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FELIX SOMLO
Die Anwendung des Rechts

"Zu fragen, ob der Richter bei der Anwendung von Rechtsregeln an diese Regeln gebunden ist, oder auch von denselben abweichen kann, hat ja offenbar keinen Sinn. Sobald wir zugeben wollten, daß der Richter in irgendeiner Hinsicht von den anzuwendenden Regeln abweichen könnte, hätten wir ja bereits unsere Voraussetzung, daß er sie anzuwenden hat, aufgegeben, und damit hätten auch unsere Begriffe einer Rechtsregel und der Anwendung einer solchen jede Bedeutung verloren."

Nach der großen Anzahl von Untersuchungen, die neuerdings über die Frage der Rechtsanwendung und namentlich über das Verhältnis des Richters zum Recht erschienen sind, hat eine neue Untersuchung über denselben Gegenstand vor allen anderen ihr Daseinsrecht zu begründen. Die gegenwärtige Untersuchung beansprucht dieses Recht für sich auf Grund einer präziseren Fragestellung, da eben die Unbestimmtheit der diesbezüglichen Fragestellungen zu der nicht geringen Verwirrung, die über diesen Gegenstand herrscht, viel beigetragen hat.

Eine Untersuchung über das Verhältnis des Anwenders eines Rechts (den wir im folgenden der Kürze halber einfach als Richter bezeichnen wollen) zum Recht kann in dreifacher Beziehung angestellt werden:
    1. Es kann die Frage  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp] betrachtet werden; sie hat dann den Sinn, wie dieses Verhältnis unter gegebenen Umständen durch das Recht gestaltet werden  soll.  Es wäre das eine Spezialuntersuchung über das richtige Recht. Zur Lösung der Frage in diesem Sinn bedürfen wir eines Maßstabes, mittels dessen sich die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit eines Rechts bestimmen läßt. Wie ein solcher gefunden werden kann, ist eine fernere Frage, mit der wir uns hier nicht zu beschäftigen haben. Natürlich ist die Beantwortung dieser Frage, wie jeder Frage  de lege ferenda,  nur mit Bezug auf gegebene Umstände möglich. Sie läßt sich nicht ohne weiteres für alle möglichen denkbaren Umstände stellen; denn ihre Lösung muß je nach den Umständen verschieden ausfallen. Diese in Betracht zu ziehenden Umstände können größeren oder kleineren Umfangs sein. Das heißt: es können die speziellen Umstände eines konkreten Staatswesens in Betracht kommen, oder es kann diese Frage eventuell auch für einen ganzen Kulturkreis, innerhalb dessen die betreffenden Verhältnisse vielleicht nur unerhebliche Verschiedenheiten zeigen, erwogen werden.

    2. Zweitens kann unsere Frage  de lege lata  [nach geltendem Recht - wp] gestellt werden. Sie lautet dann: Wie hat der Richter bei der Rechtsanwendung nach einem bestimmten Recht zu verfahren? Diese zweite Frage ist nur im Hinblick auf ein gegebenes positives Recht zu lösen; ihre Lösung erfordert daher die Angabe jenes Rechts, für welches die Untersuchung dieses Verhältnisses erfolgen soll. Natürlich kann dieses Recht auch ein gegenwärtig nicht geltendes sein, dann wird die Untersuchung unserer Frage zu einer rechtsgeschichtlichen. Es können auch verschiedene Rechte zugrunde gelegt und auf ihre diesbezüglichen Übereinstimmungen oder auch auf ihre voneinander abweichendenden Bestimmungen hin untersucht werden. Wir haben es in diesem Fall mit einer rechtsvergleichenden Untersuchung unserer Frage zu tun, die sich ebensowohl wie die rechtsgeschichtliche ohne Schwierigkeit unter die Rubrik  de lege lata  bringen läßt.

    3. Schließlich läßt sich unsere Frage auch in einem dritten Sinn stellen, wenn wir sie nämlich weder auf ein unter speziellen Umständen zu gestaltendes, noch im Hinblick auf ein irgendwo bestehendes Recht beschränken, sondern vielmehr das Verhältnis jedes nur irgendwie denkbaren Anwenders zu jedem denkbaren Recht feststellen wollten. Bei der Stellung der Frage in diesem Sinn hätten wir von jedem speziellen positiv-rechtlichen Inhalt der Begriffe "Recht" und "Anwender des Rechts" zu abstrahieren, und da in derselben auch keine Forderungen  de lege ferenda  enthalten sein sollen, so muß sich die Lösung der Frage in diesem Sinn einzig und allein aus den Begriffen "Recht" und "Anwendung" ergeben.
Wir können diese drei Fragestellungen der Kürze halber auch die rechtspolitische, die positiv-rechtliche und die rechtsdogmatische Fragestellung nennen. (1)

Daß die Theorie der Rechtsanwendung zu einer so verzwickten werden konnte, wie sie bei einem großen Teil der Autoren, welche sich mit diesen Fragen beschäftigen, wurde, beruth in erster Linie auf einer ganz unzulässigen fortwährenden Vermengung dieser drei Fragen. Es werden gewöhnlich die Fragen 1 und 2 nicht gehörig auseinandergehalten und die Lösungen, die sich dann bei einer so unklaren Fragestellung ergeben, präsentieren sich obendrein noch häufig als Lösungen der Frage 3.

Wollen wir nämlich die Frage in diesem dritten Sinn beantworten, so kann eine solche Antwort, wie gesagt, einzig und allein aufgrund der Begriffe "Recht" und "Anwendung" erfolgen. Damit ist aber unsere Frage auch bereits gelöst. Denn zu fragen, ob der Richter bei der Anwendung von Rechtsregeln an diese Regeln gebunden ist, oder auch von denselben abweichen kann, hat ja offenbar keinen Sinn. Sobald wir zugeben wollten, daß der Richter in irgendeiner Hinsicht von den anzuwendenden Regeln abweichen könnte, hätten wir ja bereits unsere Voraussetzung, daß er sie anzuwenden hat, aufgegeben, und damit hätten auch unsere Begriffe einer Rechtsregel und der Anwendung einer solchen - unsere einzigen Quellen zur Lösung der Frage im dritten Sinn - jede Bedeutung verloren.

