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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Ordnung
- I I -

1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
  6. Moral
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
"Um aber den Zweck der Machtvermehrung nicht offenkundig werden zu lassen, wird er mit fingierten Tatsachen verschleiert. "

In der analogisierenden Tendenz des objektivistischen Alltagsdenkens begegnen wir der unzulässigen Zusammenkopplung von Allgemeingültigkeit und Wahrheit. Gewohnheit und Nachahmung sind es, die unser Urteil bestimmen, nicht etwa Einsicht. Die Denkgewohnheiten werden durch ständige Wiederholung mit der Wirklichkeit identifiziert. Alltagswissen bedeutet die Allgemeingültigkeit leichthin überprüfter und bewährter Information. Unser Alltagswissen ist immer pragmatisch und praktisch, d.h. beschränkt auf einen unmittelbaren Zweck gerichtet. Viele Situationen würden auch ungenutzt verstreichen, wenn wir uns nicht unverzüglich entscheiden könnten. Wir müssen uns aber immer im Klaren sein, daß das Alltagsinteresse nie über ein praktisches Wissen hinausgeht. Im gewöhnlichen Leben verzichten wir aus rein praktischen Gründen auf eine vollständige Überprüfung der Stichhaltigkeit einer Information.

Weiterführende Sinnzusammenhänge herzustellen erscheint vor dem Zwang der alltäglichen Notwendigkeit als unnütze Schöngeisterei. In den Schlagwörtern des Alltagsdenkens werden deshalb wesentliche Unterschiede vernachlässigt. Wer allgemeine Begriffe benützt, fühlt sich immer genötigt, eine große Anzahl übereinstimmender Dinge in die gleiche Form zu fassen, um sie, seinen praktischen Zwecken entsprechend, bequemer greifen zu können.

Die ganzen Allgemeinbegriffe und am meisten die allgemeinsten, betreffen aber nicht die Wirklichkeit, sondern unser Denken. Alles Denken ist differenzieren und gleichsetzen. Urteilskraft ist die Fähigkeit unterscheiden zu können, ob differenziert oder gleichgesetzt werden soll. Eine solche Unterscheidung ist die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem. Die Unfähigkeit Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, gehört zur Definition der Dummheit. Die Angewohnheit des allgemeinen Denkens erzeugt die alltägliche Indifferenz, d.h. Durchschnittlichkeit. Durchschnittlichkeit ist ein ausgezeichneter Berechnungsfaktor, mit dem alles auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Das Mittelmaß ist die Personifizierung des Allgemeinen. Die Menge der Menschen fällt keine eigenen Urteile und lebt kein eigenes Leben. Die Allgemeinbürger werden gedacht und lassen sich leben.

"Der durchschnittliche Mensch entdeckt  Gedanken  in sich, aber er kann nicht denken. Darum sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung." 13)
Alle objektiven Verallgemeinerungen sind nützliche Gewohnheiten. Die Gewohnheit ist die Neigung fortwährend das Gleiche zu tun. In der allmählichen Gewöhnung reduziert sich unser Verhalten auf einen leblosen Automatismus. Wir halten zwanghaft an mehr oder weniger willkürlich übernommenen Ansichten fest. Die Gewohnheit ist ein gegensatzloses Tun, das schließlich jede Initiative tötet oder zur gänzlichen Bevormundung wird. Das Gewohnte wird sogar noch herrschender, als das Mächtige, da es nicht mehr ins Bewußtsein tritt. Alles Gewohnte wird zum Bedürfnis und kann daher nur noch mit Schmerz entbehrt werden. Die starre Aufrechterhaltung stereotyper Rollen hat zwangsweise zur Folge, daß jede Änderung mit großer Aufregung verbunden ist. Jede Veränderung in den Denk- und Lebensgewohnheiten ist deshalb lästig.
"Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt ... richtet sich in Wahrheit gegen die verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist. ... Bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten steht die unbewußte Furcht im Weg, das theoretische Denken könnte die mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als verkehrt und überflüssig erscheinen lassen." 14)
Anpassung und Identifikation werden zum Abwehrmechanismus, um die eigene Ohnmacht nicht allzusehr bewußt werden zu lassen. Vielen Menschen scheint die Knechtschaft nicht so unerträglich, als die zur Selbständigkeit notwendige Geistesstärke. Der unkritische Alltagsverstand vermeidet deshalb moralische Widersprüche durch Ignoranz. Allgemeingültigkeit ist im Prinzip nichts anderes, als Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber. Durch Anpassung und Konformität entsteht dann das  normale  Weltbild.

