ra-2A. AffolterThonA. MerkelK. BindingG. Radbruch    
 
MAX ERNST MAYER
Rechtsnormen und Kulturnormen
[2/2]

"Wir sprechen von einer Wirkung des Gesetzes, wir denken dasselbe also als Ursache. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, daß die Gesetze Willenserklärungen sind, können wir statt von ihrer  Wirkung von ihrem  Zweck reden und demgemäß die Gesetze statt als  Ursachen als  Mittel denken. Wir können daher unsere Aufgabe auch in die Frage kleiden: Welches sind die Zwecke, die der Staat durch das Mittel des Gesetzes im Volk erreichen will? Oder: Welche Zwecke hat das Gesetz in seinem Verhältnis zu den Untertanen?"

"Die Rechtsnormen sind für den Gesetzgeber ein Mittel, seinen Willen durchzusetzen, - und sie sind zweitens ein Mittel, die Allgewalt des Staates und die Willkür seiner Organe zu beschränken. Welche Bedeutung kommt diesen Zwecken im Verhältnis zwischen Gesetz und Volk zu? So müssen wir fragen, denn es ist ausgeschlossen, daß das Gesetz dem Volk gegenüber etwas anderes will als im Verhältnis zu den Staatsorganen; es bleibt nur die eine Möglichkeit, daß der einheitliche Wille sich nach den beiden Seiten hin in verschiedenen, aber einander entsprechenden Wirksamkeiten äußert."

"Das Gesetz oder der Gesetzgeber verfährt - leider nicht ausnahmslos - nach der Klugheitsregel,  Wo du nichts giltst, hast du nichts zu suchen. Es würde seine Kraft übersteigen, Gesetze durchzuführen, deren einzige Garantie die Macht des Staates ist, - kulturfeindliche Gesetze zwingen den Staat, seine Ohnmacht einzugestehen; nur solche Gesetze, die mit den Forderungen der Kultur übereinstimmen, werden geachtet."

"Alles, was verletzt werden kann, ist zunächst  Etwas. Da aber die verletzbaren Objekte (d. h. das, was verletzbar ist) eine bunte Mannigfaltigkeit zeigen, - das Kirchenfenster und das religiöse Gefühl, die Autorität der Staatsgewalt und die Gesundheit eines Menschen, der Frieden im Haus und im Land, - kann ein Begriff, der sie alle decken soll, nicht einen viel reicheren Inhalt haben als  Etwas. Wenn ich einen Zustand, der für niemanden einen Wert hat, verändere, so ist das keine Verletzung; wenn ich einen Stein am Weg ein Stück fortstoße, so wird nichts verletzt; hat die Lage des Steines aber für irgendjemanden Wert, sie bezeichnet etwa eine Grenze, so verletze ich etwas. Da also etwas Wertloses unverletzbar ist, subsumiert sich alles Verletzbare dem Begriff "Etwas Wertvolles". Ein Etwas, das Wert hat, ist ein Gut."


Drittes Kapitel
Die richtige Adresse der Rechtsnormen

Der einzige Grund, der uns die Fiktion, die Rechtssätze seien an das Volk gerichtet, als unerläßlich vorspiegeln kann, ist vernichtet. Der Richter kann es wagen, dem Angeschuldigten, der sich auf seine Unkenntnis des Gesetzes beruft, zu antworten: an Dich ist das Gesetz überhaupt nicht gerichtet. Es hat für uns nichts Befremdendes mehr, daß jeder Bürger dem Gesetz untertan ist, auch ohne daß das Gesetz ihm einen Befehl erteilt hat. Die Pflichtenlehre, die man in die Rechtsordnung hinein hat legen wollen, ist in anderen Ordnungen, die dem Volk verständlicher und zugänglicher sind als die Gesetze, publiziert. Die Kultur löst die Aufgabe, mit der man die Rechtsordnung belastet hat, sie verkündet die Gebote und Verbote, durch welche "die Lebensbedingungen der Gesellschaft" gesichert werden. Hiermit sind die Irrtümer und Besorgnisse hinweggeräumt, die den Weg, der zur Erkenntnis der richtigen Adresse der Normen führt, versperrt haben. Wir schütteln die Fiktion ab und bekennen uns zu der natürlichen Auffassung, die sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt. An die Organe des Staates, die das Recht handhaben, wenden sich die Rechtsnormen, ihnen erteilen sie Befehle, ihnen geben sie die Anweisungen, wie das Recht gepflegt werden soll.

Da die vorangegangenen Erörterungen diese Behauptung vorbereitet haben, und da das nächste Kapitel die Bedenken, die noch etwa vorhanden sind, zu besiegen hofft, genügt es hier, einige Erwägungen, die die Behauptung erhärten, anzustellen.

I. Zunächst stelle ich der Tatsache, daß das Volk nichts von den Gesetzen weiß, die andere gegenüber, daß die Behörden dieselben sehr wohl kennen.  Jura novit curia [Das Gericht kennt das Recht. - wp], ist ein bekannter Grundsatz der Prozeßrechte. - Sonderbarerweise ist mir in Unterhaltungen über diese Frage mehrmals eingewendet worden, die Behauptung, das Gericht kenne das Recht, sei im Grunde auch nichts anderes als eine Fiktion. Die Hartnäckigkeit, mit der mir dieser Einwand begegnet ist, zwingt mich, ihn ernst zu nehmen. Gewiß kann die Masse der geltenden Bestimmungen in keinem Kopf gegenwärtig sein, aber der Richter hat doch immer die Pflicht und die Fähigkeit, sich die Gesetzeskenntnis anzueignen, die für die Entscheidung des konkreten Falls erforderlich ist. Nur auf das Kennen, soweit es die Voraussetzung des Könnens ist, kommt es an, und diese Kenntnisse, die im wesentlichen Verständnis sind, entbehren der Tatsächlichkeit nicht im Geringsten. Auch möge man sich vergegenwärtigen, daß der Staat, der nichts tut, um dem Volk Gesetzeskenntnis zu verschaffen, eine umfangreiche Tätigkeit entfaltet, die Handhabung seiner Rechtsordnung rechtskundigen Männern anzuvertrauen. (1)

Sodann beweisen die Entscheidungen der höheren Instanzen, daß man von der Vorstellung, der Richter sei der Adressat des Gesetzes, stets ausgeht, sobald man sich seinem gesunden Menschenverstand überläßt. In diesen Entscheidungen kehren an unzählbaren Stellen Wendungen wieder wie etwa: "Die Staatsanwaltschaft rügt in ihrer Revision, daß die Freisprechung des Angeklagten auf einer rechtsirrigen Auffassung des Gesetzes beruth"; - "Die Revision rügt eine Verletzung des § x durch Nichtanwendung"; - "Die Vorinstanz verletzt die Vorschrift des § x" - usw. Diese Ausdrucksweise entspricht derjenigen unserer Prozeßgesetze:
    "Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Rechts beruth. - Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist." (Strafprozeßordnung § 376 und Zivilprozeßordnung § 549, 550)
Hier überall erscheint der Richter als Übertreter des Gesetzes; das Gesetz kann aber nur von demjenigen übertreten werden, der es befolgen soll. Der Gerichtshof könnte die Rechtsnorm nicht verletzen, wenn sie nicht für ihn Norm wäre, wenn sie ihm keine Weisungen erteilen würde. Hiermit ist jedenfalls soviel festgestellt, daß unseren Gerichten und Gesetzen gelegentlich die richtige Adresse der Rechtsnormen vorschwebt. Es werden wohl auch die meisten Juristen zumindest dies zugeben, daß die Gesetze  auch  denjenigen, die berufen sind, dieselben zu handhaben, Befehle erteilen, womit die Kontroverse auf die - hier schon vermeinte - Frage beschränkt wäre, ob sich die Gesetze außerdem noch an die Untertanen wenden.

II. BINDING, der sich mit unserem Problem vielleicht am eingehendsten beschäftigt hat, weist allerdings jedes Zugeständnis zurück; ihm ist es im Gegensatz zu den Prozeßgesetzen und den Gerichten gänzlich undenkbar, daß ein Gesetz vom Richter verletzt werden könnte (2).
    "Ein Richter, der ein gültiges Gesetz vorsätzlich seinem Urteil nicht zugrunde legt, verletzt nicht das von ihm vernachlässigte Gesetz, bald das wider Mord, bald das wider den Hochverrat, bald das wider den Betrug, bald das, welches die Pflichten des Käufers regeln, bald eine Verwaltungs-, bald ein Prozeßgesetz, sondern immer ein und dieselbe Pflicht: seinen Urteilen das geltende Recht zugrunde zu legen." (Normen I, Seite 15)
In dieser Behauptung ist eines richtig, nämlich, daß streng genommen Gesetze überhaupt nicht verletztbar sind; es ist eine ungenaue Ausdrucksweise, das Gesetz als den Gegenstand der Verletzung zu nennen. Verletzbar sind nur die in irgendwelchen Normen festgestellten Pflichten. Ob man nun aber die Pflicht des Richters allgemein angibt, das geltende Recht anzuwenden, oder ob man dieselbe spezialisiert, den Satz  n  des geltenden Rechts anzuwenden, das kommt auf das Gleiche hinaus; es kann keine Rede davon sein, daß die erste Auffassung richtig, die zweite falsch sein soll. Sehen wir also von der sprachlichen Ungenauigkeit ab, so ist allerdings das Gesetz gegen den Mord, so gut wie jeder Gesetzesparagraph, Verletzungen von Seiten dessen, der das Recht handhaben soll, ausgesetzt. Auch BINDING kann sich dieser natürlichen Auffassung nicht dauernd entziehen. Der Passus, der nachweisen soll, daß man im Strafgesetz durchaus keinen Befehl an den Strafrichter suchen darf, schließt mit dem Satz:
    "Nicht der Richter als solcher wird  durch  das geltende Strafgesetz gebunden, sondern durch Anstellung und Amtspflicht wird er in seiner Rechtsprechung an dieses Gesetz gebunden." (Normen I, Seite 16)
Streicht man in beiden Gliedern der Antithese die gleichlautenden Teile (3), so verdeutlicht sich die Gegenüberstellung: Nicht durch das Strafgesetz, sondern durch Anstellung und Amtspflicht wird der Richter an das Strafgesetz gebunden. "An das Gesetz gebunden sein", das heißt doch wohl, den im Gesetz gegebenen Weisungen (Imperativen) Folge leisten sollen! Also ist auch nach BINDING das Gesetz an den Richter gerichtet. Und daß nicht das Strafgesetz selbst der Grund dieser Bindung ist, hat sich das die Wissenschaft erst sagen lassen müssen? (4)

Als "trefflich" bezeichnet BINDING (a. a. O., Seite 14; Normen Seite 26) einen Satz, den GOEPPERT (Jherings Jahrbuch, Bd. 22, Seite 110) vorgebracht hat: "Die Rechtsvorschriften sind für uns nicht bloße Streitentscheidungsnormen, sondern Lebensgesetze." Den ersten Teil dieses Ausspruchs müßte BINDING als verfehlt bezeichnen. Wenn die Rechtsvorschriften (zwar nicht durchweg  Streit entscheidungsnormen, aber doch) Entscheidungsnormen sind, - was von BINDING eingeräumt und von niemandem bezweifelt wird, - so geben sie den Entscheidenden die Richtschnur ihres Verhaltens. Es ist widerspruchsvoll, den Gesetzen den Charakter als Entscheidungsnormen zuzusprechen und zu leugnen, daß die Gesetze den Staatsorganen Weisungen d. h. Befehle erteilen. Inwiefern die Rechtsnormen außerdem noch Gesetze sind, nach welchen man leben soll, das ist von dieser Abhandlung schon ausgeführt worden; sie sind es nicht ihrer Form, wohl aber ihrem Inhalt nach; sie sind es nicht in ihrer juristischen, wohl aber in ihrer kulturellen Bedeutung. Die Rechtsnormen sind Präzisionen von Kulturnormen, - daher kommt es, daß sie noch mehr sind als bloße Entscheidungsnormen. Das  juristische  Wesen der Rechtsnormen ist aber restlos im Begriff  Entscheidungsnorm  enthalten.

III. Endlich ist eine Besinnung auf den Zweck der Rechtsnormen geeignet, uns zu bestätigen, daß die Staatsorgane die Adressaten sind.

Warum hat man Rechtsnormen geschaffen, warum bildet man sie immer weiter auf das minutiöseste aus? Warum bemühen sich Theorie und Praxis unaufhörlich, den Willen des Gesetzes zu erforschen? Doch nicht etwa, um den Untertanen zu sagen, welche Rechte und Pflichten ihnen zustehen! Die Antwort hat vielmehr zu lauten: Die Rechtsnormen sind ein Mittel, die Willkür der Staatsorgane und hiermit die Allgewalt des Staates zu beschränken. (5) Weil ein leidenschaftsloser, unpersönlicher Wille über Freiheit und Vermögen der Bürger richten soll, deswegen stellt man Gesetze und Interpretationen auf. Das ist der durch häufige Wiederholungen schon verblaßte Gedanke, von dem auch wir in dieser Studie ausgegangen sind. Mit ihm steht im Einklang die Ansicht, daß der Gesetzgeber in seinen Normen dem Richter Befehle erteilt; (6) mit diesem Gedanken steht in Widerspruch die landläufige Auffassung, nach welcher die Rechtsnormen dem Volk Befehle erteilen. Das Gesetz befiehlt, um von den möglichen Entscheidungen alle bis auf eine auszuschließen, - und zweitens: es befiehlt denen, über deren Schicksal entschieden werden soll, - das sind zwei Behauptungen, von denen eine der anderen weichen  muß.  Der Zweck der Rechtsnormen belehrt uns somit über das Wesen derselben dahin:  Für das Volk, an den Richter! 

