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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Logik
- I I -

1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
4. Sprache
5. Tatsachen
6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Der Eindruck der Stabilitaet beruth auf der Grobheit unserer Sinne. Die Welt der isolierten Gegenstaende wird in der klassischen Logik als etwas Fixes betrachtet. Womit wir es aber zu tun haben, sind uebergreifende oder tieferliegende Zusammenhaenge, Prozesse oder Beziehungen, bzw. ein unendlicher Regress von Beziehungen, niemals ein isoliertes Ding.


Die klassische Erkenntnis reduziert sich auf mathematisch Quantifizierbares. Die Kluft zwischen menschlichem Mass und natuerlicher Gegebenheit wird aber nie ueberwunden. Alle Messung beruth auf einer Feststellung von Punktkoinzidenzien. Punktkoinzidenzien im strengen Sinn gibt es aber nicht. Zwei physische  Punkte  - etwa ein Punkt des Messbandes und ein Punkt des gemessenen Koerpers - koennen einander nur genaehert werden, sie koennen aber nicht koinzidieren, d.h. in  einem  Punkt zusammenfallen.(17)
"Machen wir uns vor allen Dingen klar, dass das Wort  gleich  nicht  eine  Bedeutung hat, sondern viele! Wenn ich etwa weiss, wann zwei Raumstrecken gleich sind, so geht daraus noch gar nicht hervor, wann zwei Zeitstrecken gleich sind. Tatsaechlich muss ich fuer diesen Fall eine neue Bestimmung treffen; das Wort  gleich  wird in beiden Faellen nach verschiedenen Regeln verwendet und hat daher eine verschiedene Bedeutung. Bedenkt man ferner, wann man von gleichen Massen, von gleichen Temperaturen, von gleichen Helligkeiten spricht, so erkennt man, dass der Sinn dieses Wortes, weit entfernt davon, derselbe zu sein, in jedem dieser Faelle von Neuem erklaert werden muss."(18)
Wir legen ganz willkuerliche Einheiten unseren Massbestimmungen und Einteilungen zugrunde. Das Meter koennte auch nur 89 cm lang sein, genauso wie man fuer  Brett  auch  Bart  sagen koennte. Der Logiker aber tut so, als waeren die Benennungen objektiv. "Was ist also eine Groesse? Etwas, das sich messen laesst? Das gaebe einen Zirkel, weil der Begriff des Messens den der Zahl voraussetzt."(19)

Die Methode des Theoretikers bringt es mit sich, dass er als Fundament allgemeine Voraussetzungen, sogenannte Prinzipien braucht, aus denen er Folgerungen deduzieren kann. Ein kompliziertes Gebilde wird nach der Analogie eines einfacheren behandelt. Zu verallgemeinern ist darum die Arbeit des Verstandes. Abstrahiert von einem besonderen Inhalt entsteht die allgemeine Form. Formen koennen gedacht werden. "Die Abstraktion ist (dabei) die Methode der  Aufsuchung der Prinzipien."  (20) Wo Rationalitaet ist, das ist Gesetz. Die Verallgemeinerung ist die Grundlage aller Gesetze. Einmalig und einzigartig aber ist Wirkliches immer der rationalen Gesetzlichkeit widersprechend. Die dogmatische Verabsolutierung von Logik und objektiver Wissenschaft ist lediglich "anthropomorpher Fetischismus"(21).  Sprache, Logik, Rationalitaet, Abstraktion, Objektivitaet  oder etwa  Allgemeinheit  und auch  Realitaet  sind nichts Wirkliches, sondern  Formen  der Wirklichkeit.