Sollte jemand dagegen den Einwand erheben, daß in der Frage, wie sich der Richter bei der Rechtsanwendung dem Recht gegenüber zu verhalten hat, bereits eine  petitio principii  [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] steckt, da es sich vielmehr darum handelt, ob nicht auch durch die Entscheidung konkreter Streitfälle, also durch richterliche Urteile, Recht entstehen kann, so ist darauf zu antworten: Es ist allerdings möglich, daß aus dem Urteilen neues Recht entsteht, doch geht das unsere Frage, die wir hier in dem oben angegebenen dritten Sinn gestellt haben, nichts an. Und ebenso würden wir von dieser Fragestellung abweichen, wenn wir danach fragen würden, ob das richterliche Urteilen, wie es sich als historische Erscheinung irgendwo in Wirklichkeit konkret gestaltet, immer streng nach dem Recht vor sich geht oder ob es nicht etwa auch nach anderen Prinzipien geschieht und ob nicht auch ein solches Urteilen schließlich zur Gestaltung eines neuen Rechtes führt. In diesem Fall wäre nämlich das Urteilen eben etwas anderes als das Anwenden eines Rechts. Ob der Richter in Form der Gesetzesanwendung tatsächlich neues Recht bildet, ist eine Frage für sich. Ob er nach irgendeinem Recht die Befugnis dazu hat, ist eine andere Frage.

Bleiben wir hingegen bei der Frage, wie sich das Verhältnis des Richters zum Recht bei der Rechtsanwendung, also beim Urteilen nach dem Recht gestaltet, so liegt die Antwort bereits in der Frage. Wenn nach der rechtlichen Stellung des Richters gefragt wird, so kann das Prinzip nur seine vollkommene Unterordnung unter das Recht sein. Der Frage, wann es dem Richter bei der Rechtsanwendung gestattet ist, vom Recht abzuweichen, kann im obigen, dritten Sinn unserer Frage gar kein Platz eingeräumt werden, dann damit würden wir ja bereits einen konkreten Rechtsinhalt berücksichtigen und damit hätten wir bereits das Gebiet der obigen Frage 2 betreten, da wir nicht mehr bei den Begriffen von "Recht" und "Rechtsanwendung" überhaupt stehen geblieben wären. Es ist ja klar, daß wenn irgendwo ein positives Recht besteht, das dem Richter eine Abweichung "vom Recht" zugesteht, der Richter selbst für den Fall einer solchen Abweichung im Rahmen "des Rechts" verbleibt, da ihm ja gerade "das Recht" diese Abweichung gestattet oder gar befohlen hat. Somit kann eine solche, durch "das Recht" gestattete Abweichung nicht eine Abweichung "vom Recht überhaupt" sein, sondern immer nur eine von gewissen speziellen Rechtsregeln, also nichts weiter, als eine durch eine Rechtsregel gestattete Abweichung von anderen Rechtsregeln. Der Richter bleibt also selbst im Fall einer solchen Abweichung immer noch jener Rechtsregel unterstellt, die ihm diese Abweichung von gewissen anderen gestattet oder gar befohlen hat.

Weise ich also bloß einfach auf die Tatsache hin, daß sich irgendwo im Widerspruch zu bestehendem Recht von diesem Recht abweichende richterliche Urteile gebildet haben, so ist das weiter nichts, als die Konstatierung eines Falls von Rechtsverletzung. Weise ich ferner vielleicht auch noch darauf hin, daß sich irgendwo aus solchen anfänglichen Rechtsverletzungen ein neues Recht gebildet hat, so ist das nur ein Hinweis darauf, daß durch Gewohnheitsrecht das frühere Recht abgeändert worden ist und daß das nunmehr bestehende Recht gewisse Abweichungen des Richters von gewissen Rechtsregeln gestattet. So lange aber aus solchen Rechtsverletzungen Gewohnheitsrecht (neues Recht) noch nicht entstanden ist, bleiben solche Tatsachen einfach Tatsachen, aus denen sich für die Bestimmung der rechtlichen Stellung des Richters gar nichts ergibt.

Wenn ich also die rechtliche Stellung des Richters feststellen, dabei aber von allem spezielle Inhalt positiv-rechtlicher Bestimmungen absehen will, so kann ich nicht weiter kommen, als zu dem Satz, daß der Richter dem Recht unbedingt unterworfen ist. Inwiefern ihm eine Abweichung vom Recht durch das Recht gestattet ist, ist bereits eine inhaltliche Bestimmung, die sich nicht mehr aus dem Begriff des Rechts, sondern nur aus bestimmten positiv-rechtlichen Sätzen entnehmen läßt.

Die Bestimmungen eines positiven Rechts im Hinblick auf die Stellung des Richters zum Recht können nun sehr verschiedene sein. Die diesbezüglichen möglichen Fällen können sich zwischen folgenden zwei Extremen bewegen:
    Der eine Grenzfall wäre der, daß das Recht dem Richter jede Abweichung vom Wortlaut des bestehenden Rechts verbietet. Damit wäre also entschieden, daß der Richter nach diesem Recht bei der Rechtsanwendung niemals von demselben auch nur um Haaresbreite abweichen darf.

    Wenn sich ein Recht in dem Sinn (oder auch Unsinn) angewendet wissen will, daß alles, was in demselben nicht  expressis verbis  [ausdrücklich - wp] verboten ist, erlaubt sei und alles, was nicht  expressis verbis  befohlen wird, nicht als vom Recht verlangt angesehen werden darf, so bleibt dem Richter nichts anderes als eine Bestimmung des Wortlauts, als Feststellung des Tatbestandes nach dem Wortlaut und Subsumierung des konkreten Falls unter die festgestellte Regel. Nehmen wir noch an, daß ein solches Recht den Tatbestand höchst kasuistisch bestimmen würde und zwar in einer Weise, daß dem Richter auch diesbezüglich nichts anderes als eine strenge Konstatierung des kasuistisch beschriebenen Falles übrig bliebe, so kann ein solches Recht - darauf ist schon öfters hingewiesen worden - als ein geschlossenes, lückenloses Ganzes aufgefaßt werden.
Natürlich müßte ein solches Rechtssystem als ein äußerst unzweckmäßiges angesehen werden, es würde zu Urteilen führen, wie sie SHYLOCK [Kaufmann von Venedig - wp] begehrte, und auch manches alte Recht - was hier übrigens nicht in Betracht kommt - auch tatsäclich kannte. Aber wie unzweckmäßig auch immer, unmöglich wäre es nicht.
    Das zweite Extrem wäre, wenn ein Recht dem Richter ganz einfach anheimstellen würde, jeden vor ihn gebrachten Streitfall nach seinem eigenen persönlichen Gutdünken zu entscheiden. Wir wollen also nicht einmal annehmen, daß das Recht dem Richter befähle, nach seinem Gerechtigkeitsgefühl zu entscheiden; denn da könnte sich wieder die Frage erheben, was Gerechtigkeitsgefühl bedeutet und ob das Recht dadurch nicht doch unmittelbar auf einen Entscheidungsmaßstab hinweist, an den der RIchter also doch gebunden wäre.