Es wäre einseitig und somit unrichtig, den Rechtsnormen nur den angegebenen Zweck zuzuerkennen. Denn der Gesetzgeber, gleichviel ob es der Monarch, eine Volksversammlung oder ein Parlament ist, handelt sicherlich nicht nur im Interesse der Untertanen, das für ihn mehr oder weniger fremdes Interesse ist, er nimmt auch sein eigenes Interesse wahr. Sein Interesse besteht darin, seinen Willen durchzusetzen. Solange nun ein Gesetzgeber alle Rechtsfälle in Person entscheiden und somit seinen Willen unmittelbar durchsetzen kann, ist die Kundmachung seines Willens für ihn entbehrlich. Die Ausdehnung der Rechtsgebiete und das Anschwellen der Masse der Rechtssachen, vielleicht auf politische Postulate, haben längst die gesetzgebende von der richterlichen Gewalt getrennt. Die gesetzgebende Gewalt oder besser die Staatsgewalt kann daher ihren Willen nur mittelbar durchsetzen; sie erreicht es, indem sie denjenigen, die wie in ihrem Namen so in ihrem Sinn Recht sprechen sollen,  abstrakte Instruktionen  erteilt, - wodurch sie überhaupt est zur gesetzgebenden Gewalt im strengen Sinn wird. Wie häufig dieser Grundcharakter der Rechtsnormen in der Rechtsgeschichte hervorgetreten ist, dem möge ein anderer nachgehen; aber auch wenn die Rechtsgeschichte kein einziges Beispiel bieten würde, - sie bietet viele, - es bliebe doch wahr, daß die Rechtsnormen für den Gesetzgeber ein Mittel sind, seinen Willen durchzusetzen. Und somit ergibt sich wiederum, daß das Gesetz die Beamten unterweist, nach welchen Grundsätzen sie Recht sprechen sollen.


Viertes Kapitel
Die externe Wirkung der Rechtsnormen

I.
    "Das Kriterium einer Rechtsnorm besteht nicht in ihrer  externen  Wirksamkeit nach Seiten des Volks, sondern in ihrer  internen  nach Seiten der staatlichen Behörde, jene Wirksamkeit bleibt hinter dieser weit zurück, und wir werden daher, wenn wir den Begriff der Rechtsnorm juristisch korrekt wiedergeben wollen, nicht irre greifen, indem wir dieselbe nach Seiten ihrer Form dahin definieren: sie enthält einen abstrakten Imperativ an die Organe der Staatsgewalt, und die externe Wirkung, das ist die Befolgung derselben von Seiten des Volks, soweit dazu Anlaß geboten ist, muß von diesem  rein  formal-juristischen Gesichtspunkt (nicht von einem  teleologischen)  jener  primären  gegenüber lediglich als  sekundäre  bezeichnet werden. Alle gesetzlichen Imperative ohne Ausnahme sind in  erster  Linie an die Behörde gerichtet: das ganze Zivilgesetzbuch, das Strafgesetzbuch, alle Finanz-, Polizei-, Militär- usw. Gesetze und Verordnungen, es sind lauter Regulative für die Handhabung der staatlichen Zwangsgewalt. Aber soweit letztere  aktiv  der Privatperson für ihre Interessen zur Verwendung gestellt ist (Privatklage) oder  passiv  auf Grund eines solchen Antrags oder ohne denselben gegen sie in Vollzug gesetzt werden kann, erstrecken sie ihre Wirksamkeit auch auf diese: sie  berechtigen  sie, und  verpflichten  oder  binden  sie. Mit Rücksicht auf den  Zweck  derartiger Normen mag man sagen, daß sie sich der Privatperson zukehren; die obige Behauptung, daß sie ihrer Form nach lediglich an die Organe der Staatsgewalt ergehen, wird dadurch nicht alteriert [verändert - wp]."  (von Jhering,  Der Zweck im Recht, Bd. I, Seite 337/338)
Gegen JHERING wendet sich MERKEL (7):
    "Man hat angenommen, daß die Rechtsnormen ihrer juristischen Form nach lediglich an die Organe der Staatsgewalt ergingen. Hiernach würde die Norm, welche den Darlehensempfänger verpflichtet, das Empfangene zurückzuerstatten, und würden überhaupt die primären Gebote, so wie sie sich an den Einzelnen wenden, keine Rechtsnormen ansich sein; nur die Anweisung an die Organe der Staatsgewalt, im Falle des Ungehormsams nötigend einzugreifen, würde die kennzeichnende Form der Rechtsvorschriften haben. Dieser Ansicht ist jedoch nicht beizutreten. Sie macht das Sekundäre, das bloße Bekräftigungsmittel zur Hauptsache. Jene Anweisung an die Organe der Staatsgewalt soll nur wirksam werden, sofern die Verletzung einer Rechtsvorschrift bereits vorliegt, daher wir das primäre Gebot, um dessen Verletzung es sich handelt, wohl als eine solche Vorschrift gelten lassen müssen. Pflichten und Befugnisse der Staatsangehörigen gehen direkt aus den primären Vorschriften hervor und sollen unmittelbar aus denselben entnommen werden können. Auch ist es zweifellos die Intention des Rechts, diejenigen, deren Pflichten es normiert, direkt zur Erfüllung derselben zu bestimmen. Folglich ist es eine ihm wesentliche Form, sich an diese Personen zu wenden. Wer Befehle ergehen läßt, der spricht zu denjenigen, welche diese Befehle vollziehen sollen, und wer erlaubt, ermächtigt, gewährleistet, zu denjenigen, um deren Freiheit und Willensbetätigung es sich handelt. Dem Recht gegenüber aber sind alle in dieser Lage, denn jedem obliegt es, Befehle des Rechts zu befolgen, und jeder hat teil an der Freiheit, welche das Recht gewährleistet. Daher existiert niemand, zu dem das Recht seiner Intention nach  nicht  spräche."
Die Behauptungen JHERINGs und die Einwände MERKELs stehen sich nicht so feindlich gegenüber, als man auf den ersten Blick zu glauben geneigt ist. Beide nämlich erkennen zwei Wirkungen der Rechtssätze an, die interne, durch welche die Staatsorgane, und die externe, durch die das Volk ergriffen wird. Beide stimmen auch darin überein, daß von einem soziologischen Standpunkt aus, - (JHERING schreibt wohl nicht ganz zutreffend, "vom teleologischen Standpunkt aus") - die externe Wirkung bedeutsamer ist als die interne. Der Punkt, an welchen die Ansichten auseinander gehen, wird erst erreicht mit der Frage: Ist für die formaljuristische Betrachtung die externe Wirkung der Rechtssätze die primäre (MERKEL) oder die sekundäre (JHERING)? Es wird sich erweisen, daß wir zwei Arten von externer Wirkung unterscheiden müssen, von denen die eine für die juristische Betrachtung sekundär, die andere primär ist. Zunächst aber darf die Rangstreitigkeit zwischen der internen und externen Wirkung ungelöst bleiben, zunächst ist lediglich dies von Bedeutung: festzustellen, daß die Gesetze nicht bloß intern, sondern auch nach Seiten des Volkes hin wirken.

Die Feststellung als solche bedarf keiner Erläuterung; wenn noch ein Beweis, daß die Externe Wirkung der Rechtssätze vorhanden ist, nötig wäre, Begriffe, wie Rechtsverletzung, Rechtspflicht, Rechtsgeschäft, Rechtsgut und andere mehr würden den Beweis liefern. Es besteht nun aber die weitere Aufgabe auszuführen, in welchen Erscheinungen sich diese externe Wirkung bekundet. Diese Studie sieht sich umsomehr veranlaßt, diese Aufgabe hier in Angriff zu nehmen, weil sie bisher den Anschein erweckt hat, als ob sie der externen Wirksamkeit der Gesetze nicht gerecht werden wollte.

Wir sprechen von einer Wirkung des Gesetzes, wir denken dasselbe also als Ursache. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, daß die Gesetze Willenserklärungen sind, können wir statt von ihrer  Wirkung  von ihrem  Zweck  reden und demgemäß die Gesetze statt als  Ursachen  als  Mittel  denken. (8) Wir können daher unsere Aufgabe auch in die Frage kleiden: Welches sind die Zwecke, die der Staat durch das Mittel des Gesetzes im Volk erreichen will? Oder: Welche Zwecke hat das Gesetz in seinem Verhältnis zu den Untertanen?

Diese Fragestellung führe ich an, um darauf hinzuweisen, daß die Antwort schon im vorigen Kapitel gegeben worden ist, wenn auch noch nicht  expressis verbis [ausdrücklich - wp]. Wir haben zur Begründung, daß sich die Gesetze an die Staatsorgane wenden, auf zwei Zwecke derselben hingewiesen, auf zwei unbestrittene Zwecke: Die Rechtsnormen sind für den Gesetzgeber ein Mittel, seinen Willen durchzusetzen, - und sie sind zweitens ein Mittel, die Allgewalt des Staates und die Willkür seiner Organe zu beschränken. Welche Bedeutung kommt diesen Zwecken im Verhältnis zwischen Gesetz und Volk zu? So müssen wir fragen, denn es ist ausgeschlossen, daß das Gesetz dem Volk gegenüber etwas anderes will als im Verhältnis zu den Staatsorganen; es bleibt nur die eine Möglichkeit, daß der einheitliche Wille sich nach den beiden Seiten hin in verschiedenen, aber einander entsprechenden Wirksamkeiten äußert. Und zwar werden wir zu folgendem Ergebnis gelangen: dem Bestreben des Gesetzgeber, mittels der Rechtssätze seinen Willen durchzusetzen, entspricht nach außen hin  die normierende Funktion der Gesetze;  der Absicht des Gesetzgebers, mittels der Rechtssätze die Allgewalt des Staates zu beschränken, entspricht nach außen hin  die garantierende Funktion der Gesetze. 

II. Die Gesetze sind ihrer Form nach abstrakte Imperative (Normen) und sind als solche an die Staatsorgane gerichtet. An dieser Einsicht rütteln wir nicht im Geringsten. Es ist also  ausgeschlossen  zu behaupten, daß die Gesetze  in ihrer Form  oder  als abstrakte Imperative  auf das Verhalten der Bürger einwirken. Es bleibt logisch nur die Möglichkeit, daß die Gesetze  ihrem Gehalt nach  und daß sie sich umgeformt, nämlich  als konkrete  Imperative dem Volk zukehren. Beides ist der Fall. Wir werden sehen, daß sich die externe normierende Funktion der Rechtssätze auf zwei Arten vollzieht. (9)

1. Inwiefern sich die Rechtssätze  ihrem Inhalt nach  an das Volk wenden, das ist zum Teil schon ausgeführt worden. Die Gesetze haben, wenn sie vom Soziologen oder Rechtsphilosophen betrachtet werden,  mehr  Eigenschaften, als wie wenn sie vom Juristen analysiert werden. Die rein juristische Betrachtung findet im Gesetz abstrakte, an die Staatsorgane gerichtete Befehle; die allgemeine Betrachtung, der es darauf ankommt, die Beziehungen der Rechtsnormen zu verwandten Erscheinungen zu prüfen, konstatiert, daß die Rechtsnormen ein Niederschlag der Kulturnormen sind. Die externe normierende Wirkung der Gesetze beruth also  nicht auf der juristischen Natur des Rechtssatzes,  sondern darauf, daß die Rechtsnormen mit den Kulturnormen übereinstimmen, sie beruth  auf dieser Verwandtschaft des Rechtssatzes.  Der mächte Einfluß, den die Kulturnormen auf das Verhalten des Volkes haben, kommt der Rechtssatz zugute; sie wird von den einflußreichen Verwandten protegiert, - und zwar im Ganzen mit vollem Erfolg. Denn es ist die Ausnahme, daß das Gesetz übertreten wird, - es ist die Regel, daß es von den Bürgern befolgt wird. In der Befolgung des Gesetzes liegt der Erfolg der Protektion, die dem Rechtssatz von Seiten der Kulturnormen gewährt wird,  in der Befolgung äußert sich die externe normierende Funktion des Rechtssatzes.  Wir müssen diese Erscheinung analysieren, um das bisherige Ergebnis zu ergänzen.

Zunächst dürfen wir nicht verkennen, daß nach den in dieser Studie vertretenen Lehren nur einer das Gesetz befolgen oder übertreten kann: der Richter. Die allgemein übliche Ausdrucksweise, der Bürger befolgt das Gesetz, ist juristisch unkorrekt. Darin liegt jedoch nicht im Geringsten ein Grund, ihr überhaupt die Berechtigung abzusprechen. Der Ausdruck ist für jede über die Jurisprudenz hinausgreifende Betrachtung durchaus zweckentsprechend. Der Bürger folgt allerdings nicht demjenigen Befehl, der für das Gesetz charakteristischt ist, im Gegenteil, wenn er im Einklang mit eine Strafrechtssatz handelt, so ist er - gleichviel, welche Adresse man diesen Rechtssätzen zuerkennen will - ein Verbrecher. Das Verhalten des Bürgers, welches der strafrechtlichen Gesetzesvorschrift entspricht, steht im Widerspruch mit dem Recht. Diese Einsicht ist durch BINDINGs Normentheorie zum Gemeingut gemacht worden.  Erst wenn wir von der Form des Gesetzes gänzlich absehen,  erschließt sich der Sinn des allgemein üblichen Ausdrucks: Der Bürger befolgt das Gesetz, d. h. er kommt den Kulturforderungen nach, um deren Willen das Gesetz vorhanden ist; oder mit anderen Worten: er verhältnis sich in einer den gesetzlich geschützten Interessen entsprechenden Weise.  Der Bürger folgt also nicht dem Rechtssatz, sondern dem Recht, dieser Kulturmacht.  Wer dem Recht folgt, der läßt es nicht so weit kommen, daß das Gesetz als Entscheidungsnorm in Aktion tritt, er vermeidet es also, dem Gesetz einen Anlaß zu geben, seine ihm eigentümliche Wirksamkeit zu entfalten. Der Fall, für den das Gesetz gegeben ist, tritt nicht ein, solange dem Recht gefolgt wird. Diesen Vorgang meinen wir, wenn wir im hergebrachten Sinn von der Befolgung der Rechtssätze sprechen.

