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OSWALD KÜLPE
Grundlagen der Ästhetik
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"Wenn ich etwa ein Bild vom Innern der ravennatischen Galla-Placida-Kapelle betrachte, so bieten sich meiner Anschauung Wölbung, Grab, Mosaikgestalten und Fenster. Ein Erinnerungswissen von der Umgebung wird meine Stimmung wesentlich mitbestimmen, auch wenn die Phantasie mir nichts davon vorspiegelt. Auch, was ich vom hohen Alter, von der ehrwürdigen Symbolik des Raumes, von den menschlichen Werten der Schöpferin des Gebäudes weiß, bereichert den ästhetischen Eindruck."

"Das ästhetische Objekt ist eine Wirklichkeit des Gegenstandsbewußtseins und damit unabhängig von der Realität oder Irrealität in theoretischer und praktischer Hinsicht. Daraus ergibt sich die prinzipielle Gleichwertigkeit der ästhetischen Wahrnehmungs-, Erinnerungs-, Phantasie- und Denkgegenstände. Künstlerische Stoffwahl und Komposition ist nicht auf die Welt der äußeren Erfahrung zu beschränken."


IV. Theorie des ästhetischen Gegenstandes

Ein empfängliches Verhalten wird nicht ohne einen ästhetischen Gegenstand wach; diesen können wir aber nicht würdigen, ohne den Zustand zu erforschen, in den der empfängliche Betrachter gerät. Wir zweifeln nicht am Kunstwert einer pergamenischen Athena Parthenos; aber wir bereichern die ästhetische Einsicht wenig, wenn wir den Gegenstand als marmornes Bild beschreiben, aussagen, das sei eine Athena, auch nicht, wenn wir den Faltenwurf des Gewandes anschaulich schildern. Es ist für die Ästhetik nicht viel gewonnen, wenn wir mit geschichtlichen Methoden uns die Größe der damaligen Umgebung wiederaufbauen und dartun, was die Erinnerung der Menschheit an Wissen über das Kunstwerk überliefert. In den ruhigen Marmor fühlen wir eine Seele voll hoher Gaben ein; - aber nur, wenn verständnisvolle Betrachtung uns hilft, mit dem beseelten Werk zu fühlen und es unbefangen zu würdigen. Erst dann werden wir uns darüber klar, daß Hoheit und Würde der Göttin und nicht dem Steinblock zugeschrieben werden. Das ästhetische Objekt als Teilursache der ästhetischen Wirkung enthält mehr als das Objekt der Realwissenschaften. Es zählt auch dazu, was an gegenständlicher Bestimmung der Auffassung und dem Verständnis entstammt. Zum Objekt rechne ich die Beschaffenheiten, die als gegenständlich und nicht als zuständlich beurteilt werden. Sofern diese Beschaffenheiten als Bedingungen des ästhetischen Ausdrucks wirken, ist das ästhetische Objekt das naive Objekt.