Alles Denken konstituiert Allgemeinheit. Kategorien sind aber nur bequeme Hilfsmittel, um die Empfindungsmassen rational ordnend zu bewaeltigen. Nur abstrahierte Quantitaet ist logisch und gilt deshalb als  objektiv,  aber das nur, weil wir uns kuenstliche Masseinheiten erfunden haben. Objektiviertes Zahlenwissen soll frei sein von den Unwaegbarkeiten des Individuellen. Qualitaeten dagegen sind immer subjektiv und relativ auf unser Bewusstsein bezogen. Der Verstand denkt nur allgemeine Gegenstaende als solche und nicht ihr Realsein. Begriffe und Realitaeten sind unvergleichbar verschieden und koennen logisch zwingend nicht ineinander uebergefuehrt werden.  Ansich  und  Erscheinung  sind inkommensurabel und koennen nicht verglichen werden.

Die beiden Seiten einer Gleichung muessen kommensurabel sein, wenn wir daraus etwas ableiten wollen. Inkommensurabilitaet heisst Unmessbarkeit, Unvergleichbarkeit. Der Durchmesser eines Kreises kann nicht mit seiner Peripherie verglichen werden.

"Die  reale  Welt hingegen ist ein vieldimensionales, nichtsukzessives, simultanes Muster von unendlicher Vielgestaltigkeit. Der Versuch, dieses Muster mit dem Verstand zu begreifen, aehnelt dem Versuch, ein Gemaelde von Renoir durch ein Mikroskop zu erfassen."(22)
Begriff und Wirklichkeit sind etwas  grundsaetzlich  Verschiedenes. Durch Denken allein erfahren wir nichts ueber die Wirklichkeit. Begriffe definieren sich immer wieder durch andere Begriffe. Die Regeln der Logik sind lediglich Umformungen von Formeln. In der objektiven Definition der Wirklichkeit durch Begriffe produzieren wir immer nur Tautologien. Wer nach wirklicher Erkenntnis strebt, muss sich deshalb der Grenzen des rationalen Denkens und seiner Unfaehigkeit, dem konkreten Dasein gerecht zu werden, immer bewusst sein. Aus der logischen Maschine kommt schwerlich mehr heraus, als hineingesteckt wurde. In der Logik kommt es nicht auf das Urteilen, sondern auf Rechnerei an. Die Massstaebe, die wir an die Welt legen, sind Massstaebe von Menschen. Was immer wir messen, ist ganz spezifisch auf die menschliche Physiologie bezogen und nie allgemein, d.h. fuer alle Lebewesen gleich gueltig. "Insofern sich die Saetze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."(23) Die Fallkurve eines aus dem Fenster geworfenen Blattes ist kaum im Voraus zu konstruieren. Eine grundsaetzliche logische Notwendigkeit ist deshalb eine Taeuschung.

Als sprechende Wesen teilen wir die Welt in Ordnungen und Eigenschaften ein. Die Faehigkeit zu klassifizieren, zu uebermitteln und aufzuschreiben, hat auch ungeheure Erfolge fuer  Kultur  und Zivilisation zu verzeichnen; aber wir vergessen nur allzuleicht, dass die Natur ein nahtloses Gewebe ist und die Klassifizierungen nur in unseren Koepfen existieren. Leistung und Gefahr der Begriffe und Zahlen liegt darin, dass sie zwar Prozesse praktisch greifbar machen, aber gleichzeitig zu einer Beurteilung verfuehren, die wir leicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wir verkennen, dass die Welt der Abstraktionen kuenstlich aufbereitet ist und nicht das Original.

In den klassischen Wissenschaften gibt es keine Anschauung, nur Konstruktion. Alles Begreifen ist Subsumtion unter Analogien. Die Analogie ist aber ein Bild und das Bild gehoert in die Welt des Augenscheins. Es liegt in der Natur des Symbols vielseitig und vieldeutig zu sein. Ein hoher Verallgemeinerungsgrad der Denkkategorien bedeutet immer auch grosse Unbestimmtheit. "Die Abstraktion der Kategorien enthaelt ueberall noch den Rest des Bildhaften. ... Wie aber sind Bilder zu pruefen?"(24) Mit allen Analogien wird nur ein Scheinbegreifen erzeugt. Der Analogieschluss ist deshalb auch fuer den Magier und Zauberer ein beliebtes Denkmittel, um zu taeuschen.