    Wir nehmen an, das Recht sagt einfach, der Richter habe nach seinem höchst persönlichen Gefallen zu urteilen.

    In diesem extremen Fall könnte also der Richter ganz unbehindert den Maßstab bestimmen, nach welchem er den konkreten Fall entscheiden will.
Zwischen diesen beiden Extremen liegen nun die verschiedensten Möglichkeiten. Das Recht kann eine Gesetzesanalogie oder eine Rechtsanalogie gestatten; es kann anstatt fester Tatbestände so lose umschriebene angeben, daß der Richter bereits bei der Bestimmung des Tatbestandes äußerst frei vorgehen könnte. Das Recht kann Wertungen aufstellen und vom Richter verlangen, er möge sich sowohl bezüglich des Tatbestandes wie auch der Rechtsfolgen an diese Wertungen halten. Das Recht kann, anstatt selbst Wertungen aufzustellen, in der verschiedensten Weise mittelbar auf gewisse Wertungen hinweisen, und es kann schließlich statt dessen einfach auf die Wertungen des Richters hinweisen - eine Möglichkeit, die von dem oben behandelten zweiten Extrem, nach welchem dem  Willen  des Richters freier Spielraum gestattet würde, gehörig zu unterscheiden ist.

Das Recht kann einen Rahmen der Rechtsfolgen aufstellen und es dem Werten oder dem Wollen des Richters anheimstellen, die Rechtsfolgen innerhalb dieses Rahmens zu bestimmen. Das Recht kann zur Auffindung der Rechtsfolgen innerhalb eines solchen Rahmens auf mittelbare Wertungen hinweisen. Ein solcher Rahmen der Rechtsfolgen kann verhältnismäßig eng sein, wie der Strafrahmen der meisten heutigen Strafgesetze, oder er kann so weit sein, wie er bei der Forderung einer Verurteilung auf unbestimmte Zeit verlangt wird, etc. etc.

Alle diese Möglichkeiten und noch tausend andere können  de lege ferenda  für irgendwelche gegebenen Umstände gefordert werden oder können hier oder dort im positiven Recht enthalten sein. Diesbezüglich kann nur der anzuwendende Maßstab samt den gegebenen Umständen, bzw. die Analyse des gegebenen Rechts entscheidend sein.

Welches von diesen Möglichkeiten auch immer besteht, es bleibt doch das  Recht,  welches die Stellung des Richters bei der Rechtsanwendung bestimmt. Dies ist der allgemeine Satz, den keine wie immer geartete spezielle Regelung dieser Frage ins Wanken bringen kann. Es ist deshalb jeder Ausgangspunkt zur Lösung unserer Frage falsch, bei welchem angenommen wird, es könne die Frage auch im Widerspruch zu diesem generellen Satz gelöst werden. Einer dieser falschen Ausgangspunkte ist - wie wir gesehen haben - der Satz, daß die Rechtsanwendung zur Rechtsgestaltung führen kann.

Ein zweiter ist das Prinzip der  Rechtslücken.  Man hat nämlich fälschlich angenommen, es lasse sich eine dem Recht gegenüber freie Rechtsfindung des Richters bereits aus der Unvermeidbarkeit der Rechtslücken ableiten. Da ein lückenloses Recht - nach dieser Ansicht - nicht denkbar ist, ist auch das ausnahmslose Gebundensein des Richters an das Recht undenkbar. Die Rechtsfindung des Richters muß frei werden in dem Moment, wo der Richter zur Lücke gelangt.

Dieser Gedankengang ist nun ganz falsch, und somit sind auch alle Konsequenzen unrichtig, die aus demselben gezogen werden.

Daß es  de lege lata  keine Rechtslücken geben kann, ist bereits des öfteren betont worden (2), doch folgt es auch bereits aus der Annahme des oben behandelten ersten Extrems. Ist dem Richter nicht gestattet, vom Wortlaut des Rechts abzuweichen, so kann sich ja für die Rechtsanwendung keine Lücke ergeben, denn alles Denkbare ist entweer dem Wortlaut nach befohlen oder nicht befohlen, verboten oder nicht verboten, und es ist kein Fall denkbar, von dem sich nicht konstatieren ließe, ob er dem Wortlaut des Rechts nach verboten, befohlen oder keines von beiden, also gestattet, ist. Ist hingegen dem Richter das Abweichen vom Wortlaut gestattet, so ist eine Lücke bei der Rechtsanwendung deshalb unmöglich, weil ja dem Richter durch das Recht angegeben wird, in welcher Weise er über den Wortlaut hinausgehen kann oder muß. Entweder hat er sich nach Analogien zu richten, oder nach einem mittelbaren Gesetzesinhalt oder schließlich nach seinem Willen zu entscheiden. Immer sagt das Recht, was der Fall ist. Niemals existiert also  de lege lata  dasjenige, was eine  echte Lücke  genannt wird. Wenn das Recht bloß den Strafrahmen bestimmt und es dem Richter überläßt, welches Maß innerhalb des Festgesetzten im konkreten Fall anzuwenden ist, so ist dies nur eine unechte Lücke, weil ja das Recht doch eine Bestimmung enthält. "Aber es gibt auch  echte Lücken  - sagt ZITELMANN (Lücken im Recht, Seite 27) -,  Lücken  wirklich in dem Sinn, daß das Gesetz eine Antwort überhaupt schuldig bleibt, eine Entscheidung gar nicht ermöglicht." "Der Fall dieser wahren Lücke ist der: das Gesetz gibt einen positiven Satz, nach dem zu entscheiden ist, läßt aber innerhalb dieses Satzes ein einzelnes Moment unbestimmt; anders gesprochen: der Wille des Gesetzes, daß eine rechtliche Behandlung gewisser Art eintritt, steht fest, aber innerhalb dieses Rahmens sind mehrere Möglichkeiten, und das Gesetz sagt nicht, welche davon es will."