Vom ästhetischen Gegenstand hat man lange gelehrt, er müsse unter allen Umständen anschaulich sein. Die Behauptung, daß auch Unanschauliches, Gedachtes ästhetisches Objekt sein kann, wird meist bestritten. Die neueren Philosophen hatten das Schöne auf die Anschauung beschränkt und die Psychologen, die überhaupt Gedanken nicht als besondere Erlebnisse anerkennen, waren natürlich damit einverstanden. So ist es fast zum Dogma der Ästhetik geworden, daß die ästhetischen Gegenstände sämtlich anschaulicher Natur seien. KANT hat sich für diese Meinung eingesetzt und JONAS COHN folgt ihm darin. Und doch besteht, wenn auch meist übersehen, das wichtige Problem, ob nicht auch nur gewußte Gegenstände ästhetisch wirken können. Die Frage ist durchaus noch nicht entscheidend beantwortet. Man wird dazu auseinanderhalten müsen, ob es sich um gewußte erinnerte Gegenstände handelt oder um gewußte neue Gegenstände. Daß ein Erinnerungswissen um schöne Dinge eine eigene Wirkung ausüben kann, wird man vielleicht zugeben. Wenn ich etwa ein Bild vom Innern der ravennatischen Galla-Placida-Kapelle betrachte, so bieten sich meiner Anschauung Wölbung, Grab, Mosaikgestalten und Fenster. Ein Erinnerungswissen von der Umgebung wird meine Stimmung wesentlich mitbestimmen, auch wenn die Phantasie mir nichts davon vorspiegelt. Auch, was ich vom hohen Alter, von der ehrwürdigen Symbolik des Raumes, von den menschlichen Werten der Schöpferin des Gebäudes weiß, bereichert den ästhetischen Eindruck. Was so die Stimmung des Raumes färbt, ist natürlich nicht die kalte Befriedigung des gelehrten Ehrgeizes. Wo sie vorhanden ist, hat sie so wenig echte ästhetische Wirkung, wie das Wissen davon, daß solche Bauwerke den Geschmack zu befriedigen pflegen. Nur ein ungerufen neu auftretendes Wissen könnte ästhetisches Verhalten auslösen.

Zur Prüfung dieser Frage wird man in erster Linie poetische Werke heranziehen müssen. TH. MEYER hat in seinem "Stilgesetz der Poesie" (1901) darauf hingewiesen, daß nicht nur Anschauungen, sondern auch Wissen Grundlage einer ästhetischen Wirkung sein kann. Aber auch in anderen Künsten kann Unanschauliches eine Rolle spielen. Wir denken uns in Ideen und Stimmungen hinein. Die Sphinx wirkt großartig, bannend, weise, im Besitz des Weltgeheimnisses. Ein Gebäude erscheint uns stolz, trotzig, tot; so etwas kann rein unanschaulich gegeben sein. Ebenso verhält es sich mit der vom empfänglichen Menschen belebten und beseelten Natur, mit ihrer Hoheit, Lieblichkeit und Nachdenksamkeit. Noch kürzliche hat COHN behauptet, nur Anschauliches sei von ästhtetischem Wert. Aber er hat selbst zugegeben, daß Übergänge zum Abstrakten vorkommen. In der Poesie spielen Anschauungen eine weit geringere Rolle, als man gewöhnlich glaubt. Vielmehr sind es da vielfach Gedanken, die den Gegenstand des ästhetischen Verhaltens bilden. Flüchtig, unvollständig, wie eine leise und fragmentarisch erklingende Begleitung ziehen Bilder durch die Seele. Gewißt gibt es da größere, individuelle Unterschiede. Gedanken von ästhetischer Bedeutung (Edel sei der Mensch, hilfreich und gut) kann man mit VOLKELT als Bedeutungsvorstellung bezeichnen, aber man muß sich gegenwärtig halten, daß diese dann zumeist nicht anschauliche Vorstellungen sind. Gewiß brauchen die Gedanken vielfach anschauliche Träger, Symbole, Zentren der ästhetischen Kontemplation; aber der eigentliche Gegenstand der Bewertugn sind nicht nur diese Symbile, sondern ist vor allem, was sie bedeuten. Die Unmittelbarkeit der ästhetischen Auffassung geht damit nicht verloren, weil auch Gedanken unmittelbar gegeben sein können. Unmittelbarkeit ist nicht mit Anschaulichkeit zu verwechseln. Nicht nur in der Poesie, auch in der Malerei, in der Musik und in anderen Künsten kann Unanschauliches im ästhetischen Gegenstand mitgegeben sein, freilich meist als unselbständiger, anschauliche Bestandteile ergänzender Faktor. Wie sehr im gesamten Kunstgenuß sonst Anschauungen vorherrschen, ist zu bekannt, als daß man es auszuführen brauchte.