Wir wissen im Grunde nichts, sondern nehmen nur an. Zwei aehnliche Dinge sind sich immer nur in gewisser Hinsicht aehnlich. Jedes Gleichnis hinkt. "Ähnlich ist am Ende alles, nur auf den Grad der Aehnlichkeit kommt es an."(25) Das Verhaeltnis von Sein und Denken wird durch das Zauberwort  ist  nicht deutlicher. "Denken ist am Ende nichts, als die Verbindung von Namen durch das Woertchen  ist,  so dass wir ueberhaupt nichts ueber das Wesen der Dinge, sondern immer nur etwas ueber ihre Benennungen erschliessen."(26) Ueberall, wo die Kopula  ist  gebraucht wird, muesste es eigentlich heissen  ist ungefaehr  oder  ist so aehnlich wie.  Es kann keine zwei oder mehrere Substanzen von gleicher Beschaffenheit oder von gleichem Attribut geben. Auch die Bedeutung des Wortes  Summe  darf eindeutig lediglich fuer einen einzigen Bereich, naemlich den der Zahlen, gelten, wenn sie noch sinnvoll sein soll. Zusammengezaehlt werden immer nur Zahlen und keine Dinge. Wird die Summe in anderen Faellen verwendet, so bedarf es jedesmal einer neuen Definition, und die ist allein durch praktische Ruecksichten bestimmt, die sich nach vorliegenden Beduerfnissen richtet.

Wissenschaftliches oder logisches Erkennen nimmt immer und notwendig eine sprachliche, bzw. zahlenmaessige Gestalt an. Alle Objektivierung ist in Wahrheit Vermittlung und muss Vermittlung bleiben und deshalb

"kann niemand auch nur damit  beginnen,  dass er das Unmittelbare unmittelbar schaut. Er muss sogleich ueber das Unmittelbare logisch  denken,  und sobald er das tut, nimmt er es nicht mehr  als  Unmittelbares, sondern als irgendwie begrifflich Geformtes in sein Denken auf. Jede solche Formung zerstoert die Unmittelbarkeit des Unmittelbaren. Jede Erkenntnis, die wahr sein will, bedarf irgendeiner Vermittlung. Unmittelbare Erkenntnis des Unmittelbaren gibt es nicht. Unser Denken kann sich gewiss auf die Anschauung des unmittelbar Gegebenen stuetzen, ja es muss das vielleicht mehr oder weniger ueberall. Aber sobald wir  Gedanken  davon bilden, gehen wir ueber das Unmittelbare hinaus."(27)
Ueber die Wahrheit von Begriffen kann ueberhaupt nichts ausgesagt werden, allenfalls ueber ihre praktische Gueltigkeit. Durch die Postulation von Gleichheit und Identitaet wird lediglich ein serioeser wissenschaftlicher Status aufrechterhalten.

Die ganze Wissenschaftslehre beginnt quasi mit der abstrakten Formel  A = A  oder besser  Ich  ist  Ich.  Ohne diese Grundvoraussetzung ist jede weitere rationale Ueberlegung sinnlos. Ohne Identitaet gibt es keine Logik und ohne Logik gibt es keine Identitaet. Wissen verlangt Identitaet und Unveraenderlichkeit. Das Identitaetsprinzip ist das Rationalitaetsprinzip schlechthin. Nur das Gleiche ist rational. Armut an Aehnlichkeit bedeutet bedeutet Armut an logischen Beziehungen. Viel Logik - viel Gleichheit; viel Gleichheit - viel Logik. Die Gleichheit in der Logik ist aber nur ein utopisches Ideal. Tatsaechlich gibt es keine identischen Tatsachen. Kein einziges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, koennen wir durch und durch verstehen und begreifen, sondern an jedem bleibt etwas voellig Unerklaerliches uebrig. Es ist ein Irrglaube, dass alles in der Welt unter logische und sprachliche Gesetze subsumierbar ist. Jede Gleichsetzung ist willkuerlich und wird von persoenlichen und subjektiven Interessen bestimmt. "Es gibt keine fundamentale Gleichung."(28) Die Welt ist ohne Logik und alogisch muesste auch werden, wer sie versteht.