Dieser Fall ist aber doch eben jener der "unechten Lücken". Denn würde das Gesetz auch noch sagen, welche Möglichkeit es will, so wäre ja gar keine Veranlassung vorhanden, selbst von einer "unechten" Lücke zu sprechen. Die Lehre von den "echten Lücken" läßt sich folgendermaßen widerlegen: Wäre in einem Recht tatsächlich  "gar keine  Bestimmung darüber aufzufinden, welche rechtliche Behandlung es vorschreibt, nur soviel, daß es irgendeine haben will, so wäre eben durch einen solchen Befehl die nähere Bestimmung der richterlichen Willkür anheimgestellt. Ein solches Gesetz würde lauten: Richter, bestimme in diesem Fall irgendeine Rechtsfolge. Weshalb soll nun eine solche rechtliche Bestimmung als eine lückenhafte angesehen werden? Ist es eine Lücke für die Rechtsanwendung? Sollte also eine positiv-rechtliche Bestimmung  tatsächlich  so lauten, ohne in Wirklichkeit doch eine mittelbare Bestimmung zu enthalten, in welcher Weise, nach welchem Maßstab der Richter im fraglichen Fall die Rechtsfolge festsetzen soll, so wäre von einer "echten" Lücke im Sinne ZITELMANNs, nach der eine Entscheidung durch das Gesetz gar nicht ermöglicht wäre, trotzdem nicht die Rede.

Diese ließe sich auch durch eine Analyse jener Beispiele nachweisen, die ZITELMANN (a. a. O., Seite 28 - 29) als Fälle echter Lücken anführt. Es läßt sich für jeden dieser Fälle das Dilemma aufstellen: Entweder ist im Recht tatsächlich gar keine Bestimmung dafür enthalten, welche von den durch das Recht freigelassenen Möglichkeiten zu wählen ist, dann ist das Wählen eben der richterlichen Willkür zugewiesen; oder es gibt im Gesetz doch irgendwo eine Bestimmung, die herangezogen werden kann, und dann ist nicht einmal eine unechte Lücke vorhanden.

Mit Bezug auf die positiven Rechte, denen diese Beispiele gewöhnlich entnommen werden, mag jedoch bemerkt werden, daß für die positiven Rechte bei einer Beurteilung von sogenannten Lücken gerade jene rechtlichen Bestimmungen nicht außer acht zu lassen sind, die über die richterliche Rechtsauslegung Vorschriften enthalten. Solche Bestimmungen sind häufig gewohnheitsrechtliche und sind durch die Praxis entstanden. Wenn jemand also auf eine Lücke im Recht zu stoßen wähnt, so möge er sich auch jener rechtlichen Bestimmungen erinnern, die vorschreiben, nach welcher Methode der Richter zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen hat. Da diesbezüglich in jedem positiven Recht mindestens gewohnheitsrechtliche Bestandteile zu finden sein werden, so wird die Entscheidung selbst im Fall unechter Lücken nur in den seltensten Fällen tatsächlich der richterlichen Willkür anheimfallen.

Es ist also höchst unrichtig, wenn jemand in der Weise verfährt, wie RUMPF in seiner Arbeit "Gesetz und Richter" (Berlin 1906), die sich auf dem Titelblatt und auch im Text als ein "Versuch einer Methodik der Rechtsanwendung" ausgibt, jedoch auf Seite 3 im Kapitel: Die Aufgabe und ihre Begrenzung, "die Methodik der Anwendung des Gewohnheitsrechts" ausscheidet und folglich überall so verfährt, als wenn es ein Gewohnheitsrecht gar nicht gäbe, und sich also auf die Frage beschränkt, wie der Richter das Gesetzesrecht anzuwenden hat.

Wie nun, wenn das Gewohnheitsrecht Bestimmungen darüber enthält, wie das Gesetzesrecht anzuwenden ist? Kann in einem solchen Fall die Frage der Anwendung des Gesetzesrechts noch mit Ausschluß der Frage der Anwendung des Gewohnheitsrechts behandelt werden? In diesem Fall muß doch die Anwendung des Gesetzesrechts die Anwendung des Gewohnheitsrechts mitenthalten.

RUMPF möchte nämlich gerne der Vorteile einer Arbeitsteilung teilhaftig werden (Seite 3) und möchte vorher bloß die Frage entscheiden, wie der Richter - mit Ausschluß allen Gewohnheitsrechts - das Gesetzesrecht anzuwenden hat. Er bringt sich jedoch durch eine solche nur zu bescheidene Fragestellung nun gleich von Haus aus um die Möglichkeit einer richtigen Lösung. Denn der Richter ist ja immer dem ganzen Recht untergeordnet, es läßt sich folglich die Stellung des Richters zum Recht nicht nach einzelnen Rechtsquellen spalten, sondern sie läßt sich immer nur im Hinblick auf das ganze Recht entscheiden. Es läßt sich wohl die Frage stellen, was  das ganze Recht  bezüglich der Rechtsanwendung in der Strafjustiz oder was  das ganze Recht  bezüglich der Rechtsanwendung in der Ziviljustiz bestimmt, aber es läßt sich keine endgültige Entscheidung für die Stellung des Richters zum Strafgesetz treffen, wenn wir uns  bloß  auf die Bestimmungen gerade dieses Gesetzes beschränken wollen. Mit dem gleichen Recht könnte ja jemand noch bescheidener sein wollen und die Frage nur mit Bezug auf die ersten zehn Paragraphen eines bestimmten Gesetzes untersuchen. Natürlich läßt sich eine solche Untersuchung vornehmen, nur endgültige Konsequenzen dürfen aus derselben nicht gezogen werden.

Die scheinbaren sogenannten unechten Lücken eines positiven Rechts werden also gewöhnlich nicht einmal solche sein, weil es gewöhnlich  mindestens  gewohnheitsrechtliche Auslegungsregeln geben wird, die auf einen mittelbaren Gesetzesinhalt verweisen. Aber selbst in Ermangelung solcher Regeln, kann es keine echte Lücke geben in dem Sinne, "daß das Gesetz eine Entscheidung gar nicht ermöglicht" (ZITELMANN, a. a. O., Seite 27). Die Lehre ZITELMANNs on den Lücken im Recht ist also höchst widerspruchsvoll. Die eine Definition der echten Lücken, die sich bei ihm findet, daß es nämlich innerhalb des gesetzlich bestimmten Rahmens mehrere Möglichkeiten gibt und das Gesetz nicht sagt, welche davon es will (Seite 27), ist gar keine  echte  Lücke, sondern deckt sich ganz mit den Fällen, die ZITELMANN selbst als  unechte  Lücken bezeichnet (Seite 31). Die zweite Definition der echten Lücken, die sich ebenfalls auf Seite 27 befindet, sagt, daß eine solche dort besteht, wo "das Gesetz eine Entscheidung gar nicht ermöglicht". Diesen Fall gibt es nun gar nicht.

