ra-2E. EhrlichF. AdickesA. MerklG. Beseler    
 
ERNST ZITELMANN
Lücken im Recht

"Das Gesetz, hat, so sagt man, Lücken. Und als Erklärung dieser unerfreulichen Tatsache wird immer nur mit einem kleinen Seufzer der Entsagung die Armut des theoretischen Denkens gegenüber dem Reichtum der Wirklichkeit angeführt: niemals wird es gelingen, die unerschöpfliche Fülle des wirklichen Lebens mit all den Rechtsfragen, die es darbietet, in die engen Paragraphen eines Gesetzbuches einzufangen; immer aufs Neue bringt das Leben Fälle hervor, an die kein Gesetzgeber vorher hat denken können."

"Jeder Blick auf unsere Gesetze belehrt, daß sie in unzähligen Fällen die rechtliche Folge nur im allgemeinen bestimmen und die nähere Bestimmung und Abmessung dem Richter für den Einzelfall anheimstellen. Man denke nur an den Strafrahmen: das Gesetz bedroht z. B. den gewöhnlichen Diebstahl mit Gefängnis; da die Gefängnisstrafe aber von einem Tag bis zu fünf Jahren dauern kann, so sind das 1826 Strafmöglichkeiten: welche soll der Richter wählen? Das Gesetz enthält also nicht, wie der Nichtjurist das so vielfach glaubt, feste Entscheidungen der Fälle, so daß der Richter nur ein juristischer Automat wäre - man steckt den Fall hinein und zieht eine Entscheidung heraus -, sondern es verlangt eine selbständige Auswertung durch den Richter."


Hochgeehrte Herren!

An unserem Gesetzbuch ist mehr als zwanzig Jahre mit rastlosem Eifer und unermüdlicher Sorgfalt gearbeitet worden - und doch hört man oft genug, und die Verfasser haben das auch selbst vorhergesagt, es fänden sich auch in diesem Gesetzbuch wie in jedem anderen  Lücken.  Und zwar Lücken nicht bloß in dem Sinn, daß man von irgendeinem Beurteilungsstandpunkt aus gesetzgeberisch einen Satz im geltenden Recht vermißt und eingeführt sehen möchte - das würde sich leicht begreifen lassen: wann hätte je ein Werk jedermann gleichermaßen zufrieden gestellt? und nun gar ein Gesetzeswerk, das doch immer aus harten Interessengegensätzen heraus geschaffen ist! -; nein, gemeint sind Lücken für die Rechtsanwendung, in dem Sinne also, daß das positive Recht für einen vorgelegten Fall keine Entscheidung gewährt, daß die Antwort auf eine bestimmte Frage aus ihm nicht zu entnehmen ist. In diesem Sinne ist dann auch die Lehre von den Lücken des positiven Rechts ein eiserner Bestandteil unserer Lehrbücher geworden: gelehrt wird,  jedes  Recht habe Lücken, und müsse sie - so pflegt man mit einer bei Juristen fast befremdlichen Bescheidenheit hinzuzusetzen - in Anbetracht des unvollkommenen Maßes irdischer Kräfte, haben. Da aber eine Entscheidung doch gefunden werden müsse, da insbesondere der Richter die Entscheidung nicht ablehnen darf, so muß mit Hilfe der Rechtswissenschaft die Lücke ausgefüllt werden.

Hierin liegen zwei Probleme. Das eine lautet: was sind Lücken? das andere: wie werden sie ausgefüllt? In Bezug auf diese zweite Frage wird allgemein gelehrt, die Ausfüllung muß nach der Analogie vorhandener Gesetzesbestimmungen oder in Ermangelung solcher nach der Analogie oder, wie andere sagen, nach dem Geist der gesamten Rechtsordnung - übrigens einem der Geister, die bei den meisten Beschwörern nicht zu erscheinen pflegen. Aber was denn das Wesen dieser Analogiebeziehungen und der weiteren geistigen Prozesse ist, die der Richter hierbei vorzunehmen hat, darüber ist man keineswegs einig. Diese Frage wird gerade in neuerer Zeit auf das lebhafteste verhandelt und verdient auch in vollem Maß das Interesse, das ihr gewidmet wird. Kommt man hier doch offenbar an zentrale Punkte des juristischen Bereiches: das Verhältnis zwischen Recht und Richter, zwischen Gesetz und Recht, zwischen Zwang und Freiheit, zwischen positivem Recht und Naturrecht wird hier zum Problem.

Aber ich will die Brandung von Meinungsäußerungen über all das nicht noch vermehren, will vielmehr die andere Frage nach dem  Wesen der Lücken  einer kurzen Erörterung unterziehen: gibt es wirklich Lücken im wahrsten Sinne des Wortes? oder, da die Wirklichkeit der Erscheinungen, bei denen man von Lücken spricht, außer Zweifel steht: was sind denn diese Lücken? in welchem Sinn sind sie Lücken, und darf man sie überhaupt so nennen? Diese Frage ist die frühere: ihre Beantwortung muß, das läßt sich doch wohl von vornherein annehmen, Einfluß haben auf die Beantwortung jener ersten vielbesprochenen Frage nach dem Wesen der Lücken ausfüllung  - und doch ist sie merkwürdigerweise so gut wie gar nicht behandelt. Man weiß ja, wie seltsam das geht: dicht neben einem von allen Reisenden besuchten Gebiet en anderes ebenso lohnendes, das doch ganz einsam, geradezu in Vergessenheit daliegt. So ist es mit der Frage nach dem Wesen der Rechtslücken: fast jeder eilte und eilt daran vorüber. Nur wenige haben dieses unbekannte Land betreten. Etwa der erste, der kam, war BRINZ, dieser ausgezeichnete, immer abseits der großen Heerstraße eigene Wege suchende Denker: aber er streifte doch nur ganz flüchtig einmal hindurch, und kaum jemand folgte ihm auf seinem Weg. (1)

Von einer anderen Seite her drang BERGBOHM,  unser   BERGBOHM ein (2): auf der unermüdlichen Jagd, mit der er das Naturrecht verfolgte und in allen seinen Schlupfwinkeln aufspürte, kam er auch auf dieses Gebiet und lernte es wenigstens zum Teil kennen. Aber auch er fand kaum Nachfolge: im Ganzen dauert die Stille immer noch an.