Begriffe und Urteile sind die Grundbausteine des praktischen Denkens. Die Art der Bildung der Begriffe jedoch ist hauptsaechlich und ueberwiegend eine Zweckmaessigkeitsfrage. Abstraktionen haben  praktischen  Wert fuer das taegliche Leben. Darueber besteht kein Zweifel. Der Vorteil der Begriffe besteht in ihrer methodischen und systematischen Anwendung. Praktisch muessen wir immer urteilen. Ohne die Anwendung von Kategorien ist kein Urteil moeglich. Die Bewertung nach einem Typus bedeutet eine Erleichterung fuer den Urteilenden. Die nuetzlichsten Begriffe sind deshalb die mit dem groessten Grad der Generalisierung. Wo wir aber Dinge-ansich denken, zaehlen wir bloss inhaltsleere Begriffe zusammen. Kein Begriff und kein Urteil hat  allgemeine  Gueltigkeit. Sie sind lediglich fuer subjektive Zwecke von praktischer Nuetzlichkeit. Objektive Gruende sind nur untergeschoben. Die Problematik des Denkens liegt immer in der  Entscheidung,  welchen Begriff wir anwenden sollen. Wir muessen beurteilen, d.h. entscheiden, welcher Begriff in einer konkreten Situation am besten passt.

Das Urteilen besteht im Vergleichen zweier Begriffe. Jeder Begriff enthaelt jedoch seinerseits wieder schon viele Urteile. Wir brauchen als Voraussetzung unseres Denkens immer die Definition unserer Grundbegriffe als theoretische Grundlage. Aber auch in den Grundbegriffen sind schon Urteile und Schluesse enthalten, so dass wir bei aller Logik letzten Endes immer auf uns selbst verwiesen sind. Aus der Logik lassen sich nur Urteile begruenden, die unsere Begriffe betreffen, aber nicht die Wirklichkeit. Die Logik sagt nur  wie  wir denken sollen, nicht aber  was  wir denken sollen. Wenn wir einen Begriff bloss benuetzen, ist die Denkarbeit auf dem jeweiligen Gebiet eigentlich schon zuende. Letztlich sind alle logischen Urteile bloss Tautologien. "Wer aus der Sprache heraus ein analytisches Urteil faellt, der leistet so wenig Denkarbeit, als es Bergmannsarbeit ist, ein ererbtes Goldstueck aus einem Kasten zu holen."(29)

Die Ordnung der Logik ist der Ordnung der Sprache unterworfen. Logik steht fuer die Macht, Wirklichkeit zu  setzen.  Logisch werden aber niemals  alle  Aspekte der Wirklichkeit erfasst. Stets fuegt die Einbildungskraft bei der Schilderung der Wirklichkeit etwas hinzu oder laesst etwas weg. Keine Sprache der Welt ist fein genug, um alle Nuancen des Wirklichen begreifen. Die Struktur der Logik zwingt uns dauernd Dingbegriffe auf. Die Welt besteht aber nicht aus Dingen. Jede Bestimmung der Realitaet ist zugleich immer auch eine Einschraenkung und Verminderung. "Determinatio est negatio."(30) Die Logik ist deshalb nicht nur die Logik der Setzung, sondern gleichzeitig auch das Prinzip der Gegensetzung, bzw. Gegensaetzlichkeit. Inhaltliche Begriffsbestimmung bedeutet immer eine subjektive Abgrenzung gegen andere Moeglichkeiten und schliesst damit indirekt auch eine Verneinung ein. Verbegrifflichen ist immer Grenzen setzen. Mit der Setzung ist auch der Ausschluss gegeben. "Jede Sprache setzt dem Geist ... gewisse Grenzen, schliesst, insofern sie eine gewisse Richtung gibt, andere aus."(31)