Zu ästhetische wirksamer Verschmelzung mit dem Wahrnehmungsgegenstand sind außer den Vorstellungen auch Gedanken, Bewußtheiten und Bewußtseinslagen geeignet. Eine Landschaft atmet Wachstum und Gedeihen, weckt den Gedanken an fördernd freie Entfaltung. Hier ist der Zusammenschluß der anschaulichen und der unanschaulichen Elemente ganz innig und störungslos. Was gesehen und vorgestellt ist, bedeutet, was an Gedanken angeregt worden ist. Diese Bedeutung ist von ihrem Symbol getragen, haftet an ihm, wie die Bewegung an der Masse, die Farbe am Tisch, die Klangfarbe am Ton. Das Ausgedrückte ist mitgemeint. Dabei kann in der Ästhetik zunächst davon abgesehen werden, ob die Vergegenständlichung selbst schon eine gedankliche Beziehung einschließt. Bewußtheit nennt ACH das Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen Wissens; andere sprechen dann schlichter von Gedanken. Den Ausdruck Bewußtseinslagen hat MARBE eingeführt, um zu bezeichnen, daß man wissen kann, was man meint oder erlebt, ohne im Augenblick schon einzelne Inhalte genau aufzeigen zu können. Gewißtheit und Zweifel, die man früher unklar mit den Gefühlen zusammenwarf, solche Bewußtseinslagen sind als ästhetische Objektsrepräsentanten in der Poesie häufig genug. Vielfach bilden wir uns keine anschaulichen Vorstellungen und doch folgen wir dem Dichter leicht. "Mir ist, als wenn ich längst gestorben bin", dieser Vers läßt eine Bewußtseinslage anklingen, während der Anfang des Gedichts anschauliche Vorstellungen wachruft: "Ich liege still im hohen grünen Gras."

Gerade erst durch ihren Verzicht auf einzelne anschauliche Vorstellungen wird die Sprache der Dichtung zu einer wunderbar stoffentrückten Abbreviatur der plumperen Wirklichkeit. Erst so gewinnt sie ihre vereinfachende Kraft. Die Bewußtseinslagen und Bewußtheiten, die dem Sprachverständnis dienen, sie konzentrieren weitschichtiges und verstreutes Material. Auf diese Weise wird es möglich, zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Zusammenhänge eng aneinanderzurücken, Verwirrendes wegzulassen, Wirksames auszuwählen, zu stilisieren. Deshalb kann schon gelesene Poesie einen starken, erschütternden Eindruck hervorrufen, obwohl die anschaulichen Einzelinhalte selbst der Form leiser mitschwingen. Keine Stilregel ist wohl einseitiger gewesen, als die HORAZische  ut pictura poesis.  Man darf nicht vergessen, daß es auch Gedanken gibt, die sich anschaulich gar nicht oder nur ganze andeutend wiedergeben lassen. Wie Unsterblichkeit und Zeit, Fruchtbarkeit oder Jugend anders als derb allegorisch (also mindestens gezwungen) veranschaulicht werden könnten, ist schwer zu sagen. Hier wird es sinnlos, Anschaulichkeit um jeden Preis zu fordern. Nur in der Tatsache, daß Gedanken ganz ohne Symbole nicht als ästhetische Gegenstände vorkommen und daß diese Symbole stets anschaulich gegeben sind, liegt die Wahrheit der Behauptung, alle ästhetischen Gegenstände seien anschaulicher Natur. Man muß ihr nur eine andere Form geben, indem man sagt: Gedanken und Bewußtseinslagen sind fast nie selbständige ästhetische Gegenstände; als unselbständige dagegen spielen sie eine große Rolle. Die Bedeutungen anschaulicher Gegenstände werden mit ihnen zu ausdrucksvoller gegenständlicher Einheit verbunden. JASPERS hat neuerdings zur Erklärung gewisser Tatsachen hallzinatorischer Art von leibhaftigen Bewußtheiten gesprochen. Eine solche liegt vor, wenn ein Kranker sich nicht von dem Gedanken losmachen kann, es sei ein Wesen hinter ihm im Zimmer, ohne daß er sich dieses Wesen irgendwie vorstellen kann. Solche leibhaftigen Bewußtheiten sind wohl auch im ästhetischen Verhalten zu beobachten. Man denke nur an Erlebnisse bei der Lesung von Dramen und Romanen, wo die anschauliche Phantasietätigkeit zurücktreten kann, obschon die Ereignisse lebendig miterlebt werden. Eine eindringlichere Untersuchung würde hier wohl noch viele Besonderheiten aufdecken und genug an mitbewußten, unanschaulichen ästhetischen Sachverhalten.