Sicherlich verdanken wir nun die Befolgung der Gesetze oder - was dasselbe heißt - die Erhaltung des rechtlichen Zustandes auch den Gesetzen. Die Bedeutung dieser Wirksamkeit bedarf keiner Schilderung; über die Art derselben müssen wir uns aber Rechenschaft geben. Wir fragen daher:  Mit welchen Mitteln erreicht es das Gesetz, zur Wahrung des rechtmäßigen Zustandes beizutragen? 

Die Verdienste, die das Gesetz in dieser Hinsicht hat, gründen sich zum größten Teil auf eine weise Mäßigkeit. Das Gesetz oder der Gesetzgeber verfährt - leider nicht ausnahmslos - nach der Klugheitsregel,  ubi nihil vales, ibi nihil velis [Wo du nichts giltst, hast du nichts zu suchen. - wp]. Es würde seine Kraft übersteigen, Gesetze durchzuführen, deren einzige Garantie die Macht des Staates ist, - kulturfeindliche Gesetze zwingen den Staat, seine Ohnmacht einzugestehen; nur solche Gesetze, die mit den Forderungen der Kultur übereinstimmen, werden geachtet. Auf die Frage, warum befolgt der Bürger die Gesetze, sind nämlich folgende drei Antworten zu geben:

Die Gesetze werden in weitaus der großen Mehrzahl der Fälle befolgt, weil die Bürger keinen Grund haben, etwas Unrechtes zu tun, weil es ihrem ureigensten Interesse entspricht, sich sozial zu verhalten. Der Egoismus des Individuums garantiert die Wahrung der Rechtsordnung.

Die Gesetze werden häufig befolgt, weil die Nichtbefolgung gegen Kulturnormen, namentlich gegen Sitte und Sittlichkeit wäre. Die Kulturnormen garantieren die Wahrung der Rechtsordnung.

Die Gesetze werden - vermutlich in sehr seltenen Fällen - befolgt, weil die Bürger die Gesetze kennen und die Nachteile, die für gesetzwidrige Taten angedroht sind, fürchten. Die Zwangsgewalt des Staates garantiert die Wahrung der Rechtsordnung.

Zu dem für uns feststehenden Ergebnis, daß sich die externe normierende Funktion der Rechtssätze aus ihrer Übereinstimmung mit den Kulturnormen erklärt, fügen diese drei Antworten zwei weitere Resultat, von denen jedoch das eine eine unselbständige, das andere eine unerhebliche Bedeutung hat. Auch daraus, daß sich die Forderungen, die in den Gesetzen liegen, in weitem Umfang mit den individuellen Interessen (mit dem materiellen und ideellen Selbsterhaltungstrieb des Bürgers) decken, auch hieraus erklärt es sich, daß sie Richtschnur sind für das Verhalten des Volkes. Ich glaube kaum, daß wir hiermit ein neues selbständiges Ergebnis zutage fördern; die Kulturnormen sind nämlich Forderungen, die aus den sozialen Interessen entspringen, und die sozialen Interessen sind das Produkt aus mancherlei variablen Faktoren, zu denen als konstanter Faktor die gleichartigen Interessen vieler Individuen treten. Daher decken sich im allgemeinen die Forderungen des Egoismus und die der Kultur; das Interesse, sich antisozial zu verhalten, ist eine Ausnahmeerscheinung. Im Grunde ist es also überflüssig, neben der Übereinstimmung von Rechts- und Kulturnormen noch die zwischen den Rechtssätzen und den Interessen des Individuums hervorzuheben, - zumindest für unsere Untersuchung ist es überflüssig. Für dieselbe ist es nur wesentlich, die angegeben Konkurrenz als die Wurzel der externen Wirksamkeit des Gesetzes bloßzulegen.

Man wird nun geneigt sein, die Verdienste, die die Rechtsordnung in dieser Hinsicht hat, niedrig einzuschätzen; denn das Gesetz setzt sich ja nach den bisherigen Feststellungen nicht aus eigener Kraft durch, sondern mit der Kraft, die es von der Macht der sozialen Interessen erborgt. Es ist aber wohl zutreffender, diese externe Wirksamkeit des Gesetzes nicht auf erborgte Kraft, sondern auf Kraftersparnis zurückzuführen: Das Gesetz vermeidet zwecklose Reibungen, es hütet sich, weil es die Grenzen seiner Kraft kennt, vor Konflikten, denen es nicht gewachsen ist. Diese Klugheit ist Kraftersparnis und folglich Kraftsteigerung - und deshalb soll man diese Leistungen des Gesetzes hoch einschätzen.

Trotzdem bleibt es wahr, daß die ureigene Kraft des Gesetzes extern sich erst in den Fällen bewährt, in denen das Gesetz befolgt wird,  weil  es Gesetz, weil es die Willenserklärung des mächtigen Staates ist. Von dieser Wirksamkeit des Gesetzes möchte ich allerdings nicht hoch denken. Denn die Gesetze sind - wie schon an anderer Stelle erwähnt worden ist - im Großen und Ganzen nur solchen bekannt, die mehr mit ihrer Geschicklichkeit, das Gesetz zu umgehen und unentdeckt zu bleiben, als mit der Möglichkeit, vom Staat zur Rechenschaft gezogen zu werden, rechnen. Inbesondere scheint mir die generalpräventive Kraft der Strafgesetze (10) wenig zuverlässig zu sein, und keinesfalls kann man sich bei der Aufstellung von Strafdrohungen von dem Prinzip leiten lassen,  möglichst  der Generalprävention zu dienen, - man kann es schon deswegen nicht, weil diese Wirksamkeit des Gesetzes sich jeder Kontrolle entzieht.

Die wertvolle, ausgiebige externe Wirksamkeit der Rechtssätze, die man der eigenen Kraft des Gesetzes zuschreiben muß, tritt dagegen in Erscheinung, wenn das Gesetz  nicht  befolgt worden ist, wenn die Gerichte in die Lage kommen, es anzuwenden. Der Spruch des Richters und seine Folgen beeinflussen (normieren) das Verhalten des Volkes. Davon soll gleich (unter Ziffer 2) die Rede sein.

Vorher müssen wir noch im Hinblick auf die zitierten Äußerungen von JHERING und MERKEL konstatieren, daß die auf der Übereinstimmung mit den Kulturnormen beruhende externe Wirksamkeit der Gesetze von einem formaljuristischen Standpunkt aus in der Tat  sekundär  ist; denn um diese Funktion der Gesetze kennen zu lernen, mußten wir von ihrer  Form,  also  von ihrer juristischen Natur  absehen. Die Behauptung JHERINGs, daß für die formaljuristische Betrachtung die externe Wirkung der Rechtssätze sekundär ist, trifft also zu für  eine  Art dieser Wirksamkeit und ist von JHERING auch nur auf diese Wirkungsart bezogen worden. MERKELs Ausführungen treffen dagegen insofern zu, als eine andere, nämlich die garantierende Funktion der Rechtssätze in Frage steht. (vgl. unter III.) Zwischen beiden Wirkungsarten steht eine dritte, die juristisch und soziologisch gleichviel bedeutet, nämlich diejenige besondere Ausgestaltung der externen normierenden Funktion der Rechtssätze, zu der wir uns nunmehr wenden,  die normierende Kraft der Rechtspflege. 

2. Nur wenn das Gesetz angewendet wird, tritt sein  Charakter  in Erscheinung; im Prozeß äußert sich  die ihm eigentümliche Wirkung,  denn in dieser Situation normiert es die richterliche Entscheidung.  Im Richterspruch verwirklicht sich der Rechtssatz.  Das Leben der Rechtssätze erschöpft sich also nicht darin, in der Form, die ihnen der Gesetzgeber gegeben hat, zu beharren, vielmehr entfaltet sich ihre ganze Lebenskraft erst, wenn sie ihre ursprüngliche Form in die der konkreten Entscheidung verwandelt. Denn solange der Rechtssatz nicht anders als in seiner abstrakten Form existiert, beschränkt sich sein Leben darauf, zu gelten; sobald der Rechtssatz aber vom Richter in eine konkrete, einen Rechtsfall entscheidende Form übergeführt wird, erfüllt er die Leistung, um derenwillen er überhaupt geschaffen worden ist, er verwirklicht sich.

Wir fassen also den Richterspruch auf als die Verwirklichung des Rechtssatzes, und zwar jede richterliche Entscheidung mag man sie Urteil, Beschluß oder Verfügung nennen. Und wir sprechen nur der Einfachheit halber von den richterlichen Entscheidungen; was wir von ihnen aussagen, gilt in entsprechender Weise von jeder konkreten Entscheidung, die Staatsorgane in Befolgung von Rechtsnormen fällen, jede derartige Entscheidung verwirklicht Rechtssätze (wohl immer mehr als nur einen).

Der verwirklichte Rechtssatz hat aber eine andere Natur als seine ursprüngliche Form. Aus dem abstrakten Imperativ, der an die Adresse des Richters gerichtet ist, wird jedesmal, wenn der Richter dieser Weisung Folge geleistet hat, ein konkreter Imperativ, der sich an die Parteien, deren Rechtsfall entschieden worden ist, wendet.  Der verwirklichte Rechtssatz,  d. h. die gesetzesgemäße Entscheidung der Staatsorgane,  ist  ein konkreter an Untertanen gerichteter Befehl. (11) Das Strafurteil befiehlt dem Verurteilten, die festgesetzte Strafe auf sich zu nehmen; es erteilt ihm diesen Befehl  aufgrund  der Rechtsordnung, oder mit anderen Worten: der Befehlt ergeht an den Verurteilten,  weil  der Richter seine Pflicht, die abstrakten Imperative des Gesetzes zu befolgen, erfüllt hat. - Man kann also jedes Gesetz auffassen als einen abstrakten Befehlt an den Richter, den konkreten Befehl an die Untertanen ergehen zu lassen, sobald der Fall, für welchen der abstrakte Imperativ gesetzt ist, eingetreten ist.  - Der im Strafurteil liegende Befehl löst dann weiterhin andere Befehle an den Verurteilten aus, so namentlich diejenigen der Strafvollstreckungsbeamten, die ihre Befehle in Befolgung der für die Strafvollstreckung gegebenen Rechtsnormen erteilen.

Ein weiteres Charakteristikum des verwirklichten Rechtssatzes ist die  Erzwingbarkeit.  Der konkrete Befehl wird nicht nur ausgesprochen, er wird, falls ihn der Untertan nicht freiwillig befolgt, zwangsweise durchgeführt. Auch die Zwangsanwendung des Staates ist durch Rechtssätze normiert. (12) Der Staat gibt seinen Organen auch Weisungen darüber, mit welchen Mitteln und in welchen Formen sich die zwangsweise Durchführung des konkreten Befehls vollziehen soll. Die Zwangsgewalt des Staates ist also in jeder Hinsicht an gesetzliche Schranken gebunden; sie geht nicht weiter als sie gehen  will.  Sie ist ferner faktisch beschränkt, sie geht nicht weiter als sie gehen  kann.  (13) Der Staat läßt durch seine Organe auch Befehle aussprechen, deren zwangsweise Durchführung unmöglich ist; der Zahlungsbefehlt, der an den insolventen Schuldner ergeht, kann nicht vollstreckt werden. Wenn man nun im Hinblick auf die rechtlichen und faktischen Grenzen der Zwangsgewalt die Erzwingbarkeit als eine Nebenerscheinung der Entscheidungen der Staatsorgane bezeichnen will, so ist das logisch richtig; unseren Erkenntnissen ist es aber förderlicher, die Erzwingbarkeit des konkreten Befehlls als die Regelerscheinung zu bezeichnen.

Die Rechtssätze wirken dadurch, daß sie sich in den Entscheidungen der Staatsorgane verwirklichen, nach Seiten des Volkes hin normierend; - das ist die Behauptung, auf die wir zugesteuert sind und die wir nunmehr nur noch kurz zu betrachten haben.

a. Auf den ersten Blick zeigt es sich, daß diese Entscheidungen das Verhalten desjenigen, dem sie gelten, normieren, gleichviel ob derselbe freiwillig oder gezwungen dem Befehl folgt. In den einzelnen Fällen gibt der Befehl der Staatsorgane aber in einem durchaus verschiedenen Sinn dem Verhalten des Adressaten Maß und Ziel.

Wir können in dieser Beziehung drei typische Wirkungsarten des konkreten Befehls unterscheiden. Derselbe ergeht, entweder weil sich der Bürger rechtsnormwidrig verhalten hat, oder aus anderen Gründen, d. h. ohne durch normwidriges Verhalten des Adressaten veranlaßt zu sein. Im ersteren Fall kann sich der Befehlt wiederum auf reparables oder irreparables Verhalten des Bürgers gründen.

Auf normwidriges reparables Verhalten hin ergehen Befehle des Inhalts, nunmehr zu tun, was vordem unterlassen wurde, oder nunmehr zu unterlassen, was vordem getan wurde. Das ist der Typus der zivilrechtlichen Entscheidung; sie wirkt normierend, indem sie den Adressaten auffordert und unter Umständen zwingt, das normgemäße (soziale) Verhalten an die Stelle des anti-sozialen zu setzen.

Auf ein irreparables normwidriges Verhalten hin ergeht ein Strafurteil. Da die vernachlässigten Pflichten nicht mehr erfüllt werden können, wirkt es (mitsamt seinen Folgen) nur insofern normierend, als es den Bestraften bestimmt, künftighin Pflichtverletzungen zu vermeiden. Hiermit ist auch schon darauf hingewiesen, daß die normierende Kraft des Strafurteils häufig versagt, daß die Bestrafung also häufig eines ihrer wesentlichen Ziele nicht erreicht. Jeder Rückfall beweist es.