Dass aus Unterschieden Gegensaetze werden, haben wir weltfremder Abstrahierung zu verdanken. Es liegt schon im Sprachgebrauch, Zweiheit und Verschiedenheit hervorzubringen. In der rituellen Logik wird dann der Entweder-Oder-Standpunkt festgeschrieben. Die Logik kennt keine dritte Moeglichkeit: tertium non datur. Die Gegensaetzlichkeit ist aber ein Produkt unseres Denkens und nicht in der Wirklichkeit vorhanden. Unser ganzes Denken ist so beschaffen, dass wir nur allzuleicht in Gegensaetzen denken. Die Sprache schafft die Unterscheidungen und ist der Ursprungsort unserer Dualismen. Zuerst reissen wir die Dinge aus dem wirklichen Zusammenhang und dann fuegen wir sie gedanklich, also kuenstlich und in unserem subjektiven Interesse wieder zusammen. Warum aber diese oder jene Gegenstaende gesetzt werden und nicht andere, ist weitgehend willkuerlich. In der dualen Sprachstruktur ist der Konflikt deshalb schon mitenthalten. Warum diese oder jene Tatsachen problematisiert werden und nicht andere, ist vom Interesse des Denkers abhaengig. "Wir sind es, die Relativitaet, Zahl, Gesetz, Freiheit, bzw. Grund und Zweck erfunden haben"(32) alles Hypothesen, mit denen wir die Welt vermenschlichen.

Der Objektivismus, der sich aus einem uebertriebenen logischen Optimismus, d.h. aus einem unkritischen Glauben an die Faehigkeiten der Logik ergibt, hat fuer die europaeische Tradition seine Wurzeln in Griechenland. In der gesamten griechischen Philosophie galt offen bis latent das Axiom: Die Sprache spiegelt die Welt, die selber logosartig ist. So waren die aristotelischen Kategorien noch bis ins 18. Jahrhundert fuer die offizielle Wissenschaftswelt der bestaendige Rahmen des geistigen Lebens. ARISTOTELES war ueberzeugt, dass die Wahrnehmung, die sein Wirklichkeitskriterium darstellte, nur Qualitaeten lieferte. Man glaubte, dass alle Phaenomene (auch die geistigen) im Sinne der Quantitaet untersucht und bewertet werden koennen und sollen. Es wurde allgemein vorausgesetzt, dass der Ausdruck  Ding  im Gegensatz zur  Idee  etwas bezeichnet, das ausserhalb unseres Denkens existiert. Das war ein grosser Irrtum: Unsere ganze Erkenntnis bezieht sich auf eine  kategorial  geformte Wirklichkeit. Die rationalistische Antwort auf das Problem der Gewissheit fuehrte zu einer Wissenschaft der Mechanik auf der Grundlage quantitativer Eigenschaften. Es wurde geglaubt, hinter den Qualitaeten laege ein Wirkliches, Wirkendes, eine Substanz. Erst BERKELEY sagte: Wenn wir die Qualitaeten wegnehmen, bleibt nichts uebrig.

