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EUGEN EHRLICH
Die Tatsachen des
Gewohnheitsrechts


"Tatsache ist dem Juristen alles was nicht oder noch nicht Recht und Rechtsverhältnis ist; aber diese Tatsachen sind bereits keimende und werdende Rechte und Rechtsverhältnisse."

"Es ist im wesentlichen immer dieselbe Frage, die die ganze Rechtsgeschichte bis auf unsere Zeit beschäftigt: wie tatsächliche Beziehungen zu Rechten und Rechtsverhältnissen werden."

"Von dem Augenblick an, da die Grundentlastung [gegenüber dem Leibherrn] vorgenommen wird, ist es nicht mehr notwendig, etwas über den Inhalt des Eigentums zu sagen; der Eigentümer braucht weder auf seinen Nachbarn, noch auf eine Übergeordneten Rücksicht zu nehmen, kann alles tun und lassen, was ihm gefällt. Jetzt gelangt man daher zu einem begrifflich unbeschränkten, unbedingen, römischen Eigentum, das nicht eine bestimmte, sondern fast jede denkbare Benutzung gestattet. Das römische *Eigentum ist ein aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang gerissenes Eigentum. Ist einmal der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem das Eigentum an Grund und Boden stand, aufgehoben, so gibt es nur noch eine einzige Frage, mit der sich das Recht des Eigentums befaßt: die Eigentumsklage."

"Und wie verhält sich das staatliche Recht zu den Trusts und Kartellen, wie verhalten sich diese zu ihm? Sie tun zumeist, als ob sie einander nicht sähen. Und doch wäre es lächerlich, wenn wir, die wir im armseligsten Kaufvertrag ein Stück der Rechtsordnung erblicken, die mächtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbände unserer Zeit nicht als Rechtseinrichtungen gelten lassen wollten. Sie sind es, allerdings nicht aufgrund staatlichen Rechts, nicht aufgrund von Entscheidungsnormen, die von Gerichten und anderen Behörden gehandhabt würden, sondern kraft eines gesellschaftlichen Gewohnheitsrechts."


Hochverehrte Versammlung!

Nach altem akademischen Brauch will ich, unter herzlichstem Dank für meine Kollegen, die mich berufen haben, unsere Universität ein Jahr lang nach Außen zu vertreten, am Tage der Rektorsinauguration über einen Gegenstand sprechen, der dem Wissensgebiet entnommen ist, dem ich mein Leben geweiht habe. Ich habe dafür das Gewohnheitsrecht gewählt, seit mehr als hundert Jahren eine der brennendsten und meist erörterten Fragen unserer Wissenschaft. Aber ich will nicht vom Gewohnheitsrecht als solchem, ich will von den Tatsachen des Gewohnheitsrechts reden. Recht und Rechtsverhältnis ist ein gedankliches Ding, das nicht in der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, sondern in den Köpfen der Menschen lebt. Es gäbe kein Recht, es gäbe auch kein Gewohnheitsrecht, wenn es keine Menschen gäbe, die darüber nachdenken würden. Aber wie sonst überall, so sind auch hier unsere Gedanken aus einem Stoff geformt, den wir der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit entnehmen. Allen unseren Vorstellungen liegen Tatsachen zugrunde, die wir beobachtet haben. Solche Tatsachen müssen vorhanden gewesen sein, bevor im menschlichen Hirn überhaupt der Gedanke an Recht und Rechtsverhältnis aufzudämmern begann. Und auch in der Gegenwart müssen jedenfalls gewisse Tatsachen vorliegen, bevor wir uns entschließen, von einem Recht und Rechtsverhältnis zu sprechen. Um diese Tatsachen handelt es sich hier. Nur das, was dabei das Gesetz bewirkt, die von der gesetzgebenden Gewalt im Staat ausgehende Vorschrift darüber, wie die Menschen in Zufkunft ihre Handlungen einzurichten haben, ist von der gegenwärtigen Betrachtung ausgeschlossen.

Der heutige Jurist ist gewöhnt, auf eine von Recht und Rechtszwang beherrschte Welt zu blicken. Dieser Welt, die die seinige ist, verdankt er seine Weltanschauung, die Recht und Rechtszwang in den Anfang aller Dinge verlegt. Ohne sie vermag er sich ein menschliches Zusammenleben kaum vorzustellen. Eine Familie, die nicht behördlich zusammengehalten oder mindestens beaufsichtigt, ein Eigentum, das nicht von den Gerichten geschützt, ein Vertrag, der nicht klagbar, ein Erbe, das nicht auf dem Rechtsweg durchsetzbar wäre, scheint ihm wenigstens als allgemeine Erscheinung unmöglich. So verbinden sich in seiner Gedankenwelt Rechtsordnung, Gericht und Rechtszwang zu einer Einheit, und da der Rechtszwang eine gerichtliche Entscheidung, und diese wieder feste Rechtsnormen voraussetzen, so pflegt er Gericht, Rechtszwang und feste, alles vorausbestimmende Rechtsnormen überall zu suchen, wo immer er eine Rechtsordnung findet.

Dem geübten Auge des Rechtsforschers entgeht es aber nicht, daß der uns wohlbekannten, von Gericht, Rechtszwang und Rechtsvorschriften in Schranken gehaltenen Geselleschaft, eine andere Gesellschaft vorausging, der all das noch fremd gewesen ist, die sich aber doch bereits einer leidlichen Ordnung erfreute. Diese Ordnung beruhte darauf,, daß die Menschen schon damals gewisse Regeln als für ihr Handeln verbindlich anerkannten und unter der Herrschaft dieser Regeln zum Teil bereits so gehandelt, sich so verhalten, ähnliche Ziele angestrebt und bis zu einem gewissen Grad auch erreicht hatten, wie später unter der Herrschaft fester Rechtsnormen, die durch Gerichte gehandhabt und mit Rechtszwang zur Geltung gebracht werden. Ob wir da schon von einer Rechtsordnung sprechen dürfen, darauf kommt es allerdings nicht viel an. Was wir hier begegnen, mag zunächst als bloße Tatsache gelten: denn "Tatsache" ist dem Juristen alles was nicht oder noch nicht Recht und Rechtsverhältnis ist; aber diese Tatsachen sind bereits keimende und werdende Rechte und Rechtsverhältnisse, und als solche finden wir in etwas späterer Zeit gleichgeartete Tatbestände wieder. Wir haben also damit zu rechnen, daß es schon auf dieser Entwicklungsstufe Regeln gibt, von denen sich die Menschen in ihrem Handeln leiten lassen, und daß bei den Menschen, die so handeln, gewisse bewußte oder halbbewußte Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle vorhanden sein müssen, die sie dazu veranlassen, die Regeln zu befolgen. Diese Regeln und Handlungen, die Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle, die sie begleiten, sind es, woraus in der Folge die Rechtsordnung herauswächst.

Aber auch wo eine gefestigte Rechtsordnung bereits vorhanden ist, stoßen wir jeden Augenblick auf rein gesellschaftliche Einrichtungen, um die sich das Recht gewissermaßen gar nicht kümmert, von denen es daher zweifelhaft sein muß, ob sie als Rechtseinrichtungen bezeichnet werden können. In etwas späterer zeit treten uns aber Einrichtungen ganz derselben Art, vom Recht anerkannt, in Rechtsnormen gefaßt, von Gerichten geschützt, entgegen. Und auch hier lohnt es sich, den Weg zu verfolgen, der vom rein gesellschaftlichen Lebensverhältnis zum Rechtsverhältnis hinüberleitet. Auch hier ist es für den Juristen von größtem Wert, den Vorstellungen, Gefühlen und Empfindungen nachzugehen, auf denen das Lebensverhältnis in seinem rein gesellschaftlichen Bestand beruth, und die schließlich bewirken, daß es vom Recht anerkannt wird. Demselben Vorwurf begegnen wir aber noch in anderer Form. Denn ganz gleichgeartete Lebensverhältnisse erscheinen in vielen Ländern, das eine Mal als Bestandteil der Rechtsordnung, das andere Mal nicht. Ja, im selben Rechtskreis sehen wir zuweilen Lebensverhältnisse von durchaus derselben Art, von denen das eine in die Rechtsordnung aufgenommen erscheint, während dem anderen, zuweilen sogar dem wichtigeren und bedeutungsvolleren, die Aufnahme ins Recht versagt wird. Schließlich gibt es zweifellos auch Fälle, wo ein Lebensverhältnis im Laufe der Zeiten jede rechtliche Wirksamkeit verloren hat, aber als gesellschaftliches Verhältnis bestehen blieb.

Die Zahl der Beispiele, die für das Gesagte angeführt werden könnten, ist unübersehbar. Es soll daher nur auf einige wenige hingewiesen werden. So vor allem darauf,, daß das römische prätorische Eigentum zweifellos schon lange im Leben bestanden haben muß, bevor es vom Prätor mit Rechtsmitteln ausgestattet worden ist, ferner darauf, daß es in Rom, wie in anderen Rechtsordnungen, neben den klagbaren Verträgen (contractus) immer unklagbare (pacta) gegeben hat, die zum Teil mindestens ebenso wichtig waren, wie die anderen. Aber auch wir heute würden nicht ohne weiteres annehmen, daß die Vereinbarung mit einem Freund, er werde bei einem voraussichtlich überfüllten Schnellzug für den anderen rechtzeitig einen Platz belegen, ein Verhältnis mit Zwangswirkungen begründet, obwohl vielleicht sehr wichtige Interessen daran hängen. Hier haben wir es überall mit Lebensverhältnissen zu tun, die später zum Teil in die Zwangsordnung aufgenommen worden sind, ohne daß sich sonst etwas Wesentlich an ihnen verändert hat, während andere, gleichgeartete, nach wie vor außerhalb der Zwangsordnung verbleiben. Ein Lebensverhältnis, das überall auch zweifellos ein Rechtsverhältnis ist, das ist die Ehe. Wir haben jedoch im Orient mehrere Arten der Ehe, und auch in Rom gab es schon sehr früh neben der Manusehe [Tochter vom Vater in die Hand versprochen - wp] auch die gewaltfreie Ehe, etwas später vielleich ein  matrimonium juris gentium,  und schließlich hat es auch das Konkubinat zu einer gewissen Beachtung im Recht gebracht. Dagegen werden wir es im Umkreis der christlichen Gesittung gewiß nie über die einzige rechtlich und sittlich vollwertige Art der Ehe bringen. Das Recht lehnt also bei uns die auch hier tatsächlich vorkommenden geschlechtlichen Beziehungen grundsätzlich ab, während das anderwärts nicht der Fall ist. Wenn schließlich der Adel, wie etwa in unserem Nachbarland, gesetzlich aufgehoben wird, so besteht er, wie man sich mehrmals überzeugt hatte, noch lange gesellschaftlich fort, und ebenso hat die Einführung der Ziviltrauung oder der Ehescheidung die gesellschaftliche Geltung der kirchlichen Trauung und der Unauflösbarkeit des Ehebandes in manchen Kreisen gar nicht oder nicht sofort beseitigt.