Der Pragmatismus des Alltagsdenkens ist der Maßstab von Normalität und gesundem  Menschenverstand.   Norma  (Maß, Winkel) bezeichnet im Wort  normal  den allgemeinen Typus. Das Ordnungsprinzip braucht die Allgemeinheit der Vorstellungen, damit das Einzelne nicht ständig miteinander in Konflikt gerät. Normalität und Allgemeinheit werden identifiziert - die allgemeine Meinung wird eine beherrschende. Bürgerliches Ansehen zu genießen, heißt festgebunden zu sein durch tausend Konventionen, Gewohnheiten und Pflichten. Die  Gesellschaft  schließt deshalb bisweilen auch Bevölkerungsgruppen, die nicht ihrem eigenen Gesellschaftsbild entsprechen, gewaltsam aus, um ihre eigene Identität wahren zu können.

"Der Mensch(?) hat ein vitales Interesse daran, sich einen Orientierungsrahmen zu erhalten. Hiervon hängt seine Handlungsfreiheit und letzten Endes sein Identitätsgefühl ab. Wenn andere ihn mit Ideen bedrohen, die seinen Orientierungsrahmen in Frage stellen, so wird er auf diese Ideen wie auf eine lebensbedrohende Gefahr reagieren. Er kann diese Reaktion auf mancherlei Weise rationalisieren. Er wird vielleicht sagen, daß die neuen Ideen ihrem Wesen nach  unmoralisch, unkultiviert, verrückt  seien, oder was er sich sonst ausdenken mag, um sein Widerstreben dagegen zum Ausdruck zu bringen; tatsächlich jedoch wird sein Antagonismus dadurch erregt, daß er sich bedroht fühlt." 15)
Für das Allgemeine ist immer das Besondere das Problem. Reine Allgemeinheit, so wird geglaubt, ist gleichbedeutend mit Problemlosigkeit. Deshalb wird alles nicht gängig Kategorisierbare ausgegrenzt. Was wir in der Ordnung suchen ist Sicherheit. Die Grenze ist das Hauptinstrument zur Schaffung von Ordnung. Diejenigen, die die Macht weder regieren noch beseitigen kann, erklärt sie für verrückt. Normalität wird stets im Interesse der Herrschenden definiert. Im Falle der Nicht-Identifikation mit allgemeingültigen Vorstellungen droht Privation, d.h. Isolation. Isoliert sein heißt machtlos sein.

Der Preis zur Gewährung der Mitgliedschaft im Establishment ist das fraglose Akzeptieren von Autorität. Politische Macht und finanzielle Mittel werden denen zugebilligt, die sich systemkonform verhalten. Jeder tiefere Zweifel am System wird mit Mißfallen betrachtet. Durch Ungehorsam handelt  man  sich nur Unannehmlichkeiten ein. Jede nichtkonforme Minderheit ist gezwungen, die Feindseligkeiten einer konformistischen Umwelt zu ertragen. Der Nichtangepaßte ist den Aggressionen seiner Mitmenschen ausgesetzt. Konvention ist die stillschweigende Übereinstimmung. Wer wagt es schon, der Meinung der Menge zu widersprechen. Die Herrschaft der Allgemeinheit zwingt unter den eigenen Willen und bricht den Widerstrebenden.

Selbständiges Denken war schon immer die größte Gefahr für politische Organisationen.

"Der Zweck der Gesellschaft eigentümlichen Kriterien von Normalität ist es, die Interessen der Mächtigen zu schützen und diese Interessen als Verhaltensnormen zu installieren." 16)
Systemkonforme Psychiater versuchen deshalb, die Konflikte ihrer Patienten dadurch zu heilen, daß sie diese für die jeweilige Ordnung geeignet machen, d.h. sie anpassen. Menschen, die in Wirklichkeit Nonkonformisten sind, werden als  krank  bezeichnet. Dem Machtwillen gilt als nicht  normal,  was sich nicht seiner Herrschaft beugt oder sich ihr sogar widersetzt. Eine normal entfremdete Person aber wird für gesund gehalten, weil sie mehr oder weniger wie jedermann handelt. "Der gespaltene Mensch betritt die Bühne als Herr Völlig-Normal." 17)