Die Zurueckfuehrung der Qualitaeten auf Quantitaeten ist das Hauptanliegen der modernen Naturwissenschaften. Diese Methode wird auch Reduktionismus genannt. Die reduktionistische Weltbetrachtung ist stets darauf aus, saemtliche Qualitaeten durch quantifizierte Vorgaenge zu ersetzen. Mit jeder Quantifizierung des Seelischen ist eine Verraeumlichung und Vergegenstaendlichung von fliessendem Erleben verbunden. Der Fluss der Dinge laesst sich nicht logisch fassen. In der quantitativen Betrachtung kommt nur das unter einem gemeinsamen Mass vereinheitlichte zum Ausdruck.  Qualitas  ist die Wieheit, die Eigenheit. Der Zweck der Verwertungslogik dagegen heisst Maximierung. Das  wieviel,  aber nicht das  wie  ist hier das Entscheidende. Das wissenschaftliche, d.h. rationale Gebaren, macht das Unbestimmte kuenstlich zu etwas Berechenbarem. Die Wirklichkeit, oder das was  ist,  ist jedoch kein Resultat des logischen Denkens. Die Ganzheitseigenschaften werden zerstoert, wenn eine organische Ganzheit auseinandergenommen und physisch oder theoretisch in Einzelteile zerlegt wird. "Die Methode aber, welche zur Beherrschung der Natur leitet, verlangt nichts Geringeres, als eine bestaendige Zertruemmerung der synthetischen Formen, unter denen uns die Welt erscheint, zur Beseitigung alles Subjektiven."(33)

Berechenbarkeit ist oberste Voraussetzung fuer jede Art von Machbarkeit. Nur Quantitaeten und kontextunabhaengige Groessen koennen einem mathematischen Modell unterworfen werden. Quantitaet ist dem technischen Praktiker deshalb viel wichtiger, als unverwechselbare Qualitaet. Die Quantitaet gehoert in die Welt des analogen Rechnens. Quantitaeten scheinen objektiv, weil sie die logische Folge von Masseinheiten sind, die als objektiv gesetzt werden. Quantitaeten sind ein Produkt des Messens.  Dass  wir messen hat aber keine grosse Bedeutung in Bezug auf die Frage  ob  wir ueberhaupt messen sollen. Das blosse Rechnen sagt nichts ueber seine Zweckmaessigkeit aus. Niemand darf glauben, dass er die Welt unvoreingenommen betrachtet. Es ist immer unser Zweckdenken, das uns den quantitativen Aspekt dem qualitativen vorziehen laesst. Qualitativ bedeutet in der Wissenschaft immer ungenau quantitativ. Deshalb muessen wir Fragen der Qualitaet strikt von Fragen der Quantitaet unterscheiden. Unersetzbarkeit ist die Konsequenz von Qualitaet.

Diese Unersetzbarkeit bedeutet nichtreproduzierbare Einmaligkeit, die in der technischen Verwertung durch das abstrakte Denken keine Verwendung findet. Was wir nicht quantifizieren koennen ist nicht wirklich und wird als unwesentlich unterdrueckt. Die rationale Betrachtung der Welt setzt immer schon ganz bestimmte Zwecke wie  Ordnung, Nuetzlichkeit, Machbarkeit, Beherrschbarkeit  etc. voraus. Die Bevorzugung der Rationalitaet, Objektivitaet und Logik heisst Bevorzugung der quantitativen Berechnungen und ist im Prinzip der Vorzug der kaufmaennischen Menge, welche Profit verspricht. Im technisch-industriellen Zeitalter herrscht die quantitative Sicht der Wirklichkeit vor. Diese Sicht vertraegt sich am besten mit der Oekonomisierung der Welt. Das Quantifizieren ist die rechnerische Art der Erkenntnis. In kuenstlerischen oder religioesen Fragen dagegen ruecken qualitative Momente des konkret Einzelnen in den Vordergrund.