Indem ich Sie zu einem Ausflug hierher einlade, will ich zuerst das zu durchstreifende Fragegebiet enger abgrenzen: der gesamte Bezirk der Frage ist größer als er zunächst erscheint. Es sollen alle die Fälle beiseite bleiben, wo das Gesetz ganze Bereiche von Lebenstatsachen außerhalb seiner Ordnung beläßt, wo es sich also gar nicht die Aufgabe stellt, ordnend einzugreifen, mag es diese Beschränkung üben, weil eine andere rechtschaffende Gewalt dieser Aufgabe genügen soll - so überläßt das deutsche Reichsrecht gewisse Gebiete, wie z. B. das Gesinderecht, der Landesgesetzgebung (3) -, oder weil der Gesetzgeber sich einstweilen zur abschließenden Regelung dieses Tatsachenbereichs noch nicht reif genug fühlt - so sehen wir z. B. immer noch einem privatrechtlichen Versicherungsgesetz entgegen -, oder endlich weil die notwendige Ordnung dieser Tatsachen anderen Mächten überlassen werden soll - glücklicherweise ist das Recht mit seinen Drohungen und Verheißungen ja nicht die einzige und nicht einmal die einflußreichste der Mächte, die das menschliche Tun regieren: man denke nur an Religion, Ethik, Sitte, an die Gesetze der Liebe und des ästhetisch Schönen, und schließlich an die Ordnungen des Verhaltens, die sich der verständige Egoismus des Einzelnen selber findet. Wie weit der Staat durch Gesetze eingreifen, wie weit er die nötigen Ordnungen diesen anderen Mächten überlassen soll, das gerade ist die wichtigste Frage, die es für die Gesetzgebungspolitik überhaupt gibt (4).

Nein, all das mag hier und heute beiseite bleiben. Ich will nur von den Fällen sprechen, wo das Gesetz innerhalb der Aufgaben, die es sich selbst gestellt hat, Lücken läßt, also von Lücken innerhalb des Rechts, nicht von den Grenzen, die sich die Rechtsordnung selbst zieht. Daß sogar auf diesem engeren Gebiet Lücken für die Rechtsanwendung unvermeidlich vorkommen, das ist anerkannt, aber nicht erfreulich. Es ist anerkannt: nur scheinbar bestehen hier Meinungsverschiedenheiten. Wenn nämlich, was allerdings richtig ist, der Richter jede Lücke ausfüllen muß, und wenn das, womit sie ausgefüllt wird, notwendig ebenfalls wieder Recht ist, so kann man auch sagen - und einige sagen so -, das  Recht  sei ein lückenloses Ganzes, nur das Gesetz habe Lücken. Das ist offenbar nicht viel mehr als ein Ausdrucksstreit: stellt man sich auf den Standpunkt  vor  einer Ausfüllung der Lücken, denkt man also das Recht so, wie es hier zunächst erscheint, so wird man sagen, es habe Lücken; stellt man sich auf den Standpunkt nach Ausfüllung der Lücken, denkt man also an das Ergebnis, so wird man die Lücken leugnen (5). Ich nehme jedoch die vorsichtigere Wendung an: das Recht so, wie es zunächst erscheint, also kürzer das Gesetz, hat, so sagt man, Lücken. Und als Erklärung dieser unerfreulichen Tatsache wird immer nur mit einem kleinen Seufzer der Entsagung die Armut des theoretischen Denkens gegenüber dem Reichtum der Wirklichkeit angeführt: niemals wird es gelingen, die unerschöpfliche Fülle des wirklichen Lebens mit all den Rechtsfragen, die es darbietet, in die engen Paragraphen eines Gesetzbuches einzufangen; immer aufs Neue bringt das Leben Fälle hervor, an die kein Gesetzgeber vorher hat denken können. Und hier hat dann eben die richterliche Tätigkeit der Analogiebeziehung einzutreten. Ich verdeutliche das Gesagte wohl am besten dadurch, daß ich einige Fälle anführe, in denen die herrschende Lehre zweifellos von Lücken sprechen wird.

Unser früheres Handelsgesetzbuch stellte ,wie auch das jetzige, den Vertragsschluß unter Anwesenden und den unter Abwesenden unter verschiedene Regeln - sehr vernünftigerweise: insbesondere gilt ein Vertragsantrag unter Anwesenden als abgelehnt, wenn er nicht sofort angenommen wird, während unter Abwesenden eine gewisse Frist gegeben ist. Nun kam das Telefon auf; das alte Handelsgesetzbuch hatte diesen Fall nicht bedenken können - das war also eine Lücke: man füllte sie aus, indem man den durch Fernsprecher von Person zu Person gemachten Vertragsantrag analog dem unter  An wesenden gemachten behandelte. Dies ist jetzt auch ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmt worden (6).

Oder ein strafrechtlicher Fall. Ein entlassener Gutsverwalter hatte einen Knecht dazu angestiftet, die Scheune des Gutsherrn in Brand zu setzen; der Knecht hatte das Feuer auch angelegt, aber bevor noch der Brand entdeckt und weiterer Schaden entstanden war, hatte der Verwalter, von Angst und Reue getrieben, den Brand selbst gelöscht - ein Fall der sogenanten tätigen Reue. Unser Strafgesetzbuch läßt, wenn der Täter selbst derartig handelt, Straflosigkeit eintreten. Wohl vergessen ist aber im Strafgesetzbuch der Fall, daß der  Anstifter - dem ja ebenfalls eine schwere Zuchthausstrafe angedroht ist - tätige Reue erweist. Diese Lücke füllt unsere Rechtsprechung aus, indem sie die für den Täter selbst geltende Bestimmung auf den Anstifter ausdehnt.

Anders geschieht die Lückenausfüllung in folgendem Fall. Unser Bürgerliches Gesetzbuch erlaubt es, daß man Rechtsgeschäfte unter einer Bedingung, d. h. auf einen bestimmten Fall hin, abschließt; jemand kann z. B. ein Haus in Bonn unter der Bedingung kaufen, daß die Verhandlungen über seine Berufung hierher zu einem günstigen Ende führten. Nun hatte ein Hauswirt pünktlich zum 1. Oktober seinem Mieter einen Brief geschrieben, er müsse ihm hiermit zum 1. Januar die Wohnung kündigen, freilich kündige er nur für den Fall und unter der Bedingung, daß sein Schwiegersohn hierher versetzt wird, worüber soeben verhandelt wird: er wolle den Schwiegersohn dann bei sich wohnen haben. Es handelte sich um die Gültigkeit einer Kündigung: entschieden worden ist, im Gesetzbuch stehe zwar nichts darüber, ob auch die Kündigung unter einer Bedingung geschehen kann; es sei jedoch Ungültigkeit anzunehmen, denn die Kündigung sei dazu da, dem Mieter einen Zeitraum zu lassen, um für sein anderweitiges Unterkommen zu sorgen: bei einer bloß bedingten Kündigung wisse der Mieter aber nicht, woran er sei - eine gewiß weise und zu billigende Entscheidung.