Die fraglose Verinnerlichung des Glaubens an die normale Selbstverständlichkeit der objektiven Weltsicht ist die Grundlage für die Beherrschung des  Volkes.  Die Struktur der Alltäglichkeit wird zur beherrschenden Ideologie. Psychische und geistige Zwänge treten an die Stelle der physischen. Die natürlichen und materiellen Zwecke scheinen übermächtig. So nehmen die meisten Menschen die Trivialiät ihres Lebens als unabänderlich hin. Die Menschen werden laufend in der Unvermeidlichkeit ihrer existenziellen Situation bestärkt. In der automatischen und rituellen Wiederholung von Gleichförmigkeiten entsteht der täuschende Eindruck einer geregelten Welt, welche gar nicht grundlegend verändert werden kann. Eingespannt in den täglichen Gang der Geschäfte und ihrer unvermeidlichen Notwendigkeit, bleibt der Freizeitspaß als letzte Möglichkeit einer illusionären Selbstverwirklichung. Die Sachzwänge einer alles beherrschenden  Realität  machen aus der Freiheit ein Freizeitvergnügen.

"Das Verlangen nach einer anderen Gesellschaftsordnung wird vor dem Fernsehapparat narkotisiert." 18)
Regelmäßiger und unkritischer Konsum von Pseudo-Informationen versetzt den  zombi-abstractus  in ein mediales Schlaraffenland. Die verdoppelte Wirklichkeit der Abstraktionen wirkt wie eine Traumwelt, in der wir selbst nur ein Schattendasein fristen.

Das Abstrakte, bzw. das Allgemeine, Absolute und Unendliche ist im Prinzip nichts anderes, als die logische Variante der Entfremdung. Abstrakta sind ein süßes Gift, das letztlich Geisteszerrüttung nach sich zieht. Das Unwirkliche zur Realität zu erheben ist das eigentlich Verrückte. Die Hauptaufgabe des natürlichen, flachen Realismus besteht darin, differenzierte Überlegungen zu vermeiden. Im gewohnten Alltagsleben bestehen keine Bedürfnisse mehr nach differenzierter Erkenntnis. Der Pragmatiker läßt die Widersprüche des Denkens hinter sich, um auf vordergründig gewinnbringende Weise mit dem Leben fertig zu werden. Die Anpassung an vorgegebene Normen und die Unterordnung unter Pseudo-Autoritäten schafft die Illusion der Geborgenheit. Wir folgen deshalb der Mehrheit, weil so zu verfahren für unser Leben als praktisch, nützlich und förderlich erscheint.

"Wir sind eine Herde: wir glauben, daß der Weg, dem wir folgen, zu einem Ziel führen müsse, weil wir alle anderen denselben Weg gehen sehen. Wir tasten im Dunkeln und bleiben nur deshalb mutig, weil wir auch alle anderen pfeifen hören." 19)
 Macht  ist die Vertretung des Allgemeinen. Politische Macht gibt vor, den allgemeinen Willen zu repräsentieren. Dieser allgemeine Wille ist aber letztlich nichts anderes, als ein Konsens der Mehrheit, basierend auf der Allgemeinheit der Abstraktionen. Es ist wieder der alte Machtgedanke, dieses Mal in der Maske der Allgemeinheit. Allgemeinbegriffe haben den Anspruch  überhaupt,  d.h. objektiv zu gelten. Der Objektivismus des abstrakten Denkens ist ein zentralisierendes Herrschaftsdenken, welches immer auf höchste Begriffe hinstrebt. Jede Allgemeinheit ist ein Baustein des Absoluten und Totalitären. Politisches Ziel ist es, die Allgemeinheit auf seiner Seite zu haben und die Mehrheit für sich zu gewinnen. Politische Agitatoren sind deshalb bestrebt, so viele Menschen wie möglich von sich zu überzeugen.