Was ist es nun, was ein Lebensverhältnis zum Rechtsverhältnis stempelt, oder ihm diesen Stempel nimmt? Auf die Anerkennung durch ein Gesetz, durch die Gerichte oder andere Behörden kann man es gewiß nicht abstellen, denn das ist nicht eine Eigenschaft, sondern eine historische Zufälligkeit des Verhältnisses. Es ist ganz nebensächlich, ob von einem Lebensverhältnis in irgendeinem Gesetz Erwähnung geschieht, da es ja ohnehin klar ist, wie wenig der Wust der Gesetze die ganze bunte Mannigfaltigkeit des Lebens umfassen kann. Und die Möglichkeit, die Ansprüche aus dem Verhältnis vor Gericht oder anderen Behörden geltend zu machen? Wie soll man es den Verhältnissen, die nie ein Gericht oder eine Behörde beschäftigt haben und nie beschäftigen werden, denn von vornherein ansehen, welche Geltung ihnen Gericht und Behörden zuschreiben würden, zumal wenn dafür kein Anhaltspunkt in den Gesetzen und der bisherigen Rechtssprechung - und um solche Fälle handelt es sich hier - vorhanden ist? Und doch ist es wohl zweifellos, daß von der unübersehbaren Zahl der Lebensverhältnisse nur ganz ausnahmsweise welche die Aufmerksamkeit der Gerichte und anderer Behörden auf sich ziehen. Unser Leben spielt sich doch nicht vor Behörden ab. Es gibt Millionen von Menschen, die in zahllose Rechtsverhältnisse treten und die so glücklich sind, nie eine Behörde anrufen zu müssen. Da das der Gesetzgebung und Rechtssprechen fern gebliebene Verhältnis also immerhin das regelmäßige ist, so würde also gerade in den Fällen, die die Regel bilden, alles fehlen, was nötig wäre, um festzustellen, ob man es mit einem Rechtsverhältnis zu tun hat. Dabei verschiebt sich jeden Augenblick die Grenze zwischen dem, was die Gerichte und die Behörden zu veranlassen imstande sind, und was sie unterlassen zu müssen glauben, nicht nur durch die Gesetzgebung, sondern auch durch die tatsächliche Übung; soll jede solche Änderung, jedes unmerkliche Schwanken, auch auf alle die Verhältnisse zurückwirken, die nie vor ein Gericht gebracht worden sind oder gebracht werden sollen?

Man wird mir selbstverständlich wieder einwenden, daß ich Recht und Sitte miteinander verwechsle. Ich verwechsle jedoch gar nichts, ich weiß insbesondere Recht und Sitte sehr gut voneinander zu unterscheiden. Ich bestreite nur, daß die vom Staat ausgehende Norm, der von den Gerichten oder anderen Behörden gehandhabte Rechtszwang, ein wesentliches Merkmal des Rechts bilden. Recht und Sitte unterscheiden sich ebenso, wie sich Normen der Sitte von sittlichen Normen - Sitte und Sittlichkeit sind eben auch verschieden - und diese wieder von religiösen Normen, aber auch von anderen weniger wichtigen Normen, von Regeln des Anstands, des guten Tones, der Mode, unterscheiden. Recht, das sind die gesellschaftlichen Einrichtungen und Maßregeln, die von den in der Gesellschaft maßgebenden Kreisen als Grundlage der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung empfunden werden. Es kommt aber nur darauf an, ob sie als Grundlage dieser Ordnung empfunden werden, nicht, ob sie es sind, und es kommt gar nicht auf den Schutzwall an, mit dem die in der Gesellschaft maßgebenden Kreise die grundlegenden Maßregeln und Einrichtungen umgeben. Im Altertum gehörte die nationale Religion stets zu den grundlegenden staatlichen Einrichtungen, aber der antike Staat hielt es nur ganz ausnahmsweise für notwendig, die Glaubenseinheit gegen Widerstrebende zu schützen. Im Mittelalter und der Neuzeit, bis ins 18. Jahrhundert, war bekanntlich das Verhalten der maßgebenden Kreise zu dieser Frage anders, und es ist heute wieder ganz anders. In jeder Gesellschaft auf tiefer Entwicklungsstufe besteht das Gefühl, daß eine wirkliche Ehe nur zwischen Personen, die in einem engen gesellschaftlichen und völkischen Zusammenhang stehen, möglich ist. Die Regeln über das  connubium  [Ehe - wp] sind da eine Rechtseinrichtung, weil sie als Grundlage der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung empfunden werden, wenn man auch von Rechtszwang zu ihrer Durchsetzung wenig hört. Ähnliche Gefühle herrschen auch heute noch in weiten Kreisen, sie haben aber, mit wenigen Ausnahmen, mit Recht gar nichts mehr zu tun. Als Grundlage der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung sieht sie eben heute niemand mehr an, sie sind bloß Sitte. Selbstverständlich ist aber nicht jede gesellschaftliche Einrichtung oder Maßregel, die als Grundlage der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung von den maßgebenden Kreisen behandelt wird, Recht und Sitte zugleich: Recht ist sie aber unter allen Umständen.

Alle diese gesellschaftlichen Einrichtungenn, die zum Teil in das Recht eindringen, zum Teil am Recht vorbeigehen, zum Teil auf halbem Weg dorthin stecken bleiben, sind für den Juristen und Rechtshistoriker von größter Wichtigkeit. Denn hier ist die eigentliche Werkstätte der Rechtsbildung. Die Lehre von den Rechtsquellen, von Gesetz und Gewohnheitsrecht, darf nur von hier aus in Angriff genommen werden. Es ist im wesentlichen immer dieselbe Frage, die die ganze Rechtsgeschichte bis auf unsere Zeit beschäftigt: wie tatsächliche Beziehungen zu Rechten und Rechtsverhältnissen werden.

Auf diese Fragen hin sollen die grundlegenden Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft untersucht werden. Zunächst die Gemeinschaften und Verbände, aus denen die heutige Gesellschaft herausgewachsen ist: die Familie, die Sippe, die Gemeinde. Dann die Herrschaftsverhältnisse, die in der Gesellschaft bestehen, die familienrechtlichen Gewalten und die Vormundschaft, die Sklaverei, die Hörigkeit und die sonstigen Dienstverhältnisse. Darauf folgen die Rechtsverhältnisse an Grund und Boden, die Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung. Sodann das Recht der Rechtsgeschäfte, der Handlungen, die die Menschen vornehmen, um rechtliche Wirkungen zu erzielen. Schließlich das Erbrecht, die Ordnung des Nachlasses eines Verstorbenen.

Die erste Tatsache des gesellschaftlichen Lebens ist die Menschengruppe. Wir begegnen ihr in der Urzeit in verschieden Gestalten, als Sippe (Geschlecht, gens, clan), Familie, Hausgenossenschaft, später als Dorfgemeinde, Marktgemeinde. Sippe und Familie sind die ursprünglichen Formen. Es muß noch heute dahingestellt bleiben, welche von ihnen als die eigentliche Urform zu betrachten ist, ob die Sippe nichts anderes ist als eine ausgewachsene, großgewordene Familie oder die Familie erst viel später als die Sippe, innerhalb der Sippe, entstanden ist. Nicht zweifelhaft scheint es mir aber zu sein, wodurch Sippe und Familie erzeugt worden sind. Den Kitt geben für sie die gesellschaftlichen Gefühle ab, die den Menschen mit dem Menschen verbinden, und die bei ihm von der Empfindung erzeugt werden, daß er den schweren Kampf ums Dasein mit der Natur und mit anderen Menschen in Gruppen vereinigt leichter und erfolgreicher werde kämpfen können, als vereinzelt, bloß auf seine eigene Kraft angewiesen. Von dem Augenblick an, da sich die Menschen zu Gruppen vergesellschaften, wird selbstverständlich die größere Vergesellschaftungsfähigkeit des Menschen für ihn zu einer Waffe im Kampf ums Dasein. Sie bewirkt daher auch das allmähliche Ausschalten und den Untergang deren, bei denen Eigensucht und Raubtiertriebe überwiegen, und das Überlegeben der Vergesellschaftungsfähigen, die jetzt die Stärkeren sind, weil ihnen auch die Kraft ihrer ganzen Gruppe zugute kommt. So führt natürliche Auslese und Vererbung zu einem immer vergesellschaftungsfähigeren Menschengeschlecht. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, in der Ahnung, daß man aufeinander angewiesen ist, wurzelnd, erzeugt die Sippe, und durch das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung verstärkt, die Familie, aus der, bei Viehzüchtern und Ackerbauern, auf eine bestimmte wirtschaftliche Grundlage gestellt, sich die agnatische [ausschließlich durch Männer begründete Blutsverwandtschaft - wp] Hausgenossenschaft, wie aus der ansässig gewordenen Sippe die Dorf- und Marktgemeinde entwickelt.

Es sind daher keineswegs Rechtssätze, sondern die ursprünglichen gesellschaftlichen Gefühle des Menschen, die der Menschheit ihre älteste Verfassung gegeben haben. Die darauf beruhende Ordnung kann nach der heutigen Ausdrucksweise wohl nur als Sitte bezeichnet werde. Wie diese Sitte ins Recht übergeht? Die Frage ist gewiß nicht leicht zu beantworten; wenige Ergebnisse der rechtsgeschichtlichen Forschung sind so allgemein bekannt, wie die, daß Sitte und Recht sich umso schwerer scheiden lassen, je mehr wir in der Betrachtung zeitlich zurückgehen. Man darf wohl annehmen, daß es der Zusammenschluß zu höheren Einheiten, der Sippen zu Stämmen und der Stämme zum Sippenstaat war, der auf diesem Gebiet den Rechtsgedanken zuerst zum Keimen gebracht hat. Von nun an wird die Sippen- und Hausverfassung immer mehr zum Bestandteil der Stammes- und Staatsordnung und die Zugehörigkeit des Einzelnen zu seiner Familie, seinem Haus, die Befugnisse des Hauptes einer Gruppe, die Pflichten der Angehörigen, sind nicht mehr mit deren Gefühlen und Neigungen gegeben, sondern hängen von der Anerkennung der anderen Gruppen ab, die sich zusammengeschlossen hatten. Die Sitte wird zum Recht, sobald sie als Grundlage der Stammes- und Staatsverfassung allgemein empfunden wird.

Ich wende mich nun den Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnissen zu. Zwei Arten von Unterwerfung sind zu unterscheiden: solche, die sich aus dem Familienverband ergeben - die Unterwerfung der Kinder unter die väterliche, der Frau unter die eheherrliche Gewalt - und Unterwerfungsverhältnisse rein gesellschaftlichen Ursprungs, die Sklaverei und die Hörigkeit. Es ist außerordentlich naheliegend, die verschiedenartigen und mannigfach abgestuften Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse, die sich auf allen Entwicklungsstufen der Gesellschaft, bis auf die allerletzte, nur von den fortschrittlichsten Völkern Europas und Amerikas erreichte, finden, auf Rechtsvorschriften zurückzuführen. In der Tat scheint überall die Auffassung zu herrschen, das Recht sei es, das die Frau dem Mann, die Kinder der väterlichen Gewalt, den Mündel dem Vormund, den Sklaven und den Hörigen seinem Herrn unterwirft. In Wirklichkeit ist aber hier wie anderwärts das Recht nicht Grund, sondern Ausdruck eines bestimmten tatsächlichen Verhältnisses. Jede Herrschaft ist nur die andere Seite der Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des Beherrschten. Er wird beherrscht, weil er keinen Rechtsschutz genießt, und er wird vom Recht nicht beschützt, weil er zu schwach ist, um sich selbst zu schützen. Der Rechtsschutz in der Urzeit wurzelt in der Selbsthilfe und der Selbstverteidigung. Die Gemeinschaften gestehen Rechtschutz zunächst ihren vollwertigen Genossen zu, die sich allenfalls auch mit eigener Kraft eines Angriffs erwehren könnten, und imstande wären, die Hilfe, die sie von Anderen ansprechen, Anderen selber zu leisten. Die Frau, das Kind, der noch nicht waffenfähige Jüngling können es nicht, denn sie sind dazu zu schwach; der vereinzelt lebende Fremde kann es nicht, denn er hat keine Gemeinschaft, die sich seiner annähme; der Angehörige des besiegten Volkes oder Stammes kann es nicht, denn der Schutz, den ihm seine Gemeinschaft angedeihen lassen möchte, ist wirkungslos angesichts der Übermacht des Siegers. Sie alle, die Frau, das Kind, der Fremde, der Besiegte stehen unter der Gewalt dessen, der sie zu beschützen geneigt ist: des Gatten, des Vaters, des Gastfreundes, des Siegers. Wer sonst seiner eigenen Kraft mißtraut, begibt sich freiwillig in fremden Schutz. Findet sich kein Beschützer, dann gehört er dem, der sich des Wehrlosen bemächtigt und sein Leben schont: er wird sein Knecht. Der Schwache, der einen Herrn hat, ist nicht mehr hilflos, denn jetzt ist jeder Angriff auf ihn zugleich ein Angriff auf seinen Herrn (1).