Weniger sicher ist folgende Entscheidung. Eine der Grundlehren unseres Rechts ist die, daß jeder den von ihm erlittenen Schaden allein zu tragen hat; nur wenn ein anderer ihn vorsätzlich oder fahrlässig herbeiführt, muß dieser ihn ersetzen. Wenn jemand in einem Restaurant oder Konzert sitzt und ein Dieb bestiehlt ihn und entwischt, so kann er den Restaurateur oder Konzertveranstalter nicht haftbar machen: dieser ist ohne Schuld an dem Diebstahl. Hier ist aber vor etwa zweitausend Jahren in Rom die Bestimmung getroffen worden, daß die Gastwirte für allen Schaden, den die zur Beherbergung aufgenommenen Gäste an ihren eingebrachten Sachen erleiden, aufkommen müssen, auch wenn sie selbst ganz schuldlos sind. Die modernen Gesetzgebungen, auch unser Bürgerliches Gesetzbuch, haben diesen Satz als erprobt beibehalten. Neulich ist nun ein Reisender in einem Schlafwagen der Eisenbahn während der Fahrt bestohlen worden. Der römische Prätor hat an Eisenbahnschlafwagen wahrscheinlich noch nicht gedacht, und auch die modernen Gesetze sagen über diesen Fall nichts: wie ist diese Lücke, wie man sie nennt, auszufüllen? Mehrere Gerichte und Schriftsteller haben sich dafür erklärt, die Analogie der Haftung der Gasthofswirte sei herbeizuziehen; die Schlafwagengesellschaft müsse gleich dem Gastwirt haften: der Schlafwagen sei wie ein auf Rädern laufendes Hotel zu betrachten: Andere lehnen diese Analogie ab (7), ich selbst würde sie billigen.

Ein weiteres Beispiel. Zu den wichtigsten Fragen des Kaufrechts gehört die nach der Gefahr: wenn die verkaufte Sache nach dem Verkauf, aber vor der Übergabe durch reinen Zufall zugrunde geht, muß dann der Käufer doch den Preis zahlen, so daß ihn dann die Gefahr trifft, oder nicht? Unser Gesetzbuch entscheidet, die Gefahr trifft den Käufer erst von der Übergabe ab; nur wo er sich die Ware von einem anderen Ort zusenden läßt, soll ihn die Gefahr bereits von der Absendung an treffen, er trägt dann also die Gefahr schon während der Beförderung. Nun kauft jemand hier in der Stadt einen Spiegel und läßt ihn sich von Bonn-Nord an sein Haus in Bonn-Süd senden, unterwegs wird der Spiegel ohne die Schuld dessen, der ihn trägt, etwa durch den Steinwurf eines Jungen, der dann unerkannt entkommt, zertrümmert: wer trägt hier die Gefahr? Den Fall einer Versendung innerhalb einer Stadt behandelt das Gesetz nicht. Bei einer Versendung von Bonn-Süd nach Godesberg würde der Käufer die Gefahr tragen - soll er sie etwa weniger tragen bei dieser vielleicht ebenso langen Strecke innerhalb Bonns? Die Schrifsteller sind indessen verschiedener Meinung; das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg hat sich neulich  für  die Analogie erklärt und läßt den Käufer die Gefahr tragen (8); ich selbst trete dieser Entscheidung bei. Nach einer anderen Richtung hin interessiert ein letztes Beispiel. Das römische Recht, das ja in Deutschland bis 1900 galt, gab dem Eigentümer bei Sachbeschädigungen einen bestimmten weitgehenden Schadensersatzanspruch gegen den Täter. Nun mehen Sie folgenden Fall: Bei einer Seefahrt will sich jemand an Bord Wein in einen Becher einschenken; ein anderer stößt ihn an, so daß der Becher, was beabsichtigt war, hinfällt und zerbricht - unzweifelhafte Sachbeschädigung. Wie aber, so fragt der römische Jurist, wenn der Becher sanft ins Wasser rollt - immer Vorsatz des Täters vorausgesetzt? Für den Eigentümer ist der Becher hier verloren, aber er ist als solcher heil geblieben. Vielleicht hat in diesem Augenblick bereits ein langhaariger Tritone ihn aufgefischt und der von ihm heiß und heimlich verehrten  Nereide  zum Geschenk gebracht. Also zerstört oder beschädigt ist der Becher nicht. Das ältere römische Recht scheute demnach, hier die Ersatzfolge eintreten zu lassen; man empfand dies aber als eine Lücke und füllte diese später aus, indem man die Tat nach Analogie einer wirklichen Sachbeschädigung beurteilte.

Indessen gerade dieser letzte Fall erweckt Bedenken und leitet damit zu neuen Gedankengängen hinüber, sobald wir ihn von seiner strafrechtlichen Seite ansehen. Das Strafgesetzbuch bedroht mit Strafe den, der vorsätzlich eine fremde Sache beschädigt oder zerstört. Auch bei der Fassung dieses Satzes war wohl an jene anderen Fälle der Entziehung von Sachgütern nicht gedacht worden; es ist also eine Lücke da. Anerkanntermaßen darf nun der Strafrichter eine Strafe nur verhängen, wenn sie vorher im Gesetz angedroht ist, Analogie ist mithin ausgeschlossen. Daraus folgt mit Notwendigkeit: wenn der Becher, ohne zu zerbrechen, ins Meer versunken ist, so kann der Täter wegen Sachbeschädigung  nicht bestraft  werden (9). Eine derartige Entscheidung pflegt besonders bei Nichtjuristen ein starkes Kopfschütteln hervorzurufen, weil sie rein formalistisch, lediglich einer Buchstabenjurisprudenz entflossen zu sein scheint. Ein älterer würdiger Jurist (10), der die Ausschließung der Analogie auch lebhaft mißbilligt, führt als abschreckendes Beispiel an, in England, wo die Analogiebeziehung ebenfalls nicht gestattet ist, kann, da das englische Gesetz nur die  Doppelehe verbietet, denjenigen, welcher - so sagt der Verfasser entrüstet -  "Drei Weiber heiratet, keine Strafe treffen".  Nun, die letztere Entscheidung billige ich ebensowenig wie die Tat selbst. Indessen bei diesem Gesetz ist ja schon durch bloße Auslegung zu helfen; es bedarf gar keiner Analogie. Was jedoch den Fall mit dem Becher betrifft, so möchte ich rasch nur ein erklärendes Wort einfügen. Niemand unter uns wird zweifeln, daß die eine Art der Entziehung der Sache gerade so gut Strafe verdient, wie die andere. Aber ist es denn so schlimm, daß auch einmal einer unbestraft bleibt, der Strafe verdient? es geht manch einer in Ehren und Würden umher, dem ich auch nicht als Freund und Bruder die Hand drücken möchte, ja dessen Bild ins Verbrecheralbum gehört. Denken Sie aber nur an politisch erregte Zeiten, und Sie können Sich leicht vorstellen, wie sehr Mißbrauch getrieben werden könnte, wenn die Gerichte über die vorhandenen Strafandrohungen hinaus neue durch analoge Weiterbildungen ersinnen dürften. Der Satz vom Ausschluß der Analogie bei Strafdrohungen ist eine Schutzwehr unserer bürgerlichen Freiheit: wir müssen an ihm festhalten, selbst wenn er einmal zu einem Ergebnis führt, das uns nicht gefällt (11).