Was ist nun eine Lücke im Recht? Wir müssen uns darüber klar werden, daß der Begriff einer Rechtslücke als rechtsdogmatischer oer auch als positiv-rechtlicher Begriff unmöglich ist. Dieser Begriff ist ausschließlich ein rechtspolitischer; eine Rechtslücke feststellen, ist immer ein Stück Rechtskritik. Die Feststellung einer Rechtslücke ist immer die Feststellung eines seinsollenden Rechts. Wenn wir an das bestehende Recht keinen  Maßstab  anlegen, können wir in ihm auch keine Lücke entdecken. An einer Stelle (Seite 31) scheint auch bei ZITELMANN diese richtige Auffassung der echten Rechtslücken durchzubrechen, wenn er dieselben so charakterisiert, daß das Gesetz eine Regelung zwar nicht ausgesprochen hat,  "aber es hätte aussprechen sollen"  (es wäre dies die dritte Definition ZITELMANNs), doch hält er sie nicht fest. Jawohl, die Feststellung einer echten Lücke im Recht ist gar nichts anderes als die Behauptung, daß das Recht irgendetwas irgendwie hätte regeln  sollen,  also eine abfällige Kritik des Rechts! (3)

Wir dürfen also die Stellung des Richters zu mRecht nicht damit  dogmatisch  begründen: daß, weil es im Recht notgedrungen echte Lücken gibt, der Richter dem Recht gegenüber eine gewisse Freiheit haben muß (4). Denn da die Feststellung einer Rechtslücke nichts anderes ist als eine Kritik des Rechts, so kann eine Bestimmung des Verhältnisses von Richter und Recht nicht den Begriff der Rechtslücken zum Ausgangspunkt nehmen.

Es ist also irrig, wenn sowohl die Freirechtsbewegung als auch die sie teilweise zurückweisende Literatur in dieser Frage von angeblich auch in einem nicht kritischen Sinne möglichen Lücken des Rechts ausgehen.

Einen dritten Ausgangspunkt, von dem aus man eine gewisse Freiheit des Richters auf dogmatischem, als weder rechtspolitischem noch positiv-rechtlichem Weg festzustellen versucht, bilden die sogenannten "Wertungen" des Richters. Diese Grundlage wird in ausgiebigster Weise bei RUMPF (a. a. O.) herausgearbeitet, bei dem überhaupt ein ernstes Bestreben zur Auffindung der tiefer liegenden Ausgangspunkte unserer Frage bemerkbar ist.

RUMPF unterscheidet in den Denkprozessen, durch die ein richterliches Urteil zustande kommt, zweierlei verschiedene Elemente: Ein  "reines Urteilen"  und ein  Beurteilen  oder  Werten.  Das erste Element gehört in das Gebiet der reinen Logik, das zweite in das Reich der Werte (5).

Ein richtiges  System  dieser richterlichen Wertungen gibt uns RUMPF zwar nicht, aber aus verschiedenen Stellen ist zu erkennen, daß er als obersten Wertungsmaßstab des Richters die Annahme aufstellt: Der oberste Zweck jedes Gesetzes sei, das Rechtsleben zu ordnen. (6) Zweitens umfaßt das Werten des Richters eine Feststellung "der Rechtsethik", die sich aus dem Recht selbst ergibt. Und schließlich hat der Richter auch "persönliche Wertungen" aufzustellen, und zwar entweder dort, wo ihn die Rechtsethik im Stich läßt (7) (also wiederum infolge von Rechtslücken), oder dort, wo ihn das Recht auf seine persönlichen Wertungen verweist. (Also eigentlich "persönliche Wertung" als mittelbarer Gesetzesinhalt!) (8).

Wenn die Schalen bei der Wertabwägung gleich stehen, oder wenn es nicht klar ist, welche Werte in der fraglichen Norm stecken, tritt im Urteil schließlich der Wille des Richters auf (Seite 89 - 99). Nur derjenige Teil der richterlichen Urteile, der in der Gebiet der reinen Logik gehört, kann Allgemeingültigkeit beanspruchen, den richterlichen "Wertungen" und Wollungen hingegen kommt keine Allgemeingültigkeit zu. (9)

Aus diese Voraussetzungen heraus versucht RUMPF die Frage: "Wie muß der Richter das Gesetz auslegen und anwenden?" zu lösen und "damit zugleich einen Beitrag zur Frage nach den Grenzen der Richtermacht" zu liefern. (10)

Er sieht die Lösung in der Beseitigung des "alten noch immer nicht ausgerotteten Vorurteils", "daß das reine Denken bei der Rechtsanwendung alles sei." und will dagegen zeigen: "daß das sich selbst überlassene Denken auch schon bei einfachen Auslegungsfragen bald nicht mehr aus noch ein weiß" (Seite 44).

Klar ausgesprochene Folgerungen zieht RUMPF aus seiner Arbeit nicht (besonders unklar ist diesbezüglich Seite 27 - 29); im Ganzen ist jedoch unverkennbar, daß er, obwohl er die radikalen Forderungen der Freirechtsschule zurückweist, eigentlich in der Bekämpfung der älteren Interpretationslehre, die dem Richter prinzipiell bloß eine logische Auslegung des Rechts zugestehen will, den Nachweis für eine  (dogmatische)  Unumgänglichkeit einer freieren Stellung des Richters gegenüber dem Recht liefern möchte.

Der Grundgedanke RUMPFs wäre also: dem Richter  muß  dem Gesetz gegenüber mehr zustehen als die Funktion einer bloß logischen Auslegung, weil der Richter beim Urteilen notgedrungen auch zu bewerten und zu wollen hat. Aus dieser Psychologie der Rechtsanwendung (Seite 32 und 116) will RUMPF eine Theorie der Rechtsanwendung hernehmen.