Das Schutzverhältnis hat allerdings auch wirtschaftliche Voraussetzungen. Die Herrschaft ist zum Vorteil des Herrschenden, nicht den Beherrschten zuliebe da. Solange der Mensch, selbst bei größter Anstrengung, nicht mehr hervorzubringen vermag, als notwendig ist, um sein eigenes Dasein zu fristen, wie dies bei sehr armen Jägern und Hirten der Fall ist, hat er auch keinen Herrn. Die Herrschaft würde dem Herrschenden nichts eintragen. Der gefangene Feind wird daher noch nicht versklavt, sondern niedergemacht oder - ausnahmsweise - ins eigene Volk aufgenommen. Nur die Frau hat schon auf dieser Entwicklungsstufe einen Wert, da sie nicht bloß Gegenstand wirtschaftlicher, sondern auch geschlechtlicher Ausbeutung ist. Dieser zuliebe wird sie am Leben erhalten und zu den Arbeiten verwendet, die der Mann von sich abweist, weil er sie für unter seiner Würde oder für zu anstrengend hält.

Die Herrschaft beruth daher in der Urgesellschaft auf diesen beiden Tatsachen: auf der Wehrlosigkeit des Beherrschten, auf seiner wirtschaftlichen und geschlechtlichen Ausbeutung durch den Starken. Diese tatsächlichen Beziehungen werden auch hier zu Rechtsverhältnissen, sobald sich die Sippen zu Verbänden höherer Ordnung, zu Stämmen und Staaten, vereinigen. Denn solche Verbände sind immer nur Vereinigungen der Herrschenden: Frauen, Kinder, Sklaven nehmen daran keinen Anteil; und ihre Spitze ist nicht bloß gegen den äußeren Feind, sondern, wenn auch vielleicht unbewußt, gegen Auflehnung im Innern gerichtet. Der Sippenstaat ist daher bereits eine Herrschaftsordnung und die tatsächlichen Herrschaftsbeziehungen werden auch hier zu Rechtsverhältnissen, weil sie als Grundlage der staatlichen Ordnung empfunden werden.

Innerhalb des Staates ändert sich die Natur der Herrschaftsverhältnisse, sobald sich ihre beiden tatsächlichen Voraussetzungen ändern: Hilflosigkeit des Schwachen und die darauf gegründete wirtschaftliche Ausbeutung. Die vorstaatliche Gesellschaft vermag den Schwachen und Hilflosen nicht zu beschützen; der Staat kann es immer mehr nach Maßgabe wie seine Machtmittel steigen. Daher verlieren die familienrechtlichen Gewalten in dem Maße das Gepräge eines selbstnützigen Vermögensrechtes, als den ihnen Unterworfenen, den Frauen und Kindern, selbständiger Schutz gewährt wird: die väterliche und noch mehr die vormundschaftliche Gewalt wird dann zu einem öffentlichen Amt, die eheherrliche Gewalt zu einer rechtlichen Vertretung der Frau durch ihren Mann. Dagegen versagt der Staat den Rechtsschutz, wenn es sich ihm darum handelt, die Herrschaftsordnung zu erhalten; dadurch wird die Wehrlosigkeit des Schwachen zur Rechtlosigkeit, zur Sklaverei. Der mit Boden ausgestattete angesiedelte Knecht wird dank seiner gesteigerten wirtschaftlichen Bedeutung zum Hörigen. Wird der Wert der Arbeitskraft infolge der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse und damit auch die wirtschaftliche Bedeutung des Hörigen gesteigert, so führt das zu leichteren Formen der Hörigkeit und schließlich zur Bauernbefreiung; das Übergewicht der politischen Mmacht der Herrschenden und das Bedürfnis nach einer gründlicheren Bodenausnutzung zum Bauernlegen [Enteignung der Bauern durch den Grundherrn - wp].

Wie steht es nun um die Rechte an Grund und Boden? Sind es Rechtssätze gewesen, die Stücke unseres Planeten dem Menschen zu eigen gegeben haben? Wenn wir ausschließlich das gewohnheitsrechtlich entstandene Eigentum an Grund und Boden betrachten, so finden wir, daß es nie etwas anderes war, als die rechtliche Seite der wirtschaftlichen Bodenverfassung, und mit ihr so eng verwachsen, daß es unmöglich ist, das Bodenrecht anders als in und mit der ganzen Bodenverfassung darzustellen. Was bedeutet es, wenn man von Jäger- und Hirtenvölkern spricht? Das bedeutet offenbar, daß diese Völker ein Eigentum an Grund und Boden im Allgemeinen nicht kennen, daß sie an dem von ihnen eingenommenen Gebiet nur ein Stammeshoheitsrecht ansprechen, das jedem Angehörigen ihres Stammes Jagd und Weide gestattet. Schon der älteste Ackerbau, die wilde Feldgraswirtschaft, bringt einen zumindest durch eine rechtliche Eigenmacht geschützten Besitz an dem gerade angebauten Gebiet mit sich. Feste Verhältnisse entstehen mit der Zweifelder- und Dreifelderwirtschaft: unbeschränktes Eigentum an der Hofstätte und am Garten, Aufteilung der Feldmark an die einzelnen in den Höfen angesiedelten Familien, ein durch Flurzwang und Nachbarrecht beschränktes Eigentum am Acker in einer Gemengelage, Gemeineigentum an der Allmende [Gemeineigentum am Boden - wp], an Wald und Wiese. Alle diese Verhältnisse werden aber erst durch die Anerkennung im allmählich erstarkenden Sippenstaat zu Rechtsverhältnissen. Die einmal begründete Bodenverfassung ändert sich, so oft die wachsende Bevölkerung es notwendig macht, den Boden durchgreifender auszunützen, denn jeder Wandel in der wirtschaftlichen Bodenverfassung bedeutet zugleich immer auch eine Änderung des Bodenrechts: zuerst wird die sich in festen Zeiträumen wiederholende Aufteilung der Feldmark eingestellt, dann die Rodung in der gemeinen Mark verboten, schließlich die gemeine Mark in der Hauptsache verteilt. Nicht anders, wie mit dem bäuerlichen verhält es sich mit dem Großgrundbesitz, der sich aus der Landbesiedlung entwickelt. Seine Entstehung setzt immer zahlreiche, mächtigen Führern folgende Scharen voraus, die aus Unfreien oder aus Freien im Dienstverhältnis bestehen. Die rechtlichen Beziehungen derer, die den Boden bebauen, sind auch hier mit der Bodenverfassung unmittelbar gegeben. Aber sie sind sehr erheblich durch das Verhältnis zum Grundherrn, der zugleich Dienstherr ist, beeinflußt. Selbstverständlich ist auch das ein wirtschaftliches Verhältnis: von der Art des Wirtschaftsbetriebs hängt es ab, wie der Grundherr seine Hörigen und Knechte, sowie die zu ihm in ein Dienstverhältnis tretenden Freien ausnützt und verwendet, und was diese ihm leisten. Aber es ist auch ein Schutzverhältnis: das Maß und die Art der gegenseitigen Leistungen wird durch das Maß und die Art der Herrschaft und des Schutzes mitbestimmt.

Dagegen gilt der Zusammenhang der wirtschaftlichen Bodenverfassung mit dem Bodenrecht nicht für den Großgrundbesitz, der rechtlich auf einem staatlichen Eingriff oder staatlicher Verleihung, also nicht auf Gewohnheitsrecht beruth. Das ist allerdings die regelmäßige Entstehungsart des Großgrundbesitzes. Hier ist dieser im Gegensatz zum wirtschaftlichen Eigentum des Bauern ein politisches Eigentum der herrschenden Klasse. Es ist daher in letzter Linie nur der rechtliche Ausdruck der politischen Herrscherstellung. Wenn der  populus Romanus  [Bürger Roms - wp] sich das Eigentum des  solum provinciale  [zeitliches Besitzrecht - wp] zusprache, der König von England sich als Eigentümer des ganzen Bodens von England erklärte, so bedeutete das, daß sie kraft des Rechts des Eroberers nach Willkür darüber verfügen wollen. Der Grundatz:  nulle terre sans seigneur  [Kein Land ohne einen Herrn - wp] spiegelt nur die Tatsache wieder, daß es dem König und dem Adel jetzt gelungen ist, den Widerstand des bäuerlichen Grundbesitz zu brechen. Und ebenso war es stets nur Ausfluß der staatlichen Machtstellung, wenn der König seine Großen mit herrenlosen oder auch mit besiedelten Ländereien belehnt. Und nichts anderes war es, wenn im Mittelalter Grafen und Fürsten sich Rechte an Wald, Flüssen und Bergwerken aneignen, wenn sie ihre Untertanen zwingen, ihr Eigentum von ihnen als Lehen zu empfangen. Und ohne Beihilfe der staatlichen Macht, die nur der im Staat herrschenden Klasse zuteil wird, ist wohl zu keiner Zeit das Bauernlegen in größerem Umfang gelungen (2). Gerade deswegen aber, weil dieser Großgrundbesitz auf einem Eingriff der Staatsgewalt beruth, ist er auch rechtlich von der wirtschaftlichen Bodenverfassung unabhängig.

Noch ein anderer staatlicher Eingriff führt zu einem von der wirtschaftlichen Bodenverfassung unabhängigen Bodenrecht: die Grundentlastung. Es wurden zahlreiche Grundentlastungen schon im Altertum vorgenommen, so bei den Römern eine allerdings nicht ausdrücklich bezeugte etwa im 4. Jahrhundert der Stadt, wenigstens in der nächsten Umgebung Roms. In England fand sie im Jahre 1660, in Frankreich nach mehreren früheren Anläufen endgültig im Jahre 1789, im übrigen Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts fast überall statt.

Der Zweck jeder Grundentlastung ist es, eine durchgreifende Ausnutzung des Bodens zu gestatten und den Eigentümer zu diesem Zweck von allen anderen Rücksichten zu entbinden. Ihr Ergebnis ist daher ein möglichst von allen Schranken freies Bodeneigentum, nach Art des begrifflich unumschränkten römischen  dominium:  der Eigentümer darf alles tun, was ihm nicht im öffentlichen Interesse oder infolge einer von ihm oder seinem Besitzvorgänger ausdrücklich auf das Grundstück gelegten Last verwehrt ist, er ist zu nichts verpflichtet, wozu er sich nicht selbst, persönlich, verpflichtet hätte. Es ist ein fast rein juristisches Eigentum, das mit der Bodenwirtschaft gar nicht mehr zusammenhänge, ein Eigentum, das für bewegliche Sachen ebenso paßt, wie für unbewegliche. Nichts ist für die rein juristische Natur des römischen Bodenrechts bezeichnender, als die sich fortwährend wiederholenden Versuche der Juristen, die verschiedenartigen, zumal die deutschrechtlichen Bodenverhältnisse zu konstruieren. So interessant das auch ist, so beweist es doch, daß das römische Recht dem Bodenrecht fast nichts mehr gegeben hat, als eine sehr klare und feste Terminologie. In der Tat, in der Sprache der römische Juristen ließe sich auch das chinesische Bodenrecht zweifellos ausdrücken. Während es kaum möglich ist, ein urwüchsiges Bodenrecht darzustellen, ohne jeden Augenblick auf die tatsächliche Bodenbewirtschaftung Bezug zu nehmen, geben uns die römischen Rechtsbücher, und ebenso die diesen nachgebildeten modernen Gesetzbücher, über die jeweilige Bodenverfassung gar keine Auskunft; wir müssen sie mühsam aus anderen Quellen zusammensuchen.

Die Tatsache des Gewohnheitsrechts an Grund und Boden ist daher die Art der Bodenbewirtschaftung. Wenn es auch zweifellos ein Bodenrecht gibt, das mit der wirtschaftlichen Bodenverfassung nichts zu tun hat, so ist dieses nie gewohnheitsrechtlich entstanden, sondern verdankt ausschließlich staatlichen Eingriffen seinen Ursprung.

