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Protagoras

 
PROTAGORAS lebte lang auf Reisen, lehrte dann zu Athen und stand vierzig Jahre lang in großem Ansehen, als er aber in höherem Alter im Anfang einer Vorlesung sagte: von den Göttern vermag ich weder ob sie sind, noch welcher Art sie sind, zu sagen, denn vieles hindert dieses zu erkennen, die Dunkelheit und die Kürze des menschlichen Lebens, wurde er als Gottesleugner aus Athen verbannt und seine Schriften wurden öffentlich verbrannt. Auf der Flucht verfolgt ertrank er, als er sich aus Epirus entfernen wollte, 70 (oder nach anderen 90) Jahre alt. Er scheint sich besonders nach HERAKLIT gebildet zu haben und schrieb mehreres. Wäre uns seine Lehre in Rücksicht der praktischen Philosophie, besonders in Rücksicht der Ethik, genauer bekannt, so würde er wohl, nach PLATON im "Protagoras" zu urteilen, rühmlicher erwähnt werden müssen. Bestimmteres wissen wir aber von ihm auch nur in Rücksicht seiner Dialektik nach einigen Anführungen bei PLATON, weniger bei ARISTOTELES, nach einigen Stellen bei SEXTUS EMPIRICUS und einigen Worten des DIOGENES LAERTES.

So wie GORGIAS mit den Verneinungen, spielte PROTAGORAS mit den Behauptungen. Die Hauptsätze, welche uns von ihm blieben, sind:
    1) der Mensch ist das Maß aller Dinge, die ihm erscheinen; wie sie mir erscheinen sind sie mir, wie sie dir erscheinen sind sie dir.

    2) Jeder Behauptung ist eine andere entgegengesetzt.

    3) Es gibt keinen Widerstreit, denn redet ihr von derselben Sache, so seid ihr einig, redet ihr von verschiedenen Dingen, so streitet ihr nicht. Das heißt für die Kunst des Redners für und wider jede Sache, besonders bei Rechtssachen streiten zu können. Er fordert, daß der Redner das lernen soll.
Zur Verteidigung dieser Sätze scheint er nach PLATONs Schilderung sich vorzüglich auf HERAKLITs "Fluß der Dinge" berufen zu haben. Da nichts ist und alles nur wird, so bekommt jeder durch seine Empfindung eine andere Wahrnehmmung von den Dingen und jedem ist nur seine Wahrnehmung wahr. Alle Erkenntnis richtet sich also nur nach der besonderen Auffassungs weise des Einzelnen, jedem ist das seinige wahr und dieses nach Belieben, da die Vorstellungen stets wechseln. Wofür er denn auch sagte: alles sei wahr, weil jedem das gilt, was er gerade für wahr hält. Darum also finde kein Streit statt.

LITERATUR, Jakob Friedrich Fries, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Halle 1837