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Alles Recht ist religiösen Ursprungs
Robert Lazarsfeld

Von den Urzeiten bis heute, bei den tiefstehenden Lebewesen wie bei den höchsten Geistern kann die  konkrete  Erkenntnis von Ursache und Wirkung mit Rücksicht auf den relativ geringen Umfang von persönlicher Erfahrung und Tradition nur höchst begrenzt sein. Warum der befruchtende Regen kommt, warum die Mißernte war, warum die geliebten Angehörigen sterben, warum der Stamm in der Schlacht unterlagt und der Feind siegte, die Verkettung all dieser schmerzlichen und freudigen Ereignisse zu durchschauen vermag sich kaum der stärkste menschliche Geist zuzumuten. Um wieviel weniger vermag dies das durchschnittliche geistige Bewußtsein. Deutlich im sozialen Bewußtsein ist stets nur die Furcht vor Unheil und jenem Unbekannten, der das Unheil sendet, vor den Geistern, vor den Göttern, vor Gott.

Es handelt sich nun darum, Gott nicht zu reizen, damit er kein Unheil sendet.

Das Wesen des Gottbewußtseins ist das Irrationale. Gott sendet Heil und Unheil nach seinem unerforschlichen Ratschluß. Das Wesen der Gottverehrung ist die Furcht vor dem Unheil, das er senden kann, man weiß nicht warum und weshalb. Gott ist die Undurchdringlichkeit der Zusammenhänge aller Erscheinungen. Der Respekt einer sozialen Gruppe vor einer anderen ist ein religiöser. Und alles Recht ist religiösen Ursprungs. Alle Rechtsformen sind Kultformen, alle Rechtsfunktionäre sind in den Ursprüngen Priester. Der primitive Mensch der Horde hält den beschworenen Bund, weil dessen Verletzung den Gott oder Geist, in dessen Schutz der Bundesbruder steht, zur Rache reizen könnte. Der moderne Mensch teilt jeder Gruppe, jedem Menschen einen Machtbereich, ein Recht zu, dessen Verletzung ihn entrüstet, wenn der Verletzte im einzelnen Fall auch zu schwach ist, Widerstand zu leisten. Diese Entrüstung ist die Furcht vor Gott, vor der moralischen Weltordnung. Es ist die sublimierte Furcht, sublimiert durch die Erkenntnis von Ursache und Wirkung; der Glaube, daß die Rechtsordnung, in irgendeinem Punkt verletzt, irgendwann und irgendwo und irgendwie durch Verwirrung und Unheil reagiert. Furcht, Furcht, Furcht steht am Eingang des Tempels der Gerechtigkeit, wie des Tempels aller anderen Götter. Und zwar - das ist das Entscheidende - vollständig verschieden von der Furcht der Ursächlichkeit, nicht jene Furcht, die weiß, daß das Pulverfaß explodiert, wenn ich es in Brand setze, sondern die religiöse Furcht vor dem Ursachlosen und Grundlosen, vor dem Unbekannten, vor den Geistern, vor Gott. Deswegen ist der Utilitarismus als Moraltheorie historisch und sozial vollständig falsch. Die Zweckmäßigkeit geht nach Gründen und Ursachen, die Moral sieht von Zweckmäßigkeit ganz und gar ab, sie beruth immer nur auf der Furcht vor Gott, oder vor dem, wozu sich Gott im Bewußtsein verflüchtigt hat, vor einem Prinzip, vor einer Idee. Deswegen sind auch die englischen utilitaristischen Moraltheorien alle so unbefriedigend, welche immer mit der vergessenen Zweckmäßigkeit, die der Moral und Sitte zugrunde liegen soll, operieren, während jedermann fühlt, daß im Begriff der Moral umgekehrt etwas Irrationales, der Zweckmäßigkeit entgegengesetztes ist.  Morale quia absurdum  [Ich bin moralisch, weil es absurd ist. - wp] kann von nahezu allen Gesetzen und Vorschrifen von Moral und Sitte gesagt werden. Das Zweckmäßige im Moralischen ist nicht vergessen worden, man hat es vielmehr nie gewußt.


LITERATUR, Robert Lazarsfeld, Das Problem der Jurisprudenz, Wien 1908