Die merkliche Beschaffenheit eines ästhetischen Objekts, die für ein ideales ästhetisches Verhalten wirksam gedacht wird, kann anschaulich und unanschaulich vergegenwärtigt werden. Das selbständige Objekt (der Träger von Eigenschaften, Vorgängen, Zuständen, Beziehungen, Bedeutungen) ist in der Regel anschaulich und gehört in diesem Falle dem optischen oder akustischen Gebiet an. Das ästhetische Objekt ist eine Wirklichkeit des Gegenstandsbewußtseins und damit unabhängig von der Realität oder Irrealität in theoretischer und praktischer Hinsicht. Daraus ergibt sich die prinzipielle Gleichwertigkeit der ästhetischen Wahrnehmungs-, Erinnerungs-, Phantasie- und Denkgegenstände. Künstlerische Stoffwahl und Komposition ist nicht auf die Welt der äußeren Erfahrung zu beschränken.

Solche Überlegungen brachten FECHNER zu seiner Unterscheidung zwischen dem direkten und dem relativen (assoziativen) Faktor des ästhetischen Gegenstandes. Wir rechnen zum direkten Faktor alles, was unmittelbar gegeben ist, sei es primär anschaulich, sei es sekundär vorstellbar oder auch denkbar. Wenn LEIBL die Dorfpolitiker malt, so zählen zum direkten Faktor für den Kunstliebhaber: die fünf Gestalten, das Zimmer, die Fenster, aber auch Gruppierung, Farben, Helligkeitswerte. Zum relativen Faktor gehören:
    1. Der assoziative Faktor, die Erinnerung an ähnliche Szenen etwa oder an politische Ereignisse, die dem Bild eine besondere Färbung geben, an andere Bilder des Malers, an seine Lebensgeschichte vielleicht.

    2. Der emotionale Faktor. Hier meinen wir die Stimmung lebhaften Interesses, die alle die Gestalten beseelt, nach der Individualität abgestimmt und etwas gehalten, wie es dem Stand und dem Alter entspricht.

    3. Der aktive Faktor. Der Gegenstand erscheint anregend, tief und reich.

    4. Der symbolische Faktor. Die Szene bedeutet etwas; sie malt einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, aber sie drückt etwas Allgemeines aus, einen wesentlichen Vorgang, typisch für das Menschenleben.

    5. Der teleologische Faktor. Der Gegenstand verwirklicht den sinnreichen Vorsatz des Künstlers, entspricht seiner Norm. Es sind dies echte Bauern in ihrem besonderen Dunstkreis.
Hier erhebt sich die Frage, wieweit der relative Faktor dem Gegenstand und seiner ästhetischen Wirkung zugerechnet werden muß, welche Grenzen und Kriterien dafür aufzufinden sind. Damit würde sich erst eine Lösung des Problems erwarten lassen, ob nur die sogenannten höheren Sinne (Auge und Ohr) am ästhetischen Genuß beteiligt sind oder ob auch die niederen Sinne mitwirken. Angesichts stofflicher Malerei drängt sich die Frage geradezu auf; man denke nur an die Tuchstoffe der alten Kölner Meister, an BÖCKLINs kühles und feuchtes Wasser.