Um aber den Zweck der Machtvermehrung nicht offenkundig werden zu lassen, wird er mit fingierten Tatsachen verschleiert. Je wertfreier aber die Sachverhalte und Themen der politischen Argumentation dargestellt werden, desto nichtssagender und fiktiver sind sie. Es gibt im Grunde keinen Unterschied mehr zwischen Logik und Rhetorik, weil moralische Kriterien aufgrund des Objektivitätspostulats unwichtig sind. Die subjektive und objektive Seite eines Arguments fließen ineinander, ohne daß das deutlich wird. Der Argwohn gegen Sprache, Logik und Rationalität ist deshalb nur zu berechtigt. Sind es doch die geschliffenen Reden der Politiker, die uns eine Welt widerspiegeln, die es so gar nicht gibt.

Ideologien dienen immer dazu, subjektiven Interessen rechtfertigende Motive anstelle der wirklichen zu unterstellen. Herrschaft wird im Namen erhabener Abstraktionen und logischer Formeln ausgeübt. Die objektive Wertfreiheit der Tatsachen dient dabei lediglich als Aushängeschild. Das Interesse der Macht ist die ausbeutbare Ordnung, d.h. eine Ordnung, die sich der Ausbeutung fügt. Die Rechenhaftigkeit der Verwertungslogik beugt alles Unberechenbare unter ihre Zwecke. Solche Ideologien lassen sich hervorragend zur Rechtfertigung von  Aneignung  verwenden. Die Tatsachen scheinen gar nicht anders möglich, als in ihrer Rechenhaftigkeit. Mit ideologischen Denksystemen soll in weltanschaulichen Dingen getäuscht werden. Mit fadenscheinigen Argumenten werden die verschiedensten Formen von geistiger und materieller Ausbeutung beschönigt. Ideologie ist praktisches Vorteilsdenken, das aber als solches verschleiert ist oder wird. Durch die Ideologisierung wird die brutale Anwendung von Gewalt überflüssig - das Ergebnis ist aber das gleiche.

Es sind primär traditionelle Wirklichkeitsbestimmungen, die einen sozialen Wandel behindern. Je nach der  politischen  Ausrichtung wird eine  gute  oder  schlechte  Natur des Mensch konstruiert. Konservative wie progressive Haltungen entspringen einer Überzeugung vom Bösen, bzw. Guten im Individuum und einer tiefen Skepsis oder einem großen Optimismus in Bezug auf soziale und ökonomische Reformen. Konservative oder utopistische Ideologien leiten aus der Verwerflichkeit, bzw. Güte des Menschen die Unvermeidlichkeit politischer Macht ab. Im Grunde unterscheiden sich die Autoritäten des konservativen und utopistischen Lagers nicht besonders.  Autorität  ist der Schlüsselbegriff und der  Staat  Inbegriff politischer Autorität. Die alten reaktionären und fortschrittlichen Ideologien sind aber gleichermaßen naiv. Mit der  Natur des Menschen  oder der Natur der  Dinge  rühren wir nicht an die wirklichen Probleme, die Menschen betreffen oder die Wirklichkeit.

Es geht nicht darum, ob der  Mensch ansich  utopisch  gut  oder realistisch  böse  ist, weil es keinen Menschen  ansich  gibt. Immer sind es wir selbst, die das Gute oder Böse erzeugen. Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die  Meinung,  die wir von den Dingen haben. Der naive Glaube an die Objektivität der Sprache und der Tatsachen ist darum nur eine Variante des religiösen Glaubens an eine höhere Macht, deren Wirken sich unserem Einfluß entzieht.

"Zur tiefsten Ursache jedes Herrschaftssystems gehört es, daß alle und jede Politik letzten Endes Religion ist und als solche danach strebt, den Geist des Menschen in den Ketten der Abhängigkeit festzuhalten." 20)
In der logischen Beharrlichkeit ist das konservative Element gleich mitgesetzt. Wer das Wort mit der Sache gleichsetzt, für den gibt es auch keinen Unterschied zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Alle Veränderung und Kritik trifft nicht die Wirklichkeit, sondern nur Worte. Alle Auseinandersetzungen sind nur verbale, die an der konkreten Wirklichkeit nichts ändern. Das Quantifizierte ist eine statistische Größe, mit der Politik getrieben werden kann, ohne daß sich deswegen an den Realitäten etwas ändern müßte. Das Einzige, das sich allenfalls ändert, ist die Art und Weise der Quantifizierung und Verallgemeinerung. In seiner groben Allgemeinheit ist das Alltagsdenken deshalb politisch ohnmächtig und kann unmöglich einen reformierenden Einfluß ausüben. Das Allgemeine erscheint dem Besonderen, und damit allem Wandel übergeordnet, es kennt keine Entwicklung. Umso abstrakter sich eine Sache darstellt, desto schwieriger ist auch ihre Verwirklichung. Die machtvollsten Abstraktionen wirken durch ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie unkritisch hingenommen werden.

