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Die alte Geschichte
HEINRICH SIMON LINDEMANN

Daß unsere Zeit in einem mehr oder minder raschen Entwicklungsgang zu einer Art Neugeburt begriffen ist, daß selbst im gewöhnlichen geselligen Verkehr des Volkes die wichtigsten das Staats-, Rechts-, Kirchen- und gesellschaftliche Leben angehenden Fragen umständlich besprochen werden, ist hinlänglich bekannt. Nicht minder wissen wir, welche schroffen Gegensätze und welche Gereiztheit und Leidenschaftlichkeit sich teilweise bei der Besprechung dieser Fragen äußern. Es glimmt viel Feuer unter der Asche, welches sich bei einem Windstoß zur verheerenden Flamme ausbreiten dürfte; wir wandeln über einem Vulkan, der allaugenblicklich den Boden spalten, seine zerstörenden Feuerfluten ausspeien und überallhin Land und Volk erbeben machen kann! Die Massenarmut nimmt bei der Aktienschwindelei, der Gewerbs- und Kartoffelnot, der immer sich steigernden Wucherteuerung mehr und mehr überhand. Die Armen wissen, daß sie ein angeborenes Recht auf wenigstens notdürftige Kost, Kleidung und Wohnung besitzen; sie wollen diese unentbehrlichen Lebensmittel gerne im Schweiß ihres Angesichts erwerben, erreichen aber unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Notzuständen selten mehr ihren Zweck. Je mehr sich fortwährend die Geldmassen in den Händen Weniger anhäufen, desto größer wird notwendig die Masse der Armen. Alle Besonnenen rufen um Vorbeugung weiterer Übelstände und um Abhilfe der gegenwärtigen, damit es nicht endlich noch, wie das bereits schon teilweise in Irland der Fall ist, zu einem für die ganze menschliche Gesellschaft verderblichen Wutausbruch der blinden Volksmasse kommt.

LITERATUR, Heinrich Simon Lindemann, Die deutsche Philosophenversammlung, 1847