Unter den Anschauungen sind die akustischen und optischen stark bevorzugt. Den niederen Sinnen schreibt man in der Regel gar keinen oder nur geringen Wert für das ästhetische Objekt zu. HEGEL, von HARTMANN, LIEBMANN haben sich einfach ausgeschlossen; neuerdings auch BRAY. Seine Gründe sind folgende:

Die niederen Sinne sind Kontaktsinne, die höheren Fernsinne. Daher rührt der mehr persönliche egoistische Charakter der Genüsse, die wir den niederen Sinnen verdanken. Das trifft besonders beim Geschmackssinn zu, der nur bei Zerstörung der genossenen Dinge wirksam wird. Ähnlich äußert sich VOLKELT (Zeitschrift für Psychologie, Bd. 29, Seite 208f). Bei Gesicht und Gehör geht das Empfinden ohne Spuren der Stofflichkeit vor sich, bei Getast, Geschmack, Temperatursinn dagegen ist das Empfinden zugleich Stoffgegebenheit. Der Geruch steht in der Mitte, darum kann sich dort jene eigentümlich freie, schwebende, begierdelose Stimmung ästhetischer Art entfalten.

Die Eindrücke der höheren Sinne zeigen eine Analysierbarkeit und eine Gesetzmäßigkeit der Elementarbeziehungen (Rhythmus, goldener Schnitt), die den niederen Sinnen fehlen. Hierzu vergleiche man auch CH. LALO (Revue philosophique, 1908, Bd. 33, Seite 451).

Die Empfindungen der höheren Sinne befreien sich fast völlig von den Gegensätzen sinnlicher Lust und Unlust. Ihre gegensätzlichen Gefühlstöne sind von anderer Art. Auch hier stimmt VOLKELT bei: Die Empfindungen der niederen Sinne haben eine viel größere sinnliche Annehmnlichkeit und Unanehmlichkeit. Lust und Unlust dieser Art lassen sich von den Gesichts- und Gehörsempfindungen leicht abtrennen, während bei den niederen Sinnen Empfindung und Gefühlston unaufhörlich miteinander verschmelzen.

Nach WUNDT und RIBOT sind die Erinnerungsbilder der niederen Sinne schwach und die Assoziation zwischen ihnen fehlt fast ganz. Dadurch sind sie unfähig, in einen Aufbau einzugehen. Nach VOLKELT liefern Gesicht und Gehör bestimmte und deutlich einprägbare Wahrnehmungsverknüpfungen als in sich zusammengehörige und bedeutsame Gebilde. Nach GROOS vermitteln allein die höheren Sinne geistigen Gehalt.

Die niederen Sinne tun Wohl und Wehe des Leibes kund, sie sind Verteidigungssinne. Auge und Ohr dagegen sind Erkenntnissinne. Eine Mittelstellung nimmt nach BRAY der Tastsinn ein; doch zählt auch er zu den niederen Sinnen. Eine Bestätigung seiner Ansicht findet BRAY in der Tatsache, daß es keine Kunst für die niederen Sinne gibt. Schon das primitive ästhetische Empfinden der Naturvölker ist auf die höheren Sinne eingeschränkt.