Und nun gelangen wir zur Betrachtung des Rechtsgeschäftes. Die neuere deutsche Rechtswissenschaft pflegt die Geschäfte, die die Parteien vornehmen, um rechtliche Wirkungen zu erzielen, als Rechtsgeschäfte zu bezeichnen, und als Geschäfte des Rechts" aufzufassen. Sie meint damit, diese Geschäfte: der Vertrag, das Testament, die Stiftung, seien "juristische Tatsachen", an die das Recht selbständige Rechtsfolgen knüpft. Das Recht ist es, das die Rechtsgeschäfte erfunden hat, das Recht ist es, das bestimmt, welche Folgen es haben soll, wenn ein Vertrag abgeschlossen, ein Testament errichtet, eine Stiftung gegründet wird. Den Parteien steht es nun frei, wenn sie diese Rechtsfolgen herbeiführen wollen, sich des Mittels zu bedienen, das ihnen das Recht zu diesem Zweck zur Verfügung stellt.

Wird diese Auffassung durch die Geschichte bestätigt? Wir finden zunächst, daß Geschäfte, an die das Recht heute Folgen knüpft, meist viel früher da waren, als der Rechtssatz, der die Rechtsfolgen an sie geknüpft hat. Der Kauf, der tatsächliche Austausch von Gegenständen des Bedarfes, ist gewiß viel älter als das Recht des Kaufvertrags. Die ersten Kaufleute waren Fremde, die aus fernen Ländern eingeführte Güter gegen Erzeugnisse des Landes austauschten, zu einer Zeit, da sich noch kein Fremder auf irgendeinen Rechtssatz berufen konnte. Auf einer Stufe der Gesittung, da es noch mit Lebensgefahr verbunden ist, sich in das Gebiet eines fremden Stammes zu begeben, finden wir den stummen Handel. Der eine Teil legt die Sachen, die er anbringen will, auf einem herkömmlich dazu bestimmten Ort nieder und versteckt sich in der Nähe; die Kauflustigen nähern sich dann, besichtigen sie, nehmen sie an sich, wenn sie ihnen gefallen, den Gegenwert zurücklassend, oder gehen weg, wenn sie es nicht haben wollen. Darauf kommt der Verkäufer aus dem Versteck hervor und legt soviel neue Ware dazu, bis sie einen Käufer anlocken. Das sind gewiß keine "Geschäfte des des Rechts".

Auch die Schuld ist älter als das Schuldrecht. Der Mann, der Vieh oder Korn für seine Wirtschaft entlehnt, oder das Geld für die gekauften Gegenstände nicht sofort bezahlt, oder im Spiel mehr verloren hat, als er leisten kann, begibt sich in die Gewalt des Gläubigers, der ihn in der Gefangenschaft halten oder arbeiten lassen kann, bis er bezahlt ist. Oder er stellt dem Gläubiger Geiseln, die dieser gefangen nimmt; oder er gibt ihm ein Pfand, das er behalten mag, bis die Schuld beglichen wird. Etwas später genügen Bürgen, die darüber zu wachen versprechen, daß der Schuldner seine Verpflichtung erfüllt. Auch der Eid kommt zuweilen vor: der Schuldner, der den Eid bricht, beschwört göttliche Rache auf sich und die Seinigen herauf.

Überall hier hat daher das abgeschlossene Geschäft zunächst nur tatsächliche Folgen: tatsächlichen Güteraustausch, tatsächliche Gewalt des Gläubigers über den Schuldner oder die Geiseln, das Drängen der Bürgen, die Angst des Eidbrüchigen vor der drohenden Rache der Götter. Aber sie werden ziemlich bald als Rechtsfolgen empfunden. Das tritt ein, sobald es der allgemeinen Anschauung entspricht, daß der Gläubiger, der den Schuldner oder die Geiseln in seiner Macht behält, tötet, oder sie weiter verkauft, der das Pfand, das sich in seinen Händen befindet, nicht herausgibt, der es verkauft oder vernichtet, nicht Gewalt, sondern ein Recht ausübt, daß nicht er, sondern der, der diese Personen befreit, der ihm das Pfand entreißt, einen Friedensbruch begeht. Darin liegt aber bereits der Keim zu einer weiteren Entwicklung. Der Schuldner begibt sich nicht mehr sogleich in die Gewalt des Gläubigers, sondern verpfändet ihm bloß seinen Leib, er gibt ihm nicht ein wirkliches Pfand, sondern ein wertloses Scheinpfand; wird aber die Schuld nicht beglichen, dann hat der Gläubiger das Recht, sich des Schuldners zu bemächtigen, ihn in seinen Gewahrsam zu nehmen, als Knecht dienen zu lassen, als Sklaven zu verkaufen, eigenmächtig auf sein Vermögen zu greifen. Die tatsächlichen Folgen, die die Parteien einst eintreten ließen, damit sie den gewollten Erfolg des Rechtsgeschäfts gewährleisten, schwächen sich von nun an zu einer bloßen Form ab, seit vom Recht Rechtsfolgen angeordnet werden.

Die durch Geschäfte begründeten Beziehungen werden zu Rechtsverhältnissen erst, nachdem eine ziemlich hohe Entwicklungsstufe erreicht worden ist; also nicht schon durch den Zusammenschluß der Sippen, sondern viel später. Bis dahin gibt es wohl einen tatsächlichen Austausch, unter den Schutz der Götter gestellte Vereinbarungen, aber es ergeben sich daraus keine rechtlichen Ansprüche und Pflichten. Vollends Testamenten und Stiftungen begegnen wir erst in wohlgeordneten Staatswesen der historischen Zeit.

Zu jeder Zeit haben die rechtlich anerkannten Geschäfte nur einen Bruchteil der im Verkehr wirklich vorkommenden Geschäfte ausgemacht. Aber nur langsam und zögernd, Schritt für Schritt zurückweichend, findet sich das Recht mit bisher unerhörten Geschäftsarten ab. Das römische Recht ist nie über die Anerkennung einiger weniger sehr wichtiger Geschäfte hinausgekommen. Und noch unter der Herrschaft des Grundsatzes der Vertragsfreiheit stehen wir jeden Augenblick vor der Frage, ob eine Geschäftsart vorliegt, die bereits ins Recht Eingang gefunden hat oder der man ins Rechtt Eingang verschaffen soll. Die Frage wird in der Regel erst nach einigem Schwanken und einigen Kämpfen bejahend beantwortet, wenn die Wichtigkeit und Nützlichkeit des neuen Geschäfts jedermann einleuchtet. Die Mittel, deren die Parteien sich in der Zwischenzeit bedienen, wenn ihnen nicht die Rechtswissenschaft, die Kauteraljurisprudenz [Gestaltung von Verträgen - wp] oder die juristische Konstruktion zu Hilfe kommt, sind immer dieselben: die tatsächliche Ausführung, die Sicherung des Erfolges durch ein Pfand oder eine andere Deckung, und der Treuhänder. Der Treuhänder spielt eine besonders wichtige Rolle. So hat sich das römische  testamentum per aes et libram  [Willenserklärung mit Kupfer und Waage (der Erklärer schlägt zum Zeichen mit einer Kupfermünze gegen die Waage) - wp] so hat sich das Fideikommiß [unveräußerliches Erbvermögen - wp] als Treuhandgeschäft den Weg ins Recht gebahnt. Welche Bedeutung den Treuhandgeschäften, den  uses  [Nutzen - wp] und  trusts  [Vertrauen - wp], in der Geschichte des englischen Rechts zukommt, ist allgemein bekannt.

Schwieriger ist es, den Gedankengängen nachzuspüren, die dieser Entwicklung zugrunde lagen. Eine sehr verbreitete Ansicht geht dahin, die Nichterfüllung einer übernommenen Pflicht sei zunächst als Untat erschienen, die Straffolgen und Schadenersatzansprüche erzeugt; das hat schließlich dazu geführt, den Vertragsbrüchigen auch zur Erfüllung des Vertrages anzuhalten. Diese Ansicht hat gewiß viel für sich. Straf- und Schadenersatzklagen sind im Allgemeinen älter als Erfüllungsklagen und es ist nachweisbar, daß sie in vielen Fällen Erfüllungsansprüche vermittelt haben. Aber immer war das zweifellos nicht der Fall. Dagegen scheint die Nichterfüllung eines Versprechens in sehr weitem Umfang als grobe Missetat, Treubruch, wohl auch als unmittelbare Beschädigung empfunden worden zu sein, wenn sie auch nicht Schadenersatzansprüche und Strafklagen erzeugte.

JHERING hat es zuerst für das römische Recht angedeutet, POLLOCK und MAITLAND haben es für das englische Recht bewiesen, wie wenig man anfänglich zwischen Entziheung einer Sache und Nichtzurückstellung einer Sache unterschieden hat, wie sehr man geneigt war, darin, daß nach Empfang einer Leistung die Gegenleistung ausblieb, die Entziehung der geleisteten Sache oder der Gegenleistung zu erblicken, und den Mann , der eine Schuld in Geld, Korn, Vieh oder anderen vertretbaren oder unvertretbaren Sachen, die er empfangen hatte, nicht bezahlte, dem gleichzustellen, der diese Sachen entwendet hat. Man findet noch heute eine ähnliche Empfindung. Eine Treulosigkeit, die vor Gericht nicht verfolgt werden kann, gilt auch in der Gegenwart noch als besonders arge Schelmerei. Wer aber die wirkliche Übung im Leben, Rechtssprechung und Gesetzgebung aufmerksam verfolgt, der weiß, daß sie aus solchen Tatsachen und Empfindungen herauswachsen, nicht aber sie erzeugen.

Es war möglich, die bisherigen Ausführungen auf allgemein anerkannte Ergebnisse der vergleichenden Rechtswissenschaft und der Rechtsgeschichte zu gründen. Nicht ganz dasselbe gilt vom Erbrecht. Die herrschende Lehre führt das Erbrecht auf das Familieneigentum zurück: selbst dort, wo es nicht mehr besteht, wirkt es insofern nach, als es gewissen Verwandten, die einst an der Familiengemeinschaft teilgenommen hatten, ein unentziehbares Wartrecht gibt. Wäre das richtig, dann hätte sich das Erbrecht aus einem anderen Recht entwickelt, und wir hätten nicht den Tatsachen, die zum Erbrecht, sondern den Tatsachen, die zum Warterecht der Verwandten geführt hatten, nachzuforschen.

Schon HENRY SUMNER MAINE äußerte jedoch Zweifel an der Richtigkeit dieser Lehre. Sie scheint mir, zumindest für die germanischen Völker, von denen sie bekanntlich ausgegangen ist, von FICKER widerlegt. JULIUS FICKER hat, wie ich glaube, überzeugend nachgewiesen, daß das Erbrecht auch bei den Germanen älter ist als das Warterecht, daß er Eigentümer zu einer Zeit, da bereits ein ausgebildetes Verwandtenerbrecht besteht, über sein Eigentum frei verfügen kann, ohne sich um die Ansprüche seiner Kinder, geschweige denn der entfernten Verwandten, zu kümmern.