Schließlich erteilen die Staatsorgane dem Bürger Befehle, ohne daß derselbe durch ein normwidriges Verhalten dazu Anlaß gegeben hat. Der Grund des Befehls liegt darin, daß der Staat, um seine Aufgaben zu erfüllen, den Bürger zu bestimmten Leistungen heranziehen muß; (so z. B. der Befehl Steuern zu zahlen, der Militärpflicht zu genügen.) Das ist der Typus des verwaltungsrechtlichen Befehls, dem aber auch die Befehle der Justizorgane, durch welche für die Durchführung der Rechtspflege gesorgt wird, beizufügen sind, also z. B. der Befehl Zeugnis abzulegen. Auch diese Befehle ergehen in der Befolgung von Rechtsnormen; trotzdem aber haben sie eine ganz andere Bedeutung als die vorher erwähnten beiden Kategorien, denn sie dienen nicht wie diese allgemeinen kulturellen Interessen, sondern den besonderen Interessen, die der Staat als Verwaltungskörper hat, - worin für unsere Untersuchung ein Grund liegt, dieser letzten Gruppe keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. (vgl. jedoch Kapitel 5 des zweiten Teils.)

b. Der Einfluß, den die Entscheidungen der Staatsorgane haben, ist nun keineswegs auf die Adressaten beschränkt. Das Schicksal des Angeklagten oder das der Parteien wird von vielen mit Interesse verfolgt. Das Interesse gilt der Person, in weitem Umfang aber auch der Sache, die entschieden wird. Und zu den vielen, die den Ausgang eines Zivil- oder Strafprozesses mit Spannung erwarten, kommt die große Anzahl der Interessenten, die unvermutet, durch die Presse oder durch Erzählungen, das Erkenntnis [Urteil - wp] kennen lernen. Sie alle erhalten dadurch Kunde, wie der Staat über einen Fall, der ihr Fall ist oder werden kann, denkt; sie merken sich die Entscheidung des Gerichts und werden sich danach richten.  Somit erstreckt sich die normierende Wirkung des Richterspruchs auf weite Kreise des Volkes. 

Ich darf hier die Worte sparen, denn es ist schon oben zur Sprache gekommen, daß die Rechtspflege die kulturelle Tradition beeinflußt und in die Bahnen des geltenden Rechts leitet.

Die externe Wirksamkeit, die wir hier geschildert haben, ist direkt an die richterliche Entscheidung geknüpft; trotzdem haben wir sie mit gutem Grund als eine Leistung der Rechtsnormen aufgefaßt, da ja die Entscheidung nichts anderes ist als die Verwirklichung des Rechtssatzes. Der Richterspruch formt den Rechtssatz um, er konkretisiert ihn; in dieser stets durch das Beispiel des entschiedenen Falls illustrierten Gestalt ist der Rechtssatz der großen Menge zugänglich, in dieser Form ist der Rechtssatz volkstümlich und daher tauglich, vielen als Richtschnur zu dienen. So ist der Richterspruch der einzige Akt, durch welchen der abstrakte Rechtssatz offiziell mit dem Volk in Berührung tritt.

Die Frage, welchen Zweck hat das Gesetz in seinem Verhältnis zum Volk, ist nunmehr zum einen Teil beantwortet, und zwar dahin:  Das Gesetz hat auch dem Volk gegenüber den Zweck sich durchzusetzen; es erreicht sein Ziel dadurch, daß es vom Inhalt der Kulturnormen nicht abweicht, und dadurch, daß es in der Form, in der es sich verwirklicht, d. h. als konkreter Befehl sowohl für die Adressaten wie auch für weite Kreise des Volkes eine Verhaltensmaßregel ist. Wenn wir das Recht also als Richtschnu für die Untertanen auffassen wollen, so dürfen wir es uns nicht als System von Rechtssätzen vorstellen, sondern müssen es als Kulturmacht denken. 

Da wir nun auf diese Weise die Tatsache, daß das Recht die Handlungen des Volkes normiert, uneingeschränkt anerkennen und im Rahmen bewährter Anschauungen erklären, festigt sich wiederum unser negatives Ergebnis daß die Rechtsnormen nicht für das Volk Normen sind. Die positive Antwort auf die Frage, was die Rechtssätze als solche für das Volk sind, steht aber noch aus; sie lautet:  Garantien. 

III. Die Rechtssätze wirken nach außen hin nicht als Normen, sondern als Garantien.  Die Garantie besteht darin, daß der Staat dem Bürger zusagt, er werde bestimmte Interessen und Pflichten als solche anerkennen und seine Macht zur Wahrnung derselben zur Verfügung stellen.  Der Rechtssatz ist also den Untertanen gegenüber so gut wie in seinem Verhältnis zu den Staatsorganen eine Willenserklärung des Staates;  für den Untertanen ist die Willenserklärung aber kein Befehl, sondern ein Versprechen, keine Verhaltensmaßregel, sondern ein Garantieschein.  Und gerade weil die Rechtsnorm für die Staatsorgane Norm ist, ist sie Garantie für den Bürger. Der Staat befiehlt seinen Organen, bestimmte Interessen in bestimmter Weise zu schützen und somit die Erfüllung der den Interessen entsprechenden Pflichten zu betreiben; dieser Befehl an die Organe ist für den Interessenten eine Zusage. Die einheitliche Willenserklärung des Staates hat, weil sie sich nach  zwei  Seiten hin wendet,  zwei  Bedeutungen und, weil sie  einen  Inhalt hat,  zwei einander entsprechende  Bedeutungen; sie befiehlt den Verwaltern des Gesetzes und gibt gerade deswegen den Untertanen ein Versprechen (14).

Das Versprechen hat wiederum verschiedene, einander entsprechende Inhalte, je nachdem man es an den Berechtigten oder Verpflichteten gerichtet sein läßt. Es ist  für den Berechtigten  eine Zusage, - eine Verheißung, wenn das Wort nicht zu pathetisch klingt, - nämlich die Zusage, daß diese und jene Interessen einen bestimmten Schutz durch die Macht des Staates finden werden. Wir nehmen also den Standpunkt des Geschützten ein, wenn wir in diesem Sinn von der garantierenden Funktion der Rechtssätze sprechen.

Für den  Verpflichteten  ist das in den Gesetzen gegebene Versprechen des Staates eine wenn nicht stets gefürchtete, so doch eine ihrem Sinn nach zu befürchtende Zusage, eine Drohung, nämlich des Inhaltes, daß die Abweichung von gewissen kulturellen (sozialen) Verhaltensmaßregeln nach einem feststehenden Plan repariert oder bestraft werden wird. Wir haben den Standpunkt des Verpflichteten geteilt, als wir (oben) die Selbstbeschränktung des Staates und die garantierende Funktion der Rechtssätze in eine Parallele gestellt haben.

Die garantierende Funktion der Rechtssätze nimmt für die juristische Betrachtung die erste Stelle ein; sie ist recht eigentlich der Gegenstand der Jurisprudenz.  Dies wird in den folgenden Ausführungen ohne weiteres deutlich werden.

Die Rechtssätze erfüllen ihre garantierende Funktion, nämlich dadurch, daß sie aus Pflichten Rechtspflichten und aus dem Willen des Individuums, die eigenen Interessen nicht verkümmern zu lassen, subjektive Rechte machen. Die Rechtsordnung erhebt Güter zu Rechtsgütern, sie stempelt Verletzungen zu Rechtsverletzungen; einigen Geschäften versagt sie, anderen erteilt sie das Prädikat  Rechtsgeschäft.  Die Rechtssätze machen aus Verhältnissen Rechtsverhältnisse, - das ist ihre ureigenste externe Leistung.

Wenn wir die garantierende Funktion der Rechtssätze im einzelnen verfolgen wollen, müssen wir auf die soeben genannten Begriffe eingehen. Sie umfassen die Beziehungen, die zwischen dem Gesetz und dem Volk bestehen; je ungezwungener und richtiger sich daher ihr Gehalt darstellt, umso mehr befestigt sich mein  ceterum senseo [im Übrigen meine ich - wp]: Die Rechtssätze befehlen dem Richter, nicht dem Volk.

1. Unter einem Rechtsverhältnis versteht man die Beziehungen einer Person zu anderen Personen, sofern auf diese Beziehungen Rechtsnormen anwendbar sind.  Das ist, seit SAVIGNY die Lehre von den Rechtsverhältnissen begründet hat, im Wesentlichen die herrschende Begriffsbestimmung, mag man auch eine etwas abweichende Formulierung wählen; so bringt z. B. die Definition: Rechtsverhältnis ist das, von der Rechtsordnung anerkannte und geregelte Lebensverhältnis (15), in der Hauptsache den gleichen Gedanken zum Ausdruck. Die Wechselfälle des Lebens, - Geschäfte und Streitigkeiten, Geburt und Tod, Verletzungen und Gegenwehr, - sie schaffen Verhältnisse, aus ihnen macht die Rechtsordnung Rechtsverhältnisse, nämlich wenn sie Bestimmungen enthält, denen die entstandenen Beziehungen unterliegen. Die Ehe ist ein Rechtsverhältnis, die Freundschaft ist es nicht.

In jedem Rechtsverhältnis stehen sich rechtliche Macht und rechtliche Gebundenheit gegenüber, entweder in der Weise, daß eine Partei nur Berechtigungen, die andere nur Verpflichtungen hat, oder derartig, daß jede Partei sowohl berechtigt als auch verpflichtet ist. Dem  subjektiven Recht  (Ziffer 3) der einen Person entspricht die  Rechtspflicht  (Ziffer 2) der anderen.

2. Während man nicht bezweifelt, daß die Rechtsverhältnisse Verhältnissen sind, die von den Rechtssätzen nur ergriffen, nicht erzeugt werden, regen sich Bedenken, ob die Rechtspflichten nicht etwa von der Rechtsordnung auferlegte Pflichten sind. Sie sind es nicht. Die Rechtssätze legen nur den Staatsorganen Pflichten auf. Die Pflichten der Untertanen sind Produkte aus den Begebenheiten des Lebens (Handlungen, Ereignisse, Zustände) und den auf dieselben anwendbaren Kulturnormen, sie sind  Rechts pflichten,  weil und sofern sie nach geltendem Recht auch vom Staat, speziell von den Gerichten des Staates, als Pflichten behandelt werden. Rechtspflichten sind rechtlich erhebliche Pflichten,  nicht aber von den Gesetzen geschaffene Pflichten. Die rechtliche Erheblichkeit äußert sich in mannigfachen Erscheinungen, namentlich darin, daß die Pflichtverletzung bestraft wird, oder daß die Pflichterfüllung im Wege der Zwangsvollstreckung betrieben werden kann. - Um den springenden Punkt in einem Beispiel zu erläutern: Wer davon, daß jemand einen Mord vorhat, zu einer Zeit, in der das Verbrechen noch verhütet werden kann, Kenntnis gelangt, ist verpflichtet, der bedrohten Person oder der Behörde rechtzeitig Anzeige zu erstatten. Der Bürger hat diese Pflicht, nicht weil irgendwo in den Gesetzen von ihr die Rede ist, weil es schändlich wäre, das Verbrechen nicht zu verhüten, deswegen besteht die Anzeigepflicht und sie ist eine  Rechts pflicht, weil der Staat seine Organe angewiesen hat (im § 139 des Strafgesetzbuchs) sofern der Mord begangen oder versucht worden ist, denjenigen zu bestrafen, der der Pflicht nicht nachgekommen ist. Diese Willenserklärung des Staates geht aber keinen Bürger etwas an; genug, daß er seine Pflicht kennt, ob er sie als Rechtspflicht erkannt hat, das ist für die Beurteilung seines Verhaltens gänzlich gleichgültig. Wie es unter den angebenen Umstanden Pflicht ist, einen geplanten Mord anzuzeigen, so auch einen Diebstahl, den etwa eine Einbrecherband vorbereitet hat; die Anzeige des Diebstahls ist aber keine  Rechts pflicht des Bürgers; der Staat kümmer sich um denjenigen, der dieser Pflicht nicht nachkommt, in keiner Weise. Schließlich vergegenwärtigen wir uns, daß man von mancherlei geplanten Delikten Kenntnis erhalten kann, ohne die Pflicht, geschweige denn die Rechtspflicht zu haben, irgendetwas zur Verhütung derselben zu tun. Wir müssen den Freund preisgeben, wenn er sich anschickt das Vaterland zu verraten, nicht aber wenn er sich zu einem Duell rüstet. Die Kulturnormen geben uns Weisungen, wie wir uns verhalten sollen - freilich ohne Pflichtenkollisionen zu ersparen.

3. Auch der  Begriff des subjektiven Rechts  erläutert sich von unserem Standpunkt aus in befriedigender Weise. Allerdings kann ich bei dieser Begriffsbestimmung den hergebrachten Definitionen nicht ganz folgen, was ich hier umso mißlicher empfinde, weil ich mich nicht darauf einlassen kann, die große Literatur über das Wesen des subjektiven Rechts in dieser Studie zu verarbeiten.

Das Recht auf Arbeit ist eine politische Forderung, das Recht zu leben ein Romanthema.  Wir  sprechen von den subjektiven Rechten im technischen Sinn des Wortes. Man muß Jurist sein, um feststellen zu können, ob eine Person unter gegebenen Umständen ein subjektives Recht hat; denn man muß nicht nur die tatsächlichen Umstände, sondern auch das geltende Recht kennen, um sich über die Existenz eines subjektiven Rechts äußern zu können. Der Rechtsanwalt etwa, der seinem Klienten sagt, er habe ein Recht auf Ehescheidung, ist zu dieser Behauptung gekommen aufgrund seiner Informationen (der andere Ehegatte hat sich eines Ehebruchs schuldig gemacht) und aufgrund seiner Kenntnis des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1565). Der Anwalt kleidet seine Entscheidung etwa in die Worte: Sie werden ihren Prozeß gewinnen. Die Gedanken, die er hiermit zum Ausdruck bringt, sind folgend: Der Gerichtshof folgt jedesmal den abstrakten Weisungen, die ihm das Gesetz gibt; im konkreten Fall ist der Gerichtshof angewiesen, auf die Scheidung der Ehe zu erkennen; die Einreichung der Klage wird diesen Erfolg herbeiführen. Der Anwalt sagt also seinem Klienten: Sie haben die Macht, die abstrakten Imperative der Rechtsordnung zur Wahrung ihres konkreten Interesses wirksam werden zu lassen.

