ra-2J. BinderA. HeilingerR. StammlerA. Affoltervon Wieser    
 
IWAN ILJIN
Die Begriffe
von Recht und Macht

[Versuch einer methodologischen Analyse]
[2/2]

"Wenn  Jhering  von zwei Wegen spricht, auf denen die Rechtsnorm zur Macht wird, und die Macht zur Rechtsnorm, so bewegt er sich durchweg in der soziologischen Reihe, und in seiner Behandlung steht  der Norm, die zur Macht wurde,  nicht eine  Norm, welche methodologisch der Machtvorstellung indifferent ist  gegenüber, sondern eine  machtlose Norm,  d. h. das Bewußtsein einer Norm, welches unfähig ist, ein zwingend bestimmter Faktor des gesellschaftlichen Lebens zu werden."


§ 5.

Auf diese Weise wird die Antwort auf die von uns gestellte Frage über das Zusammenfallen oder das Nichtzusammenfallen von Recht und Macht gelöst. Uns interessierte die ganze Zeit nicht so sehr das Gemeinsame und Ähnliche in diesen Gebilden, als vielmehr die methodologische Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Unterscheidung in der Rechtserkenntnis. Man kann von einem gewissen Standpunkt aus sowohl das Recht, als auch die Macht als Realitäten auffassen; von einem anderen Standpunkt kann man sowohl das Recht, als auch die Macht als Werte betrachten (das Recht als einen Wert in der ethisch-praktischen Reihe, die Macht als Kategorie der konstitutiven Erkenntnis, d. h. als einen "Wert" der theoretischen Reihe); vom dritten Standpunkt aus kann man Recht und Macht als abstrakte Schemen auffassen. Aber nicht dieses Gemeinsame in Recht und Macht beschäftigte und beschäftigt uns. Wir waren bestrebt, nicht so sehr die Fälle der subkoordinierten Stellung dieser Begriffe, wenn sie beide gleichmäßig einem gewissen dritten, über ihnen stehenden Begriff subordiniert sind, aufzuzeigen, sondern die Fälle ihrer sozusagen unmittelbaren, logischen Berührung, wenn z. B. alle Merkmale des einen dem andern zukommen (das Verhältnis der Gattung zur Art), oder wenn die Merkmale des einen und des anderen Begriffs in einer neue Vorstellung verschmelzen, wobei diese Vorstellung für sie nicht die Bedeutung eines Gattungsbegriffs hat, sondern, indem sie auf unzulässige Weise in sich Kategorien, die aus verschiedenen Ebenen hervorgeholt sind, vereinigt, eine gedankliche Bildung darstellt, welche einer analytischen Auflösung bedarf.

Und nach dieser Richtung gelang uns folgendes festzustellen:

Das Recht kann als Macht behandelt werden, kann aber auch einer Auffassung unterworfen sein, welche keine Annäherung an die Macht zuläßt. Dem Recht gehören alle Merkmale der Macht in der  realen  Rechtserkenntnis an, d. h. in der psychologischen, soziologischen, historischen und politischen Reihe der Betrachtung; dem Recht kommt kein Merkmal der Macht in der juristischen Rechtserkenntnis, d. h. in der logischen und normativen Reihe zu. Mit anderen Worten: inwiefern das Recht, als in eine reale Reihe eingeführtes, betrachtet wird, insofern ist sein Zusammenschmelzen mit dem Machtbegriff zulässig: - hier ist  Macht  ein Gattungsbegriff und  Recht  ein Artbegriff; inwiefern aber das Recht methodologisch von der Realität, in den verschiedenen Arten ihrer Auffassung, losgelöst wird, insofern liegen Recht und Macht in methodologisch wechselseitig indifferenten Reihen.

Es erhellt sich von hier aus, daß diejenigen Definitionen des Rechts und der anderen Begriffe der Rechtswissenschaft, welche in sich offen oder heimlich das Machtmoment in dieser oder einer anderen Auffassung enthalten, als nicht juristische im strenden und engen Sinn des Wortes bezeichnet werden, oder aber korrigiert, sozusagen methodologisch gereinigt und von jenem Moment befreit werden müssen. Dabei kann von unserem Standpunkt aus die Möglichkeit und Notwendigkeit solcher nicht juristischen Bestimmungen nicht bestritten werden; aber man soll unermüdlich sein im Nachweisen, daß auch sie selber einer fertigen juristischen Definition bedürfen.

Deshalb, solange GUMPLOWICZ (24) das Recht und die Macht in historischer und genetischer Betrachtung aneinanderrückt, kann man ihm nur in den Grenzen der Geschichte und der Soziologie begegnen, d. h. ausgehend von der Analyse des faktischen Materials, das die Rechtserscheinungen liefern, nicht aber vom methodologischen Standpunkt aus. Andererseits wieder kann man nicht umhin, vom methodologischen Gesichtspunkt aus anzuerkennen, daß die juristische Natur des Rechtsbegriffs von seinen soziologischen und historischen Untersuchungen über die Entstehung des Rechts aus der Macht völlig unberührt bleibt. Eine juristisch gefaßte Wissenschaft des Staatsrechts beschäftigt sich nicht gleich GUMPLOWICZ (25) mit der Untersuchung realer gesellschaftlicher Beziehungen, sondern mit der Analyse der Normen des Staatsrechts nach ihrem logischen und normativen Bestand.

Oder, was die These JHERINGs anlangt, das Recht sei ein "Kraftbegriff" oder ein "Machtbegriff" und kein "logischer Begriff" (26), so müssen wir sie zwecks Einschätzung in ihre zwei Teile zerlegen; der erste behauptet, Recht sei ein Machtbegriff, der zweite - Recht sei kein logischer Begriff. Lassen wir die vom logischen Standpunkt aus mißlungene Formulierung dieser These beiseite (die Logik kennt keine Gegenüberstellung von "Machtbegriff" und "logischem Begriff"), so müssen wir zugeben, daß ihr erster Teil nichts Unzulässiges enthält, denn das Recht kann in bestimmten Reihen als Macht behandelt werden; die zweite Behauptung erweist sich aber als unannehmbar, weil die reale Bedeutung des Rechts sich durchaus methodologisch mit seiner logischen Auffassung verträgt. Diese letzte darf und kann nicht bloß deshalb abgewiesen werden, weil in der soziologischen Reihe das Recht als Macht einherschreitet, und JHERING trat selber in einem seiner bedeutendsten früheren Werke als Verfechter dieser Auffassung (wenn auch nicht in strenger methodologischer Durchführung) auf (27). Und wenn er in seinem späteren Werk von zwei Wegen spricht, auf denen die Rechtsnorm zur Macht wird, und die Macht zur Rechtsnorm (28), so bewegt er sich durchweg in der soziologischen Reihe, und in seiner Behandlung steht "der Norm, die zur Macht wurde", nicht eine "Norm, welche methodologisch der Machtvorstellung indifferent ist" gegenüber, sondern eine "machtlose Norm", d. h. das Bewußtsein einer Norm, welches unfähig ist, ein zwingend bestimmter Faktor des gesellschaftlichen Lebens zu werden.