Die gegenstaendliche Welt der abgegrenzten und geformten Dinge ist im Geist  gesetzt  und nicht ansich und objektiv gegeben. Wirklichkeit ist immer qualitativ bestimmtes Einzeldasein. Die qualitative Differenz der Individuen ist eine Grundtatsache allen organischen Lebens. Jede Qualitaet ist einzigartig und bleibt im Grunde ewig verborgen, okkult. Es kann keine zwei identischen Qualitaeten geben. Es gibt keine  Qualitaet ansich  in der Wirklichkeit. Alle sinnlichen Qualitaeten beduerfen eines lebendigen Traegers. Qualitative Unterschiede sind inkommensurabel, quantitative aber nicht. Im bloss mechanischen Denken ist alles ohne Leben und ohne Seele. Die Dinge sind nun austauschbar, aber ohne schoepferische Kraft. Es hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Welt des Messens und der  objektiven Materie  ist eine kuenstliche und scheinbare Welt.

"Es bleibt also dabei: Das Qualitative ist von dem Quantitativen durch eine Kluft getrennt, ueber die auch die Psychophysik der Zukunft keine Bruecke schlagen wird. Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts mochte glauben, dass jedem  einfachen  und bloss  ausgedehnten  Koerper eine ebenso einfache Sinnesempfindung  parallel  zu setzen sei, und dass man daher die Wirklichkeit more geometrico behandeln koenne. Wir sollten heute endlich gelernt haben, dass die rationalen  Welten  erst Produkte der generalisierenden Abstraktion sind, und dass sie deshalb zwar gewiss nicht aufhoeren, theoretisch und praktisch wertvoll zu sein, aber niemals mit individuellen Wirklichkeiten zusammenfallen."(34)
Alle Kategorien stehen im Dienst einer objektivierenden Erkenntnis. Begriffe sind aber nicht Ziel der Erkenntnis. Begriffe sind immer nur Idealbilder. Wir versuchen der Natur mittels verbaler Etiketten lediglich Einheit anzudichten.(35) Mit der Logik fotografieren wir die Welt. Das Bild ist aber nicht die Wirklichkeit. Die Bezeichnung der Zahlen durch Ziffern, der Laute durch Buchstaben - alles Konvention. Die intelligible Welt ist eine Welt der Dichtung.(36) Es gibt keine objektiven Qualitaeten. Alles Qualitative bleibt ein seelisches, bzw. geistiges Phaenomen. Fuer die moderne Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Totalwissen bedeutet die Einmaligkeit der individuellen Existenz immer ein Herumtappen im Feld des Besonderen. Da macht auch die moderne Chaostheorie keine Ausnahme. Dem naturwissenschaftlichen Vorbild zu folgen heisst immer die Bewusstseinsphaenomene zu verdinglichen. Die objektive Taetigkeit heisst: vergegenstaendlichen. Ein objektiviertes Chaos ist nur eine neue Partitur im alten Lied. Objektiv =  dinghaft.  Wissen ist Vergegenstaendlichung und damit Mechanisierung. "Das Denken ist Dingheit, oder Dingheit ist Denken."(37)

Die Welt der isolierten Gegenstaende wird in der klassischen Logik als etwas Fixes betrachtet. Womit wir es aber zu tun haben, sind uebergreifende oder tieferliegende Zusammenhaenge, Prozesse oder Beziehungen, bzw. ein unendlicher Regress von Beziehungen, niemals ein isoliertes Ding. Auch wenn in der Chaostheorie etwas undogmatischere Toene anklingen, bleibt man doch einer Messbarkeit und einem  Wesen  der Dinge verhaftet. Auch wenn die Chaostheorie fuer die klassische Logik einen gewissen Fortschritt darstellt, so bleibt sie in Bezug auf die Wirklichkeit reduktionistisch.