Die Urgeschichte des Erbrechts muß vielmehr davon ausgehen, daß es schon auf tieferen Entwicklungsstufen neben der Sippenordnung noch eine Familienordnung gibt. Die Sippe besitzt als solche Gemeineigentum an Grund und Boden, das bei den Ackerbauern zumeist den einzelnen Familien zur Benützung zugewiesen wird. Wenn dies nun nach dem Tod des Familienoberhauptes, oder auch nur was öfter vorkommt, nach dessen unbeerbtem Tod, an die Sippe zurückfällt, so wird das wohl nirgends als Erbfall, sondern als Ausfluß des fortdauernden Gemeineigentums der Sippe betrachtet. Nachdem sich die Sippenverfassung aufgelöst hatte, mag ihr ursprügnliches Gemeineigentum wohl auch zu erbrechtlichen Bildungen geführt haben; sie verschwinden jedoch sehr rasch und sind meist unbeträchtlich. Die Wurzeln des Erbrechts liegen meist in der Familienordnung. Und hier handelt es sich um zwei Fragen: vor allem, wemm gehörte der Nachlaß eines Verstorbenen, wenn er in einer Familiengemeinschaft lebte, und wem gehörte er, wenn er als Einzelner wirtschaftete. Dieser letzte Fall ist offenbar in der ursprünglichen Gesellschaft sehr selten, kommt vielleicht gar nicht vor, wird aber später, innerhalb eines starken Staatswesens, das auch dem Einzelnen das Dasein ermöglicht, immer häufiger. Es ist nun leicht zu begreifen, daß das Eigentum des Verstorbenen, soweit es ihm nicht ins Grab mitgegeben wurde, denen verblieb, die mit ihm zusammen gewirtschaftet, in demselben Haus gewohnt haben. Das betrifft allerdings zunächst nur die bewegliche Habe, denn diese Ordnung herrscht schon bei den Jägern und Viehzüchtern, ist also älter als der Grundbesitz. Dieser Zustand ist jedoch keineswegs ein Ausfluß des Miteigentums der Hausgenossen. Es handelt sich hier um die Tatsache, daß die Hausgenossen die Hinterlassenschaft des Verstorbenen in Besitz nehmen, weil sie zu ihr näher und daher in der Lage sind, jeden Angriff eines Dritten mit denselben Mitteln abzuwehren, wie zu seinen Lebzeiten. Die Hausgenossen bleiben auf den hinterlassenen Gütern sitzen und wirtschaften weiter, wie sie gewirtschaftet haben; es hat sich nicht viel geändert, es gibt jetzt nur einen weniger im Haus. Über dieses Sitzenbleiben der Hausgenossen auf den hinterlassenen Gütern hat es aber das ursprüngliche Erbrecht nicht gebracht. Hat der Verstorbene daher nicht in einer Gemeinschaft gelebt, so wird sein Nachlaß herrenlos. Bei den Römern und den Germanen sind noch im historischen Erbrecht deutliche Spuren dieses Zustandes vorhanden; die wichtigsten finden sich aber wohl bei den Slaven, deren älteste Rechtsdenkmäler überhaupt eine höchst interessante sehr frühe Entwicklungsstufe darstellen, die bei den anderen Völkern Europas lange schon überwunden war, bevor deren Rechtsüberlieferung schriftlich abgefaßt worden ist. Den Russen, den Polen, den Masowiern [Region um Warschau - wp], den Tschechen und Mährern und wohl auch den Serben des 13. Jahrhunderts ist das Erbrecht der Seitenverwandten noch unbekannt; im Fall des unbeerbten Todes wird der Nachlaß "leer" und fällt an den Fürsten, oder, bei Hörigen, an deren Herrn (3).

So weit die slawischen Rechtsbücher des 14. Jahrhunderts das Erbrecht der Seitenverwandten, übrigens nur in beschränktem Maße, anerkennen, das Statut von Wislica und das Gesetzbuch des Zaren DUSCHAN (Art. 41 und 48), zeigt schon die Fassung, daß es sich um eine Neuerung handelt. bei den Slawen hat offenbar die rasch erstarkte Fürstenmacht die Ausbildung des Seitenverwandtenerbrechts, das ihr Heimfallsrecht verkürzte, lange verzögert. Das Heimfallsrecht des Fürsten dürfte bei den Tschechen und Polen auf deutsche, bei den Russen und Serben auf byzantinische Einflüsse zurückzuführen sein.

So verschiedenartig sind die Quellen, aus denn das gesellschaftliche Gewohnheitsrecht fließt. Die ursprünglichen Gemeinschaften beruhen auf den ursprünglichen gesellschaftlichen Trieben der menschlichen Seele, die Herrschaftsverhältnisse auf der Hilflosigkeit der Schwachen und Verlassenen; die Rechte an Grund und Boden werden durch die wirtschaftliche Bodenverfassung bestimmt, die Rechtsgeschäfte haben sich aus tatsächlichen Verfügungen entwickelt; das Erbrecht verdankt im Allgemeinen sein Dasein der räumlichen Nähe gewisser Personen zum Verstorbenen. Selbstverständlich kann davon keine Rede sein, diese Rechtsquellen hier irgendwie erschöpfend darzustellen: das Angeführte soll nur die Bedeutung eines Wegweisers haben. Woher stammt aber, was heißt die gemeinrechtliche Theorie des Gewohnheitsrechts, die derzeit die Wissenschaft in Deutschland beherrscht? Von welcher Art sind die Tatsachen, die ihr zugrunde liegen?

Vergleicht man das, was hier als das älteste Gewohnheitsrecht der Menschheit dargelegt worden ist, mit dem Inhalt der ältesten auf uns gelangten Rechtsbücher, so steht man zunächst vor der befremdenden Tatsache, daß darin von diesem Gewohnheitsrecht nur sehr wenig zu finden ist. Als Recht, und zwar als altes Gewohnheitsrecht erscheint hier etwas ganz anderes. Zunächst, wenigstens wenn es sich um eine amtliche Aufzeichnung handelt, prangen darin einige öffentlich rechtliche Anordnungen: der junge Staat liebt es offenbar, sich derartige Kraftprobem zu stellen, in den späteren Rechtsbüchern sucht man sie vergebens. Davon mag in der Folge abgesehen werden. Den Hauptinhalt bilden aber sehr ins Einzelne gehende Bestimmungen über Bußen für Untaten und die Schilderung des Verfahrens vor Gericht, gewöhnlich ebenfalls mit vielen, zum Teil unwesentlichen Einzelheiten ausgestattet. Schließlich kommen auch noch familien- und vermögensrechtliche Bestimmungen vor, deren Ärmlichkeit und Lückenhaftigkeit von der reichen Ausbildung des Strafrechts und des Streitverfahrens merkwürdig absticht. Der Leser kann sich des Erstaunens nur selten erwehren, daß aus dem, offenbar ziemlich reichen Vorrat an privatrechtlichen Gewohnheiten, gerade diese manchmal sehr nebensächlichen und gleichgültigen Dinge ins Rechtsbuch aufgenommen worden sind.

Diese merkwürdige Haltung der ältesten Rechtsbücher gibt uns einen wertvollen Aufschluß darüber, was der Mensch auf tiefer Entwicklungsstufe als Recht betrachtet hat. Es sind dies, wie wir gesehen haben, zumeist Regeln über Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung, über Streitverfahren und über die Entscheidung der Streitsachen. Da sich die Rechtsstreitigkeiten fast ausschließlich auf Tötung, Körperverletzung, Menschenraub, Sachbeschädigung, Diebstähle beziehen, so enthalten die Rechtsbücher eine Unzahl von Bestimmungen darüber. So erklären sich auch die wenigen Regeln privatrechtlichen Inhalts. Auch sie betreffen nur Fragen, die bei Entscheidungen von Streitigkeiten zur Sprache kamen. Vielen sieht man es an, daß sie aus Anlaß eines Rechtsstreits gefunden worden sein müssen. Dieses ganze Recht, das bestimmt ist, der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zugrunde gelegt zu werden, nenne ich Entscheidungsnormen.

Hat es aber wirklich kein anderes Recht gegeben? Ein Blick auf eine moderne Rechtsgeschichte, die urkundliches und anderes historisches Material verwertet, zeigt, wieviel lebendiges Recht außerdem noch vorhanden war, und wie wenig davon in die Rechtsbücher gedrungen ist. Jeder Rechtssatz über die vom Dieb dem Bestohlenen zu zahlende Buße setzt bereits ein ziemlich festgefügtes Eigentum an beweglichen Sachen voraus; es muß daher auch Regeln gegeben haben über Erwerb, Verlust und Verwirkung des Eigentums, eine Vorstellung darüber, wie sich der rechtmäßige Erwerber vom Dieb oder Räuber unterscheidet. Oder es sind im Rechtsbuch Bestimmungen über die Buße enthalten, die im Fall des Frauenraubes der Entführer ihrem Vater oder ihren Verwandten zu zahlen hat. Diese Vorschrift hängt offenbar mit einer bestimmten Gestaltung der Familie zusammen, bei der die Frau unter der Gewalt ihrer männlichen Angehörigen steht, denen auch das Recht, sie zu verheiraten, zukommt. Über all das schweigt das Rechtsbuch, denn es enthält nur die Entscheidungsnormen, nicht aber die gesellschaftliche Ordnung, zu deren Schirm und Schutz die Entscheidungsnormen dienen sollen. Ist aber diese Ordnung selbst nicht Rechtens? Sie ist mehr als das, sie ist überdies geradezu ein Bestandteil des Inhalts der Entscheidungsnormen. Der Satz, daß der Bestohlene vom Dieb das Doppelte des Wertes der gestohlenen Sache verlangen kann, mag sich ganz oder fast gleichlautend bei den verschiedensten Völkern finden; wenn es aber wahr ist, daß bei den Römern ursprünglich nur Sklaven, Zug- und Tragvieh, die sogenannten  res mancipi,  Gegenstand eines wirklichen Eigentums waren, so bedeutete er in Rom eben wegen dieser Ausgestaltung des Eigentums etwas anderes als anderwärts. Daher wechselt mit der gesellschaftlichen Ordnung der Inhalt der Entscheidungsnormen, auch wenn sich nichts an ihrem Wortlaut geändert hätte.

Die gesellschaftliche Ordnung ist es aber, die sowohl für die bereits entstandenen, als auch für die neu entstehenden Entscheidungsnormen die Grundlage abgibt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie ärmlich und lückenhaft das Privatrecht der ältesten Rechtsbücher ist. Das erklärt sich zur Genüge damit, daß es einer sehr einfachen und einförmigen Gesellschaft zu dienen hat. Sobald sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, für die es bestimmt ist, ausgestalten, wird auch das Privatrecht reicher und mannigfacher. Es genügt, zwei Fassungen desselben Rechtsbuches, die etwa um die fünfzig Jahre auseinanderliegen, zu vergleichen, um die Wahrheit dieser Lehre zu erproben. Alle die Rechtssätze, die neu hinzugekommen sind, sind der Niederschlag, der sich aus den einmal bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Laufe dieser Jahre, meist ohne jede Mitarbeit des Gesetzgebers abgesetzt hat.

Auf welche Weise werden aber die Entscheidungsnormen gewonnen? Ein vor mehreren Jahren erschienenes Werk des Franzosen LAMBERT hat diese Frage aufgrund eines unendlich reichen rechtsvergleichenden Materials wohl endgültig gelöst. Sie werden teils vom Richter bei der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, teils von den Juristen als Rechtsweiser ihres Volkes, als Lehrer und Schriftsteller, gefunden. Manchmal arbeitet auch der Gesetzgeber mit, der für vorgekommene oder ausgeklügelte Fälle, die noch gar nicht oder nicht befriedigend entschieden scheinen, die beste Entscheidung zu geben sucht. Die justitianischen Konstitutionen und Novellen sind besonders reich an solchen gesetzgeberischen Entscheidungsnormen.  Damit also das Gewohnheitsrecht, das in der Gesellschaft entstanden ist, zu festen, bestimmten, in Worten gefaßten Entscheidungsnormen erstarrt, muß es entweder durch die Rechtswissenschaft, oder durch die Rechtssprechung oder durch die Gesetzgebung hindurchgehen. 