Das alles beweist und zeigt doch nur (was niemand bestreitet), daß die niederen Sinne in weit geringerem Maße als die höheren für das ästhetische Objekt in Betracht kommen. Sie sind, für sich genommen, nicht geeignet, durch ihren qualitativen Bestand dauernd zu fesseln und zu befriedigen. Darum können sie doch gelegentlich eine ästhetische Wirkung ausüben. WUNDT hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der ästhetische Genuß der Natur wesentlich eine Beteiligung von Geruch und anderen niederen Sinnen einschließt. "Zum Genuß einer Winterlandschaft gehört wirklich die Kälte" (Physiologische Psychologie, Bd. 3, Seite 128). Keiner der angeführten Gründe schließt aus, daß sich die Empfindungen der niederen Sinne mit solchen der höheren Sinne zu einer ästhetischen Gesamtwirkung verbinden. Der Anblick einer Blume gewinnt durch ihren Duft. Dasselbe ist bei Geschmacks- und Temperaturempfindungen möglich, vielleicht auch bei Tastempfindungen. Deren Vorstellungsresiduen wirken beim Anblick so vieler gemalter Fruchtstücke mit. So erhalten die gesehenen und gehörten Gegenstände durch die Mitwirkung der niederen Sinne eine eigenartige Färbung. Diesen Tatbestand hat L. J. MARTIN zum Gegenstand einer besonderen experimentellen Untersuchung gemacht (Zeitschrift für Psychologie, Bd. 53). Sie nennt ihn ästhetische Synästhesie und stellt fest, daß nicht nur akustische Mitempfindungen bei optischen Wahrnehmungen einen ästhetischen Einfluß gewinnen (inneres Hören eines Wasserfalls gegenüber dessen bildlicher Darstellung), sondern auch Pseudo-Empfindungen der niederen Sinne. Besonders stark waren darunter die kinästhetischen, die Tast-, Temperatur- und Organempfindungen vertreten, während Geschmacks- und Schmerzempfindungen zurücktraten. Sie konnte zugleich wahrscheinlich machen, daß die ästhetische Beurteilung von der Lebhaftigkeit der Pseudo-Empfindungen abhängig war. Diese steigerten sowohl den mißfälligen wie auch den gefälligen Eindruck von Bildern. Es wäre wünschenswert, eine ähnliche Untersuchung bei Eindrücken niederer Sinne als selbständigen Gegenständen auszuführen. Eine selbständige, ästhetische Bedeutung kommt den niederen Sinne vielleicht nur selten zu, wie schon der Mangel an einer eigentlichen Kunst für sie beweist. Einen Beitrag zum ästhetischen Gegenstand liefern sie gewiß; ihre Inhalte werden als unselbständige ästhetische Gegenstände wirksam. Darum kann man sie auch nicht prinzipiell von der Analyse des ästhetischen Verhaltens ausschließen. Allerdings sind ihre außerästhetischen Eigenschaften relativ stark, ihre ästhetischen relativ schwach entwickelt.

Ferner werden sich Elemente, die der Wahrnehmung entstammen, mit solchen aus der Erinnerungs- und Phantasietätigkeit zu einem ästhetischen Gegenstand verbinden. Die sonnenbeglänzte Wiese mit ihren Frühlingsblumen, der frischgrüne Wald, die rauchende Hütte und der würzige Duft, all das weckt auch mannigfache Vorstellungen. Davon ist aber nicht jede geeignet, den Empfindungsgegenstand zu umspielen und mit ihm zu verschmelzen, ohne von ihm abzuführen. Wenn ich mir etwa das Haus vorstelle, das ich mir in solcher Gegend erbauen möchte, so wird damit die Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Gegenstand abgelenkt; seine Einheit droht verloren zu gehen. Nicht um diesen Preis dürfen Vorstellungen der Erinnerung oder der Phantasie zum Wahrnehmungsgegenstand hinzutreten. Doch bleibt eine reiche Fülle von Vorstellungen, die den ästhetischen Gegenstand zu seiner duftigen und gelösten Eigenart ausgestaltet.

Vorstellungen sind stets wichtige Bausteine des ästhetischen Gegenstandes. Der Künstler bedarf ihrer beim produktiven ästhetischen Verhalten; seine Phantasiebilder repräsentieren ihm das Werk vor dessen Vollendung. Viele Kunstfreunde können ein Musikwerk oder ein Gemälde auch in der Erinnerung genießen. Wahrnehmung ist also nur eine ausgezeichnete, vielleicht die häufigste und ästhetisch wirksamste anschauliche Repräsentation ästhetischer Objekt. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung ist im ästhetischen Verhalten nicht so einschneidend wie in wissenschaftlicher Beobachtung. Die individuellen Anlagen aber bedeuten hier viel; denn von ihnen hängen tiefeingreifende Änderungen im qualitativen Bestand der Vorstellungen ab. Es gibt Musiker, die eine Partitur genießen, wie andere ein gelesenes Gedicht. Aber das wirkliche Anhören einer Aufführung vertieft den Eindruck und rundet ihn. Schon darum drängt es den Komponisten, sein Werk zu dirigieren.