Wer sich aber der logischen und ideologischen Verwirrung entziehen will, muß unterscheiden können zwischen sinnlichen Einzelheiten und unsinnlichen Allgemeinheiten. Etwas Allgemeines ist nicht anschaulich und kann gar nicht anschaulich sein.  In abstracto  d.h. ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse. Abstrakt heißt ohne Beschränkung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, an dem sich die Dinge abspielen. Die scheinbare Realisierung des Allgemeinen ist nur über eine Vergewaltigung des Denkens und des Bewußtseins der Menschen durch Fiktionen möglich. Abstraktion ist Fiktion.

"Ein Wille, der nur das abstrakte Allgemeine will, will  nichts  und ist deswegen kein Wille." 21)
Die Verwirklichung des Allgemeinen ist gleichbedeutend mit der Verwirklichung von Illusion und Täuschung. Ein hoher Allgemeinheitsgrad ist im Grunde gleichbedeutend mit Unveränderlichkeit. "Das Allgemeine ist als Abstraktes nicht zu vollbringen." 22) Das Abstrakteste ist das Absoluteste. Das Absolute aber ist unveränderbar.
"Es ist das Wahrzeichen aller reaktionären Wünsche, daß sie etwas Allgemeines, Abstraktes, einen leblosen und leeren  Begriff  herstellen wollen, wogegen die Eigenen das stämmige, lebenvolle  Einzelne  vom Wust der Allgemeinheiten zu entlarven trachten." 23)
Die Gefährlichkeit der Ideologien liegt deshalb gerade in der subtilen Art und Weise, in der sie individuelle Freiheit einem abstrakten Schema unterordnet. Die Gesellschaft, die Allgemeinheit und der Staat sind es eigentlich, die für die Objektivität  bürgen.  Alle Objektiva sind Kollektiva. Daß viele oder alle Menschen aber einen Begriff in einer einzigen Weise deuten, ist noch lange kein Grund für seine Wahrheit. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne sich mit Hilfe der allgemeinen Begriffe der zeitraubenden Mühe entheben, sich mit dem Individuellen befassen zu müssen. Die Berufung auf einen allgemeinen Sprachgebrauch ist immer irrelevant. Massenhalluzinationen können keine Bestätigung liefern.

Alle Verallgemeinerungen sind quasistatistisch. Die "Apostel der Umgangssprache" 24) handeln mit ihren  mans  und  ansichs  immer nur mit durchschnittlichen und statistischen und damit politischen Größen. Das Allgemeine ist aber immer nur gedacht,  meine  Wirklichkeit dagegen ist nicht allgemein. Was wirklich (mich) betrifft, ist auch nur mir persönlich zugänglich. Wo jemand über meine eigenen Angelegenheiten besser Bescheid weiß, als ich selbst, stimmt etwas nicht. Der Wert meiner  Freiheit  ist ein subjektives Phänomen. Eine objektive Freiheit ist ein Widerspruch ansich.

Die Unwiederholbarkeit des individuellen Geschehens verlangt vom Betrachter eine geistige Haltung, die von einem steten und aktuellen Fluß des spontanen und kreativen Denkens geprägt ist. Eine solche Einstellung ist aber das absolute Gegenteil von  alltäglich.  Auch wenn wir nicht anders als abstrakt denken können, sollten wir die wesentlichen Dinge nicht unnötig vervielfachen, ganz im Sinne des Ockhamschen Rasiermessers. Konkretes Denken ist nur so allgemein, wie unbedingt nötig. Hierin unterscheidet sich die Vernunft von der Logik. Jede besondere Seele hat ihre eigenen Bedingungen. Glück und Leid  ansich  sind nicht  mein  Glück und  mein  Leid. Lust, Unlust, Glück und Leid gibt es nur für das konkrete Individuum.