Es daher wohl klar, daß die herrschende Lehre vom Gewohnheitsrecht zwei sehr verschiedene Dinge vermengt: die gesellschaftlichen Einrichtungen einerseits und die aus ihnen gezogenen Entscheidungsnormen andererseits, die sie beide als Gewohnheitsrecht bezeichnete. Auch LAMBERT verfällt in diesen Fehler, da er in seinem grundlegenden Werk fast ausschließlich von Entscheidungsnormen spricht, aber das ganze Gewohnheitsrecht zu behandeln glaubt. Wird aber an dem hier vertretenen Standpunkt festgehalten, so gelangt man, anstelle der von ganz äußerlichen Merkmalen ausgehenden Zweiteilung der Rechtsquellen in Gesetz und Gewohnheitsrecht zunächst zu einer Dreiteilung:
    1. vor allem das eigentliche Gesetz, die nicht nur äußerlich vom Gesetzgeber ausgehende, sondern auch inhaltlich von ihm geschaffene, also im bisherigen Recht noch nicht enthaltene obrigkeitliche Anordnung, dann

    2. die von der Gesetzgebung, Rechtssprechung oder Rechtswissenschaft ausgehende Entscheidungsnorm,

    3. das eigentliche gesellschaftliche Gewohnheitsrecht.
Damit müssen wir uns für den Augenblick begnügen, obwohl nicht verkannt werden soll, daß eine tiefer eingreifende Rechtsquellenlehre finden wird, daß auch diese Einteilung zu sehr an das Hergebracht anknüpft und vorwiegend an äußeren Merkmalen hängt. Denn der Gesetzgeber kann sowohl die Entscheidungsnormen, die die Rechtswissenschaft und Rechtspflege geschaffen hatte, ins Gesetz aufnehmen, als auch durch Befehle an Richter und andere Behörden neues Recht schaffen; er kann schließlich neue staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen begründen: so durch die Grundentlastung, in neuerer Zeit hauptsächlich neue Einrichtungen für wirtschaftliche und sozialpolitische Zwecke. Andererseits können die in der Wissenschaft und Rechtspflege aufgekommenen Entscheidungsnormen von ihnen frei gefunden oder dem gesellschaftlichen Gewohnheitsrecht entlehnt sein. Jedes moderne privatrechtliche Gesetzbuch enthält neben dem eigentlichen Gewohnheitsrecht - das sind die ins Gesetzbuch aufgenommenen Begriffsbestimmungen der Lebensformen und Verkehrseinrichtungen - zum großen Teil Entscheidungsnormen, die es der Rechtswissenschaft und Rechtspflege verdankt, die zuweilen auch vom Gesetzgeber gefunden worden sind. Daneben findet sich auch wirkliches Gesetzesrecht. Alle diese sehr verschiedenartigen Bestandteile leben ihr eigenes Leben und behalten vieles von ihrer ursprünglichen Eigenart, auch nachdem sie in einem Paragraphen gefaßt worden sind. Eine der nächsten Aufgaben der Wissenschaft wird es sein, diese Bestandteile des Rechts zu sondern und auf ihre Natur hin zu untersuchen.

Der von GIERKE zuerst dargelegte Gegensatz der genossenschaftlichen und herrschaftlichen Rechtsbildung tritt hier mit großer Deutlichkeit zutage. Nur das eigentliche Gesetz, die obrigkeitliche Anordnung, die materiell neues Recht schafft, ist immer herrschaftliches Recht. Das Gewohnheitsrecht, das aus einer selbsttätigen gesellschaftlichen Entwicklung hervorgeht, und die Entscheidungsnormen, die in der Wissenschaft und Rechtssprechung entstanden sind, sind genossenschaftliches Recht im GIERKEschen Sinne. Aber auch die vom Gesetzgeber gefundenen Entscheidungsnormen dürften eher zum genossenschaftlichen als zum herrschaftlichen Recht gehören. Es sollte jedoch nicht verkannt werden - und es wurde von mir bereits an anderer Stelle hervorgehoben - daß auch die rein gesellschaftlichen Entscheidungsnormen, seitdem der moderne Beamtenstaat entstanden ist, zum herrschaftlichen Recht abgeschwenkt haben, da sie jetzt, gerade wie das eigentliche Gesetzesrecht, als Befehle des Staats an seine Beamten erscheinen. Den Entscheidungsnormen ihre ursprüngliche genossenschaftliche Eigenart zurückzugeben, ist wohl eine der wichtigsten unter den nächsten Aufgaben der Rechtspolitik.

Wenn die Wissenschaft bisher zu einer befriedigenden Lehre vom Gewohnheitsrecht nicht zu gelangen vermochte, so liegt der Grund darin, daß sie es hartnäckig verschmähte, die Gesellschaft selbst in ihrer rechtsbildenden Arbeit zu beobachten und ihrer scholastischen Überlieferung folgend es vorzog, das Pergament für den heiligen Bronn anzusehen, aus dem ein Trank den Durst auf ewig stillt. Die Grundlage der heute noch geltenden Theorie des Gewohnheitsrechts sind einige Stellen im  Corpus iuris,  die Schriften der Glossatoren und der Kanonisten, schließlich die Lehren der deutschen gemeinrechtlichen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts. Was man dort fand, wurde rein dogmatisch behandelt: man sah darin nichts als eine vom Gesetzgeber ausgehende Vorschrift, nach der die Geltung des Gewohnheitsrechts in jedem einzelnen Fall zu beurteilen ist. Wenigen fiel es auf - unter den Wenigen befindet sich allerdings WINDSCHEID - in welchen Widerspruch man sich verwickelt, wenn man einerseits Gesetz- und Gewohnheitsrecht als vollständig gleichberechtigte und gleichgeordnete Rechtsquellen betrachtet, und andererseits dem Gesetz die Macht zugesteht, dem Gewohnheitsrecht vorzuschreiben, unter welchen Bedingungen es eine rechtliche Geltung anzusprechen vermag. Aber das war nicht der einzige Schaden, den die Wissenschaft dabei davontrug: ihr dem Papier zugewandter Blick verlor auch vollständig das Augenmaß für die Wahrheiten, die sie darin fand; die Aussprüche der unmittelbar aus dem Leben schöpfenden römischen Juristen, die Ziele, die die Glossatoren, Kanonisten und die gemeinrechtlichen Praktiker des 17. und 18. Jahrhunderts verfolgten, blieben ihr unverständlich.

Die Auffassung des Gewohnheitsrechts, die bei den Römern herrschte, habe ich an anderer Stelle dargelegt. (4) Den Römern war ihr Gewohnheitsrecht gleichbedeutend mit der römischen Rechtswissenschaft, mit den Lehren der römischen Juristen, zu deren Aufgaben es bekanntlich gehörte, nicht bloß Entscheidungen, sondern auch Recht zu finden,  iura condere  [eine Verfasssung geben - wp]. Dieses (weltliche) Gewohnheitsrecht nannten die Römer  ius civile,  im Gegensatz zum  ius sacrum,  dem geistlichen Gewohnheitsrecht und dem  ius publicum,  das im wesentlichen Gesetzesrecht war. Ein anderes Gewohnheitsrecht kannten sie nicht. Selbst unmittelbar im Leben entstandene Rechtseinrichtungen waren nur dann Rechtens, wenn sie von den Juristen anerkannt und behandelt worden sind: dadurch wurden sie aber  ius civile. Ius civile  war daher die Pupillarsubstitution [stellvertretende Einsetzung - wp], das  testamentum per aes et libram,  das Verbot der Schenkungen unter Ehegatten, die  mancipatio  und  in iure cessio  [gerichtliche Abtretung - wp].  Ius civile  waren aber auch die von den römischen Juristen gefundenen Entscheidungsnormen, alles was aus dem  cavere, agere, respondere  [vorsichtig sein, handeln und reagieren - wp] an Rechtsregeln hervorging: alle Lehren und Schriften, ja das ganze Lebenswerk des MUCIUS und SERVIUS, des LABEO und CELSUS, des JULIAN und PAPINIAN. Daneben sprechen die Juristen allerdings von  mores  [Sitte - wp], von der  consuetudo  [Brauch - wp]. Diese waren aber als solche nicht Rechtsquelle. Es gibt in dieser Beziehung nichts Überzeugenderes als die Ausführungen von BRIE (5) und PERNICE (6), gerade weil sie vom entgegengesetzten Standpunkt ausgehen. Unter den aus der klassischen Zeit stammenden Stellen des Digestentitels:  De legibus senatusque consultis et longa consuetudine  und des Kodextitels:  Quae sit longa consuetudo  handelte von Anfang an nur eine einzige von einem römischen Gewohnheitsrecht: das fr. 1, 3, 36. Hier ist von einem gewohnheitsrechtlichen Verbot der Schenkungen zwischen Ehegatten die Rede. [...]

Die nachklassischen Juristen standen allerdings vor einer anderen Aufgabe. Seit der  constitutio Antonia  galt das römische Recht für Völker der verschiedensten Art, Rasse und Herkunft, deren Angehörige zwar römische Bürger geworden sind, aber römisches Recht und römischen Brauch nicht einmal äußerlich angenommen haben. Sie lebten nach wie vor nach ihrem bisherigen Recht und Herkommen. Es ging nicht an, sich darüber einfach hinwegzusetzen. So sehr die Kaiser geneigt wären, ihre  consuetudines  einfach abzuschaffen, bis zu einem gewissen Grad mußten sie doch damit rechnen. So erklärt eine nachklassische Digestenstelle, HERMOGENIAN entnommen, ausdrücklich,  quae longa consuetudine comprobata sunt  [die langjährige Erfahrung des Brauches - wp], für verbindlich.

Drei kaiserliche Konstitutionen, die sich damit befassen, stehen im Kodex. JUSTINIAN, der in seinem Rechtsbuch an der Geltung des Partikularrechts nicht stillschweigend vorbeigehen durfte, legtes sich dafür die oben besprochenen, aus dem Zusammenhang gerissenen und dem Sinn nach zumeist entstellten Aussprüche klassischer Juristen zurecht, und fügte hinzu, was er darüber in der nachklassischen Literatur gefunden hat. Die  consuetudo  der justitianischen Rechtsbücher ist daher in der Hauptsache provinziales Partikularrecht, für die einstigen Provinzialen, jetzt römische Bürger, zumeist gewohnheitsrechtlich in Geltung.

Die Glossatoren, Postglossatoren, Kanonisten und gemeinrechtlichen Praktier hatten eine ähnliche Aufgabe zu lösen, wie die nachklassischen römischen Juristen und Gesetzgeber. Auch sie sollten römisches Recht auf Völker verschiedenster Art, Rasse und Herkunft anwenden, denen römischer Brauch und römisches Recht meistens ganz fremd war, die ihr eigenes Recht und eigenes Herkommen besaßen. Auf diesen Fall waren die justitianischen Quellenstellen geradezu gemünzt und konnten daher unmittelbar angewendet werden. Es handelte sich aber nur um die Frage, wie weit man gewohnheitsrechtliches Partikularrecht gelten lassen muß, und wie es vom gemeinen Recht abzugrenzen sei. Daß dafür ein dem gemeinen Recht entnommener Maßstab sehr willkommen sein mußte, ist klar, ebenso sehr aber, daß die auf das gemeine Recht geeichten Juristen dabei lieber etwas engherziger vorgingen. Jedenfalls waren diese Quellenstellen denen, die sich seit dem Beginn der romanistischen Jurisprudenz bis zur Wirksamkeit der historischen Schule darauf beriefen, alles andere eher als eine Theorie der Rechtsquellen: für sie waren es gesetzliche Bestimmungen über die Geltung des Partikularrechts und lokaler Gewohnheiten. Wer aber die Leistungen der historischen Juristenschule so unbefangen überblickt, wie dies heute möglich ist, der weiß, daß sie bei aller Großartigkeit der Anlage, hier wie anderwärts, im Einzelnen nur selten etwas anderes war, als eine Fortsetzerin der Lehren der deutschen gemeinrechtlichen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Wie verhält es sich nun mit der modernen, auf dieser Grundlage beruhenden gemeinrechtlichen Lehre vom Gewohnheitsrecht? Mit dem  usus longaevus non interruptus  [sehr langer Brauch ohne Unterbrechung - wp], mit der  consuetudo tenaciter servata, iuge observata  [immer noch geübter, täglich geübter Brauch - wp] der  opinio necessitatis  [Glaube an die Notwendigkeit - wp], mit der so interessanten und zu so vielen scharfsinnigen Bemerkungen Anlaß gebenden Frage des Beweises des Gewohnheitsrechts, zumal gegenüber einem entgegenstehenden Gesetzesrecht? Es ist bezeichnend, daß LAMBERT auf seiner langen Wanderung fast durch alle Gewohnheitsrechte der gesitteten Welt außerhalbdes Geltungsgebietes des gemeinen Rechts nichts davon gefunden hat. Es ist bezeichnend, daß die Römer, die Deutschen des Mittelalters, die Engländer, also Völker, bei denen wirkliches lebendiges Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle bewußt fortgewirkt hat und fortwirkt, nichts von all dem wissen. Für die Römer und die Deutschen ergibt sich das aus der unbefangenen Prüfung des reichen von BRIE beigebrachten Materials, das umso beweisender ist, als es vom Standpunkt der herrschenden Lehre mit großer Sorgfalt gesammelt worden ist; für die Engländer ein Blick auf den berühmten Abschnitt bei BLACKSTONE. Die Römer hatten für ihr  ius civile,  die Deutschen des Mittelalters für ihr angestammtes Recht, die Engländer haben für ihr  common law  in der Tat ganz andere Prüfsteine des Bestandes und der Verbindlichkeit. Aber mit großer Pünktlichkeit stellen sich solche "Erfordernisse" des Gewohnheitsrechts ein, sobald es sich nicht um eine gewohnheitsrechtliche Rechtsbildung, sondern um gewohnheitsrechtliches Partikularrecht oder um lokale Gewohnheiten und Gebräuche handelt. Dem römischen Präses, der in den Provinzen urteilen sollte, dem juristisch gebildeten Beamten, der als Richter in eine ihm ganz fremde Gegend geschickt wird, mußte doch gesagt werden, woran er es zu erkennen hat, inwieweit ein verbindliches Partikularrecht vorliegt. So gelangt man zwar gewiß zu keiner Theorie des Gewohnheitsrechts, wohl aber zu gesetzlichen oder wissenschaftlichen Regeln über dessen Anwendung als Entscheidungsnorm. Und so findet sich auch eine ähnliche Lehre bei den Engländern, aber selbstverständlich nicht für das eigentliche Gewohnheitsrecht, für das  common law  - den Gegensatz bildet das  staute law  - sondern für den  special and local custom. 