Jedenfalls ist das ästhetische Objekt nicht als Reiz hinreichend zu beschreiben, ebensowenig nur als Empfindung oder nur als reales Objekt, wiederum auch nicht als realer psychischer Vorgang und keinesfalls als ideale Konstruktion allein. Vielmehr ist das ästhetische Objekt ein Gegenstand für Wahrnehmung, Erinnerung, Fühlen und Wissen. Um es gebührend aus der platten Wirklichkeit herauszuheben, hat man daher zu der Auskunft gegriffen, die ästhetische Welt als Schein, Jllusion und Selbsttäuschung zu bezeichnen. Zu solcher Auffassung neigen LANGE und GROOS. EDUARD von HARTMANN begründet die Lehre vom ästhetischen Schein erkenntnistheoretisch, indem er zeigt, wie nicht die gedachten Dinge an sich, sondern nur die subjektiven Erscheinungen ästhetische wirken. Die naiv-realistische Übertragung des Prädikats "schön" auf die Dinge an sich, ist ihm nur statthaft, sofern man sich der Uneigentlichkeit dieser Ausdrucksweise bewußt bleibt. Nur dort, wo eine Ablösung des Scheins von der Realität gelingt, wie bei den Eindrücken der höheren Sinne, kommt es zu ästhetischem Verhalten. Bei dramatischen Aufführungen abstrahieren wir vom wirklichen Schauspieler, bei musikalischen Darbietungen von den Spielern. Beim naiven Realismus und beim subjektiven Idealismus wäre eine solche Ablösung des Scheins und damit ein ästhetisches Verhalten unmöglich. Nur der transzendentale Realismus, der subjektive Erscheinungen und die Realität unterscheidet, mach das ästhetische Verhalten verständlich. Der ästhetische Schein ist nach HARTMANN keine Jllusion, sondern eine ideale Realität als wirklich vorhandener Bewußtseinsinhalt. Er ist aufrichtig und rein, will niemanden täuschen und beansprucht nicht, objektive Realität zu sein. Der Sitz des Schönen ist nich in einer übersinnlichen Idee zu suchen, deren bloßer Abglanz die Erscheinung wäre; vielmehr gehört der übersinnliche ideale Gehalt unmittelbar zur Erscheinung und wird in ihr gefunden. Der Schein ist auch von der subjektiven Realität des Beschauers und seiner Seelentätigkeit losgelöst. Sobald die Reflexion eintritt, ist es mit dem reinen ästhetischen Verhalten vorbei. Im Selbstvergessen liegt noch keine Jllusion. Sie beginnt nach HARTMANN erst beim Hineinversetzen des Ich in den Schein und kann nur aus den ästhetischen Scheingefühlen und der realen ästhetischen Lust erklärt werden.

Für diese Scheingefühle wird das Gesetz aufgestellt: Überalle, wo eine Realität geeignet ist, reale Gefühlswirkungen in einem mit ihr in reale Beziehungen tretenden Subjekt auszulösen, ist auch der von dieser Realität abgelöste oder ihr künstlerisch entsprechende Schein geeignet, die nämlichen Gefühle als ideale ästhetische Scheingefühle in dem ihn ästhetisch auffassenden Subjekt auszulösen. Man kann nach HARTMANN reaktive und sympathische Scheingefühle unterscheiden. Die realen Gefühle besitzen ein viel größeres Beharrungsvermögen als die Scheingefühlt, weil sie viel intensiver sind. Dagegen sind die Scheingefühle ungleich wandelbarer und modulationsfähiger. Werden diese in den Schein projiziert, so wird der Schein bedeutend und beseelt.
LITERATUR - Oswald Külpe, Grundlagen der Ästhetik, Leipzig 1921