Aber sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls ist der positive Satz, daß der Strafrichter in jenem Fall keine Analogie anwenden darf, unzweifelhaft; er darf daher auf erhobene Anklage hin den Täter nicht bestrafen. Wie also? wir haben hier, wie es hieß, eine Lücke; der Richter darf sie  nicht  durch Analogie ausfüllen und doch entscheidet er ohne jede Schwierigkeit - er erkennt eben, daß die Handlung straffrei ist, er spricht den Täter frei. Die Rechtsordnung gibt ihm also  doch  die Möglichkeit zu entscheiden: eine wahre Lücke kann mithin nicht vorhanden sein. Ebenso steht es aber mit der zivilrechtlichen Frage nach dem Schadensersatz; eine Lücke in dem Sinne, daß der Richter nach dem Gesetz eine Entscheidung nicht geben kann, ist  nicht  vorhanden: er kann ja erkennen, daß der Täter  nicht  zu Schadensersatz verpflichtet ist und bleibt damit bei dem Gesetz, das eine Schadensersatzpflicht eben nicht angeordnet hat.

Das ist ja doch die Sachlage - um es im Bild zu sagen -: Ein ganzes unermeßlich wogendes Meer möglicher Tatsachen, daraus heben sich als Inseln diejenigen heraus, an die das Gesetz die Entstehung einer Schadensersatzpflicht oder eines Rechts des Staates zu strafen, den Erwerb von Eigentum oder irgendeine sonstige juristische Folge geknüpft hat. Soweit die Insel nicht da ist, bleibt eben überall das freie Meer. Oder ohne dieses Bild gesprochen: soweit die Rechtsordnung an eine gewisse Tatsache diese bestimmte rechtliche Folge  nicht  geknüpft hat, kann sie auch nicht eintreten; ist es ja doch die Rechtsordnung allein, die der Tatsache die Kraft diese Folge zu erzeugen verleihen könnte. Man darf zwar nicht sagen, es existiere für jede dieser anderen wirkungslos gelassenen Tatsachen ein eigener Rechtssatz des Inhalts: diese Tatsache erzeugt kein Eigentum, keine Verpflichtung, kein Bestrafungsrecht; vereinzelt kommen solche ausdrücklichen verneinenden Sätze wirklich vor, aber es bedarf ihrer nicht, denn die Ausgangsfläche all unserer Beurteilung ist immer die, daß keine Wirkung eintritt, wenn sie nicht besonders angeordnet ist, insbesondere auch keine Ersatzpflicht, kein Recht zu strafen - glücklicherweise brauchen wir ja doch trotz der sich immer mehrenden Strafdrohungen noch nicht die pessimistische Anschauung zu haben, daß man für alles, was man tut, bestraft wird, sofern nicht ausnahmsweise Straffreiheit angeordnet ist! -: es bedarf eines Rechtssatzes, um die Wirkung eintreten zu lassen, keines, um sie zu verhindern. Läßt sich demnach nicht sagen, es existiere ein eigener Rechtssatz im eigentlichen Sinn des Wortes, der z. B. lautet "alle Handlungen sind, wenn nichts anderes bestimmt ist, straffrei", so ist das doch  Inhalt der Rechtsordnung;  nach dieser Erklärung ist kein Mißverständnis mehr zu fürchten, wenn man sagt: im Hintergrund aller besonderen Rechtssätze, die eine Handlung mit Strafe oder Schadensersatzpflicht bedrohen oder ihr sonst eine rechtliche Folge geben, steht immer als selbstverständlich und unausgesprochen der allgemeine negative Grundsatz, daß, von diesen besonderen Fällen abgesehen, alle Handlungen straffrei, ersatzfrei bleiben: jeder positive Satz, durch den eine Strafe, ein Schadensersatz angeordnet wird, ist in diesem Sinne eine Ausnahme von jenem allgemeinen negativen Grundsatz. Und daraus folgt: fehlt eine solche positive Ausnahme, so mag das von irgendeinem kritischen Standpunkt aus, von dem man eine solche Annahme wünscht, als Lücke bezeichnet werden, für die Rechtsanwendung aber ist es keine Lücke, denn der Richter kann immer jenen allgemeinen negativen Satz anwendend, erkennen, daß die behauptete rechtliche Wirkung nicht eingetreten, daß ein Recht auf Strafe, eine Pflicht zum Schadensersatz nicht entstanden ist. Will er trotzdem im gegebenen Fall den Schadensersatz zusprechen, weil er das für gerecht hält, so füllt er in Wahrheit nicht eine Lücke aus, sondern er  ändert jenen allgemeinen negativen Satz  für diesen Fall in sein Gegenteil um, er macht eine neue Ausnahme von ihm. Von den Strafdrohungen abgesehen darf er das; er wird leichter dazu kommen, wo für einen ihm verwandt erscheinenden Fall bereits eine Schadensersatzpflicht angeordnet ist, er wird diese Anordnung hier analog ausdehnen - um im vorigen Bild zu bleiben: wo einmal festes Land ist, da wächst leicht weiteres Land hinzu. Der jetzige feste Bestand des positiven Rechts hat sich vielfach derart durch  Anlandung  gebildet.

Noch energischer tritt all das in den anderen angeführten Beispielsfällen hervor: überall sind hier statt der vermeintlichen Lücken sogar ausdrücklich formulierte Rechtssätze, sei es bejahenden, sei es verneinenden Inhalts, vorhanden, die der Richter anwenden und mit denen er den Fall vollständig entscheiden könnte, nur Rechtssätze, die er bei den besonderen Eigentümlichkeiten des vorgelegten Falls für ungeeignet hält und deshalb nicht anwenden will; er füllt keine Lücke aus, sondern korrigiert am vorhandenen Recht, indem er für diese Art Fälle eine Ausnahme von jenem Satz macht.

Im Fall mit dem Schlafwagen ist der allgemeine Rechtssatz, daß jeder nur für den durch seine Schuld angerichteten, nicht auch für den sonstwie eingetretenen Schaden haftet, zweifellos ansich anwendbar; die Ausnahme mit dem Gasthof paßt nicht, denn ein Schlafwagen ist kein Gasthof. Man hält es aber für gerecht, ebenso wie für den Gasthof auf für den Schlafwagen eine Ausnahme von jenem allgemeinen Rechtssatz zu machen, man will jenen allgemeinen Satz also für diesen Fall ändern.

Ferner der Brandstiftungsfall. Der allgemeine Rechtssatz heißt: der Täter wird bestraft, sobald die Tat vollendet ist, gleichgültig ob er die Folgen der Tat nachher wieder gut macht oder nicht - ein Dieb bleibt strafbar, auch wenn er das Gestohlene zurückgebracht hat. Dieser allgemeine Satz paß ansich auch vollständig auf den Brandstifter und auf den, der den Brandstifter zur Tat angestiftet hat, eine wahre Lücke ist also nocht vorhanden. Für den Täter selbst existiert nun eine Ausnahme von dem Satz; man hält es für gerecht, den Satz durch eine zweite Ausnahme zugunsten dessen zu durchbrechen, der den Täter zur Inbrandsetzung angestiftet hat.