Oder wenn z. B. MERKEL davon spricht, daß das Recht in einem objektiven Sinn ein sozialer Faktor ist (29), so sehen wir darin eine methodologische Verwechslung: die Rechtsvorschrift wird, wie wir eben angeführt haben, zum sozialen Faktor, als Bewußtsein einer Norm oder, darüber hinaus, im Resultat ihrer Anwendung; eben in dieser Betrachtung wird es zur "Macht", aber eben in dieser Betrachtung ist es nicht mehr Recht im objektiven Sinn, denn das Recht im objektiven Sinn ist die Gesamtheit von Normen als solcher und nicht der normativen Inhalte des Bewußtseins oder der faktischen Schemata von realen Beziehungen.

Aus all dem wir auch klar, daß der juristischen Rechtsbestimmung eine ganze Reihe von Merkmalen, welche das Machtmoment in verhüllter Weise enthalten, nicht wird zugestanden werden können.

So wird die Bestimmung des Rechts als eines Ausdrucks des Wollens (30) ("Ausdruck" im realen Sinn genommen), von unserem Gesichtspunkt, aus der juristischen in die psychologische Reihe verwiesen werden müssen. Denn sie führt das Recht in die reale Reihe ein, indem sie aus einer Betrachtung seiner psychologischen Genese folgt und zwischen ihm und dem Willen das reale Band der Entstehung des einen aus dem anderen stiftet. Dies gewährt dann die Möglichkeit, auch das Recht selber als kausal bestimmende Macht zu betrachten.

Ebenso wird die Bestimmung des Rechts als "Ausdruck des Interesses" von diesem Standpunkt aus nicht in die juristische Reihe aufgenommen werden können, denn auch sie führt in die logische Analyse eine kausale Betrachtung ein und vindiziert auf diese Weise dem Recht selber die Bedeutung einer Macht: denn aus psychischer Macht geboren, stellt sich das Recht selber in einer natürlichen Konsequenz als Macht dar.

Ebenso ist von einem methodologischen Gesichtspunkt aus die Einführung des Merkmals des Zwangs in die juristische Rechtsdefinition als verfehlt zu bezeichnen, allerdings, wenn man darunter nicht einfach die Gegenwart einer sanktionierenden Norm versteht; dann stößt man auf Entgegnungen induktiven Charakters. Die Frage, ob jede Rechtsnorm als solche das Auftreten und das Wirken eines sozialen Zwangsapparates hervorruft oder nicht hervorruft, ist eine Frage, welche nur durch Beschreibung und Typisierung eines realen Prozesses - des individuellen oder sozialen Rechtserlebnisses gelöst werden kann. Der Zwang ist in dieser Hinsicht ein Moment der realen Verkörperung, der realen Wirkung des Rechts; er setzt voraus, daß das Recht selber in den Zustand des Realseins schon übergegangen ist, daß es real wirkt, daß es Macht ist.

Eine subtilere Art der Reihenverflechtung bildet die Einführung des Merkmals der Drohung oder der gesellschaftlichen Sanktion. In diesem Fall wird auf jenes, vorgeblich für das Bewußtsein einer jeden Rechtsnorm typisches Faktum rekurriert, daß dieses Bewußtsein stets von der  Vorstellung  der Möglichkeit oder sogar der Unvermeidlichkeit des psychischen oder physischen Drucks auf das Individuum seitens mehr oder weniger bestimmter gesellschaftlicher Schichten begleitet ist. Falls man auch zugiebt, daß das Recht wirklich stets psychisch unter dem Aspekt der Macht  erlebt  wird, so faßt der Jurist das Recht eben  nicht als Erlebnis sondern als Norm auf und zieht nicht in der Analyse alle Komplexe von Assoziation, die es begleiten, hinein.

Ebenso hat die Auffassung der Verbindlichkeit der Rechtsnorm, als einer Macht, keinen juristischen Charakter. Wird die Verbindlichkeit der Norm als Wirkung auf den menschlichen Willen verstanden, so führt diese Bestimmung die Rechtsnorm in die psychologische Reihe ein, denn auf den Willen wirkt nicht die Norm, sondern die Vorstellung von der Norm, das Normerlebnis. Sicher wird der Grad der Verbindlichkeit der Norm vom psychologischen Standpunkt aus durch die Intensität, mit welcher ihre Vorstellung auf den Willen wirkt, bemessen. Dagegen juristisch genommen wird die Norm ihre Verbindlichkeit auch dort bewahren, wo vielleicht in der Entfernung von 100 Kilometern kein Mensch da ist, welcher von ihr eine Vorstellung hätte.

Es ist auch mißlich, in der juristischen Reihe von der ethischen Macht des Rechts zu sprechen. Diese Frage ist in hohem Maße für den Psychologen, Soziologen, Politiker, Moralisten bedeutsam; die juristische Auffassung wird dagegen zur unzweideutigen im höchstmöglichen Maß abgeschliffenen Abgrenzung des Begriffs einer  Rechtsnorm  vom Begriff einer  ethischen Norm  streben, sich bewußt bleibend, daß auch die Ethik, insofern der Jurist sie streift, von ihm nicht als psychische Macht oder Fähigkeit, sondern als moralische Norm behandelt wird.

Daraus fließt auch, daß der Begriff eines "wirkenden Rechts" für den Juristen nicht dieselbe Bedeutung haben kann, wie für den psychologischen Rechtstheoretiker, für den Soziologen und teilweise für den Politiker. Die letzten erkennen das Recht als wirkend nur an, wenn es ins Bewußtsein der Menschen übergegangen oder durch den Prozeß der Anwendung hindurchgegangen ist. Für sie ist nicht die juristische Verbindlichkeit des Rechts von Bedeutung, d. h. nicht das formale Moment der kompetenten Sanktionierung und Publikation, wie für den Juristen, sondern der Übergang des Rechts aus dem, wie man sich ausdrückt, toten Zustand in einen lebendigen: nach der Ansicht des Psychologen und des Soziologen  wirkt  dasjenige Recht, welches zur Macht wurde. Der Jurist bedarf nicht dieses Moments der Realisierung.