"Meine Sache ist weder das Göttliche, noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw. sondern allein das Meinige und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin." 25)
Der Individualismus behauptet deshalb den absoluten Vorrang der Eigenverantwortlichkeit, die keine Gemeinschaft abnehmen kann. Jeder hat sein eigenes Leben zu leben und kann sich dabei von niemandem vertreten lassen. Individualität bedeutet konkrete Existenz, die sich einmalig nur an einem Ort und nur zu einer Zeit ereignet. Gerade diese Umstände machen ihre Unverwechselbarkeit aus. Was ich unmittelbar hier und jetzt empfinde und denke, läßt sich nicht verallgemeinern und mit ähnlichen Gefühlen und Gedanken gleichsetzen, ohne daß der gerade spezifische Charakter des Erlebens verlorengeht. Objektivierung bedeutet Entsubjektivierung. Jede Verallgemeinerung hat etwas Entmenschlichendes. Wenn Wissen und Erfahrung keine persönliche Aktivität mehr sind, werden unsere Gefühle zu Dingen, Waren, Verkaufsobjekten. Sklave ist der Mensch, der rechtlich keine Person mehr ist, sondern bloß Sache. "Wenn es ein Phänomen wie das absolute Böse überhaupt gibt, dann besteht es darin, einen Menschen wie ein Ding zu behandeln." 26) Die höhere Würde eines Menschen duldet keine Quantifizierung.

Selbstsein ist nie Objekt sein. Das Wesentliche an einer Person ist ihre Nicht-Kategorisierbarkeit.  Individualität  meint den ganzen Menschen, den rationalen, wie auch den irrationalen. Jedes freie Wesen hat etwas Eigentümliches an sich. Freie Menschen sind deshalb einer autoritären Gesellschaft immer unbequem. Bei der Entwicklung eines individuellen Bewußtseins kommt es zu Konflikten mit der  objektiven  Umwelt. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, Divergenzen zu glätten und zu harmonisieren, sondern die Spannungen fruchtbar auszutragen. Jeder soziale Wandel pflegt mit Konflikten einherzugehen. Wenn aber Konflikte ausgespart werden, wird das Bestehende in der Regel erhalten und fortgeführt. Eine echte Demokratie ist nur sinnvoll, wo die Realität und Notwendigkeit gegensätzlicher Interessen anerkannt wird.

Die Vorstellung von einer konfliktfreien Gesellschaft gründet sich auf einer Haltung die absolutistische Züge trägt. Eine konfliktfreie Gesellschaft ist im Grunde unmenschlich. Nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen von Konflikten ist  unnormal.  Nicht Konflikt und Wandel, sondern Stabilität und Ordnung sind der  pathologische  Sonderfall des sozialen Lebens. Jedes Lernen ist mit Konflikten verbunden. Nur durch Überwindung von Schwierigkeiten können wir die für uns wichtigen Eigenschaften entwickeln. Sinnvolle Aufgabenstellung und das Lösen von Problemen ist die positivste Form des Lernens. Konflikte können zwar vorübergehend unterdrückt, reguliert und kontrolliert werden, aber sie können nie ein für alle mal endgültig beseitigt werden. Interessenkonflikte durch unterschiedliche Bedürfnisse wird es immer geben, Konflikte haben aber neben der beunruhigenden immer auch eine schöpferische Wirkung.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    13) ORTEGA y GASSET, Aufstand der Massen, Reinbek 1956, Seite 53
    14)
    MAX HORKHEIMER, Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie, Frankfurt 1979, Seite 189
    15) ERICH FROMM, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek 1978, Seite 221
    16) DAVID COOPER in COOPER / FOUCAULT u.a., Der eingekreiste Wahnsinn, Frankfurt 1979, Seite 52
    17) MARSHALL McLUHAN, Die Gutenberg-Galaxis, Düsseldorf/Wien 1988, Seite 289
    18) BARRINGTON MOORE, Zur Geschichte der politischen Gewalt, Frankfurt 1966, Seite 77
    19) ERICH FROMM, Psychoanalyse und Ethik, Frankfurt/Berlin/Wien 1978, Seite 267
    20) RUDOLF ROCKER, Nationalismus und Kultur, Bremen o.J., Bd.1, Seite 47
    21) G.W.F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1986, Seite 54
    22) G.W.F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1986, Seite 252
    23) MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 254
    24) PAUL FEYERABEND, Probleme des Empirismus, Braunschweig 1981, Seite 108
    25) MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 5
    26) JOHN BRUNNER, Der Schockwellenreiter, München 1990