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ALBERT LEVY
Vorbedingungen einer jeden
wahren philosophischen Erkenntnis

"Wenn einer sagt: Ich glaube! wer glaubt dann? vielleicht sein Arm? sein Bein? sein Magen? sein gesamter Leib? - Nein. Mit unserem  Ich  meinen wir etwas anderes, das für uns nicht sichtbar, überhaupt nicht erkennbar ist. Wir sind  nicht  dasselbe wie unser Körper, den wir erkennen; wären wir und unser Körper eins, so vermöchten wir ihn nicht zu erkennen, denn alle Erkenntnis bedingt, daß Subjekt und Objekt  verschieden  voneinander sind."

1. Ehe jemand den Weg, der auf die stolzen Höhen der Philosophie führt, beschreitet, möge er sich darüber klar werden, daß die Philosophie von ihren Jüngern große Opfer fordert. Die historischen, naturwissenschaftlichen, theologischen, mathematischen und literarischen Kenntnisse, sie alle, die das Weltbild der guten Gesellschaft buntfarbig zusammensetzen, müssen aufgegeben werden; nur so ist eine  voraussetzungslose  Erkenntnis überhaupt möglich. Es ist aber hart, alles mühsam Erworbene entwertet zu sehen, ohne daß dafür ein besserer Besitz gewährleistet wird und es ist schwer, den Weltkämpfen des Lebens fern zu bleiben, wo doch die Fähigkeit vorhanden ist, es andern an wissenschaftlicher Gescheitheit gleichzutun.

Wer ernstlich den Mut hat, um der philosophischen Erkenntnis willen auf die gesellschaftlichen Vorteile, die dem belesenen, gelehrten und kenntnisreichen Kopf sonst eingeräumt werden, zu verzichten, wird seinen Sinn fürderhin auf ein unvoreingenommenes Betrachten der Dinge richten, das nicht von Heute und Morgen abhängig ist. Denn alle  angelernte  Auffassung der Dinge wechselt mit den Zeiten.

Hierbei wird der Jünger der Philosophie, um seine Blicke nicht zeitlich einzuengen, Vergangenes und Zukünftiges außerhalb seines Kreises lassen müssen. Damit wird dem Erkenntnisdurstigen etwas illusorisch, das so vielen, ja den meisten Menschen Lebensader ist, nämlich die Freude auf etwas Zukünftiges. Es gibt Leute, die nicht leben möchten, wenn sie sich nicht auf etwas freuen können, von einem Tag freuen sie sich auf den anderen, von diesem Jahr auf das nächste und dies immer wieder, allen erlittenen Enttäuschungen zum Trotz. Der wahre Philosoph darf das nicht. Die Philosophie lehrt, sich  mit  den Dingen zu freuen und schafft dem Gemüt dadurch eine hohe, unverwelkliche Seligkeit. Trotzdem schrecken viele vor der Philosophie nur darum zurück, weil diese ihrem Wesen nach ihnen nicht gestattet, sich auf etwas künftiges zu freuen und sich dan an Zukunftsträumereien zu berauschen.

2. Zum Erkennen gehören unter allen Umständen zwei Parteien, die eine,  die erkennt, Subjekt  genannt, die andere,  die erkannt wird, Objekt  genannt. Wenn nicht Subjekt und Objekt zusammenwirken, kommt ein Erkenntnisakt nicht zustande. Daraus erhellt sich, daß Subjekt und Objekt nicht eins sein können, sofern dieses von jenem erkannt wird.

Diese Deduktion erscheint so überaus einfach, ja selbstverständlich, daß sie auch einem, der im logischen Denken ungeübt ist, sofort einleuchtet. Umso verwunderlicher ist es, daß in der Praxis beharrlich gegen die Lehre von der Verschiedenheit zwischen Subjekt und Objekt verstoßen wird, sogar von Leuten, die sich sonst auch in der Philosophie durch Scharfsinn auszuzeichnen pflegen. Was ich hier im Auge habe, ist die Auffassung des Menschen von seinem eigenen Körper.

Wenn einer sagt: Ich glaube! wer glaubt dann? vielleicht sein Arm? sein Bein? sein Magen? sein gesamter Leib? - Nein. Mit unserem  "Ich"  meinen wir etwas anderes, das für uns nicht sichtbar, überhaupt nicht erkennbar ist. Wir sind  nicht  dasselbe wie unser Körper, den wir erkennen; wären wir und unser Körper eins, so vermöchten wir ihn nicht zu erkennen, denn alle Erkenntnis bedingt, wie oben erklärt, daß Subjekt und Objekt  verschieden  voneinander sind. Subjekt sind wir, d. h. unser  Ich,  Objekt ist unser Körper. Das erkennende "Ich" und der menschliche Leib sind somit völlig getrennt voneinander. Dieser Satz ist die Pforte zur Philosophie.