Die methodologisch irrige Verwechselung von Reihen, welche wir im Auge haben, wird noch durch die Einschiebung einiger neutraler und äußerlich ganz harmloser Ausdrücke zwischen Recht und Macht, wie z. B. der "Ordnung", erleichtert. Wir zeigten oben, daß der Begriff der Ordnung in methodologischer Hinsicht ein doppeltes Gesicht zeigt. Die Ordnung kann einerseits jene Gesamtheit von Beziehungen, die durch die Normen, als sein-sollende, aufgestellt wird, andererseits - die Beziehungen, welche als empirische wirklich beobachtet werden, bezeichnen. Den Ausdruck Rechtsordnung verwendend, lassen nun die Forscher gewöhnlich dabei die Feststellung vermissen, in welchem Sinne sie ihn gebrauchen; es entsteht auf diese Weise eine Brücke, mit deren Hilfe man immer leicht und unbemerkt aus einer Reihe in die andere kommen kann. Deshalb müssen diejenigen Rechtsdefinitionen, welche das Recht als Ordnung charakterisieren, vom juristischen Standpunkt aus revidiert werden. So bestimmen REGELSBERGER (31) und KOHLER (32) das Recht als Rechtsordnung, GAREIS (33) als Friedensordnung usw.

Zu solchen Ausdrücken gehören auch die der "Rechtseigenschaft" und der "Rechtsbeziehung". Im weitesten und allgemeinsten Sinne kann man als "Eigenschaft" alles bezeichnen, was in dieser oder jener Bedeutung und Auffassung etwas anderem zugeschrieben wird; und eben diese Weite der Bedeutung des Ausdrucks "Eigenschaft", welche seine Verwenung in iner logischen Betrachtung zu rechtfertigen scheint, stellt sich als einer der Wege dar, welche zum Aneinanderrücken und zur Verschmelzung der Reihen führt. Denn in einem engeren, strengeren und bestimmteren Sinne kann man als Eigenschaft nur dasjenige bezeichnen, was etwas anderem im realen Sinn zugeschrieben werden kann (bzw. ihm zukommt, angehört); im Besonderen kann das eine reale Potenz, d. h. die Macht eines Dinges sein. Deshalb müssen wir, wenn wir in der juristischen Sphäre bleiben, von  Merkmalen  oder vom  logischen und normativen Inhalt  der Rechtsnormen und Rechtssätze sprechen; wenn wir aber dieses letzte in einer der realen Reihen verfolgen, so werden wir von seinen Eigenschaften reden. So kann der Zwangscharakter im oben erwähnten Sinn ein Merkmal des Rechts und eine Eigenschaft des Rechts sein, in Abhängigkeit davon, ob der Jurist oder der Soziologe usw. das Wort hat. Wir werden sehen, wie der Eigenschaftsbegriff in einer anderen Verknüpfung methodologisch auseinandergelegt wird.

Ebenso stecken im Begriff der "Rechtsbeziehung" verschiedene methodologische Wendungen. Im weitesten und allgemeinsten Sinne kann man von Beziehung ebensowohl in der Naturwissenschaft, wie in der Jurisprudenz und der Logik reden. Aber vom Gesichtspunkt der juristischen Methodologie aus ist es in einem hohen Grad wichtig, wenn man von "Beziehung" spricht - klarzulegen, ob man eine konkrete einzelne Beziehung als "reale" (wir sehen bedingterweise von einem kritischen Standpunkt ab, nach welchem die Relation stets eine Kategorie darstellt), oder den allgemeinen Gattungsbegriff der Beziehung im Auge hat. Es ist notwendig, weiter, zu erkläutern, zu welcher Ordnung diese Beziehung gehört, ob zur realen Ordnung, die induktiv konstatiert wird, oder zur normativen, gesollten, vorgeschriebenen Ordnung. In logischer Betrachtung ist die Beziehung stets ein Begriff, der für die reale Betrachtung methodologisch indifferent ist; in normativer Betrachtung erhält sie die Bedeutung einer Formel des Gesollten; in den realen Reihen dagegen wird sie entweder als reale konkrete einzelne Beziehung gedacht oder als ein Begriff, der einen Typus darstellt, ein abstraktes Schema für das, was real geschieht. Und nur in den realen Reihen erscheint die "Beziehung" nicht indifferent der Machtkategorie gegenüber. All das können wir nur beiläufig streifen; die systematische Durcharbeitung dieser Unterscheidungen würde unvermeidlich die Anwendung der letzteren auf das Material der Rechtslehre voraussetzen.

Von den übrigen Folgerungen wollen wir uns nur noch beim Begriff der "Erklärung" in der Rechtstheorie und bei der Idee eines "Rechtsdogmas" aufhalten.

Nicht selten wird die Aufstellung dieser oder jener juristischen Konstruktion mit dem Ausdruck der "Erklärung" bezeichnet; mit demselben Ausdruck bezeichnet man auch die Konstatierung dieser oder jener Verbindungen zwischen den Erscheinungen des Rechtslebens. Diese terminologische Ungeschiedenheit weist auf wesentlichere logische Verschiebungen hin. Man muß nämlich immer im Auge behalten, daß eine juristische Konstruktion im strengen und bestimmten Sinn des Wortes von der Analyse der Rechtsnormen als Sätze und als Normen, nicht aber von der Analyse der Rechtserscheinungen ausgeht; da sie deshalb in einer Reihe, die der Realität fremd ist, sich bewegt, so wirft sie nichts ab zur Erkenntnis dessen, was real ist, und kann auch zu diesem Zweck nichts abwerfen. Die juristische Konstruktion, wenn wir nur in methodologischer Hinsicht Klarheit und Folgerichtigkeit bewahren wollen, zielt nicht auf die "Erklärung" der Rechtserscheinungen und soll auch nicht auf sie zielen: ihre Aufgabe ist die Verständlichmachung (d. h. die logische Analyse und die systematische Bearbeitung der Rechtsnormen als Normen und Sätze), und der Rechtsbegriff, der auf diese Weise konstruiert ist, erklärt nichts im realen gesellschaftlichen Leben; denn er ist von Sätzen abgezogen, welche nichts über das Reale aussagen und nicht das Seiende, sondern das Seinsollende formulieren. Der Inhalt der Normen kann aber doch mit den Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen Erscheinungen, die diese Normen verkörpern, sehr weit auseinandergehen. Deswegen sollte man den Ausdruck "erklären" ausschließlich in die realen Reihen verweisen. Dort heißt "erklären" - das zu erkennende Konkrete unter das schon erkannte Abstrakte und das unbekannte Seiende unter das bekannte Begriffliche subsumieren; oder eine kategoriale Verbindung zwischen zwei konkreten Momenten einer realen Reihe herstellen. Dagegen muß die Aufgabe der juristischen Betrachtung nicht als Erklärung, sondern als logische Verständlichmachung, als logisches Aufklären formuliert werden. Es wird sich bei so einer Scheidung mit besonderer Klarheit zeigen, daß der Kategorie der Macht nur in den erklärenden, keineswegs in den aufklärenden Reihen ein Platz zugewiesen werden darf.