Ich möchte vor allem die Gegenüberstellung der logischen und der wertenden Denktätigkeit bemängeln und möchte lieber von Wahrheits- und Sittlichkeitswerturteilen sprechen. Ich will jedoch auf diese Frage hier nicht näher eingehen, sondern mich darauf beschränken, daß der ganze Gedankengang RUMPFs auf einer mangelnden Analyse der Sittlichkeitswertung und auf einer ganz falschen Auffassung des Verhältnisses der Wahrheits- und Sittlichkeitswerte zueinander beruth.

RUMPF bezeichnet nämlich die Feststellungen gesetzlicher sittlicher Wertungen und die Subsumtion konkreter Fälle unter solche, wie auch die "persönlichen" sittlichen Wertungen des Richters mit dem Ausdruck "Werten" und stellt beide gleichermaßen in einen Gegensatz zur rein logischen Funktion des Richters. Jedoch sehr mit Unrecht. Denn die Feststellung gesetzlicher sittlicher Wertungen und die Subsumtion eines Falles unter eine solche ist gar keine sittliche Wertung, sondern eine rein logische Funktion. In diesen Fällen kommt der Richter gar nicht aus der rein logischen Tätigkeit heraus.

Eine sittliche Wertung hätte der Richter nur dann vorzunehmen, wenn das Recht zu ihm spräche: Urteile so, wie du, Richter, es für richtig hältst. Sobald ihm aber auch nur indirekt gesagt wird, welchen Maßstab der Richtigkeit er anlegen soll, sobald dies also ihm nicht selbst überlassen wird, liegt von seiner Seite keine sittliche Wertung mehr vor.

Wenn z. B. nach BGB § 242 die geschuldete Leistung vom Schuldner in der Weise zu bewirken ist, "wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern", so beansprucht sowohl die Feststellung dessen, was Verkehrssitte sei, wie auch die Feststellung dessen, was unter Treu und Glauben zu verstehen ist (die sittliche Wertung des Rechts!), wie schließlich die Beurteilung des vorliegenden Falles nach  dieser  Wertung noch immer bloß die logische Tätigkeit des Richters. Die Feststellung dessen, ob etwas dem sittlichen Maßstab  anderer  entspricht, ist bloß die Feststellung einer Tatsache, also kein sittliches Urteil. Ebenso wie die Feststellung dessen seitens eines Historikers, ob etwas zu einer bestimmten Zeit in Rom für sittlich oder für unsittlich angesehen wurde, kein sittliches Urteil ist. (11)

Daß die Feststellung des durch die "Rechtsethik" gemeinten Wertes seitens des Richters nicht selbst ein Werten ist, wird gewöhnlich durch den Umstand verdunkelt, daß die sittlichen Wertungen des Richters jenen der Rechtsethik konform sind. Ist dem aber so, so gelangt der Richter durch sein persönliches Werten zu genau demselben Ergebnis, zu dem er durch eine logische Feststellung dessen gelangen müßte, welche Konsequenzen aus der "Rechtsethik" für den konkreten Fall folgen.

Um dies ganz klar einzusehen, brauchen wir uns bloß einen Fall vorzustellen, in dem sich das Sittlichkeitsprinzip, dem der Richter persönlich anhängt, mit dem Sittlichkeitsprinzip, das in den Wertungen des Rechts zum Ausdruck kommt,  nicht  deckt. In diesem Fall ist es evident, daß die Anwendung der Rechtsethik auf konkrete Umstände für den Richter keine (sittliche) Wertung, sondern nichts als eine logische Tätigkeit sein wird.

Es sind also das Durchführen der Rechtsethik und das sittliche Werten des Richters streng zu unterscheiden. Das letztere kann in der Rechtsanwendung nur dort Platz greifen, wo sich der Richter um sittliche Werte des Rechts nicht zu kümmern hat.

Nun möchte ich aber bestreiten, daß in den Fällen, wo die Gesetze von Treu und Glauben, von guten Sitten, von Sittlichkeit etc. sprechen, das  Werten  des  Richters  gemeint ist. Es ließe sich sehr leicht zeigen, daß alle derartigen Wendungen bestimmte sittliche Werte vor Augen haben und daß sie den Richter an diese binden. Doch hätte eine solche Untersuchung an dieser Stelle keine Bedeutung, da es ja immerhin denkbar bleibt, daß ein Gesetz eine Entscheidung gerade durch das richterliche Werten oder gar Wollen getroffen wissen wollte.

Wie stünde es nun in einem solchen Fall?

Hierüber ist zu bemerken, daß das eigene sittliche Werten und gar das Wollen des Richters allerdings von seiner logischen Tätigkeit verschiedene psychische Funktionen sind, daß aber diese Funktionen nicht notwendige Bestandteile jedes richterlichen Urteils bilden, sondern daß es nur vom Inhalt des Rechts abhängt, inwiefern der Richter beim Urteilen nur logische Funktionen und inwiefern er außer diesen noch eigene sittliche Wertungen oder gar noch Wollungen auszuführen hat. Wenn die Ausführungen RUMPFs nur den Sinn haben sollen:  Falls  das Recht dem Richter außer der logischen Tätigkeit auch noch ein sittliches Werten oder gar ein bloßes Wollen befiehlt, so hat er dieselben auch durchzuführen, - so ist dagegen nichts einzuwenden. Sodann ließe sich aber aus diesen eben erst  durch  das Recht befohlenen Tätigkeiten keine Freiheit des Richters  gegenüber dem Recht  herleiten.

Es kann ja sehr wohl ein Recht geben, das ein Werten oder ein Wollen des Richters streng verbietet. Es gehört also zur Frage nach dem positiv-rechtlichen Gesetzesinhalt, nicht zu einer Psychologie des Urteilens, ob ein sittliches Werten und ein Wollen zur logischen Tätigkeit des Richters hinzuzukommen hat oder nicht.

Ob wir aufgrund einer "näheren Untersuchung der bei der Rechtsanwendung wirksam werdenden psychologischen Faktoren" zu dem Ergebnis gelangen wie RUMPF (a. a. O., Seite 116), daß "die Psychologie der Rechtsanwendung neben der rein logischen Funktion des Richters auch ein sittliches Werten und ein Wollen umfaßt", das kommt ganz darauf an, ob wir unsere Untersuchungen bei solchen Richtern anstellen, die unter der Herrschaft eines Rechtes stehen, welches ihnen ein sittliches Werten und ein Wollen bei der Rechtsanwendung vorschreibt oder nicht.