Die Verwechslung des erkennenden Ichs mit dem menschlichen Körper hat zwei Begriff in die Philosophie eingeschleppt, die besser aus ihr verbannt geblieben wären. Gemeint sind die so häufig mißverstandenen Anschauungsweisen "innen" und "außen". "Innere" Vorgänge werden die Vorgänge genannt, die sich nach den Ergebnissen der Philosophie innerhalb des Gehirns und Nervensystems abspielen, alle anderen Vorgänge gelten als "äußerlich". Gehirn und Nervensystem sind dann mit dem erkennenden "Ich" identifiziert und es ist weiter sorglos erklärt worden, alle "inneren Vorgänge" gingen das erkennende "Ich" (die "Seele") an. Diese Behauptung beruth auf groben Trugschlüssen, so laut sie auch von den Anhängern einer psychologischen Philosophie ausposaunt wird. Denn selbst wenn wir die Bewußtseinsvorgänge in das Gehirn verlegen, so muß doch dem Gehirn wieder, damit es überhaupt in der menschlichen Erkenntnis existieren kann, ein erkennendes Subjekt gegenüberstehen. Dieses Subjekt muß, wie oben gezeigt, stets von seinem Objekt, d. h. in diesem Fall vom Gehirn, unterschieden sein. Wer das eingesehen hat, wird nicht mehr Psychologie mit Philosophie verwechseln, was leider oft geschieht, noch wird er glauben, daß Gelehrte wie HELMHOLTZ, WUNDT, MACH und andere ähnlicher Richtung Abschließendes für die Philosophie getan haben, so sehr die Verdienste dieser Männer von der Empirie in Ehren gehalten zu werden verdienen.

3. Fragt einer, wie er ein Künstler werden könne, so hält die Welt den Frager für einen Narren. Denn, sagen die Leute, Kunst ist etwas, das nicht gelernt werden kann, hier tut die Persönlichkeit alles. Fragt aber einer, wie er Philosophie studieren könne, wie lautet dann die Antwort des Gebildeten? Gehen Sie auf die Universität und hören Sie ein paar Semester lang Vorlesungen. Als ob Philosophie jemals erlernt werden könnte!

Philosoph und Künstler stimmen darin überein, daß sie beide in dem, was sie zum Ausdruck bringen, nur das geben, was sie selbst  sind,  nicht aber, was sie von anderen übernommen, d. h. gelernt haben. In der Philosophie kommt deshalb alles auf das  Sein  und garnichts auf das Wissen an; woraus es sich auch erklärt, warum alle wahren Philosophen wenigstens der Hauptsache nach im Sinne ihrer Lehre gelebt haben. Der Philosoph kann nicht anders als seiner Wahrheit nachleben, denn seine Philosohie ist nur der Ausdruck einer Erkenntnisstufe, auf der er angelangt ist, oft erst nach mühseliger Wanderung.

4. Die wahre Philosophie ist weit davon entfernt, den Dingen als Marke die Bezeichnung "gut", "weniger gut" oder "schlecht" zu verleihen, mit anderen Worten: die Qualitäten der Objekte zu bestimmen. Der Wert, den die Gegenstände für die Einzelnen haben, hängt von vielen begleitenden Umständen ab und ist sehr verschieden. Selbst große Ethiker, deren sittliche Thesen auf streng systematischer, philosophischer Grundlage ruhen, haben über dieselben Dinge abweichende, ja zum Teil entgegengesetzte Werturteile abgegeben. So kommt es, daß nicht ein einziger bedeutender Philosoph so prätentiös gewesen ist, proklamieren zu wollen, was gut und was schlecht sei; wohl hat jeder dieser großen Sittenprediger gemahnt, das Gute zu tun, was dieses "Gute" aber sei, dies zu umgrenzen, hat sich niemand unter ihnen vermessen. Das Unterscheidungsvermögen zwischen gut und schlecht wird eben in aller Philosophie vorausgesetzt; wie denn auch die biblische Schöpfungsgeschichte erklärt, ADAM und EVA, als sie vom Baum der  Erkenntnis  gegessen hatten, d. h. menschliche Erkenntnis in unserem Sinne erhalten hatten, eo ipso [ganz selbstverständlich - wp] wußten, was gut und was böse sei.

Daß der unglückliche FRIEDRICH NIETZSCHE alle Werte nach seinem Gutdünken umwerten und damit der Welt eine bestimmte Ansicht von gut und böse aufpfropfen wollte, das, sage ich, zeigt deutlich, wie wenig jener farbenschillernde Schriftsteller auch nur einen Hauch wahren philosophischen Denkens je verspürt hat! In denselben Fehler verfallen philosophisch ungeschulte Köpfe, wenn sie andere zu ihren Lieblingsneigungen zu bekehren suchen, woraus dann natürlich Zank und Hader entsteht; denn niemand will seine Natur ummodeln lassen. (1)

LITERATUR - Albert Levy, Vorbedingungen einer jeden wahren philosophischen Erkenntnis, Archiv für systematische Philosophie, Bd. X, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) Näheres über dieses ethische Problem findet sich in meiner "Philosophie der Form", Berlin 1901.