Der Begriff des subjektiven Rechts hat keinen anderen Inhalt als diese Aussage. Denn die Aufgabe der Begriffsbestimmung besteht darin, die allgemeinen Kriterien anzugeben, nach welchen wir Juristen im Einzelfall entscheiden können, ob eine Person ein subjektives Recht hat. Die Methode und das Resultat dieser abstrakten Aufgabe kann also nicht abweichen vom Gedankengang und dem Ergebnis, die sich in jedem Einzelfall bei der Lösung der Aufgabe einstellen. Wer  in abstracto  einen anderen Weg geht als  in concreto,  schafft einen Begriff, der nicht praktikabel ist, d. h. er stellt eine unrichtige Entscheidung eines konkreten Falls den Begriff des subjektiven Rechts auch nur zu Rate zu ziehen, - der Wert der Definition liegt auf dem Gebiet der Theorie; aber die theoretische Leistung ist nur gelungen, wenn uns die Begriffsbestimmung Klarheit gibt, auf welche Merkmale wir bei der Konstatierung subjektiver Rechte zu achten haben. Und so scheint es mir richtig, zu definieren:

Ein subjektives Recht ist die Macht einer Person, die abstrakten Imperative der Rechtsordnung zur Wahrung eines konkreten Interesses wirksam werden zu lassen. 

Die Definition verwendet die drei Elemente, die sich fast überall in den Begriffsbestimmungen des subjektiven Rechts finden: Interesse, Willensmacht, die Beziehungen dieser Momente zur Rechtsordnung.

a. Ein Interesse, und zwar ein konkretes oder (was vielleicht korrekter ist) ein individualisiertes Interesse ist die Voraussetzung für die Existenz eines subjektiven Rechts. Falsch aber ist die Gleichung: "Recht - Interesse", und sie wird auch nicht richtig, wenn man dem Begriff  Interesse  Attribute beifügt, wie "rechtlich geschützt" (JHERING) oder "durch Anerkennung menschlicher Willensmacht geschützt" (JELLINEK). Das im Leben geborene Interesse wird, gleichviel wie es von der Rechtsordnung behandelt wird, niemals zu einem Recht. Es ist ja schon gegen unser Sprachgefühl ein Recht Interesse zu nennen, wovon man sich überzeugen kann, wenn man, was sicherlich erlaubt ist, das Wort "Recht" durch  Berechtigung  oder  Befugnis  ersetzt. Die Befugnisse des Mieters und die Interessen des Mieters, das ist zweierlei, wenn auch die Wahrung beider ein Ziel hat. Und die rechtlich geschützten Interessen, sie bilden einen in seiner Interessenssphäre einbeschriebenen Kreis, sie sind Interessen und folglich nicht Befugnisse.

Wenn wir die Behauptung, daß die Rechte dem Begriff des Interesses nicht subsumiert werden können, gründlicher erweisen wollen, müssen wir uns über den Begriff des  Interesses  Rechenschaft geben.

Der Zustand des Interessiertseins steht im Gegensatz zu dem der Gleichgültigkeit; "es liegt mir daran" diese Seelenverfassung verdeutlicht sich durch ihr Gegenteil "es läßt mich kalt". Aus dieser Gegenüberstellung gewinnen wir die Einsicht, daß Interessen Gefühle sind. Ferner ist der Zustand des Interessiertseins verwandt mit dem Wunsch, etwas erreichen zu wollen; wer ein Interesse hat, verfolgt einen Zweck. Jemand hat das Interesse, daß sein Gegner die Echtheit einer Urkunde anerkennt, diesen psychischen Tatbestand gebe ich mit einer nur geringfügigen Modifikation an durch die Worte, "er bezweckt die Anerkennung der Urkunde", "die Anerkennung ist ist das Ziel", bei welchem er anlangen möchte. So sind wir auf folgende Definition hingefürt:  Interessen  sind Gefühle, die die Erreichung eines Zweckes erstrebenswert (wertvoll) erscheinen lassen. (16) Der Zweck, der erreicht werden soll, ist entweder die Erhaltung eines gegebenen oder die Herbeiführung eines neuen Zustandes. (17)

Interesse und Zweck sind somit zwei Seiten einer Seelenverfassung. Wenn ich ein Motiv meiner (geschehenen oder bloß geplanten) Handlung seinem gedanklichen Inhalt nach angebe und in die Außenwelt projiziere, so nenne ich es  Zweck;  ich verfolge mit meiner Klage den Zweck, die Echtheit der Urkunde jedem Zweifel zu entrücken. Wenn ich aber den Gefühlston, der in jedem Motiv liegt, als das treibende Moment bezeichnen will, so spreche ich von Interessen; ich habe die Klage eingereicht, weil ich ein Interesse daran habe, die Echtheit der Urkunde festgestellt zu sehen. Aus dieser Erklärung ist ersichtlich, warum die Menschen in einem fort von ihren Interessen sprechen; über seine Zwecke ist man sich nicht immer klar oder man scheut die Mühe, ihnen deutlich Ausdruck zu verleihen, es ist bequemer, sich auf wirkende Gefühle anstatt auf die wirkenden Vorstellungen zu berufen. Oft aber liegt auch eine große psychologische Feinfühligkeit darin, daß man das Wort  Zweck  vermeidet und durch Interesse ersetzt. Ich habe  Interesse  an der Erhaltung meiner körperlichen Unversehrtheit, meines Lebens, meiner Ehre, es ist nicht mein  Zweck,  mein Leben zu wahren. Die Gefühle nämlich, die mir die Erhaltung meines Lebens erstrebenswert erscheinen lassen, verlassen mich nie. Die Vorstellung, die ihnen entspricht, erwacht und wirkt erst, wenn ein besonderer Anlaß sie weckt; erst wenn mein Leben bedroht ist, wird das Interesse an der Erhaltung der Zweck einer Tätigkeit, etwa der Abwehr des Angriffs. - Man hat im Verlauf seines Lebens tausenderlei Zwecke, aber stets die gleichen Interessen und man hat in jeder Stunde des Lebens alle seine Interessen, - wenn sie auch nicht vom Bewußtsein erfaßt werden, - die Zwecke aber kommen und gehen mit den Stunden.

Wenn die aufgestellte Definition des Interesses richtig ist, dann ist es unmöglich, die subjektiven Rechte durch Subsumtion unter den Gattungsbegriff  Interesse  zu erläutern, denn man würde in letzter Linie  Befugnisse Gefühle  nennen.

Fahren wir nach dieser Zwischenuntersuchung fort, das Wesen der subjektiven Recht zu erläutern.

b. Nicht Interesse,  Macht  ist das genus proximum [nächsthöherer Gattungsbegriff - wp],  rechtliche  Macht, denn sie wird, - wie aus der Definition ersichtlich ist, - von der Rechtsordnung gewährt. Ein subjektives Recht ist jedoch keineswegs eine Kreatur des Gesetzes; aus dem Gesetz stammt das Mittel, ein Interesse zu wahren, d. h. die Macht; das Interesse aber, ohne welches ein subjektives Recht nicht entstehen kann, wird von tatsächlichen Geschehnissen oder Zuständen hervorgebracht. Jedes subjektive Recht ist also das Produkt aus zwei Faktoren.

Weiterhin muß beachtet werden, daß man eine Macht  haben  kann, auch ohne sie  auszuüben.  Das subjektive Recht besteht z. B. nicht darin, daß man klagt, sondern darin, daß man klagen kann; und allgemein gesagt:  nicht der Machtgebrauch, die Möglichkeit desselbe ist das subjektive Recht.  Der Verzicht auf die Machtausübung verneint nicht das Bestehen der Macht. Immer aber muß die Nichtausübung im Willen des Machthabers ihren Grund haben. Eine Macht, die man, selbst wenn man wollte, nicht ausüben kann, ist eine  contradictio in adjecto. 

Es genügt nebenher zu erwähnen, daß die Person, die die Macht hat und jene, die das Interesse hat, verschiedene Subjekte sein können (z. B. Vormund und Mündel). Sachwalter und Interessent - MERKEL gebraucht diese Bezeichnungen - brauchen nicht identisch zu sein.

c. Das Wesen der subjektiven Rechte erläutert sich vollständig dadurch, daß man  den Inhalt der Macht  beschreibt. Und gerade an diesem Punkt haben mir die Definitionen, die ich vorgefunden habe, nicht genügt, auch nicht die MERKELs, mit der ich am weitesten übereinkomme. Seine Ausführungen, die Macht sei um bestimmter Interessen willen verliehen und ihnen gemäß als Werkzeug für ihre Befriedigung ausgestaltet (Enzyklopädie § 159) sind richtig, müssen und können aber präzisiert werden. Den Inhalt der Macht bildet das Vermögen, die abstrakten Imperative der Rechtsordnung zur Wahrung konkreten Interesses wirksam werden zu lassen, also das Vermögen, sich Rechtsschutz zu erwirken. Daran, daß die Person eine  actio  hat, erkennt man ihr subjektives Recht. Die Aktionen, die unsere Rechtsordnung den Rechtssubjekten zur Verfügung stellt, führen viele Namen: Klage, öffentliche Klage (Anklage), Privatklage, Beschwerde, Einspruch, Einwand, Berufung, Revision usw. - Wer über ein derartiges Mittel, sein Interesse zu wahren, nicht verfügt, hat kein subjektives Recht.

Das Recht entsteht nun nicht etwa mit dem Anlaß, von diesen Mitteln Gebrauch zu machen;  das Recht existiert von dem Moment an, in dem sich  (unter der Herrschaft einer anwendbaren Rechtsnorm)  das individualisierte Interesse gebildet hat.  Allerdings wird die Existenz des Rechts aber erst erheblich, wenn sein Träger Grund hat, das Interesse zu verteidigen.  Die Verletzung oder die Gefährdung des Interesses erschafft nicht das Recht, rückt es aber in die Situation, um deren Willen es vorhanden ist.  Die Macht, die das Wesen des Rechts ausmacht,  besteht,  solange die Person ihr Interesse und das Gesetz ein und denselben Willen hat,  sie wird wertvoll,  wenn ein  casus belli [Kriegsfall - wp] eingetreten ist.

Von diesem Punkt aus würde es nun keine Schwierigkeit bereiten, die ruhenden, die bedingten und befristeten Rechte und ähnliche Erscheinungen zu erklären. Diese speziellen Fragen würden uns aber zu weit von unserem Weg abbringen. Dagegen muß ich, teils um die Konstruktion zu verdeutlichen, teils um die Einwände vorwegzunehmen, noch auf das Recht der Selbst- und Nothilfe und auf die Rechte, deren Subjekt der Staat ist, eingehen.

d. Unsere Definitioin kennt nur eine Art von Ausübung subjektiver Rechte, die Verwertung der obrigkeitlichen Rechtshilfe. Diese Begriffsbestimmung scheint zu eng zu sein, denn in bestimmten Grenzen darf der Berechtigte sein Recht eigenmächtig zur Geltung bringen; es gibt ein Notwehrrecht, ein  Recht  der Selbsthilfe. (vgl. StGB §§ 53, 54 u. a.) Machen diese Fälle nicht eine Erweiterung unserer Definition nötig? Nein, gerade von dem Standpunkt aus, den wir einnehmen, erklären sich die Rechte der Selbst- und Nothilf in juristisch exakter Weise.

Gehen wir wieder von einem konkreten Fall aus. Der Klient erzählt seinem Anwalt, daß der Hofhund des Nachbarn, der auf den Mann dressiert ist, ihn spät abends, als er am Haus vorüberging, angegriffen hat; er schildert seine gefährdete Lage, den Kampf und wie es so weit gekommen ist, daß er den Hund erschlagen hat. Nun verlangt der Nachbar Schadenersatz und droht mit einer Anzeige an die Staatsanwaltschaft. Habe ich denn nicht das Recht gehabt, den Hund zu töten, so frägt der Klient seinen Anwalt. Er selbst ist überzeug, daß sein Verhalten berechtigt, richtig, gewesen ist; seine Überzeugung gründet sich, um mit seinen Worten zu sprechen, darauf, daß es unvernünftig und ungerecht wäre, wenn es verboten sein sollte, sich seines Lebens zu wehren; seine Überzeugung beruth, um es in unseren Worten zu sagen, darauf, daß die Rechtsnormen den gleichen Inhalt haben müssen wie die Kulturnormen, denen er gefolgt ist. Und nun will der Klient vom Anwalt authentische Auskunft über seine Rechtsnormen erhalten, er will wissen, wie die Gerichte seinen Fall beurteilen werden, er will wissen, ob er die Macht hat, die Ansprüche, die der Nachbar und vielleicht auch der Staatsanwalt geltend machen wird, zurückzuweisen. Wenn die Gerichte angewiesen sind, ihn freizusprechen, dann ist sein Verhalten auch nach Maßgabe der Rechtsordnung recht, dann hat er ein subjektives Recht. Es besteht darin, daß er die rechtliche Macht hat, zu bewirken, daß sein Interesse, sich gegen angreifende Hunde zu wehren, auch vor den Gerichten des Staates anerkannt wird. Er kann Klage und Anklage ruhig abwarten; er wird in der Rolle des Beklagten von seinem subjektiven Recht Gebrauch machen. Schon damals, als er den Hund getötet hat, hatte er dieses subjektive Recht. Der Anlaß es auszuüben, tritt erst ein, wenn der Nachbar die Sache von die Zivil- und Strafgerichte bringt, tritt also vielleicht nie ein.

