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Von der Allgemeinbildung des Publikums
John Stuart Mill

Unter einer  allgemeinen Kenntnis  verstehe ich nicht einige wenige unbestimmte Eindrücke. Ein ausgezeichneter Mann, der Erzbischof  Whately, hat zwischen einer  allgemeinen Kenntnis und einer  oberflächlichen Kenntnis richtig unterschieden. Eine allgemeine Kenntnis von einem Gegenstand haben heißt, nur die  leitenden Wahrheiten über denselben wissen, aber diese nicht oberflächlich, sondern gründlich wissen, sodaß man einen richtigen Begriff vom Gegenstand in seinen Hauptumrissen besitzt, während man die genaueren Details denen überläßt, welche derselben zu den Zwecken ihrer besonderen Aufgabe bedürfen. Eine große Anzahl von Gegenständen bis zu diesem Grad zu kennen, ist durchaus nicht unverträglich mit der vollkommenen Kenntnis eines Gegenstandes, wie sie von denjenigen gefordert wird, welche daraus ihre hauptsächliche Beschäftigung machen. Diese Verbindung ist es, welche ein erleuchtetes Publikum gibt, einen Verein  gebildeter Köpfe, deren jeder durch die Aneignungen in einem eigenen Fach gelehrt worden ist, was wirkliche Wissenschaft ist, und der genug von anderen Gegenständen weiß, um diejenigen herausfinden zu können, welche diese Dinge besser verstehen, als er selber. Das Maß an Wissen ist nicht gering zu schätzen, welches uns zu dem Urteil befähigt, an wen wir uns um ein Mehr zu wenden haben. Da die Elemente der wichtigeren Studien sehr weite Verbreitung haben, so finden diejenigen, welche die höheren Gipfel erstiegen haben, ein Publikum, welches fähig ist, ihre Überlegenheit zu würdigen, und vorbereitet ihrer Leitung zu folgen.  Auf eben diese Weise finden sich auch Geister, welche fähig sind, die öffentliche Meinung hinsichtlich der größeren Aufgaben des praktischen Lebens zu leiten und zu läutern. Das Staatsleben und die bürgerliche Gesellschaft sind die zusammengesetztesten aller Gegenstände, welche dem menschlichen Geist zugänglich sind, und derjenige, welcher in denselben richtig urteilen will, wie ein Denker und nicht wie ein blinder Nachtreter einer Partei, bedarf nicht nur einer allgemeinen Kenntnis der leitenden Tatsachen im Leben, der moralischen wie auch der materiellen, sondern eines in den Grundsätzen und Regeln des gesunden Denkens bis zu einem Grad geübten und geschulten Geistes, wie ihn weder die Lebenserfahrung allein noch irgendeine einzelne Wissenschaft oder ein Zweig der Erkenntnis zu bilden vermag.

LITERATUR, John Stuart Mills, Gesammelte Werke, Bd. 1, (hg. Gomperz) Rektoratsrede in St. Andrews von 1867, Leipzig 1869