"Man versuche nur einmal, die Wirklichkeit  genau  zu  beschreiben,  d.h. sie mit allen ihren Einzelheiten,  so, wie sie ist,  in Begriffe aufzunehmen, um dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen, und man wird wohl bald die Sinnlosigkeit eines derartigen Unternehmens einsehen. Die empirische Wirklichkeit naemlich erweist sich als eine fuer uns unuebersehbare Mannigfaltigkeit, die immer groesser zu werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen und sie in ihre Einzelheiten aufzuloesen beginnen, denn auch das  kleinste  Stueck enthaelt mehr, als irgend ein endlicher Mensch zu beschreiben vermag, ja was er davon in seine Begriffe und damit in seine Erkenntnis aufnehmen kann, ist geradezu verschwindend gering gegen das, was er beiseite lassen muss. Haetten wir also die Wirklichkeit mit Begriffen abzubilden, so stuenden wir als Erkennende vor einer prinzipiell unloesbaren Aufgabe, und so wird es denn, wenn irgend etwas, das bisher geleistet ist, ueberhaupt den Anspruch machen darf, Erkenntnis zu sein auch fuer den immanenten Wahrheitsbegriff wohl dabei bleiben muessen, dass Erkennen nicht Abbilden durch Beschreibung der  Phaenomene,  sondern  Umbilden,  und zwar, wie wir hinzufuegen koennen, im Vergleich zum Wirklichen selbst, immer  Vereinfachen  ist."(38)
Das logische Ideal ist ein System absolut allgemeingueltiger Formeln, mit denen sich eine generelle Geltung behaupten und fordern laesst. Sich auf eine objektive Wirklichkeit zu berufen, zeugt aber bestenfalls von Unwissenheit, wenn nicht von Taeuschungsabsicht. Der individuelle Beitrag an der Gestaltung der Wirklichkeit wird im objektiven Denken unterschlagen. Nur so sind neutrale Wissenschaftler moeglich, die sich scheinbar dem Diktat der Tatsachen unterwerfen, tatsaechlich aber diese Wirklichkeit erst erfinden, indem sie unausgesprochene Zwecke, bzw. Werte voraussetzen, nach denen sie die Welt erschaffen.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    17) Vgl. KARL POPPER, Logik der Forschung, Tuebingen 1989, Seite 87
    18) FRIEDRICH WAISMANN, Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart 1985, Seite 54f
    19) FRIEDRICH WAISMANN, Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart 1985, Seite 240
    20) E.F. APELT, Die Theorie der Induktion, Leipzig 1854, Seite 59
    21) FRANZ AUSTEDA in ERNST TOPITSCH (Hrsg), Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1960, Seite 79
    22) KEN WILBER, Das Spektrum des Bewusstseins, Bern/Mchn/Wien 1987, Seite 103
    23) ALBERT EINSTEIN, Mein Weltbild, Frankfurt/Berlin/Wien 1921, Seite 3f
    24) KARL JASPERS, Was ist Philosophie, Muenchen 1980, Seite 326
    25) FRITZ MAUTHNER, Beitraege zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Frankfurt/Berlin/ Wien 1982/II, Seite 44
    26) FRITZ MAUTHNER, Beitraege zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Frankfurt/Berlin/ Wien 1982/I, Seite 514
    27) HEINRICH RICKERT, Grundprobleme der Philosophie, Tuebingen 1934, Seite 128
    28) GEOFFREY CHEW, ohne Quelle
    29) FRITZ MAUTHNER, Beitraege zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Frankfurt/Berlin/ Wien 1982/III, Seite 373
    30) SPINOZA, Bestimmung ist Verneinung.
    31) WILHELM VON HUMBOLDT, Schriften zur Sprache, Stuttgart 1973, Seite 1
    32) FRIEDRICH NIETZSCHE in VAIHINGER 1911, Seite 782
    33) F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus, 2 Bde. Frankfurt/Main 1974 II, Seite 985
    34) HEINRICH RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, Seite 152
    35) Vgl. A. B. JOHNSON in ANATOL RAPOPORT: Bedeutungslehre, Darmstadt 1972, Seite 431
    36) Vgl. F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus, 2 Bde. Frankfurt/Main 1974 II, Seite 509
    37) G.W.F. HEGEL in GEORG LUKÀCS, Der junge Hegel, 2 Bde., Frankfurt/Main 1973 II, Seite 769
    38 HEINRICH RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, Seite 49f