Wir gelangen somit zu folgendem Resultat: Die Selbsthilfe, d. h. die zwangsweise eigenmächtige Wahrung eines konkreten Interesses, ist nicht das Selbsthilfe recht;  die Notwehr, diese Handlung, ist etwas anderes als das  Notwehrrecht,  auch etwas anderes als die Ausübung des Notwehrrechts. Das Recht, sich selbst zwangsweise zu helfen, ist, wie jedes Recht, eine  rechtliche  Macht, d. h. eine vom Staat durch die Rechtsordnung gewährte Macht. Die rechtliche Macht ist hier wie überall das Vermögen, mittels der Rechtsordnung einem Verhalten Rechtfertigung und Anerkennung zu verschaffen.  Das Recht, sich selbst zu helfen, ist also die Macht, die abstrakten Imperative der Rechtsordnung wirksam werden zu lassen, um das Interesse, Güter eigenmächtig zu schützen, zu wahren. Die Ausübung dieses Rechts besteht somit nicht in der eigenmächtigen Schutzhandlung, sondern in der Rechtfertigung derselben vor den Gerichten. 

Diese Konstruktion ist geschraubt, und doch ist sie für den Juristen unumgänglich. Wenn man sie zurückweist und die hergebrachte Vorstellung, nach der etwa die Notwehrhandlung eine Ausübung des Notwehrrechts ist, teilt, dann muß man auch behaupten, der Verkäufer, der dem Käufer die Rechnung oder eine Mahnung zugehen läßt, übe sein Recht aus, dann muß man zugeben, daß die Benutzung der gemieteten Sache die Ausübund eines subjektiven Rechts ist. Auf diesem Weg verfällt man der Ansicht, daß jeder, der etwas Erlaubtes tut, von einem subjektiven Recht Gebrauch macht! Jeder Anteil an den Lebensgütern ist ein subjektives Recht, jeder Genuß eines Gutes, jede Wahrnehmung eines Interesses ist die Geltendmachung eines subjektiven Rechts, - das ist die Verallgemeinerung der Behauptung, die Schutzhandlung sei die Ausübung des Selbsthilferechts. In diesem Vergrößerungsspiegel zeigt sich, daß man unjuristische denkt, wenn man der Ansicht des Laien, nach der die Tötung des angreifenden Hundes eines Rechtsausübung ist, folgt. Der Laie darf diese Vorstellung hegen. Es ist natürlich nicht ungereimt, die Notwehrhandlung und die Bewohnung von gemieteten Räumen als Rechtsausübung zu bezeichnen; aber mit aller Entschiedenheit ist zu betonen, daß bei dieser Auffassung der Begriff des subjektiven Rechts für die Jurisprudenz völlig wertlos ist, seine Leistung ist dann gleich null.

e. Ein weiterer Einwand gegen unsere Definition könnte dahin gehen, daß sie  die subjektiven Rechte des Staates  nicht deckt. - Auch von den Rechten des Staates ist vielfach in einem nicht-technischen Sinn die Rede. Die Diskussion, ob der Staat das Recht hat, den Versuch des Selbstmordes zu bestrafen, stellt die Berechtigung dieser Strafandrohung in Frage und gebraucht das Wort  Recht  in einem politischen oder gar naturrechtlichen, nicht in einem juristischen Sinn. Als Juristen schreiben wir dem Staat aber z. B. das Recht zu strafen (ius puniendi) zu; hierdurch geben wir dem Gedanken Ausdruck, daß der Staat nicht nach Willkür und nicht nach dem Maß seiner natürlichen Macht, sondern nach den Gesetzen straft; wir kennzeichnen das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Delinquenten als Rechtsverhältnis. Wäre nicht die Verwirklichung von Rechtsnormen, sondern die uneingeschränkte Gewalt das Mittel, durch das der Staat sein Interesse an der Bestrafung wahrt, so würde das Strafen, auch wenn es sich noch so gerecht und weise vollziehen würde, nicht als Ausübung eines subjektiven Rechts charakterisiert werden können. (18)  Somit ist das Strafrecht des Staates identisch mit der Macht des Staates, sein Interesse an der Bestrafung dadurch zu wahren, daß er die abstrakten Imperative der Rechtsordnung wirksam werden läßt.  Das Entsprechende gilt für andere Rechte des Staates; sie werden also von der Definition gedeckt.

Unverkennbar hat nun aber die Macht des Staates, die das Wesen seiner Rechte ausmacht, eine andere Bedeutung als die rechtliche Macht einer Privatperson. Die Machtsphäre der Privatperson ist umso größer, je mehr subjektive Rechte ihr angehören, die des Staates wird umso kleiner, je mehr sie sich mit subjektiven Rechten füllt. Für den Untertanen ist das subjektive Recht eine Machtsteigerung, für den Staat eine Machtschmälerung. Das Individuum nimmt durch seine Rechte Teil an den Machtmitteln des Staates, der Staat setzt dadurch, daß er sich subjektive Rechte gibt, seinen natürlichen Machtmitteln Schranken. Der Bürger bucht sein subjektives Recht als Plus, der Staat als Minus.

Wenn diese Gegenüberstellung unbedingt richtig wäre, so könnte man die Rechte des Staates kaum durch den Begriff  Macht  erläutern. Wenn auch ein reduziertes Vermögen noch Macht bleibt, so wird es doch durch die Bezeichnung "Macht" eben nur bezeichnet, nicht gekennzeichnet. Indessen ist es nur bedingt richtig, in den Rechten des Staates eine Machtschmälerung zu sehen.

Es mag wohl sein, daß in dem einen oder anderen Fall der Staat seine Interessen nachdrücklicher, kraftvoller, besser wahren könnte, wenn er sich nicht an seine Rechtsnormen gebunden hätte. Daß aber der Staat  sub specie aeternitatis  [im Licht der Ewigkeit - wp] seinen Interessen besser dient, wenn er nur in der Befolgung seiner Rechtssätze tätig wird, das unterliegt keinem Zweifel. Die Macht, deren er sich heute entäußert, wird ihm im Lauf der Zeit hundertfältig zurückerstattet; der Staat muß also seine Rechte als gewinnbringende Ausgaben buchen. "Das Recht ist die Politik der Gewalt", wir heben diese Einsicht schon mehrmals in unseren Untersuchungen verwertet. Die Selbstbeschränkung des Staates ist Klugheit. Der Staat erreicht mehr, weil er von seiner natürlichen Macht nur innerhalb der Rechtsschranken Gebrauch macht.  Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die Rechte des Staates nicht als Machtschmälerung, sondern als Machtsteigerung.  Ein Recht haben, ist für den Staat zwar aus anderen Gründen wie für den Bürger, aber doch im vollen Sinne des Wortes  Macht

Die letzten Erörterungen sind notwendig gewesen, um das Wesen der subjektiven Rechte nicht gar zu lückenhaft darzustellen, tragen aber nicht unmittelbar dazu bei, die Aufgabe dieses Abschnittes zu erledigen; dieselbe besteht darin, die Beziehungen zwischen dem Volk und den Rechtssätzen zu erklären, und zwar ohne die Fiktion, nach der das Gesetz ein Befehl an das Volk ist, als Stütze zu verwerten. Wir vervollständigen die Lösung der Aufgabe, indem wir auf das Wesen der Rechtsverletzungen eingehen.

4. Körperverletzungen sind Verletzungen des Körpers, Rechtsverletzungen Verletzungen des Rechts; dem  Wort  "Rechtsverletzung" liegt zweifellos diese Ansicht zugrunde; und da Worte bei vielen mehr Ansehen genießen als Gedanken, ist der Glaube, daß der Verbrecher das Recht verletzt, kaum auszurotten.

Wir halten uns nicht an das Wort.  Rechtsverletzungen sind nicht Verletzungen des Rechts, sondern rechtlich erhebliche Verletzungen;  ihr Angriffsobjekt ist weder das Recht im objektiven, noch das Recht im subjektiven Sinn,  Rechtsgüter sind das Objekt der Rechtsverletzungen. 

a. Das Recht im objektiven Sinn ist für den Bürger unverletzbar. Ich brauche nicht zu wiederholen, daß das Recht als System von Rechtssätzen nur vom Richter verletzt werden kann und nicht einmal von ihm, wenn man die sprachliche Ungenauigkeit, die den unverletzbaren Rechtssatz als Objekt der Verletzung nennt, vermeiden will. - Überflüssig ist es auch, nochmals auszuführen, daß das Recht als Kulturmacht, d. h. daß die in den Rechtsnormen steckenden Kulturnormen den Verletzungen von Seiten des Volkes zugänglich sind. Der Sprachgeist braucht sich daher des Wortes  Rechtsverletzung  nicht zu schämen; er ist kein Jurist. Und wer andern als juristischen Kenntnissen nachgeht, denkt sich etwas durchaus Richtiges, wenn er sicht unter einer Rechtsverletzung eine Verletzung des Rechts vorstellt. Für den Juristen aber, dem es nicht genügen kann, das Recht als eine anderen Kulturfaktoren (Sitte, Sittlichkeit) gleichartige Erscheinung aufzufassen, sind Rechtsverletzungen nicht Verletzungen des objektiven Rechts.

Auch das Recht im subjektiven Sinn ist nicht das Angriffsobjekt der Rechtsverletzung. Das Delikt tastet die Macht der Privatperson, sich Rechtsschutz zu erwirken, nicht im Geringsten an, im Gegenteil, es gibt dieser Macht Anlaß, in Aktion zu treten. Das strafbare Delikt veranlaßt den Staat, von seinem Recht zu strafen, Gebrauch zu machen, es verletzt nicht dieses, noch sonst ein Recht. - Alle Rechtsverletzungen rücken vorhandene subjektive Rechte des Einzelnen oder des Staates in ein Stadium, in welchem ihr Träger Grund (oder die Pflicht) hat, vom Recht Gebrauch zu machen; sie veranlassen das Rechtssubjekt, seine rechtliche Macht zu gebrauchen. Nur wenn der Staat die Zusage, die er in der Rechtsordnung gegeben hat, nicht hält, wenn der Stat seine Pflichten nicht erfüll, werden subjektive Rechte verletzt; der Rechtsbruch ist die einzig denkbare Verletzung subjektiver Rechte.

All dies liegt klar zutage, wenn man von der hier vertretenen Definition des subjektiven Rechts ausgeht, andere Definitionen führen zu anderen Resultaten, - aber es spricht gegen sie, wenn sie dazu führen, in den subjektiven Rechten das Angriffsobjekt der Rechtsverletzungen zu sehen, was sofort ersichtlich werden wird.

Bei einigen Deliktsgruppen, wie etwa bei den Geldfälschungsdelikten, kann es fraglich werdne, welches Angriffsobjekt sie haben. Im Allgemeinen ist das Angriffsobjekt unverkennbar, das Leben und der Körper eines Menschen, die Sicherheit des Staates, die Ehre eines Individuums, die Sache und das Vermögen einer Person sind Objekte der Rechtsverletzungen. Wer nun die subjektiven Rechte als Angriffsobjekt der Rechtsverletzungen auffassen will, steht vor einem  entweder-oder:  Entweder muß er von seiner Gesundheit aussagen, sie sei sein Recht; er muß behaupten, daß u. a. auch das Leben und der Körper ein Recht ist. Oder man muß leugnen, daß die Körperverletzung den Körper, der Mord das Leben, die Sachbeschädigung die Sache verletzt. Eines ist so unmöglich wie das andere, was nicht ausschließt, daß man beide Behauptungen gewagt hat. So hat sich z. B. - was gewiß beachtenswert ist - das bürgerliche Gesetzbuch nicht gescheut, das Leben, den Körper, die Gesundheit etc. "Rechte" zu nennen (vgl. § 823). - Und es fehlt auch nicht an Lehren, die - vielleicht ohne es zu wollen, - daran gerüttelt haben, daß wir uns  Leben  und  Gesundheit  als Angriffsobjekte vorstellen. So hat z. B. GERLAND ("Gerichtssaal", Bd. 59, Seite 101/102) die neue Theorie aufgestellt, "das eigentliche Objekt einer Rechtsverletzung" seien "die in der körperlichen Welt konkret existierenden Rechtseinrichtungen. Der Mord verletzt als "eigentlich" nicht das Leben, das in den Adern pulsiert, sondern eine konkrete Einrichtung des Rechts, nämlich diejenige, die abstrakt gebietet, das Leben des Menschen zu achen. (19) Dieses Gebot als Einrichtung des Rechts, und die Einrichtung als Angriffsobjekt aufzufassen, das ist ein Gedankengang, der - um über den mindesten Vorwurf nicht hinauszugehen - ungeeignet ist, uns das Wesen der Rechtsverletzungen zu erklären.

b. Wir gehen davon aus, daß (abgesehen von einigen Deliktgruppen) keine Zweifel bestehen, welche Objekte im Einzelfall verletzt werden. Unser empirisches Material ist also nicht problematisch. Die Schwierigkeit liegt darin, alle Dinge, Beziehungen, Zustände, deren Verletzung Rechtsfolgen hat, unter einen Begriff zu bringen, - nur hierin, deswegen ist sie klein. Die Aufgabe, die gelöst werden soll, ist also die:  das gegebene Material einheitlich zu charakterisieren.  Wir sprechen zu diesem Zweck zunächst vom Objekt der Verletzungen, dann erst von dem der Rechtsverletzungen; und da die Gefährdungen keine anderen Objekte als die Verletzungen haben, erwähnen wir sie nicht ausdrücklich. Es bieten sich zwei Begriffe dar, denen alles Verletzbare subsumiert werden kann.