Ebenso im Fall der Kündigung. Nimmt man den allgemeinen Satz an, daß jedes Rechtsgeschäft bedingt abgeschlossen werden kann, so haben wir, da auch die Kündigung ein Rechtsgeschäft ist, eine klare Entscheidung für sie: man will wiederum nicht eine Lücke ausfüllen, sondern eine Ausnahme von diesem allgemeinen Satz machen.

Und schließlich bei Kauf des Spiegels: das Gesetzbuch spricht den Rechtssatz, daß der Verkäufer die Gefahr bis zur Übergabe der Sache trägt, ausdrücklich aus; dieser Satz paßt ansich vollständig auch auf den Fall der Versendung innerhalb eines Ortes: nicht eine Lücke soll ausgefüllt, sondern dieser allgemeine Satz soll für diesen besonderen Fall geändert werden.

Am eingreifendsten und deutlichsten ist die Rechtsänderung im Fall mit dem Telefon. Hier existiert ein positiver Satz, der Satz nämlich, daß Verträge unter Abwesenden so und so behandelt werden sollen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Verträge durch Fernsprecher zwischen Abwesenden geschlossen werden - der Berliner in Berlin, mit dem ich mich telefonisch von Bonn aus unterhalte, ist doch in Berlin und nicht in Bonn anwesend! -, eine Lücke ist also keineswegs vorhanden; aber freilich findet man die allgemeinen Sätze über Vertragsschluß unter Abwesenden gerade für diesen besonderen Fall ungeeignet, man möchte für diesen besonderen Fall des Vertragsschlussses unter Abwesenden die vom allgemeinen Rechtssatz angeordnete rechtliche Behandlung fallen lassen, und nicht bloß das, man möchte zugleich auch andere positive Regeln, die das Gesetz für andere Tatbestände kennt, in Anwendung bringen, nämlich die über den Vertragsschluß unter Anwesenden geltenden Regeln: daß man eine Änderung machen, nicht eine Lücke ausfüllen will, liegt klar zutage.

Also wieder dieses selbe seltsame Ergebnis wie bei dem Fall mit der Sachbeschädigung: der Richter kann sogar  positive  Rechtssätze für den von ihm zu entscheidenden Fall ändern! Natürlich darf er nicht beliebig einen Satz, den er für ungerecht hält, unangewendet lassen und durch irgendeinen anderen ersetzen; soweit geht seine Macht nicht; hierzu wäre ein eigener Gesetzgebungsakt nötig. Es handelt sich vielmehr, wie ich das schon bei den einzelnen Beispielen gezeigt habe, auch hier immer nur darum, daß für Fälle wie den zur Entscheidung stehenden eine  Ausnahme  vom vorhandenen allgemeineren Rechtssatz gemacht wird: man urteilt, daß von diesem Satz für Fälle wie den zur Entscheidung stehenden eine Ausnahme hätte gemacht werden sollen, man urteilt so unter Zugrundelegung dessen, was man als den Zweck des allgemeinen Satzes betrachtet - diesen schwierigen Begriff erörtere ich nicht näher, sondern sage nur zur Verdeutlichung für den Nichtjuristen: man denkt sich eine normale Einzelperson als Gesetzgeber, man nimmt an, daß dieser Gesetzgeber entweder auf eine, natürlich unvollständige Induktion sich stützend oder von vornherein das Typische der Fälle vor ihrer Einzelgestaltung sehend den allgemeinen Satz geschaffen hat (12), von ihm aber, wenn er diese besondere Art darunter gehöriger Fälle bedacht und zu regeln gehabt hätte, selbst eine Ausnahme gemacht haben würde.

Hierdurch erklärt sich auch, daß man von Lücken spricht: die Lücke besteht darin, daß eine Ausnahmebestimmung für Fälle von dieser Eigenart nicht gegeben ist. Aber das ist selbstverständlich keine Lücke in dem Sinne, daß der Fall überhaupt unter keinen Satz des Gesetzes paßt, sondern nur eine Lücke in dem Sinn, daß man die nach dem Gesetz zu treffende Entscheidung sachlich beanstandet. Am ehesten wird man zu diesem Urteil kommen, wenn für einen anderen verwandten Fall bereits eine Ausnahmebestimmung existiert: diese gilt es dann analog auszudehnen und den allgemeinen Satz auf diese Weise einschränken (13). Weit entfernt also, daß die Analogie, wie oft gelehrt wird, vor Ausnahmebestimmungen Halt macht, greift sie vielmehr hauptsächlich bei ihnen Platz.

Übrigens ist eine derartige Korrektur des Rechts durch Analogiebildung auch im Staats-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, ja auch im Völkerrecht möglich; aber es liegt in ihrer Natur als einer Neubildung, daß ihre Anerkennung bei allen Streitigkeiten, die nicht durch ein geordnetes Gerichtsverfahren entschieden werden, auf Schwierigkeiten stoßen wird.

Ich fassen zusammen. In den Fällen, in denen man gemeinhin von Lücken spricht, handelt es sich in Wahrheit darum, daß für besondere Tatbestände eine besondere von der allgemeinen Regel abweichende rechtliche Behandlung im Gesetz vermißt wird. Lückenausfüllung bedeutet, daß der Richter jene allgemeine Regel für diese besonderen Tatbestände durchbricht und für sie einen neuen Rechtssatz, meist in Weiterbildung anderer schon vorhandener Sondersätze, findet (14).

Aber nun schlägt mir das Gewissen und ich muß einen Ausdruck, den ich bisher der Kürze halber mehrfach verwendet habe, verbessern. Der Richter, so sagte ich einige Male, ändert für den von ihm zu entscheidenden Fall das gegebene Recht. In welchem Sinn ist das gemeint? Schafft der Richter, wenn er derart durch Analogie oder sonstwie einen neuen Satz findet, erfindet und auf seinen Fall anwendet - dadurch wirklich neues Recht? Man hört das oft sagen, aber es ist unrichtig. Der Richter kann und will nicht neues Recht schaffen, er will nur die Entscheidung eines konkreten Falles geben. Ist es also nicht neues Recht, was er schafft, so spricht er Recht, das nicht Recht ist? Auch das ist unmöglich, er ist durch seinen Eid gebunden, dem vorhandenen Recht gemäß zu entscheiden. Er gibt also auch bei jeder Analogiebeziehung seine Entscheidung mit dem Anspruch, daß sie vorhandenem Recht entspricht, dem Recht, das er durch seine Gedankenoperationen als bereits vorhandenes wenn auch vielleicht unbekanntes Recht erkannt hat. Oder anders ausgedrückt: die Tätigkeit des Richters beruth auf der Vorstellung, daß der von ihm angewandte Satz bereits Recht ist (15).