Schließlich folgt aus allem Gesagten mit Evidenz, daß die Idee und die Aufgabe des Rechtsdogmas nach dem von uns eingenommenen Standpunkt eine neue Richtung erhalten müssen. Historisch erwuchs das Dogma, als besondere Rechtsbetrachtung, unter dem Einfluß praktischer Bedürfnisse; das war die Summe der Kunstgriffe, welche dem praktischen Juristen, der das Recht anzuwenden hatte, die Orientierung in einem anzuwendenden Haufen der Rechtsnormen erleichtern sollte. Der Geist des römischen Dogmas, der sich in der Formel verkörpert - nicht "erkennen um zu wissen", sondern "erkennen um anzuwenden", verlegte den Schwerpunkt vom theoretischen Moment der Bearbeitung der Rechtsnormen auf das Praktische; und in dieser Gestalt ist sein Einfluß bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben und hindert bis in die Gegenwart die Jurisprudenz, eine selbständige Wissenschaft zu werden, d. h. eine Theorie im vollen Sinn des Wortes. Von unserem Gesichtspunkt aus muß so eine Stellung des Dogmas durch eine andere, welche rein theoretisch ist, ersetzt werden. Ebenso, wie die Geschichte der Naturwissenschaft eine allmähliche Emanzipation der Theorien vom führenden und bestimmenden Einfluß der praktischen Bedürfnisse kennt, so ist es auch schon lange an der Zeit, auch in der Jurisprudenz zuzugestehen, daß die praktischen Bedürfnisse des Richtens und des politischen Lebens höchstens als Anstoß, als Veranlassung dienen können zur Erweckung eines selbständigen theoretischen Interesses, zu den Rechtsnormen und ihrem Inhalt. In der Idee der "Jurisprudenz" muß die Theorie sich von der Praktik scheiden, und dies wird wesentlich zum Vorschein kommen in der Zulassung der Einschließung in die juristischen Begriffe und Konstruktionen von Merkmalen, welche aus der Analyse von  Rechtsnormen  gewonnen wurden, unabhängig davon, ob diese Merkmale eine praktische Anwendung und reale Verwirklichung gefunden haben oder nicht, oder vielleicht sie diese Verwirklichung im Fortschritt der historischen Entwicklung zu finden aufgehört haben. In diesem Sinne ist die dogmatische Bearbeitung der Normen der französischen Konstitution von 1793, welche keine Anwendung gefunden hat, ebenso in wissenschaftlicher Hinsicht notwendig, wie die juristische Analyse der Normen des überlebten römischen Rechts oder die Bearbeitung des neuen russischen Strafgesetzbuches in der Zeit, die zwischen seiner Sanktion und Publikation - und seinem zur Anwendung bringen gelegen hat.

Aber dieser praktische Geist der alten und der modernen Dogmatik zieht andere, viel tiefere und gefährlichere Folgen nach sich, denn er führt zur wesentlichen Vermischung verschiedener methodologischer Reihen. Im Prozeß der Anwendung nämlich geht gewöhnlich die Norm durch eine Interpretation hindurch, d. h. durch eine Reihe von Gedankenoperationen, welche durch die Inkongruenz, oder nicht volle Angemessenheit derjenigen Merkmale einer Beziehung, die in abstracto, providenziell [von einer Vorsehung bestimmt - wp], in der Rechtsnorm aufgezählt sind, zu den wesentlichen Merkmalen einer konreten Beziehung, welche ihre rechtliche Form aus der zu interpretierenden Norm erhalten soll, veranlaßt wird. Diese Operationen müssen den inneren Sinn der Norm so deuten, daß sie den, in ihr gezeichneten, abstrakten Typus - der konkrteten Beziehung annähern und durch diese Anpassung die Möglichkeit an die Hand geben, der konkreten Beziehung die Gestalt und die Folgen, welche in der Norm angegeben sind, beizulegen. Im Resultat der Interpretatoin nähert sich die Rechtsnorm, wie man sich ausdrückt, dem wirklichen Leben und nimmt gewisse Züge der Wirklichkeit gleichsam in sich auf; die interpretierte Norm bildet dann eben jene Mittelreihe zwischen Norm und Wirklichkeit, welche einige Juristen in die Versuchung führt, indem sie ihnen eine Veranlassung gibt, in ihr eine Verallgemeinerung der Fakta des Lebens, gleichsam ein positives soziologisches Gesetz zu erblicken. Von einer ganzen Reihe schwerwiegender Einwürfe, welcher hier der Soziologe von seinem Standpunkt aus vorbeugen muß, absehend, wollen wir nur zeigen, daß für den Juristen die Neigung der Dogmatik zwischen einer Analyse der Norm und einer Analyse der interpretierten Norm nicht zu unterscheiden, und umso mehr die Neigung, die normative Bedeutung der Rechtsnorm als solcher zu vergessen, unannehmbar ist. Hier ist es notwendig folgerichtig, jene gesonderten methodologischen Linien durchzuführen, von denen wir oben sprachen, wenn wir gewiß solche komplizierte und zusammengesetzte Ideegebilde, wie den Begriff des Rechtsinstitutes in der modernen Jurisprudenz vermeiden wollen. So kann man z. B. unter dem Eigentumsinstitut verstehen:
    I. Die Gesamtheit der  Gattungs-  und  Artbegriffe  von Eigentum, welche von den  Normen  eines bestimmten Kodex abstrahiert wurden.

    II. Die Gesamtheit ebensolcher Begriffe, welche von den  interpretierten Normen  desselben Kodex abgezogen sind (34).

    III. Die Gesamtheit der  Normen,  welche diese Verhältnisse des Eigentums regeln (35).

    IV. Die Gesamtheit derselben  Normen  desselben Kodex, welche aber durch den Prozeß der  Interpretation  hindurchgegangen sind.