So stehen die ganze Rechtsgeschichte hindurch gesellschaftliches Gewohnheitsrecht, das in gesellschaftlichen Einrichtungen besteht, und juristische Entscheidungsnormen einander gegenüber: selbstverständlich nicht ohne sich wechselseitig fortwährend zu beeinflussen. Wie die Entscheidungsnormen aus der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen, so wirken sie auch ihrerseits auf die gesellschaftliche Ordnung zurück. Daß sich die Menschen im Allgemeinen danach einrichten, wie ihre Lebensformen von den Behörden geschützt werden, ist den meisten so einleuchtend, daß man eher vor der Überschätzung dieser Wahrheit warnen muß, vor der Annahme, daß das immer und überall der Fall ist, und besonders davor, daß damit immer das erreicht wird, was dem, von dem die Norm ausging, vorgeschwebt hatte. Denn die Menschheit wird selbstverständlich noch von anderen Kräften beherrscht, als von den Verfügungen der Behörden.

Es möge gestattet sein, zwei Fälle anzuführen, wo eine der Grundlagen der heutigen gesellschaftlichen Ordnung durch Entscheidungsnormen geschaffen worden ist, die von der Rechtspflege oder Wissenschaft herrühren. Der eine betrifft das Erbrecht der Seitenverwandten. Wenn in der Urzeit der Nachlaß des vereinzelt lebenden, zu keiner Sippen- oder Familiengemeinschaft gehörenden Menschen herrenlos wurde und daher dem verblieb, der sich seiner bemächtigte, so fiel das leicht ins Gewicht, solange vereinzelt lebende Menschen selten vorkamen. Als sich aber deren Zahl vermehrte, wurde dieser Zustand unerträglich. Immer häufiger wenden sich daher die nächsten Verwandten an die Gerichte, um dem Freibeuter seine Beute zu entreißen, und wohl mit steigendem Erfolg. Mit der Zeit bilden sich darüber bei den Gerichten feste Grundsätze aus, welchen Verwandten und in welcher Reihenfolge der Nachlaß eines Verstorbenen, der nicht in Familiengemeinschaft gelebt hatte, zuzusprechen ist. So kommt es bei den Slawen im Laufe des 14. Jahrhunderts überall zum Erbrecht der Seitenverwandten, wie es bei den Römern und Germanen wohl schon in vorhistorischer Zeit entstanden ist: nur vollzieht es sich hier vorwiegend auf Kosten des bereits ausgebildeten Heimfallrechts der Fürsten und adeligen Grundbesitzer. Aus dem Gesetzbuch des Zaren DUSCHAN ist der Übergang sehr deutlich zu entnehmen. Artikel 41 bestimmt:
    "Welcher adelige Grundbesitzer kein Kind hat oder aber ein Kind bekommen hat, das stirbt, so bleibt sein ererbtes Gut erblos, bis sich von seinem Stamm jemand findet, bis zum dritten Bruderkind; dieser soll von ihm erben."
Wie diese Bestimmung sich schon in ihrem Wortlaut als Neuerung gibt, darauf soll nur hingewiesen werden. Dazu Art. 48:
    "Stirbt ein adeliger Grundbesitzer, so gehört sein gutes Roß und seine Rüstung dem Zaren, das große perlenbesetzte Festkleid und der goldene Gürtel dem Sohn, und der Zar soll es ihm nicht nehmen; hat er keinen Sohn, so soll es die Tochter haben, die darüber verfügen darf." (7)
Eine Tat von größter Tragweite, die durch Entscheidungsnormen vollbracht wurde, ist die Festsetzung des abstrakten Eigentumsbegriffs. Sie ist ausschließlich das Werk der römischen Juristen, die sich in dieser Weise mit dem durch die Grundentlastung geschaffenen Zustand abgefunden hatten. Bis zur Grundentlastung steht das Eigentum im Allgemeinen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang: der Hof in der Dorfansiedlung, der Acker in der Gemengelage, Wald und Wiese in der Allmende, all das ist in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung der Gegend eingeschachtelt. Und ebenso sind die Ansprüche des Obereigentümers, die Lasten und Pflichten des Nutzungseigentümers durch ihre gesellschaftliche und staatliche Stellung und den ganzen wirtschaftlichen Zusammenhang gegeben. So ist der Umfang und der Inhalt des Eigentums fast für jedes Grundstück durch das Recht positiv und negativ bestimmt: wie das Eigentum an einem bestimmten Grundstück beschaffen ist, das läßt sich nicht aus dem Eigentumsbegriff ableiten; bei jedem Acker im Gewann [Flurform - wp], bei Wald und Wiese in der Allmende, bei jedem Bauernhof im Dorf und jedem Rittergut ist Art und Maß der Benützung, alles was der Nachbar fordern kann und gewähren muß, was der Obereigentümer ansprechen darf und der Nutzeigentümer zu geben hat, individuell festgestellt. Diese Schranken und Fesseln, wie sie wohl auch in Rom einst, wenn auch gewiß nicht in dem Maße wie im deutschen Mittelalter, bestanden hatten, sind mit der Grundentlastung gefallen.

Aber von dem Augenblick an, da die Grundentlastung [gegenüber dem Grundherrn - wp] vorgenommen wird, ist es nicht mehr notwendig, etwas über den Inhalt des Eigentums zu sagen; der Eigentümer braucht weder auf seinen Nachbarn, noch auf eine Übergeordneten Rücksicht zu nehmen, kann alles tun und lassen, was ihm gefällt. Jetzt gelangt man daher zu einem begrifflich unbeschränkten, unbedingen, "römischen" Eigentum, das nicht eine bestimmte, sondern fast jede denkbare Benutzung gestattet. Das römische Eigentum ist ein aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang gerissenes Eigentum.

Ist einmal der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem das Eigentum an Grund und Boden stand, aufgehoben, so gibt es nur noch eine einzige Frage, mit der sich das Recht des Eigentums befaßt: die Eigentumsklage. Um die Eigentumsklage in ihren verschiedenen Gestalten und die damit wohl zusammenhängenden possesorischen Klagen sammelt sich daher alles, was uns die römischen Juristen über das Grundeigentum zu sagen haben. Der Erwerb und Verlust des Eigentums und des Besitzes, die Parteien bei der Eigentumsklage und bei den Interdikten [Kirchenstrafen - wp], die Beweisfrage: das ist fast alles, womit sie sich beschäftigen. Nach all diesen Richtungen unterscheidet sich das Grundstück aber fast gar nicht von einer beweglichen Sache: der  fundus  ist eine  res mancipi  wie der Sklave, wie ein Stück Zugvieh. Hätten sich nicht einige Stücke der älteren Ordnung erhalten, die Dienstbarkeiten, es gäbe im klassischen römischen Recht, zumindest für den  ager privatus,  so ziemlich keine Besonderheiten. Das Recht der unbeweglichen Sachen wurde ebenso wie das Recht der beweglichen Sachen fast ausschließlich von den von den Juristen für die Eigentumsklage gefundenen Entscheidungsnormen bestimmt. Das sollte ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung werden.

Diese Beispiele beweisen, wie mächtig der Einfluß ist, den die Entscheidungsnormen auf gesellschaftliche Einrichtungen ausüben können. Eine andere Frage ist es, wie weit das eigentliche Gewohnheitsrecht seinerseits auf die Entscheidungsnormen zurückzuwirken vermag. Versteht man, wie hier, unter Gewohnheitsrecht die Lebensformen, die ohne staatlichen Eingriff, nur durch die im Leben selbst wirkenden Kräfte zur Grundlage der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung geworden sind, so gewahrt man, daß nicht nur in historischer Vergangenheit, daß sich selbst noch heute alles im ewigen Fluß befindet. Das kann wohl jeder bezeugen, der auch nur auf eine Erfahrung von dreißig oder vierzig Jahren zurückblickt. Die heutige Familie ist nicht die, in der wir unsere Jugend verlebten, die heutige Ehe ist nicht die, für die wir als Jünglinge schwärmten, Handel und Wandel sind anders geworden, ganz andere Käufe, Mieten, Pacht-, Dienst- und Lohnverträge als einst werden abgeschlossen, anders als einst steht heute der Herr dem Diener, der Unternehmer dem Eigentümer, der Erzeuger dem Kunden gegenüber, Aktiengesellschaften, Transportunternehmen, Genossenschaften, Banken, Börse, Terminhandel sind kaum noch wiederzuerkennen, und wo waren vor wenigen Jahrzehnten Trusts, Kartelle, Gewerkvereine, Massenstreiks, Tarifverträge? Gewiß hat noch keine Zeit so rasch gelebt wie die unsrige, noch nie war der Abstand zwischen Vater und Sohn in Denken, Empfinden, in Tun und Lassen so beängstigend groß wie heute. All das sind neue Lebensformen, zum Teil von Grund auf veränderte Formen des ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, also neues Gewohnheitsrecht.

Diesem unaufhaltsamen Wandelt gegenüber scheinen die Entscheidungsnormen das Stetige im Wechsel darzustellen. Denn es ist nicht etwas ins Recht zufällig Hineingetragenes, sondern eine im Wesen der richterlichen Tätigkeit begründete Forderung, daß jede richterliche Entscheidung eines Rechtsfalles sich mit bereits feststehenden Entscheidungsnormen abfinden muß. Selbst wo dem Richter die freie Rechtsfindung gestattet ist, darf er von ihr, wenigstens grundsätzlich, nur Gebrauch machen, wenn sich der überlieferte Rechtsstoff als lückenhaft erweist; das wird selbstverständlich umso weniger erwartet, je mehr der Wust im Laufe der Jahrhunderte angewachsen ist. Aber auch die Wissenschaft zeigt immer mehr das Bestreben, mit dem Vorhandenen auszukommen und auf schöpferische Gedankenarbeit zu verzichten. Die Aufnahme der Ergebnisse der Rechtswissenschaft und Rechtspflege in die Gesetzbücher, die Legalisierung des Juristenrechts, wie ich sie einmal genannt habe, bringt diese Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluß.