Diese Vorstellung müssen wir festhalten. Es ist ja doch nicht der Richter allein, der zur Entscheidung berufen ist: jeder Einzelne kann in die Lage kommen, sich eine juristische Antwort suchen zu müssen und wird dann ebenfalls zur Analogie zu greifen haben. Daraus geht aber hervor: es muß einen allgemeinen Rechtssatz geben, der die durch jene Gedankenoperationen gewonnenen Rechtssätze für Recht erklärt, einen Rechtssatz also des Inhalts: Recht ist das, was hier im Gesetz steht, mit gewissen Änderungen (Ausdehnungen und Einschränkungen), die sich durch Analogie usw. ergeben. Denn sonst wäre der neue Satz nicht Recht und jede Analogiebeziehung wäre falsch. Einen solchen allgemeinen Rechtssatz sprach der erste Entwurf zu unserem Bürgerlichen Gesetzbuch auch wirklich aus; er verwies auf die Analogiebeziehung und Entscheidung nach dem Geist des Gesetzes, allerdings mit der, wie wir gesehen haben, unrichtigen Bezeichnung, es handle sich um Fälle, für die das Gesetz keine Vorschriften enthält; man hat diese Bestimmung nachher freilich wieder gestrichen, aber doch nur, weil sie sich von selbst versteht, und darum ist durch diese Streichung nichts geändert. Viele der wichtigsten Sätze gelten ja als Rechtssätze, ohne aufgeschrieben zu sein, sie gelten als selbstverständlich, und so dürfen wir auch den Satz, daß die Analogiebeziehung erlaubt ist, obwohl er nicht ausgesprochen ist, doch als einen Satz des positiven deutschen Rechts betrachten; er gilt in unserem gesamten, auch dem öffentlichen Recht; wir könnten uns aber sehr wohl eine Rechtsordnung denken, die dem Richter jede derartige Tätigkeit verbietet und ihn streng ans Wort fesselt - in gewissem Umfang haben wir ein solches Verbot auch in Deutschland im Strafrecht: daß es möglich ist, erklärt sich erst aus der dargelegten Auffassung dessen, was Lücke genannt wird.

Aber das ist erst die halbe Wahrheit. Es gibt auch  echte Lücken,  Lücken wirklich in dem Sinn, daß das Gesetz eine Antwort überhaupt schuldig bleibt, eine Entscheidung gar nicht ermöglicht, während eine Entscheidung doch getroffen werden muß. Der Fall dieser wahren Lücke ist der: das Gesetz gibt einen positiven Satz, nach dem zu entscheiden ist, läßt aber innerhalb dieses Satzes ein einzelnes Moment unbestimmt; anders gesprochen: der Wille des Gesetzes, daß eine rechtliche Behandlung gewisser Art eintrete, steht fest, aber innerhalb dieses Rahmens sind mehrere Möglichkeiten, und das Gesetz sagt nicht, welche davon es will. Ich darf das wieder durch Beispiele klar machen.

In den achtziger Jahren war der Kassierer einer Berliner Handelsgesellschaft mit 150 000 Mark durchgegangen; die geschädigte Firma hatte für seine Ergreifung eine Belohnung von 5000 Mark ausgesetzt. An der Ermittlung und Ergreifung des Täters, die schließlich in Kiel gelang, waren mehrere Personen beteiligt; zwischen diese wurde die ausgelobte Summe nach gutem Ermessen verteilt; die ebenfalls beteiligten Kieler Polizeibeamten erhielten dabei nur 500 Mark. Dieser Anteil schien ihnen zu gering, und sie erhoben deswegen gegen die Firma Klage auf Auszahlung der ganzen Summe an sie. Die Gerichte waren in Verlegenheit. Nach dem preußischen Landrecht, das hier maßgebend war, stand soviel fest, daß die geschädigte Firma die Verpflichtung hatte, den an der Entdeckung und Ergreifung des Täters Beteiligten 5000 Mark auszuzahlen; das Gesetz schwieg aber darüber, ob diese mehreren Beteiligten etwa als Gesamtgläubiger oder zu gleichen Anteilen oder wie sonst sie berechtigt sein sollten. Sie sehen die Lücke: sicher ist, es soll gezahlt werden, unsicher ist, wie zu teilen ist. Nun hatte das Landrecht eine Bestimmung, wonach bei der Lösung von Preisaufgaben, insbesondere wissenschaftlicher und künstlerischer Art, das Urteil dessen, der den Preis ausgesetzt hat, für die Zuerkennung und Verteilung maßgebend sein sollte; das Reichsgericht hat diese Bestimmung analog auch in unserem Fall angewendet: Ergreifung eines Verbrechers sein zwar keine wissenschafltiche oder künstlerische Leistung, aber die Lücke sei entsprechend jener Bestimmung auszufüllen.

Oder - ein bei Statuten nicht selten vorkommender und mir daher bekannter Fall - das Gesetz ordnet eine  Wahr  für eine gewisse Gelegenheit an, unterläßt es jedoch, über die Art der Wahl oder die Ermittlung des Gewählten eine nähere Bestimmung zu geben. Eine Lücke ist hier gerade so da, wie wenn das Gesetz etwa für irgendeinen Fall gesetzliche Zinsen zubilligte, über die Höhe der Zinsen, ob 4 oder 5 Prozent, aber keine Auskunft gibt.

Vielleicht die klaffendsten Lücke solcher Art zeigen unsere Gesetze - und ebenso die anderer Länder - in Bezug auf das sogenannte internationale Privatrecht. Ich erkläre das durch einen Fall. Ein Engländer und ein Franzose schließen in Amsterdamm einen Vertrag über eine beliebige Lieferung und geraten über diesen Vertrag in einen Streit. Aus irgendeinem Grund kommt der Prozeß vor ein deutsches Gericht. Das deutsche Gericht ist, wie wir annehmen wollen, zuständig, das heißt: unser Gesetz befiehlt dem deutschen Richter den Prozeß zu entscheiden - das ist der vorhandene Rechtssatz -, aber es sagt mit keiner Silbe, welche Rechtsordnung unser Richter bei der Beurteilung des Falles anzwenden hat, die englische oder die französische? die holländische oder die deutsche? Unser Gesetz sagt also: wende eine Rechtsordnung an, aber es sagt nicht, welche - da ist die Lücke, eine Lücke übrigens, deren Ausfüllung eine der größten, schwierigsten und wichtigsten Aufgaben der gesamten Rechtswissenschaft bildet.