    V.  Die Gesamtheit  der Begriffe, die von den realen gesellschaftlichen Prozessen und Zuständen, die "Verhältnisse des Eigentums" heißen, abstrahiert werden. (36)

    VI. Die Gesamtheit dieser konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, welche "Verhältnisse des Eigentums" genannt werden. (37)
Es wäre höchst interessant, zu beleuchten, wie sich bei den einzelnen Schriftstellern alle oder einige von diesen Bedeutungen des "Rechtsinstituts" verflechten. Und gerade für unser grundlegendes Problem über die wechselseitige Beziehung von Recht und Macht können wir hier eine Reihe von wesentlichsten Hinweisen erblicken. Die vier ersten Bedeutungen des "Rechtsinstituts" liegen in einer Reihe, welche der Realität und folglich der Machtkategorie fremd ist; die zwei letzten Bedeutungen liegen in der realen Reihe. Der Dogmatiker, der diese Unterscheidung vergißt, läßt in seinem Werk einzelne Reihen der Rechtserkenntnis zusammenfließen und führt unbemerkt Machtkategorien dort ein, wo sie keinen Platz haben. Der Dogmatiker dagegen, der diese Abgrenzungen aufrechterhalten wird, wird auch die Möglichkeit gewinnen, eine strenge juristische Theorie zu schaffen, und wird zum Recht von jener seiner logischen Seite den Zugang finden, welche mit solcher Intensität JHERING (38), LABAND (39) und MUROMTZEF (40) gefühlt und doch in so verschiedenen Richtungen und Auffassungen formuliert haben.

So gestaltet sich die Lösung unseres grundlegenden Problems innerhalb des objektiven Rechts.

§ 6.

Es bleibt jetzt noch übrig, die Frage über die Möglichkeit der Verschmelzung des Machtbegriffs mit dem Begriff des Rechts in einem  subjektiven  Sinn zu berühren. Wie wir auch den Begriff des Rechts im subjektiven Sinn bestimmen, worin wir auch sein Wesen erblicken mögen, immer werden wir zugeben müssen, daß das Recht im subjektiven Sinn das Recht im objektiven Sinn voraussetzt, und dies in doppelter Beziehung. Erstens in der juristischen Begründung, zweitens in der logischen Bestimmung. Ob wir das Moment der Berechtigung oder das der Verpflichtung betonen wollen, stets werden wir anerkennen müssen, daß sowohl die Berechtigung, als auch die Verpflichtung einen rechtlichen Charakter erhalten und erhalten können - ausschließlich durch einen gewissen Zusammenhang zwischen ihnen und den Rechtsnormen. So ist die Berechtigung nur deshalb Berechtigung oder Recht, weil sie im Inhalt der Rechtsnormen festgelegt, anerkannt usw. ist. Das Recht im subjektiven Sinn erhält seine Bedeutung als solche durch das Recht im objektiven Sinn; deshalb ist auch in der logischen Ordnung das Merkmal des Festgelegtseins, des Abgeleitetseins aus dem Inhalt der rechtlichen Normen, ein notwendiges Glied des Rechtsbegriffs im objektiven Sinn. Aber wenn dieser Begriff einer aus der Zahl derjenigen ist, welche durch die Analyse des Inhalts der Rechtsnormen bestimmt und gebildet werden, so bezieht sich auch auf ihn all das, was wir in methodologischer Hinsicht für alle juristischen Begriffe festgestellt haben; wir dürften uns daher einfach darauf berufen und die Frage als erledigt ansehen. Aber gewisse Eigentümlichkeiten dieses Begriffs haben eine Reihe spezifischer Schwierigkeiten geschichtlich hervorgerufen und rufen sie nicht selten auch heute hervor. Es wird deshalb nötig sein, bei ihnen eine kurze Zeit zu verweilen.

Unter Recht im subjektiven Sinn verstehen wir vom juristischen Standpunkt aus  eine Berechtigung, welche im Inhalt einer Rechtsnorm festgelegt ist.  Im weiteren Sinn kann hierher das Korrelat auch jede Verpflichtung, die im Inhalt der Rechtsnormen begründet ist, zugezogen werden, obwohl sich die Idee der Verpflichtung mit der Vorstellung vom Recht im subjektiven Sinn nicht deckt. Dabei wird als Berechtigung jede  Gestattung,  jede  Gewährung  (41), welche in der Norm enthalten ist, zu verstehen sein, als Verpflichtung aber das durch Normen festgesetzt und  hinsichtlich des Subjekts bestimmte Sollen,  mag es dem Sinn nach positiv oder negativ sein. Sowohl die Gestattung als auch das hinsichtlich des Subjekts bestimmte Sollen müssen in einem Satz ausgedrückt und in Worten fixiert sein, wobei dieser Satz entweder im Text der Norm selber liegen, oder aus ihm in logischer Ordnung abgeleitet werden kann. Von hier aus eröffnet sich die Möglichkeit für das Recht, im subjektiven Sinn ein im Wesen gleiches Schema methodologischer Reihen, wie wir es oben für das Recht im objektiven Sinn schon geleistet haben, zu errichten. So wird das Recht im subjektiven Sinn in der  logischen  Reihe als  Satz,  in der normativen Reihe als  Berechtigung  und  Verpflichtung,  in der psychologischen Reihe als  individuelles Erlebnis  von Berechtigung und Verpflichtung, in der soziologischen Reihe als  Erlebnis  von Berechtigung und Verpflichtung, welches in die Sphäre  psychischer Wechselwirkung  einbezogen ist, usw. aufzufassen sein. Und die Folgerungen in Bezug auf den Machtbegriff werden in analoger Weise zu ziehen sein: das Recht im subjektiven Sinn kann als Macht, d. h. als Fähigkeit (in der Eigenschaft eines Moments einer realen Reihe) andere Momente derselben Reihe kausal zu bestimmen, aufgefaßt werden; und es kann auch wieder in einer Loslösung von der realen Reihe und der Machtkatgorie betrachtet werden. Eine konsequente Trennung der realen Reihe von den irrealen Reihen ist auch hier eine notwendige Bedingung zur Vermeidung von Mißverständnissen.

Deshalb können diejenigen Definitionen vom Recht im subjektiven Sinn, welche in sich die Kategorie der Macht in dieser oder jener Form offen oder heimlich einschließen, nicht als juristische im engen Sinn des Wortes bezeichnet werden. Ebenso bedürfen die Bestimmungen jener anderen Begriffe der Rechtslehre, welche die  Eigenschaften  des Rechts im subjektiven Sinn, die aus den realen Reihen stammen, mit seinen  Merkmalen,  die aus den irrealen hervorgeholt sind, verquicken, einer Revision und können nicht als in methodologischer Hinsicht konsequent durchdacht angesehen werden.

