabens oder Selbstkombinierthabens ins Bewußtsein, so liegt ein Gebilde der  produktiven Einbildungskraft oder Phantasie im engeren Sinne  vor. Gedächtnisvorstellungen schlechthin nennen wir alle sonstigen reproduzierten Inhalte, sofern sie keines der beiden besonderen Merkmale zutage treten lassen.
    23) HÖFFDING vertritt diese Auffassung in seiner Psychologie, Leipzig 1893, Seite 335, mit großem Nachdruck.
    24) Da der Begriff der Gestaltqualität noch keineswegs die verdiente allgemeine Beachtung gefunden hat, sei uns eine kurze Bemerkung über denselben gestattet. MEINONG in Graz hat vor einigen Jahren auf die Notwendigkeit der Annahme "fundierter Inhalte" hingewiesen (Zur Theorie der Komplexionen und Relationen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 2, Seite 245f), EHRENFELS prüfte dieselben näher und gab ihnen den Namen "Gestaltqualität", den er später wieder durch die MEINONG'sche Bezeichnung ersetzte. Uns scheint der Name  Gestaltqualität  deutlicher. HÖFLER hat in seiner Psychologie diesen Begriff fruchtbringend im einzelnen verwertet (Psychologie, Seite 152f). - - - Zur Erläuterung des Begriffs seien folgende Beispiele (nach HÖFLER) angeführt: Es ist eine volkstümliche psychologische Erfahrung, daß wir eine Melodie, die wir bisher stets nur in C-dur spielen gehört hatten, auch in Fis-dur sofort wiedererkennen, obwohl kein einziger Ton den früher gehörten gleich ist, wobei diese Tatsache unbegreiflich sein würde, wenn eine Melodie nicht mehr als eine Summe von Tönen wäre. Eine Melodie hat eben Gestaltqualität, welche die Summe zu einem charakteristischen Ganzen macht. - EHRENFELS erinnert daran, daß man drei verschieden gestellte Quadrate aus Punkten aufgrund der gemeinschaftlichen Quadratvorstellung (fundierter Inhalt) als Quadrate erkennt, wenn man die innere Lagebeziehung der Punkte beachtet. Das einfache und sichere Kriterium für das Vorhandensein einer Gestaltqualität ist "die Ähnlichkeit beim Transponieren", letzterer Ausdruck musikalisch, aber auch räumlich, begrifflich usw. gemeint. Über den elementaren Gestaltqualitäten stehen solche "höherer Ordnung", die Elemente mehrerer Sinne oder Vorstellungen verschiedener Inhaltsklassen zusammenschließen (z. B. Drama, Vaterlandsliebe, persönliche Eigenart.) - - - Eine genaue Analyse unseres Seelenlebens zeigt, daß überall da, wo ein anschauliches Ganzes mit unterschiedenen Gliedern oder Teilen ins Bewußtsein tritt, auch das Merkmal einer Gestaltqualität als Plus gegeben ist, so daß wir außerstande wären, ohne diesen Begriff (oder der Beziehungsform oder der fundierten Inhalte) eine vollständige Beschreibung des psychischen Inventars zu liefern. Ich bin der Ansicht, daß im letzten Grund auch die "Seele" nichts anderes als eine durch Gestaltqualität höchster Ordnung vereinigter Komplex der psychischen Phänomene eines Subjekts sei. Die Feststellung und Systemisierung der inneren Beziehungen, durch welche eine bestimmte Reihe psychischer Phänomene zur Seele eines Subjekts wird, obliegt der Psychologie als wichtige Teilaufgabe. Die Gestaltqualität der Seele bezeichnete die ältere Psychologie als "Einheit der Seele", ohne deutlich zum Ausdruck zu bringen, inwiefern eine Seele  mehr  sei, als die bloße Summe nebengeordneter psychischer Phänomene. Auf welche Weise unsere Auffassung des Seelenbegriffs die Kontinuität und Einerleiheit der Seele wahrhaft verständlich macht, kann hier nicht ausgeführt werden.
    25) LEHMANN, a. a. O. Seite 217
    26) WILHELM WUNDT, "Grundriß der Psychologie", Leipzig 1897, Seite 383 und "Ethik", Stuttgart 1886, Seite 231.