Indessen hier erhebt sich doch ein Bedenken. Kommen wir nicht zu weit, wenn wir in allen solchen Fällen von Lücken sprechen? Jeder Blick auf unsere Gesetze belehrt, daß sie in unzähligen Fällen die rechtliche Folge nur im allgemeinen bestimmen und die nähere Bestimmung und Abmessung dem Richter für den Einzelfall anheimstellen. Man denke nur an den Strafrahmen: das Gesetz bedroht z. B. den gewöhnlichen Diebstahl mit Gefängnis; da die Gefängnisstrafe aber von einem Tag bis zu fünf Jahren dauern kann, so sind das 1826 Strafmöglichkeiten: welche soll der Richter wählen? Oder der Richter soll bei Körperverletzung und Freiheitsentziehung eine billige Entschädigung in Geld zusprechen - wie hoch soll die sein? Das muß er feststellen. Und so in immer neuen Variationen: das Gesetz enthält ja nicht, wie der Nichtjurist das so vielfach glaubt, feste Entscheidungen der Fälle, so daß der Richter nur ein juristischer Automat wäre - man steckt den Fall hinein und zieht eine Entscheidung heraus -, sondern es verlangt eine selbständige Auswertung durch den Richter. So auch hier, und doch spricht hier niemand davon, daß das Gesetz eine Lücke hat. Worin liegt der Unterschied?

Mir scheint darin: das Gesetz sagt hier alles, was an allgemeinen Sätzen überhaupt zu sagen ist und läßt eine Unbestimmtheit nur, damit der Richter Spielraum hat, bei seinen Entscheidungen die Eigentümlichkeiten jedes einzelnen Falles - deren ja keiner ganz dem andern gleicht - zu berücksichtigen, z. B. die Strafe je nach den individuellen Umständen abzustufen. Bei jenen wirklichen Lücken aber fehlt es, bevor noch die individuellen Umstände gerade dieses einzelnen Falles in Betracht zu ziehen sind, sogar an den näheren abstrakten  Regeln  für derartige Fälle. Das Gesetz hat diese Regelung nicht ausgesprochen - es hat sie entweder vergessen oder sich nicht reif genug gefühlt sie in guter Weise zu geben: so steht es gerade im Internationalen Privatrecht -, aber es hätte sie aussprechen sollen. Das Gesetz will nicht, daß die Frage, wer von mehreren an der Entdeckung eines Verbrechers Beteiligten die Belohnung zu bekommen habe, vom Richter je nach den Einzelumständen des Falles entschieden werden soll, sondern es will - dies zumindest war die Meinung des Reichsgerichts -, daß der Richter bei dieser Entscheidung einem abstrakten, die Fälle regelnden Rechtssatz folgen soll, einem Rechtssatz aber, den beim Schweigen des Gesetzes das Gericht selbst erst finden mußte (16).

Und darum ist auch die Stellung des Richters beide Male ganz verschieden. Wo er die konkreten Umstände berücksichtigen soll, da ist ihm völlig freies Ermessen gelassen: jede Entscheidung innerhalb des ihm gezogenen Rahmens entspricht dem Recht und kann daher, mag sie auch noch so unbillig sein, doch, wie ich für die anwesenden Juristen hinzufüge, mit dem Rechtsmittel der Revision nicht angegriffen werden. Im Fall der Lücke hingegen gilt es für den Richter, durch irgendwelche Gedankenoperationen, insbesondere auch durch Analogieschlüsse, die fehlenden Rechtssätze erst aufzufinden (17), und ob er sie richtig aufgefunden hat, das ist Gegenstand des Zweifels: sein Urteil kann daher in der Revisionsinstanz mit der Behauptung angegriffen werden, der zur Ausfüllung der Lücke verwandte Satz entspreche nicht dem Recht (18).

Ich nannte als Fälle der Lücke solche, wo dem Richter befohlen ist, über einen bestimmten Punkt positiv zu entscheiden, ohne daß die Rechtsordnung doch eine Wegweisung gäbe,  wie  er entscheiden soll. Diesen Fällen stehen ganz nahe andere, mit denen wir auf die Höhe weltgeschichtlicher Vorgänge steigen: Fälle, wo nicht mehr der Richter zu entscheiden hat, weil es sich um völkerrechtliche oder grundstaatsrechtliche Fragen handelt, über die kein Richter gesetzt ist. JELLINEK (19) konstruiert folgende zwei Fälle, die ich als Beispiele benutze. In Frankreich hat das Ministerium, wie wir annehmen wollen, seine Entlassung genommen, die Legislaturperiode für die Kammern ist - das muß hinzugesetzt werden - abgelaufen und eine Neuwahl noch nicht angeordnet; darauf stirbt der Präsident der Republik und das Ministerium weigert sich, die Geschäfte weiter zu führen: wie ist die Möglichkeit, zu einer Wahl des Präsidenten zu kommen? Oder: nach dem Ukas [Präsidentenerlaß - wp] PETERs des Großen von 1722 wurde der Thron durch die Ernennung des Nachfolgers von Seiten des regierenden Kaisers besetzt; wenn nun ein russischer Kaiser starb, ohne einen Nachfolger ernannt zu haben - wer war dann Kaiser von Rußland?

Daß hier Lücken vorliegen, ist unzweifelhaft: das Gesetz gibt auf die gestellte Frage keine Antwort, und doch muß eine Antwort gefunden werden, denn es existiert ein allgemeinerer Satz, der eine positive Antwort fordert: die französische Verfassung  fordert,  daß ein Präsident gewählt wird, die russische  fordert  das Dasein eines Kaisers. Solche Lücken sind lebensgefählich. Ein Richter, der entscheiden und das Spannungsverhältnis lösen könnte, ist nicht da: hier sind wir am Ende der juristischen Dingen, die Jurisprudenz weiß keine Antwort mehr und die nackten Tatsachen, die Machtverhältnisse müssen, wenn nicht der Staat zugrunde gehen und das Chaos ausbrechen soll, irgendeine Lösung ergeben, Recht schaffen da, wo es vorher nicht war.

Aber von diesen katastrophenartigen Fällen, wo der Staat vo Sein oder Nichtsein steht und Macht zwar vor Recht geht, aber doch anstatt des Rechts, will ich absehen und mich dem bescheideneren, aber auch umfassenderen Gebiet der Fälle wieder zuwenden, die sich innerhalb des geordneten Staatswesens abspielen. Hier haben wir alles in allem genommen dieses Ergebnis gefunden: die Fälle, in denen man von Lücken spricht, sind von zweierlei sehr verschiedener Art - es ist unmöglich, diesen Unterschied zu verkennen, sobald man einmal auf ihn aufmerksam geworden ist: bei den Fällen der ersten Art handelt es sich in Wahrheit um Korrekturen, nur bei denen der zweiten Art um Lückenausfüllung.