Denn falls wir unsere Untersuchungen auf dem Gebiet eines Rechts anstellen, welches ein Werten und ein Wollen des Richters im Rahmen der Rechtsanwendung direkt verbietet, so würde sich die aus einer solchen Untersuchung sich ergebende "Psychologie der Rechtsanwendung" jedenfalls ganz anders gestalten. Es führt also nicht zur Lösung unseres Problems, zu untersuchen, wie sich die Richter irgendwo bei der Rechtsanwendung psychisch verhalten, sondern, wenn man über den allgemeinsten Obersatz, daß der Richter unbedingt durch das Recht gebunden ist, hinauskommen will, so muß man auf den diesbezüglichen Inhalt eines positiven Rechts oder auf bestimmten Umständen angepaßte rechtspolitische Forderungen eingehen. (12)

Wie schwankend und unklar die Ausführungen RUMPFs infolge der Unklarheit seiner Fragestellung werden, läßt sich auch noch aus folgendem ersehen:

Der Grundgedanke seiner Ausführungen ist, wie wir gesehen haben, daß das Verhältnis des Richters zum Recht aus einer Analyse der psychischen Faktoren der Auslegungstätigkeit zu ermitteln ist. Dagegen heißt es auf Seite 150, daß "es sich hier letzten Endes um Glaubensfragen" handelt, und daß auf die Frage, "Wie es denn kommt, daß der Richter, der doch geschworen hat, nach den bestehenden Gesetzen zu urteilen, die bestehenden Gesetz mitunter durch Nichtanwendung oder gar Abänderung beiseite schieben darf?" - nur die Antwort gäbe: "Diese eigenartige, bald untergeordnete, bald sehr selbständige Stellung des Richters zum Gesetz sei seit Urzeiten so vorhanden gewesen, und das Rechtsleben habe eine Belastung mit zwar äußerlich gesetzestreuen, aber offenbar "unvernünftigen" Entscheidungen über ein gewisses, allgemeingültig nicht bestimmbares Maß hinaus nicht vertragen."

Nun ist aber eine solche Beantwortung der Frage erstens keine Ableitung der Stellung des Richters zum Gesetz aus der Psychologie des Urteils mehr, und zweitens ist eine solche Beantwortung der Frage auch keine Berufung auf einen Glauben, sondern die Berufung darauf, daß etwas "seit Urzeiten so vorhanden gewesen ist", also Berufung auf ein Gewohnheitsrecht, bzw. darauf, daß etwas "vernünftig" ist, was wiederum bereits die Richtigkeit der fraglichen Regelung angeht.

Wir haben hier ein wahres Prachtexemplar eine Vermengung der drei möglichen Fragestellungen vor uns.

Diesen Unklarheiten können wir nur entgehen, wenn wir erstens die hergebrachte Lehre von der prinzipiellen Unterordnung des Richters unter das Recht als den einzigen Satz, der sich diesbezüglich dogmatisch aufstellen läßt, aufrechterhalten, und wenn wir zweitens alle speziellen Angaben darüber, wie sich die richterliche Auslegungstätigkeit bei einer Festhaltung dieses generellen Satzes im einzelnen gestaltet, entweder aus dem Inhalt eines gegebenen positiven Rechts zusammenstellen oder aber als rechtspolitische Forderungen eines bestimmten Kulturstandes erheben. Es muß für jedes positive Recht die in demselben enthaltene spezielle Interpretationslehre - natürlich mit Berücksichtigung auch eines eventuelle vorhandenen diesbezüglichen Gewohnheitsrechts - herausgearbeitet werden, und es darf nicht aus den Augen verloren werden, daß Auslegungsregeln immer nur als Bestandteile irgendeines positiven Rechts einen vernünftigen Sinn haben können. Andererseits kann von gegebenen Wertmaßstäben aus und für besondere Umstände eine bestimmte Regelung der richterlichen Auslegungstätigkeit als richtiges Recht gefordert werden. Das Gemeinsame all dieser speziellen Auslegungsregeln, sowie dieser speziellen Forderungen kann aber immer nur das Prinzip sein, daß der Richter dem Recht untergeordnet ist.