Alles, was verletzt werden kann, ist zunächst "Etwas". Die Unterordnung der Angriffsobjekt unter diesen Begriff fördert unsere Einsichten in keiner Weise, sie enthält keine Charakterisierung. Da aber die verletzbaren Objekte (d. h. das, was verletzbar ist) eine bunte Mannigfaltigkeit zeigen, - das Kirchenfenster und das religiöse Gefühl, die Autorität der Staatsgewalt und die Gesundheit eines Menschen, der Frieden im Haus und im Land, - kann ein Begriff, der sie alle decken soll, nicht einen viel reicheren Inhalt haben als "Etwas". Nur durch die Zufügung  eines  Merkmals können wir dem farblosen Etwas ein wenig mehr Anschaulichkeit und Erkenntniswert verleihen. Wenn ich einen Zustand, der für niemanden einen Wert hat, verändere, so ist das keine Verletzung; wenn ich einen Stein am Weg ein Stück fortstoße, so wird nichts verletzt; hat die Lage des Steines aber für irgendjemanden Wert, sie bezeichnet etwa eine Grenze, so verletze ich etwas. Da also etwas Wertloses unverletzbar ist, subsumiert sich alles Verletzbare dem Begriff "Etwas Wertvolles". Ein Etwas, das Wert hat, ist ein Gut, der eine von den beiden Begriffen, die alle Angriffsobjekte umfassen und charakterisieren, ist  Gut. 

Dieser Begriff hat Erkenntniswert und zwar zunächst, weil er relativ ist. Nichts ist an und für sich gut, alles ist nur unter bestimmten Gesichtspunkten ein Gut. Ob die Veränderungen eines Etwas eine Verletzung ist und warum sie es ist, das kann daher nur mit Rücksicht darauf ausgemacht werden, ob das Etwas für Jemanden wertvoll ist und warum es Wert hat.

Diese trivialen Wahrheiten sind bedeutsam. Sie erklären uns z. B., warum das Unrecht seine Geschichte hat; sie sind wichtig für manche spezielle Konstruktionen, so etwa dafür, als Verletzten denjenigen zu bezeichnen, für den das angegriffene Etwas wertvoll ist. Wer aber der Verletzte ist, das ist in manchen strafrechtlichen Materien eine umstrittene, also bedeutsame Frage. Vor allem aber setzen uns die trivialen Wahrheiten in die Lage, das Wesen der  Rechts verletzungen zu bestimmen.

Rechtsverletzungen sind Verletzungen; ihr Objekt ist also ein Gut; sie sind  Rechts verletzungen,  weil und sofern das angegriffene Etwas wertvoll ist für das Recht,  d. h. wertvoll vom Standpunkt des Willens, der im System der geltenden Rechtssätze erklärt ist. Alles was nach der Ansicht der Rechtsordnung ein Gut ist, nennt man  Rechtsgut.  Alle Objekte, deren Verletzung rechtlich erheblich ist, ordnen sich also dem Begriff des Rechtsgutes unter. Die geltenden Rechtssätze machen aus Verletzungen Rechtsverletzungen, indem sie Güter zu Rechtsgütern erheben.

Wenn wir nun eine Sache oder die Freiheit der Willensentschließung oder die Reinheit der Amtsführung oder sonst etwas als Rechtsgut bezeichnen, so heben wir lediglich das Charakteristikum hervor, welches allen diesen Dingen, Zuständen, Beziehungen usw. in gleicher Weise eigentümlich ist und welches sie alle tauglich macht, Objekt einer Rechtsverletzung zu sein. Wir sagen uns also: Wenn Güter, die nach Ansicht der Rechtsordnung Güter sind, verletzt werden, so ist die Verletzung rechtlich erheblich, sie hat Rechtsfolgen. Wir erklären somit die Rechtsverletzungen dadurch, daß wie die Einheitlichkeit ihrer mannigfachen Objekte hervorkehren.

Ferner liegt in der Behauptung, dies oder jenes ist ein (Rechts) gut,  die Identifizierung eines materiellen oder immateriellen Objekts mit einer Qualität des Objekts, nämlich mit derjenigen Eigenschaft, deren Existenz die Voraussetzung dafür ist, daß die Einwirkung auf das Objekt eine Verletzung sein kann; man identifiziert das Objekt mit seinem Wert, die Gesundheit mit dem Wert der Gesundheit. Wenn ich meine Ehre ein Gut nenne, so lasse ich an die Stelle des Objekts, die für die Verletzbarkeit der Ehre wesentliche Eigenschaft treten. Es ist daher durchaus sinngemäß, statt von der Verletzung der Sache oder des Zustandes von der des Gutes zu reden. Selbst der Pedant kann diesen Ausdruck (Verletzung eines Gutes) nicht beanstanden, er müßte sich denn scheuen, vom Verlust eines Gutes, etwa des Ringes, der ins Wasser gefalen ist, oder von der Rettung eines Gutes, etwa des Auges, das in Gefahr geschwebt hat, zu reden; er müßte die Mutter, der ihr über alles geliebtes Kind durch den Tod entrissen wurde, belehren, daß sie nicht ihr höchstes Gut, sondern ihr Kind verloren hat. (20)

Es mag scheinen, als ob mit diesen Einsichten nicht viel gewonnen ist. Wenn wir uns aber vergegenwärtigen, daß die Systematik des besonderen Teils des Strafrechts auf dem Begriff des Angriffobjekts beruth, daß die Darstellung eines jeden einzelnen Deliktstatbestandes sich auf die Beschreibung des Angriffsobjekts gründet, daß die Grundlehren des Strafrechts nur mit Rücksicht auf die Angriffsobjekt des Verbrechens entwickelt werden können, werden wir die einheitliche Charakterisierung dieser Objekte nicht als ein überflüssiges Unternehmen ansehen. Wir treten der Ansicht von LISZTs (vgl. besonders "Rechtsgut und Handlungsbegriff im Bindingschen Handbuch", Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 6, Seite 672) bei, nach der der Begriff des Rechtsgutes für die allgemeine Rechtslehre und damit auch für die Strafrechtswissenschaft eine grundlegende Bedeutung hat. Grundlegende Begriffe können aber gar nicht sorgfältig genug geklärt werden. -

Schon in der Entwicklung der Begriffe  Gut  und  Rechtsgut  ist es zum Ausdruck gekommen, daß ein subjektives Moment, d. h. die Beziehung zu einem Subjekt für die Charakterisierung der Angriffsobjekte wesentlich ist. Wenn wir dieses subjektive Moment verselbständigen können, werden wir den zweiten Begriff finden, der alles Verletzbare umfaßt. Auch diese Untersuchung wird uns auf ein bekanntes und anerkanntes Ergebnis hinführen. Es liegt mir hier daran,  alte  Einsichten zu  entwickeln. 

Um irgendwelche Beziehungen eines Subjekts zu Dingen, Zuständen, Ereignissen usw. aufzufinden, müssen wir den Blick auf die psychische Natur des Menschen lenken, wir müssen in seinem Seelenleben suchen. Die Psychologie unterscheidet drei Seelenvermögen oder besser drei Funktionen des geistigen Lebens: Vorstellen, Wollen, Fühlen. Vorstellungen und Wollungen - das Wort ist häßlich, aber gut - sind unverletzbar. Der Angriff auf einen Gedanken oder auf einen Willensakt, etwa auf einen Entschluß, kann bewirken, daß derselbe aufgegeben wird, aber er ist kein Angriff, der zu einer Verletzung führt. Verletzbar sind nur Gefühle. Es ist uns geläufig, von verletzten Gefühlen zu sprechen. Unser ästhetisches Gefühl ist Verletzungen ausgesetzt, Taktlosigkeiten verletzen unser Taktgefühl, gegen eine rohe Tat lehnt sich das Gefühl auf und bekundet in seiner Empörung, daß es verletzt worden ist, - so manches tut uns in der Seele weh. Aber es sind nicht alle Gefühle verletzbar. Der Indifferenzpunkt des Gefühlslebens, die Gleichgültigkeit, ist z. B. unverletzbar; jedoch könnte ein Gefühl, das die Gleichgültigkeit als etwas Wertvolles hegt und pflegt, verletzt werden. Es gibt ferner Gefühle, deren Beeinträchtigung man weit eher als Befreiung wie als Verletzung empfindet. Es ist eine Erlösung, wenn eine frohe Botschaft die Wehmut, unter der jemand leidet, zerstört; wer aber seine Wehmut liebt, ist in seinen Gefühlen verletzt, wenn lustige Gesellen ihn aufzuheitern suchen. Auch für die Gefühle gilt unser Satz: nur etwas Wertvolles kann verletzt werden;  es sind also nur diejenigen Gefühle verletzbar, die für den Fühlenden wertvoll sind. Diese Gefühle sind nun identisch mit den Gefühlen, die die Erreichung eines Zweckes erstrebenswert erscheinen lassen, - sie sind  Interessen.  Meine Freude an etwas ist ein Gefühl, das ich schätze, sie ist daher auch ein Gefühl, das mir die Erhaltung des Etwas erstrebenswert erscheinen läßt und ist somit ein Interesse.

Interesse ist der zweite Begriff, dem sich alles Verletzbare unterordnet.  Viele Interessen sind nun von der Rechtsordnung anerkannt. Es gibt also  eine Gruppe rechtlich anerkannter Interessen,  oder da die Anerkennung zugleich ein Schutz der Interessen ist, eine Gruppe rechtlich  geschützter  Interessen.

Interessen sind das Angriffsobjekt der Verletzungen - rechtlich geschützte Interessen sind das der Rechtsverletzungen. 

Es wäre nun ermüdend und wohl auch unnötig, nochmals an Beispielen auszuführen, daß in der Tat der Begriff des rechtlich geschützten Interesses die Angriffsobjekte der Rechtsverletzungen charakterisiert. Nur über das Verhältnis von Gut und Interesse sind noch einige Worte beizufügen.

Es ist von ganz untergeordneter Bedeutung, ob ich etwas Wertvolles als Gut oder Interesse bezeichne. Ich hebe jedesmal diejenige Qualität eines Dings oder eines Zustandes hervor, die die Einwirkung auf das Objekt als Verletzung erscheinen läßt. Und wenn ich das Objekt mit seiner für die Verletzbarkeit wesentlichen Eigenschaften identifiziere, das Leben mit dem Wert des Lebens, erscheint das Gut oder das Interesse als das unmittelbar Angegriffene. Die untergeordnete Verschiedenheit zwischen Gut und Interesse, die wir eingeräumt haben, besteht darin, daß das wertvolle Etwas entweder mehr als  ein selbständiger, von den Gefühlen des Individuums unabhängiger Wert,  d. h. als Gut oder mehr als  ein an die Psyche des Individuums gebundener Wert,  d. h. als Interesse gedacht werden kann. Daher ist es uns auch geläufiger, materielle Angriffsobjekte, (Sachen, Körper) als Güter, immaterielle (Ehre, Freiheit, Frieden) als Interessen aufzufassen.

Diese Modifikationen der Betrachtungsweise sind, wie gesagt, unerheblich. Infolgedessen ist auch der Satz,  Rechtsgüter sind rechtlich geschützte Interessen,  richtig, - richtig  insofern, als jedes Objekt, das als Rechtsgut zu bezeichnen ist, auch als rechtlich geschütztes Interesse aufgefaßt werden kann; es wird ja beidemale nichts anderes behauptet, als daß das Objekt einen rechtlich anerkannten Wert hat.  Unrichtig  ist es aber, in dem Satz, "Rechtsgüter sind rechtlich geschützte Interessen", die Definition eines Rechtsgutes zu erblicken. Das wäre teils eine Erklärung von  idem per idem [durch dieselbe Sache - wp], teils eine Erläuterung eines  ignotum per ignotius [das Unbekannte durch etwas noch Unbekannteres - wp]. Wenn ich jemandem erklären will, was ein Rechtsgut ist, so muß ich ihm sagen: Ein Rechtsgut ist ein nach der Ansicht der Rechtsordnung wertvolles Etwas.

Durch all diese Untersuchungen sollte das Wesen der Rechtsverletzungen und hiermit zugleich das Verhältnis zwischen Volk und Rechtssatz geklärt werden. Wir wissen nun:  Rechtsverletzungen sind Verletzungen von Gütern oder Interessen, die vom Leben erzeugt und von den Rechtsnormen anerkannt werden. Den Befehl, diese Güter oder Interessen nicht zu verletzen, erteilt die Kulturnorm dem Volk; den Befehl, die Rechtsgüterverletzung zu heilen oder zu bestrafen, erteilt die Rechtsnorm dem Richter. Die Funktion der Rechtsordnung ist also lediglich die, aus Gütern Rechtsgüter zu machen und den Schutz der Rechtsgüter zu garantieren. (21)

"Interessenschutz ist das Wesen des Rechts."  (von LISZT).