Hier müssen in erster Linie jene Fälle gestreift werden, wo das Recht im subjektiven Sinn durch den Begriff der Gewalt bestimmt und als Artbegriff unter dieses letzte subsumiert wird. Im Begriff der  Gewalt  liegt zweifellos eine methodologische Zweideutigkeit verborgen. Unter Gewalt wird geläufig in der  Rechtswissenschaft  überhaupt etwas verstanden, was einerseits an der juristischen Berechtigung, andererseits an der Macht teilhaftig sein kann. Gewiß kann die Gewalt auch einer juristischen Sanktion bar sein, aber eben insofern wird sie nicht als etwas in der Rechtslehre überhaupt zu Erforschendes vorgestellt. Gewalt ist Macht, die durch das Recht sanktioniert ist; sie ist gleichsam eine objektivierte erstarrte Macht (Kraft) des Rechts par excellence. Und eben diese Grenzstellung des Gewaltbegriffs läßt ihn nun an zwei verschiedenen methodologischen Reihen teilnehmen, an der juristischen und an der realen. Deshalb muß von dem Gesichtspunkt aus, den wir durchzuführen bestrebt sind, der Gewaltbegriff in zwei Bestandteile zerlegt werden: dann wird der Jurist von der Gewalt in der normativen Reihe als einer Berechtigung zum Herrschen sprechen und vom logischen Gesichtspunkt diese Berechtigung zur Herrschaft wie einen Satz, und einen Begriff, der aus dem Normsatz, bzw. aus den Normsätzen abgeleitet ist, untersuchen; während der Psychologe, Soziologe und Politiker unter Gewalt eine von Rechtsnormen sanktionierte Macht (Kraft) verstehen werden. Das ist z. B. der Grund, weshalb diejenigen Definitionen vom Staat, welche diesem nicht eine Berechtigung zur Gewalt, sondern die Gewalt selber als seine Eigenschaft zuschreiben, und auch jene Definition der Souveränität, welche diese als reale Eigenschaft, oder als etwas Teilbares, oder als eine bestimmte Art von Gewalt konstruieren, kritisch in methodologischer Absicht revidiert werden müssen, denn sie führen in eine irreale Reihe, die reale Kategorie der Macht ein.

Weiter wird es von hier aus klar, mit welcher Vorsichtigkeit man den Begriff der Eigenschaft in Bezug auf das Recht im subjektiven Sinn anwenden muß. Ebenso wie die Gewalt im juristischen Sinn keine Eigenschaft des Staates, sondern seine Berechtigung zum Herrschen ist, so ist innerhalb derselben Reihe das Recht im subjektiven Sinn keine Eigenschaft des Subjekts; der rechtliche Status einer Person besteht, vom juristischen Standpunkt aus gesehen, in der Summe der Ansprüche und der Verpflichtungen, die aus den rechtlichen Normen, entsprechend der im Speziellen gegebenen Kombination der Gattungseigenschaften, welchen der Jurist kasuell [fallbezogen - wp] begegnet, abgeleitet sind (42). Die Eigenschaften der Person müssen (abstrakt oder konkret) dem Juristen für diese Deduktion gegeben sein, damit er ihre Berechtigungen ableiten könnte; diese Berechtigungen selber sollen aber nicht in der juristischen Reihe als Eigenschaften behandelt werden. Das Berechtigungsbewußtsein kann natürlich als Eigenschaft aufgefaßt werden, aber nicht einer Persönlichkeit im juristischen Sinne, eines Rechtssubjekts, sondern eines Menschen.

Ebenso ist für den Juristen die Bestimmung des Rechts im subjektiven Sinn als eines "geschützten Interesses" oder als einer von den Rechtsnormen gestatteten "Herrschaft des Willens" unannehmbar. Die eine und die andere Definition ziehen das Recht in die psychologische Reihe hinein, denn ein geschütztes Interesse hört nicht auf, ein Interesse, d. h. das Erlebnis eines Menschen zu sein, und eine Willensherrschaft bleibt, wenn auch durch Rechtsnormen gestattet, ein Vorgang der Innenwelt des Menschen, welcher natürlich in die Außenwelt einragende Erscheinungen nach sich zieht. In beiden Definitionen wird der zu erkennende Gegenstand in einer methodologisch ungegliederten Form gefaßt. Von unserem Gesichtspunkt dagegen wird den Juristen das Moment des "Geschütztseins", des Gestattetseins, den psychologistischen Rechtsforscher aber das Moment des Interesses und des Willens im Maß ihres Anerkanntseins durch das Recht zu beschäftigen haben.

Weiter wird es auch klar, daß die Verwendung der Kategorien der "Möglichkeit" und der "Freiheit" bei der Bestimmung des Begriffs vom subjektiven Recht begleitet werden muß von gewissen, durch die methodische Vorsicht vorgeschriebenen, Erklärungen und Vorbehalten. Wenn man nämlich die Berechtigung als besondere Art von Möglichkeit behandeln will, so ist es in hohem Maß wichtig, zu wissen, ob dabei die Möglichkeit im juristischen Sinne, oder im faktischen, realen Sinn im Spiel ist. Juristisch möglich ist dasjenige, was durch die Norm des Rechts gewährt, gestattet ist, wobei diese Möglichkeit unabhängig ist von der realen Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verwirklichung des Zugelassenen. Die faktische Möglichkeit dagegen liegt ihrerseits außerhal der Grenzen der normativen Bestimmungen und drückt sich in einer gewissen, der Verwirklichung von etwas günstigen, Kombination von Elementen der psychischen oder physischen Reihe aus. Folglich, wenn der Jurist von Möglichkeit spricht, so muß er die rechtliche Gestattung, Gewährung darunter verstehen; wenn dagegen von der Möglichkeit der Rechtsgelehrte als Psychologe oder Politiker spricht, so muß er darunter die empirische Realisierbarkeit verstehen. Die Geschichte der Rechtsphilosophie kennt eine ganze Reihe klassischer Beispiele, in denen die Grenzen zwischen dem Recht in einem subjektiven Sinn und dem Machtbegriff verwischt wurden und das Recht eben infolge der Vernachlässigung dieses Unterschieds in die reale Reihe einbezogen wurde. So fließen bei HOBBES (43) die Idee der Berechtigung und des Machtbegriffs in einen neutralen Begriff "potentia", welcher einen real empirischen Charakter hat, zusammen. So löst sich bei SPINOZA (44) die Idee der Berechtigung völling im Begriff der Macht auf, welche jedem Naturding zukommt; diese "potentia rei naturalis" ist nichts anderes als "ipsissima Dei potentia" und hat einen ausgeprägten metaphysischen Charakter. So löst sich schließlich das Recht im subjektiven Sinn bei STIRNER (45) in einer subtilen Konzeption der Macht auf in der Vorstellung von persönlichen Fähigkeiten, von einer individuellen Potenz des Menschen in ihrer ganzen Eigenart. In der Geschichte der Rechtslehre suchte man lange Zeit hindurch das Wesen des Rechts überhaupt in seiner subjektiven Richtung zu verstehen, und dieses ermöglicht, die Zahl der angeführten Beispiele erheblich zu vergrößern; desto wesentlicher erscheint eben die Aufrechterhaltung der festgestellten Unterscheidung.