Die hergebrachte Pandektenlehre über die Interpretation mochte das positive Recht, das sie wiedergeben wollte, in mancher Hinsicht nicht richtig oder nicht vollständig berücksichtigt haben, aber ihr Grundsatz war jedenfalls richtig. Die Kritik der Lehre mag das bestehende Recht im einzelnen besser zum Ausdruck bringen, oder sie mag eine rechtspolitische Bedeutung haben, doch dürfte sie nicht verkennen, daß auch sie den Grundsatz der alten Lehre unbedingt anerkennen muß, und dürfte mithin nicht auch noch das verkennen, in welchem Sinn der Fragestellung ihr eine Bedeutung zukommt.
LITERATUR Felix Somló, Die Anwendung des Rechts, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 38, Wien 1911
    Anmerkungen
    1) Es kann folglich nicht genügen, wenn die "juristische" Festsetzung der Natur der Gesetzesauslegung, oder die "realjuristische" Begründung einer rechtsbildenden Gesetzesanwendung als das Problem bezeichnet wird, welches es hier zu lösen gibt (G. KISS, Gesetzesauslegung und ungeschriebenes Recht, in JHERINGs Jahrbücher, Bd. 58, NF Bd. 22, 1911, Seite 418). Es sind eben ganz verschieden geartete juristische Fragestellungen möglich.
    2) BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, Seite 373f. Ferner: BORNHACK und BRINZ, zitiert bei BERGBOHM. Hingegen ist die Theorie BERGBOHMs, die er bei dieser Gelegenheit über den "rechtsleeren Raum" aufstellt, falsch (ebd. Seite 375f).
    3) In Bezug auf die Theorie der Rechtslücken finden sich in der Literatur sehr viele Unklarheiten. Unklar ist diesbezüglich auch BRIE in seiner sonst manches Richtige enthaltenden Untersuchung über  Billigkeit und Recht  (Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. III, Seite 532): "Die in neuester zeit vielfach aufgestellte Behauptung, daß unsere Rechtsordnungen und insbesondere auch unsere moderne Kodifikation, trotz ihrer regelmäßigen Tendenz vollständiger Regelung des betreffenden Rechtsteils, Lücken übrig lassen, so daß nicht für jeden vorkommenden Rechtsfall aus dem bestehenden Recht eine Entscheidung entnommen werden kann, muß als zutreffend anerkannt werden." Noch unklarer ist es, wenn DÜRINGER ("Richter und Rechtsprechung", Leipzig 1909, Seite 9) die Behauptung aufstellt: "Es ist ein unbestreitbares Verdienst eine GENY, EHRLICH und anderer, das  Dogma von der Vollkommenheit und Lückenlosigkeit  des Gesetzes gründlich widerlegt zu haben." Vom Gesichtspunkt der Kritik aus bestand dieses Dogma doch lange nicht mehr, und daß es auch von einem  anderen  Gesichtspunkt aus eine Unvollkommenheit oder eine Lückenhaftigkeit geben kann, haben natürlich auch GENY und EHRLICH  nicht  gezeigt. - Die im Text geforderten Unterscheidungen unterläßt auch EHRLICH ("Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft", Leipzig 1903, Seite 17: "Keine Theorie der Rechtsanwendung wird sich darüber hinwegzusetzen vermögen, daß jedes System festgelegter Rechtsregeln seiner Natur nach lückenhaft ist, daß es eigentlich schon in dem Augenblick veraltet war, da es festgelegt worden ist." Daraus, daß das bestehende Recht nach seiner Ansicht notwendigerweise unrichtig ist, schließt er, daß es auch unanwendbar ist. - - - Der dogmatischen Definition der echten Rechtslücken ZITELMANNs schließt sich an einer Stelle auch BRÜTT an ("Die Kunst der Rechtsanwendung", Berlin 1907, Seite 74): "Von einer objektiv vorhandenen Lücke kann nur dann die Rede sein, wenn das Recht keine Antwort auf die Frage gibt, ob und eventuell welche Rechtsfolge sich an einen bestimmten Tatbestand, Zustand oder Handlung anschließt." Wenn das Recht keine Rechtsfolge an einen Tatbestand knüpft, so ist eben dieser Umstand rechtlich festgesetzt, und nur wenn ich ihn mißbillige, unrichtig finde, kann ich von einer Lücke sprechen.
    4) HANS REICHEL, im "Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie", Bd. III, Seite 535 und G. KISS, ebd. Seite 545 - 547, machen von dieser Begründung ebenfalls Gebrauch.
    5) Eine der hauptsächlichen Belegstellen für diesen Ausgangspunkt RUMPFs findet sich Seite 41 seiner bereits zitierten Arbeit: "Mit der Einführung von Überlegungen in die Auslegung, in denen der "Grund des Gesetzes" eine Rolle spielt, ist die reine Logik verlassen und das Reich der Werte betreten. Freilich, die Erforschung des Reichs der Werte setzt wieder Denkarbeit voraus, aber nicht mehr ein Denken ohne Werten, ein Beurteilen, kein reines Urteilen mehr."
    6) RUMPF, a. a. O., Seite 51: "Auch wenn der rechtsanwendende Richter das reine Denken aufgibt und zu werten beginnt, arbeitet er weiter mit dem Verstand, nur daß der Verstand von jetzt an immer orientiert bleibt an der die erste große Bewertung des Richters einschließenden Grundanschauung, daß das objektive Recht als ein Sollens-, Willens- und Zweckzusammenhang das Rechtsleben zu ordnen hat und daß der einzelne auszulegende Rechtssatz an seinem Teil diesem Ziel mittelbar oder unmittelbar zu dienen hat."
    7) RUMPF, a. a. O. Seite 60 - 61: "Freilich kommt der Richter, mag er auch den besten Willen haben, nach der Rechtsethik, die sich aus dem Gesetz ergibt, nicht nach seiner eigenen zu entscheiden, gerade beim § 826 selten um eine mehr persönliche Wertung herum. Die Ethik des Gesetzes ist gerade hier höchst rissig und keineswegs aus einem Guß."
    8) RUMPF, a. a. O., Seite 92: "Das Gesetz kann dem Richter alles Werten abnehmen oder einen Teil davon, oder es kann auf eigenes detaillierts Werten ganz verzichten und sozusagen nur einen Wertrahmen, ein Wertblankett [Blankoschein - wp] hergeben, innerhalb dessen der Empfänger der Anordnung selbst zu werten hat."
    9) RUMPF, a. a. O., Seite 102 - 103 und 110: "Es ist nur ganz vereinzelt und noch nie ausführlich dargelegt worden, daß der Grund, der  schlechthin  die Erlangung von gänzlich allgemeingültigen Entscheidungen ausschließt, in den häufig nötigen schwierigen richterlichen Wertungen und Willensentscheidungen liegt."
    10) siehe RUMPF, a. a. O., "Vorwort"
    11) Es ist bereits von G. KISS richtig erkannt worden (a. a. O., Seite 471), daß die sogenannten Wertbegriffe des Rechts "einen stillschweigenden Hinweis auf außerhalb des Gesetzes stehende Normen enthalten."
    12) RUMPF möchte aus dem hier entwickelten Gedankengang auch noch zu der weiteren Konsequenz gelangen, daß "die Urteile des Richters in schwierigen Fällen keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können" (Seite 102) und daß "das ein schlechter Jurist ist, der an die unbezweifelbare Richtigkeit aller seiner Entscheidungen glaubt" (Seite 106). - - - Diesen Behauptungen kann jedoch keine Bedeutung zukommen, da sich RUMPF nicht an eine nähere Feststellung dessen gewagt hat, was unter "Allgemeingültigkeit" zu verstehen ist, obwohl er fühlt, daß diesbezüglich Schwierigkeiten vorhanden sind. ("Wir werden uns hüten, an die Frage zu rühren, ob alle diese Ausdrücke  allgemeingültig, gewiß  (evident),  wahr, notwendig, begründet  vollkommen gleichbedeutend sind." Nach manchen Wendungen scheint es, als ob RUMPF das Kriterium der Allgemeingültigkeit eines Urteils in der faktischen Unmöglichkeit verschiedener Meinungen erblicken würde. Dieses Kriterium wird zugrunde gelegt, wenn er in den sich widersprechenden Entscheidungen der verschiedenen richterlichen Instanzen einen Beweis dafür sieht, daß den richterlichen Urteilen keine Allgemeingültigkeit zukommen kann. Die Möglichkeit des Irrtums sollte also die Unmöglichkeit der Wahrheit beweisen, wogegen es doch klar ist, daß nur die Notwendigkeit des Irrtums der Unmöglichkeit der Wahrheit gleich käme. Daraus, daß der Richter irren  kann,  folgt noch nicht, daß er irren  muß.