Das Wesen der Rechtsverhältnisse, der Rechtspflichten, der subjektiven Rechte und der Rechtsverletzungen hat sich erklären lassen, und die Rechtsnormen haben nicht als Befehle an das Volk aufgefaßt werden müssen. Die vier Repräsentanten der Beziehungen zwischen dem Volk und den Rechtssätzen, denen wir nähergetreten sind, sind vier Zeugen dafür, daß die Rechtsnormen nach außen hin als Garantien wirken. Und wir sind - dies möchte ich wiederum besonders betonen - nicht genötigt gewesen, unseren Standpunkt durch neue Konstruktionen zu wahren, wir haben, wenn nicht auf Schritt und Tritt, so doch der Grundrichtung nach alten und bewährten Ansichten folgen können. Es ist in der Tat kein Grund vorhanden, an der altüberlieferten Fiktion, "das Gesetz befiehlt dem Volk", festzuhalten!
LITERATUR Max Ernst Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, Strafrechtliche Abhandlungen, Bd. 50, Breslau 1903
    Anmerkungen
    1) Über die Beteiligung der Laien am Richteramt vgl. das dritte Kapitel des zweiten Teils.
    2) "Sind es die Strafrichter oder die Strafexekutionsbeamten, denen der Befehl gilt? Jeder wird sich zunächst zu einem Ja geneigt fühlen: genaueres Zusehen führt zum Nein." (Normen I, Seite 14) Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch das  Handbuch  BINDINGs, Seite 187f.
    3) Der Richter als solcher" und "der Richter in seiner Rechtsprechung", das ist wohl dasselbe.
    4) Auch die übrigen Argumente, mit denen BINDING die Meinung, das Strafgesetz befehle dem Richter, bekämpft, sind nicht beweiskräftig. Das erste (Normen I, Seite 14/15) lautet: "Bände wirklich der fragliche Imperativ nur die Richter und Vollstreckungsbehörden, so würden die Strafgesetze tatsächlich unverbindlich, sobald es der Zufall auch nur vorübergehend einmal einrichtete, daß ein Staat ohne Strafrichter oder Exekutionsbeamten existierte; während der im Gesetz enthaltene Volkswille, daß das Verbrechen gestraft und zwar in der angeordneten Weise gestraft werden soll, in unveränderter Kraft jene richterlose Zeit überdauerte." BINDING versucht hier, die von ihm bekämpfte Ansicht durch eine  deductio ad impossibile  zu entkräften; die Unmöglichkeit, zu der BINDING uns hinführt, besteht darin, daß die Strafgesetze in der richterlosen Zeit nicht unverbindlich sein können. Die aristotelischen Logik nennt einen derartigen falschen Schluß  to me para touto symbainein (= non propter hoc [nicht folglich deswegen - wp]) Der Volkswille, Verbrechen sollen bestraft werden, bleibt allerdings auch in der richterlosen Zeit in Kraft,  aber doch nicht deswegen, weil  das Gesetz nicht dem Richter befiehlt. Dieser Volkswille oder Befehl kann eine richterlose Zeit überdauern, auch wenn er an die Richter gerichtet ist, er kann es,  weil  die Geltung eines abstrakten Befehls nicht dadurch aufgehoben wird, daß sich zufällig einmal niemand befindet, der den Befehl ausführt (Nebenbei gesagt, es ist kein gutes Symptom, wenn man aus solchen Zufällen Beweise schmiedet.) - - - Noch weniger glücklich ist das nächste Argument BINDINGs (Seite 15): "Auch ist es nicht Sache des Richters, zu strafen. Unparteiisch gestellt über Kläger und Beklagten gibt er die Entscheidung über Berechtigung und Nichtberechtigung der Strafklage und stellt so das Recht zwischen den Parteien fest. Niemand kann Kläger und Richter in derselben Person sein: spricht der Richter dem Kläger das Strafrecht zu, so sagt er damit zugleich, daß er selbst es nicht hat, demgemäß es auch nicht selbst ausüben kann. Strafen und über ein Strafrecht urteilen ist eben zweierlei." Dieser Passuns enthält eher eine Aberkennung als eine Abweisung des umstrittenen Imperativs. Es ist die Pflicht des Richters, wenn die Voraussetzungen vorliegen, dem Kläger das Strafrecht zuzusprechen, d. h. der Richter soll, wenn das Gesetz es befiehlt, den Angeklagten  verurteilen.  BINDING weist nur nach, daß der Imperativ nicht in die Formel, der Richter solle  strafen,  gefaßt werden darf, weil der Richterspruch keine Bestrafung ist. Auch diese Behauptung kann aber nicht gut geheißen werden. Zweifellos straft der Staat; da aber der Staat nur durch Organe tätig werden kann und da die Strafe durch diejenige Tätigkeit, die wir Verurteilung nennen, verhängt wird, ist es allerdings Sache des Richters zu strafen. Eine juristische Kontroverse hierüber ist ausgeschlossen, der Streit um Worte bleibt möglich.
    5) Der Gedanke kehrt bei JHERING häufig wieder; man lese etwa im "Geist des römischen Rechts", Bd. II, Seite 21: "Wodurch können wir den Richter verhindern, sich bei seinem Urteil durch andere Rücksichten leiten zu lassen als die des Rechts? Völlig verhindern läßt es sich allerdings nicht, ebensowenig wie der Eingriff der Staatsgewalt in die Rechtspflege, aber es läßt sich zumindest erheblich erschweren, die Willkür kann auch hier wiederum mit Einrichtungen umstellt und eingeengt werden, die ihr den Weg verlegen und sie nötigen, wenn sie sich dennoch hervorwagen will, dieselben zu durchbrechen, d. h. sich als das kund zu geben, was sie ist. Diese Einrichtungen bestehen aus zweierlei: in der gesetzlichen Fixierung des prozessualischen Verfahrens und der des materiellen Rechts. Jene zwingt den Richter. Licht und Schatten im Kampf zwischen beiden Parteien in gleicher Weise zu verteilen, die Aufzeichnung des materiellen Rechts aber entrückt dasselbe der Sphäre und dem Einfluß des subjektiven Meinens und Fühlens, der subjektiven Innerlichkeit des bloßen Rechtsgefühls, welche der bequemste Schlupfwinkel der Parteilichkeit ist, und eröffnet, indem es denselben ein objektives Dasein und äußere Erkennbarkeit gewährt, damit zugleich die Möglichkeit einer Kontrolle des Richters."
    6) Durch die Befehle an die Organe bindet der Staat sich selbst, denn er kann nicht anders als durch Organe tätig werden. Mit gutem Grund hat namentlich JELLINEK ausgeführt, daß ohne diese Selbstbindung das öffentliche Recht unmöglich wäre; das gleiche gilt aber auch vom Privatrecht. - - - Die Einwände, die neuerdings HOLD von FERNECK, Die Rechtswidrigkeit, Bd. I, 1903, Seite 186f gegen die "Selbstbindungstheorie" vorgebracht hat, verlieren ihre Kraft, wenn man beachtet, daß der Staat in den Rechtssätzen  nur  seinen Organen befiehlt. Im Übrigen möchte ich nicht in den geschlossenen Gedankenkreis HOLD von FERNECKs eindringen, weil eine fruchtbare Kritik seiner tief begründeten Lehren zu sehr aus dem Rahmen dieser Abhandlung herausfallen würde. An dieser Stelle wäre namentlich auszuführen, daß es unseren Erkenntnissen hinderlich ist, die Pflicht als Zwang zu erklären.
    7) MERKEL, Elemente der allgemeinen Rechtslehre § 6; dieselben sind zu finden in von HOLTZENDORFFs "Enzyklopädie der Rechtswissenschaft" (systematischer Teil), fünfte Auflage 1889 (leider nicht mehr in der jetzt erscheinenden 6. Auflage) und in MERKELs "Gesammelten Abhandlungen", Bd. II, 1899, Seite 577f (das Zitat des Textes ebd. Seite 586).
    8) Vgl. STAMMLER, Die Lehre vom richtigen Recht, Seite 182
    9) Vgl. hierzu und zum folgenden JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1900, Seite 302f, besonders:  "Rechtsnormen sind nicht sowohl Zwangs- als vielmehr garantierte Normen." (Seite 306)
    10) Die generalpräventive Kraft der Strafgesetze darf nicht mit der des Strafurteils verwechselt werden; letztere ist größer als erstere.
    11) Die Lehre, daß die Entscheidung (insbesondere das Urteil) eine Verwirklichung des Rechtssatzes ist, (WACH: "konkretisierter Gesetzeswille"), findet sich in der ein oder anderen Form allenthalben. Dagegen ist die weitere Behauptung des Textes, daß diese Verwirklichungen der Gesetze Befehle sind, lebhaft umstritten. Ihr ist namentlich wiederholt A. S. SCHULTZE entgegengetreten, besonders in seinem Werk "Privatrecht und Prozeß in ihrer Wechselbeziehung (1883, welches überhaupt die Beziehungen zwischen Rechtsproduktions- und Rechtsanwendungsverfahren in grundlegender Weise erörtert. Auf der anderen Seite ist als Vertreter der sogenannten Befehlstheorie vor allem LABAND (Staatsrecht III, Seite 352f) zu nennen. Diese ganze Kontroverse, die ich hier nur streifen kann, entscheidet sich mit weit größerer Sicherheit im Sinne der Befehlstheorie, wenn man es ablehnt, den Rechtssatz als einen Befehl an das Volk anzusehen. Denn wenn schon das Gesetz den Befehl erteilt hat, bleibt dem Richter in der Tat nur die Aufgabe,  festzustellen  (autoritativ zu deklarieren), daß der Befehl des Gesetzes auf den gegebenen Fall anwendbar ist. Die Lehre SCHULTZEs ist das konsequente Ergebnis der hier bekämpften Auffassung des Gesetzes. Mit vollem Recht hat neuerdings KISCH in seinen Beiträgen zur Urteilslehre Seite 26 (vgl. auch Seite 230 der Straßburger Festschrift für A. S. SCHULTZE, 1903) ausgeführt, daß sich nach der Befehlstheorie eine "durch nichts gerechtfertigte Häufung von Imperativen" ergibt, - nämlich wenn das Gesetz dem Volk befiehlt. Gerade diese Voraussetzung ist aber unhaltbar!
    12) Die Rechtsnormen, die lediglich die Art der Zwangsanwendung regeln, - also in gewissem Sinne Ausführungsbestimmungen sind, - wirken nur intern normierend. Ihre externe Wirkung besteht lediglich darin, daß sie Garantiern sind (vgl. unter III.)
    13) Vgl. BINDING, Normen I, Seite 481f, "Der Rechtszwang nach Wesen, Arten und Grenzen."
    14) JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 332: "... Ganz anders aber verhält es sich da, wo der Staat nach festen, nur in rechtlichen Formen entstehenden und abänderlichen Rechtsregeln verfährt.  Eine solche Regel enthält einmal die Bindung der Staatsorgane an sie.  Damit allein ist aber die Tätigkeit des Staates selbst gebunden, indem staatliche Organtätigkeit Staatstätigkeit selbst ist, ja andere Staatstätigkeit als die durch Organe vermittelte überhaupt nicht existiert.  Eine solche Regel enthält aber auch die Zusicherung an die Untertanen, daß die Staatsorgane verpflichtet sind, ihr gemäß zu verfahren.  Das Strafreht ist nicht nur eine Anweisung für den Richter, das Finanzrecht nicht bloß eine Instruktion für den Steuerkommissar, sondern enthält zugleich die  Zusicherung an die Untertanen,  daß nur diesen Gesetzen gemäß verfahren wird." Das ist der Grundgedanke meiner Ausführungen. - Vgl. über die äußere und innere Wirkung der Gesetze auch die trefflichen Ausführungen von OTTO MAYER, Deutsches Verwaltungsrecht, 1895, Seite 81f und dazu unten Kapitel 5 des 2. Teils.
    15) HELLWIG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, Bd. I, Seite 192.
    16) Die Definition deckt nicht den ganzen Sprachgebrauch; der Ausdruck, es interessiert mich, gehört zu den beliebtesten und wird vielfach ganz farblos gebraucht, etwa als Surrogat für "es gefällt mir", "es ist mir von Bedeutung", "ich erwarte mit Spannung" usw. Keine Definition kann allen diesen Redewendungen gerecht werden; unsere Erklärung deckt aber alle Fälle, in denen sich das Interesse auf eine Handlung bezieht.
    17) Zutreffen SCHUPPE (Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie, 1881, Seite 14): "... Ich habe nur darauf aufmerksam zu machen, daß das Interesse weder bloß als Gefühl, noch bloß als Wille, noch als eine nachträgliche Zusammensetzung beider bezeichnet werden kann, sondern daß jeder darunter  das lebhafte Gefühl von einem Wert und das entsprechende Streben zugleich versteht,  beides durch  einen  Laut ausgedrückt, weil es tatsächlich nur als  eine  innere Regung wahrgenommen wir." - JHERING (Geist des römischen Rechts III, Seite 341): "Der Wertbegriff enthält den Maßstab zur Bestimmung der Tauglichkeit des Gutes, der Interessenbegriff erfaßt diese Werteigenschaft in besonderer Beziehung auf die Zwecke und Verhältnisse des Subjekts." - JELLINEK (System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, Seite 40): "Ein Interesse ist ein Gut nach der subjektiven Wertschätzung für die menschlichen Zwecke." - BEROLZHEIMER (Rechtsphilosophische Studien, 1903, Seite 101): "Interesse ist der Wert, den jemand einer Sache oder Beziehung beilegt." In dieser Definition fehlt das Willensmoment, die Beziehung auf Zwecke.
    18) "Zu beachten ist, daß von einem staatlichen Strafrecht in einem subjektiven Sinn nur unter der Voraussetzung gesprochen werden kann, daß die ansich schrankenlose Strafgewalt des Staates in kluger Selbstbeschränkung Voraussetzung und Inhalt ihrer Betätigung (Verbrechen und Strafe) bestimmt hat." So durchaus richtig von LISZT auf der ersten Seite seines Lehrbuches.
    19) Ich hoffe, daß ich die Lehre richtig anwende; die maßgebende Stelle lautet (ebd. Seite 102): "Die eigentliche Norm eines Strafgesetzes ist mithin das hinter dem strafgesetzlichen Verbot stehende abstrakte Gebot einer konkreten Rechtseinrichtung, wie dann eine Qualität jedes Gebotes, seine negative Funktion, das Verbot der Zuwiderhandlung gegen das Gebot ist."
    20) Es ist wohl deutlich, daß diese Ausführungen weit davon entfernt sind, das Rechtsgut als solches, d. h. den Begriff, durch den wir alle Angriffsobjekte charakterisieren, als verletzbar zu bezeichnen. Das Haus, diesen Begriff kann man nicht anzünden, ein bestimmtes Haus kann man anzünden, und wenn man es tut, verletzt man ein Gut, und zwar das des Eigentümers, das auch nach Ansicht der Rechtsordnung ein Gut, also ein Rechtsgut ist.
    21) Nach den Ausführungen dieses Kapitels ist unsere Stellungnahme zu der von THON, ZITELMANN, SCHUPPE, BIERLING, GRUEBER, HOLD von FERNECK, teilweise auch von MERKEL und BERGBOHM vertretenen Imperativentheorie klar. Das objektive Recht ist allerdings ein System von Imperativen, aber diese Befehle sind nicht an das Volk gerichtet. - Eine eingehende Würdigung und Verteidigung der Imperativentheorie neuerdings bei HOLD von FERNECK, Die Rechtswidrigkeit I, 1903, Seite 104f.