Einer analogen Analyse dürfte auch der Begriff der Freiheit in seiner Anwendung auf das Recht in einem subjektiven Sinn unterworfen werden. Für den Juristen ist es in hohem Maße wichtig, sich eine klare Rechenschaft darüber zu geben, daß in seiner Betrachtungsreihe dieser Begriff von realistischer Auffassung, sei es in metaphysischem, sei es in empirischem Sinn frei gehalten werden muß. Der Jurist versteht unter Freiheit nicht die absolute Ausschließung jeder Determination, oder eine Ausschließung aus der Wirkung empirischer Gesetze überhaupt, oder aus der Wirkung lediglich bestimmter empirischer Gesetze, sondern die Gewährung oder Gestattung, die in den Rechtsnormen festgesetzt ist; und das Wort Freiheitssphäre bedeutet in seiner Reihe das  Element der Berechtigung  im rechtlichen Status des Subjekts. Ebenso darf die "Gebundenheit als Ausdrucksweise des Juristen keine Färbung der Realität an sich tragen: das Subjekt kann viele juristische Gebundenheiten in seinem Status einhertragen und dennoch im faktischen Sinne durch die Verhältnisse nicht gebunden sein. Die methodologische Bedeutung dieser Unterscheidung wird ganz besonders einleuchtend innerhalt der Sphäre des Strafrechts; dieses ruht gänzlich auf der Anerkennung der steten Diskrepanz zwischen der juristischen und der faktischen Gebundenheit, wobei diese Diskrepanz ja eben die Notwendigkeit der strafmäßigen Drohung hervorruft. "Freiheit" und "Gebundenheit" liegen für den Blick des Juristen jenseits der realen Reihe, jenseits der Erreichbarkeit für die Machtkategorie.


§ 7.

Hier können wir den von uns unternommenen Versuch einer methodologischen Analyse der Begriffe von Recht und Macht abschließen. Wir sind zum Resultat gelangt, daß die gewöhnliche Stellung der Frage selber, nämlich ob das Recht Macht ist oder nicht, zwecks Lösung verändert werden muß. Man kann nicht sagen, "Recht ist Macht" oder Recht ist nicht Macht, denn beide Antworten könnten im Sinne eines realen Zusammen- oder Nichtzusammenfallens der beiden Momente aufgefaßt werden. Erst die methodologische Angriffnahme des Problems wickelt dieses völlig in seiner ganzen Bedeutung und weist den Weg zu seiner Lösung. Diese Angriffnahme aber stellt die Frage schon anders: Darf das Recht als Macht aufgefaßt werden und kann nicht die Unzulässigkeit seiner Konfundierung mit der Macht in gewissem Sinn behauptet werden? Die Frage, die so gestellt ist, lösen, heißt, meiner Überzeugung nach, zwecks Anwendung auf sie die Lehre von der Methode in der Rechtswissenschaft aufrollen, damit nicht genug, heißt, alle Gebiete der Rechtswissenschaft in einer methodologischen Analyse berühren und in ihnen die möglichen und die stattgefundenen Verflechtungen dieser Begriffe, vom Standpunkt ihrer methodologischen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit, klarzulegen versuchen.

Der von uns gemachte Versuch einer solchen Analyse mußte leider dank gewissen äußeren Bedingungen eine gedrängte und schematische Form annehmen; er nimmt manchen Bestimmungen mit Vorbehalt an ohne Durchführung einer wissenschaftlichen Begründung, er umgeht viele zur Seite wegführende Wege und Abzweigungen, vieles bloß andeutend, vieles nicht bis ans Ende verfolgend. er setzt natürlich weiter auch voraus, daß die allgemeine Regel, laut welcher jede abstrakte methodologische Untersuchung als gerechtfertigt nur nach einer Reihe von Versuchen einer angewandten Durcharbeitung ihrer grundlegenden Resultate angesehen werden kann, auch für ihn ihre Geltung beibehält. Aber er beruth gleichzeitig auf der Anerkennung der These, daß als erstes Glied der wissenschaftlichen Erforschung auch die abstrakte Untersuchung über die Voraussetzungen und die Wege der Erkenntnis erscheinen kann, umso mehr wenn diese Untersuchung die Möglichkeit hat, auf die vergangenen und gegenwärtigen Versuche der Wissenschaft, welche verwandte methodologische Tendenzen zeitigten und noch zeitigen, hinzuweisen.

Von dem von uns anerkannten Standpunkt des methodologischen Pluralismus aus kann es nicht zweifelhaft sein, daß alle, von uns verdächtigten und aufgelösten Kategorien, dem Wesen des Rechts, wenn es als Ganzes in seiner ganzen Kompliziertheit aufgefaßt wird, zugewandt sind. Die Begriffe des "Willens", des "Interesses", des "Zwangs", der "gesellschaftlichen Sanktion", der "Verbindlichkeit", des "Wirkens", der "Ordnung", der "Eigenschaft", der "Beziehung", der "Gewalt", der "Möglichkeit", der "Freiheit", des "Gebundenseins" usw. müssen in die gemeinsame allseitige Erkenntnisanalyse des Rechts eingehen und werden in sie aufgenommen werden. Aber jeder von ihnen muß sich eine seinem Wesen entsprechende methodologische Reihe aussuchen und nicht in ihr gegenüber fremde methodologische Reihen eindringen; jene aber von ihnen, welche an einigen Reihen partizipieren können, müssen vorerst durch den Prozeß einer analytischen Zerlegung hindurchgehen und nach Möglichkeit differenzierte Bezeichnungen erhalten. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist stets die Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes oder, wenn man will, einer bestimmten bedingterweise isolierten Seite eines Gegenstandes und die Frage der größeren Sorgfältigkeit und Strenge einer solchen Sonderung der Seiten, die sich ihrem logischen Wesen nach unterscheiden, ist zweifellos zugleich die Frage der größeren Produktivität und Allseitigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis.
LITERATUR Iwan Iljin, Die Begriffe von Recht und Macht, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. 18, Berlin 1912