So schaut Rechtspflege und Rechtswissenschaft heutzutage bei jeder Gelegenheit hilfesuchend und Hilfe fordernd auf die Gesetzgebung. Selbst eine verhältnismäßig einfache Aufgabe, die Ausbildung des Urheberrechts, konnte nur mit Hilfe des Gesetzgebers bewältigt werden. Und doch ist diese Tat mit dem gar nicht zu vergleichen, was in vergangenen Jahrhunderten von Rechtspflege und Rechtswissenschaft geleistet worden ist, als es galt, für das Sachenrecht, Vertragsrecht, Schadenersatzrecht, einen großen Teil des Erbrechts- und Familienrechts die Entscheidungsnormen zu finden und so die rechtlichen Grundlagen des ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu schaffen. Die Gründe aber, aus denen die Gesetzgebung schon ansich, und seit dem sie von der schwerfälligen parlamentarischen Maschine gehandhabt wird, weniger als je, Aufgaben von so außerordentlicher Größe und Feinheit gewachsen ist, habe ich an anderer Stelle anzudeuten versucht.

Trotzdem ist es heute leichter, als es je gewesen ist, neue Lebensformen in das Recht hinüberzuleiten. Während in vergangenen Jahrhunderten jede neue gesellschaftliche Einrichtung hart um ihr Dasein kämpfen, bei fremden Gewalten, bei dem Richter, dem Juristen, dem Gesetzgeber um Anerkennung und um die Entscheidungsnormen betteln mußte, die sie brauchte, um ihr Leben zu fristen, gibt das moderne Recht in einem ungeheuren Umfang neuen Lebensformen die Anerkennung im Vorhinein und überläßt es der Gesellschaft, selbst die Entscheidungsnormen zu finden, die sie darauf angewendet wissen will. das wird bewirkt durch die Grundsätze der Vertragsfreiheit, Vereinsfreiheit und Testamentsfreiheit, die in das heutige Recht eingezogen sind. Sie bilden einen weiten Rahmen, der die ganze Fülle des modernen Lebens fast restlos aufzunehmen vermag. Und alles, was in diesen Rahmen hineinpaßt, ist rechtsverbindlich, jede wirksam gewordene Vereinssatzung, Vertragsvereinbarung, Testamentsbestimmung schafft nicht nur ein neues Lebensverhältnis, sondern erhebt es zugleich zum Rechtsverhältnis, und setzt zumeist auch die Entscheidungsnormen fest, nach denen es von den Gerichten und Behörden beurteilt werden soll. Es handelt sich dabei aber, wie eine eingehende Betrachtung zeigt, nie um vereinzelte, für sich allein bestehende Tatsachen; alle diese Verträge, Vereine, Testamentsinhalte sind gesellschaftliche Erscheinungen, Flußbetten vergleichbar, in denen das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Gegenwart ruhig und geordnet dahinzufließen vermag. So tritt die Usance [Brauch - wp], die Regel des Lebens, den anderen Rechtsquellen gleichberechtigt zur Seite.

Aber ein großer und vielleicht gerade der mächtigste Teil der gesellschaftlichen Strömungen läßt sich auch in der Gegenwart in keine vorauszubestimmende Regelung einzwängen. Jedem staatlichen Eingriff, auch dem mittelbaren durch Entscheidungsnormen, entzieht er sich, teilweise schon durch seine Natur, manchmal mit ausgesprochener Absicht; ein anderes Mal geht ihr der Staat und sein Recht, die Grenzen seiner Macht erkennend, scheu aus dem Weg. Kaum notwendig ist es eingehender auszuführen, wie wenig die märchenhafte Entwicklung der letzten dreißig und vierzig Jahre, deren Zeuge das heute noch lebende Geschlecht ist, auf Gesetzgebung, Rechtspflege, ja sogar auf die Rechtswissenschaft geübt hat: sie haben sich alle an ihr nach Möglichkeit vorbeizudrücken gesucht. In bezeichnender Weise haben die englischen Trade Unions nicht bloß die längste Zeit keine gesetzliche Regelung gewünscht, sie haben sogar jede gesetzliche Anerkennung ausdrücklich verschmäht. Und wie verhält sich das staatliche Recht zu den Trusts und Kartellen, wie verhalten sich diese zu ihm? Sie tun zumeist, als ob sie einander nicht sähen. Und doch wäre es lächerlich, wenn wir, die wir im armseligsten Kaufvertrag ein Stück der Rechtsordnung erblicken, die mächtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbänden unserer Zeit nicht als Rechtseinrichtungen gelten lassen wollten. Sie sind es, allerdings nicht aufgrund staatlichen Rechts, nicht aufgrund von Entscheidungsnormen, die von Gerichten und anderen Behörden gehandhabt würden, sondern kraft eines gesellschaftlichen Gewohnheitsrechts.

Und so wird heute noch, ebenso wie in der Urzeit, die große Massen gesellschaftlicher Arbeit auch auf diesem Gebiet von der Gesellschaft unmittelbar verrichtet. Die jeweilige gesellschaftliche Ordnung ist ein Werk der großen gesellschaftlichen Kräfte, die vom Staat und seinem Recht geleitet und gebändigt, aber nicht unterdrückt oder vernichtet werden können. Denn die gesellschaftlichen Kräfte sind elementare Kräfte, was vom Staat ausgeht, selbst das Recht, das er schafft, ist doch nur ein Gebilde der Menschenhand. Die Aufgabe des Staatsmannes ist nicht, Dämme zu bauen, die der Strom der gesellschaftlichen Entwicklung in reißenden, die edelsten Werke vernichtenden Fluten überschwemmen würde; die Aufgabe des Staatsmannes ist, dem Strom den Weg in die Ebene zu bahnen, wo er Äcker befruchten und Mühlen treiben wird. Mit Bewunderung blicken wir auf den großen Staatsmann, der dieser schwierigen Aufgabe in so einer großartigen Weise gerecht geworden ist. Seinem weisen und hochherzigen Entschluß verdankt unser Vaterland das große Reformwerk, das nun seiner Vollendung entgegenreift. Wir alle hoffen, daß es den Völkern Österreichs eine Zeit friedlicher Entwicklung bringen wird, eine Zeit reicher Entfaltung der bisher untätig schlummernden oder in fruchtlosen Kämpfen vergeudeten Kräfte. Und so bitte ich Sie,freudvoll und hoffnungsvoll in den Ruf einzustimmen: Unser allergnädigster Kaiser FRANZ JOSEPH I. lebe hoch, hoch, hoch!
LITERATUR Eugen Ehrlich, Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts, Inaugurationsrede gehalten am 2. Dezember 1906, Leipzig und Wien 1907
    Anmerkungen
    1) Ein österreichischer Marine-Offizier, der Afrika kennt, sagte mir einmal, er schreibe die Erfolge STANLEYs zum großen Teil den Verträgen zu, die dieser mit seinen schwarzen Trägern zu schließen pflegte. Die anderen Afrikareisenden nahmen die Träger gewöhnlich für kurze Strecken auf, für das Gebiet, das von deren Stammesgenossen bewohnt war, entließen sie, wenn sie an die Grenze kamen, und suchten hier nach anderen Träger unter denselben Bedingungen. STANLEY dagegen heuerte sie schon an der Küste für die ganze Reise an. Nun ist der Neger in Afrika außerhalb der Grenzen seines Stammes zumeist vogelfrei. Sobald STANLEY daher in ein fremdes Gebiet gekommen ist, war seine Karawane für die Träger der einzige Hort. Und so waren sie ihm auf Gnade und Ungnade ergeben. Er war ihr Beschützer und eben deswegen ihr unbeschränkter Herr und Gebieter.
    2) Einer der berühmtesten Fälle ist die Entstehung des Großgrundbesitzes im schottischen Hochland. Als die Engländer nach der Schlacht bei Culloden daran gingen, die alte Klanverfassung der Gälen zu zerstören, taten sie es so, daß sie einfach die Klanhäuptlinge für Eigentümer des ganzen, bisher eine Gemeinschaft bildenden Stammesgebietes, erklärten. Ähnlich gingen die Engländer bekanntlich auch in Bengalen vor.
    3) Vgl. für die Russen BUDANOW-WLADIMIRSKIJ, "Obsor istorii ruskowo prawa" (3. Auflage 1900, Seite 478). Was SERGEJEWITSCH, "Lekzii i iszledowania" (3. Auflage 1903, Seite 549) dagegen vorbringt ist wenig überzeugend. Für die Polen HUBE, "Prawo polskie w wieku trzynastym" (1874), Pisma II, Seite 394. Bei den Polen waren für die ererbten Güter allerdings schon im 13. Jahrhundert alle Nachkommen des ersten Erwerbers erbberechtigt; dagegen fielen im Falle eines unbeerbten Todes die vom Fürsten verliehenen Güter an den Fürsten, die bäuerlichen Güter an den Gutsherrn zurück, mit Ausschluß der Seitenverwandten. Was mit den anderweitig erworbenen Gütern geschah, ist nicht festzustellen; BALZER nimmt in einem an mich gerichteten Brief an, sie seien so wie die ererbten auf Seitenverwandte vererbt worden; dagegen spricht aber, daß auch diese nicht auf solche Seitenverwandten übergingen, die nicht vom ersten Erwerber abstmmten, (Vgl. die von SZAJNOCHA, Szkice historyczne", Bd. 1, Seite 336 angeführt Stelle des  Liber fundationis claustri Stae Mariae).  Am besten ist die Entwicklung in Böhmen und Mähren bekannt, die von KALOUSEK, "O staroceskem prave dedicken", dargelegt wird. Danach bedeutete der Ausdruck  dedic  nur den mit dem Verstorbenen in unabgeteilter Gemeinschaft lebenden Verwandten. Daher sind die abgeteilten Verwandten nicht erbberechtigt. Der Nachlaß fällt, wenn keine Verwandten da sind, die mit dem Verstorbenen in Familiengemeinschaft gelebt hätten, an die königliche Kammer. Das spricht schon das Statut des Fürsten KONRAD OTTO (1189) aus. Damit stimmt die ganze spätere Gesetzgebung überein und so wird das Erbrecht noch dargestellt von VIKTORIN KORNELIUS von VSEHRD, der im 16. Jahrhundert eine sehr bedeutende Darstellung des tschechischen Gewohnheitsrechts verfaßt hatte. Die Richtigkeit seiner Auffassung ergibt sich aber auch aus den zahlreichen Rechtsstreitigkeiten, die die königliche Kammer mit abgeteilten Verwandten noch im 14. und 15. Jahrhundert geführt hatte und die stets zugunsten der Kammer entschieden wurden (KALOUSEK, a. a. O., Seite 25). Für die Serben vgl. NOVAKOVIC, "Sakonnik Zara Duschana" (1898), Seite 172. Bei den baltischen Slawen findet sich wenigstens bis zum 14. Jahrhundert keine deutliche Spur eines über den Bruder hinausgehenden Erbrechts der Seitenverwandten: KOTLJAREWSKIJ, "Drewnosti juriditscheskawo byta baltijskich Slawian", 1874, Seite 138. Für die Masowier vgl. DUNIN, "Prawo mazowiecki", 1880, Seite 136f. - Meinem Freund ADALBERT von STIBRAL verdanke ich die Mitteilung, daß bei den Ungarn die Sachen allem Anschein nach ebenso lagen, wie bei den Slawen.
    4) EHRLICH, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, Teil 1, Das  ius civile, ius publicum, ius privatum,  Berlin, 1901.
    5) SIEGFRIED BRIE, Die Lehre vom Gewonheitsrecht, Breslau 1899
    6) ALFRED PERNICE, Zeitschrift der SAVIGNY-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 20, Heft 1, Seite 127
    7) Vgl. dazu NOVAKOVIC, Sakonnik Zara Duschana, Belgrad 1899, Seite 171f.