    Anmerkungen
    24) LUDWIG GUMPLOWICZ, "Allgemeines Staatsrecht", Seite 338 und "Die soziologische Staatsidee", Seite 108-111.
    25) LUDWIG GUMPLOWICZ, "Allgemeines Staatsrecht", Seite 377, 438-439. "Die soziologische Staatsidee", Seite 40.
    26) RUDOLF von JHERING, Der Kampf ums Recht, Seite 9 und 11.
    27) JHERING, Geist des römischen Rechts, Teil I, Seite 25-32.
    28) JHERING, Der Zweck im Recht, Bd. 1, Seite 248-249.
    29) A. MERKEL, Gesammelte Abhandlungen II, 1. Recht und Macht, Seite 403-404. Juristische Enzyklopädie, Seite 7, § 42.
    30) A. MERKEL, Juristische Enzyklopädie, Seite 22, § 42. Auch THON, Rechtsnorm und subjektives Recht, Seite 1-4 und BIERLING, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, Seite 19 und 29.
    31) F. REGELSBERGER, Pandekten, Bd. 1, Seite 58
    32) J. KOHLER, Einführung in die Rechtswissenschaft, Seite 1-3; Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Seite 8-28
    33) KARL GAREIS, Enzyklopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft, Seite 14
    34) Wir liefern dabei keine entwickelte systematische Analyse des Begriffs der Interpretation und keine Klarlegung jener technischen Schwierigkeiten, welche mit der Einbeziehung in das Dogma des interpretierten Bestandes der Rechtsnormen verbunden sind.
    35) So WINDSCHEID: Rechtsinstitut ist "die Gesamtheit der, auf ein  Rechtsverhältnis  sich beziehenden  Rechtsvorschriften"  (Lehrbuch des Pandektenrechts, Seite 140). Auch PUCHTA: Die  "Rechtssätze,  die das Recht eines Volkes bilden, sammeln sich in gewisse Massen nach den  Verhältnissen,  die sie bestimmen; solche Massen von Rechtssätzen heißen Rechtsinstitute. Das Recht besteht aus Rechtsinstituten, diese wieder aus einzelnen Rechtssätzen". (Kursus der Institutionen, Bd. 1, Geschichte, Seite 8. Ähnlich GIERKE: "Ein Inbegriff von  Rechtssätzen,  der einem bestimmten  Lebensverhältnis  entspricht, ist ein Rechtsinstitut." (Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Seite 124) Und ERXLEBEN: Rechtsinstitut ist ein "Inbegriff der auf ein bestimmtes  Lebensverhältnis  bezüglichen  Rechtssätze".  (Einleitung in das römische Privatrecht, Seite 1) Dabei können wir bedingt davon absehen, daß WINDSCHEID von "Rechtsvorschriften" und "Rechtsverhältnissen spricht, während bei den anderen von "Rechtssätzen" und "Lebensverhältnissen" (evt. "Verhältnissen") die Rede ist. Diesen Bestimmungen entgegn unterscheiden - DERNBURG (Pandekten, Seite 91, Anm.) zwischen Norm und Rechtsinstitut, BRINZ (Lehrbuch der Pandekten, Seite 4) zwischen Rechtssatzung und Rechtsinstitut.
    36) So SAVIGNY: "in der Tat ... steht ... jedes Rechtsverhältnis unter einem entsprechenden Rechtsinstitut, als seinem Typus". Dabei spricht SAVIGNY vom "lebendigen Zusammenhang der Bestandteile des Rechtsinstituts" und von seiner "fortschreitenden Entwicklung". (System des heutigen römischen Rechts, Seite 9) Die logischen Voraussetzungen dieser Aussagen können leider hier nicht auseinandergelegt werden. So auch REGELSBERGER: "Die Rechtsinstitute sind die rechtlich geordneten Grundformen in denen sich das Gemeinleben bewegt". Sie werden von "Rechtsverhältnissen, als Erscheinungen" abstrahiert und bilden gleichsam "typische abstrakte Rechtsverhältnisse". (Pandekten, Seite 73)
    37) So DERNBURG: "Rechtsinstitute sind rechtlich geregelte Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft". (Pandekten, Seite 91) Es ist dabei interessant zu bemerken, daß z. B. THEODOR KIPP, der Herausgeber des WINDSCHEIDschen Lehrbuchs, die Bestimmungen des Rechtsinstituts, die WINDSCHEID, DERNBURG, REGELSBERGER und GIERKE angehören, zusammenhaltend, hinzusetzt: "Auch hier sind die Differenzen wohl nicht groß." Siehe WINDSCHEID, Lehrbuch § 37, Anm. 2, Seite 140. So wird auch sehr vieles von JHERING zusammengeschmolzen: "Die einzelnen  Rechtsverhältnisse  ... schießen ... zu größeren systematischen Einheiten - den Rechtsinstituten - zusammen". (Geist des römischen Rechts, Teil I, Seite 36f) "Die  Rechtssätze  treten gewissermaßen in einen höheren Aggregatszustand zusammen und gestalten sich zu Elementen und Qualitäten der Rechtsinstitute." (ebd. Seite 37) Dabei ist aber noch im Auge zu behalten, daß bei JHERING "Rechtssatz" und "Rechtsnorm" nicht zusammenfallen. Und so wird dann völlig unverständlich, wenn er in einem anderen Werk von der "historischen Entwicklung der einzelnen Institute" und sogleich wieder von "systematisch weit auseinanderliegenden Instituten" spricht (Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, Seite 10 und 11.
    38) a. a. O.
    39) a. a. O.
    40) Dies ist schon rein und treffend in dem grundlegenden Werk von Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Recht (allgemeiner Teil) festgestellt worden.
    41) siehe oben.
    42) siehe hier Anmerkung 35.
    43) siehe z. B. HOBBES: De Cive, Kap. XIII, § 2 u. a.
    44) siehe SPINOZA: Tractatus Politicus, Kap. II, § 3 u. a.
    45) MAX STIRNER: Der Einzige und sein Eigentum, Seite 121, 133, 196, 220-223, 227, 239-240, 244, 249, 294, 299, 348 u. a.