Und diese Unterscheidung hat nach einer Reihe von Seiten hin praktischen Wert: ich meine, für die beiden Arten von Lücken gilt nicht in allen Beziehungen das Gleiche. Davon hier genauer zu sprechen, verbietet mir die Kürze der Zeit und die Schwierigkeit des Gegenstandes; um aber doch bei dieser Besprechung von Lücken nicht selbst eine vollständige Lücke zu lassen, will ich den Hauptpunkt wenigstens berühren: er betrifft die Art der Tätigkeit und die Stellung des Richters, der einen Fall zu entscheiden hat, bei dem eine Lücke des Gesetzes und darum eine Lückenausfüllung in Frage kommt. Insofern besteht allerdings keine Ungleichheit: die Tätigkeit des Juristen, der Korrekturen oder Ergänzungen des Gesetzes sucht, ist niemals eine rein logische, die als richtig oder falsch beweisbar wäre; die Gedankenoperationen, durch die er zu seinen Ergebnissen kommt, beruhen vielmehr zum größten Teil auf Wertungen und Abschätzungen, auf Eindrücken und Auffassungen subjektiver Färbung, die aus dem Gesetz selbst und allein sich nicht rechtfertigen lassen, und der sogenannte Analogieschluß der Juristen ist zwar dem, was die Logik so nennt, nahe verwandt, von ihm aber doch auch spezifisch verschieden (20). Indessen bleibt hier doch ein Unterschied zwischen den beiden Arten von Lücken: notwendig ist der Jurist bei den Lücken erster Art viel gebundener als bei denen der zweiten. Bei diesen hat er gar nicht mehr zu erwägen, ob er ergänzen will oder nicht, er muß das tun, da er sonst überhaupt keine Entscheidung geben könnte, wozu er doch verpflichtet ist, er muß es tun, selbst wenn er keinerlei Direktiven aus dem Gesetz selbst entnehmen kann; bei den Fällen der ersten Art hingegen wird er sich viel schwerer zu einer Änderung entschließen, denn es handelt sich für ihn hierbei ja darum, ein Bestehendes erst niederzureißen, ehe er zu Neuem schreiten kann, und er kann, wenn ihm die Korrektur Bedenken erregt, immer bei der Anwendung des ungeänderten alten Gesetzes bleiben. Dort  muß  er schöpferisch vorgehen, hier  kann  er es bloß.

Doch lasse ich es mit dieser Andeutung genügen und komme zu Schluß. Auch bei dieser Arbeit der Lückenausfüllung, die der Jurist zu leisten hat, mag er den Fall nun unmittelbar als Praktiker oder vordenkend als Theoretiker bearbeiten, zeigt sich wieder das eigentümliche  Kunst element, das aller Jurisprudenz eigen ist. Bei jeder wirklichen Juristentätigkeit, bei der Arbeit des Gesetzgebers wie bei der praktischen Behandlung der wirklichen Fälle - und alle Rechtswissenschaft ihrerseits ist nur Hilfeleistung und Vorbereitung für diese Tätigkeiten oder sie ist eben nicht mehr Jurisprudenz -, bei aller wirklichen Juristentätigkeit, sage ich, handelt es sich nicht sowohl um die Anwendung einer Wissenschaft als um eine auf Wissenschaft gestützte Ausübung einer Kunst - Kunst von Können hergeleitet. Dieses Element der Kunst ist natürlich nie ganz verkannt, aber doch fast ein Jahrhundert hindurch lange nicht genug gewürdigt und darum auch in der Theorie nicht genug verwertet worden. Ich glaube sagen zu dürfen: es ist eine der wichtigsten und folgenschwersten Umwälzungen im Betrieb unserer Jurisprudenz gewesen, daß sie sich in den drei letzten Jahrzehnten wieder auf ihre eigentliche Aufgabe, Vorbereitung, Vordenkung, Unterstützung jener Kunstübung zu sein, besonnen hat. Die Rechtsfakultäten haben angefangen sich mit diesem Geist zu erfüllen, und haben so, ohne äußeren Anstoß, aus sich selbst heraus eine tiefgreifende Reform oder doch Ergänzung des Rechtsunterrichts durch weitverzweigte Übungen bewerkstelligt. Und mit dieser stärkeren Betonung des Kunstelements ergibt sich von selbst auch das Interesse, sich über das Wesen und die Methoden der juristischen Tätigkeit zu besinnen. Ein Stück solcher Selbstbesinnung durfte ich Ihnen vorführen.

Der heranwachsenden Juristengeneration aber, deren Vertreter auch in diesem Festsaal anwesend sind, rufe ich zu: Sie sind berufen, dereinst solche vornehme Kunst zu üben. Mit der bloßen Schneidigkeit und frischen Männlichkeit allein ist es für die juristischen Beamten nicht getan; andererseits genügt es auch nicht, nur im Studierzimmer Kenntnis der positiven Gesetze einzusammeln - das ist unentbehrlich, aber eine breite Kenntnis auch des Lebens und ein heller Wirklichkeitssinn müssen hinzukommen: wir brauchen Männer, die die Gesetze weit frei, human, mit vollem sozialen Verständnis anzuwenden und in der Anwendung zu ergänzen und weiterzubilden wissen. Rechtsfachschulen können hier nicht helfen, die Universitäten, ihrem universalen Charakter nach, können es, wenn sie recht benutzt werden. Auf dem Weg der Erziehung solcher Juristen liegt ein großer Teil unserer nationalen Hoffnungen.
LITERATUR Ernst Zitelmann, Lücken im Recht [Rede gehalten bei Antritt des Rektorats der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am 18. Oktober 1902] Leipzig 1903
    Anmerkungen
    1) siehe die Anführungen in Anm. 5 unter 2)
    2) siehe die Anführung in Anm. 5 unter 1)
    3) Andere Fälle der gleichen art ergeben sich aus dem Verhältnis des staatlichen Rechts zum autonomen Recht und dem Kirchenrecht.
    4) Über diese drei Gruppen hier ausgeschiedener Fälle siehe Anm. 14.
    5) Die Behauptung, daß es keine Kücken gibt, findet sich in der Literatur in zweifachem ganz verschiedenen Sinn.
      1) Die Schriftsteller, die überhaupt das Wesen der Lücke erörtern, behandeln fast alle nur die im Text besprochene Frage, und meinen den Satz, daß es keine Lücken gibt, nur in dem Sinne, das Recht als Ganzes habe keine Lücken, während das einzelne Gesetz sie haben kann. Sie begründen das vor allem damit, daß eine Entscheidung doch immer gefunden werden muß; da diese Entscheidung nun doch nach dem Recht erfolgt und dieses Recht vorher irgendwie da sein muß, so kann auch von keiner Lücke die Rede sein. Hierauf - und nur hierauf - antwortet die Bemerkung im Text. Mit Recht sagt übrigens JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 325, daß dies jedenfalls "nur für jene Teile der Rechtsordnung, in denen dem Richter die letzte Entscheidung des Einzelfalles zusteht", zutrifft, nicht aber da, wo von einer richterlichen Entscheidung nicht mehr die Rede sein kann. Zumeist wird aber noch die andere Begründung hinzugenommen, daß die Ergänzung des lückenhaften Gesetzes nicht durch von außen irgendwoher entnommene Gedanken zu geschehen hat, sondern sich mit logischer Notwendigkeit aus den vorhandenen Rechtssätzen selbst ergeben muß, so daß also die Rechtsordnung als ein in sich geschlossenes und insofern lückenloses Ganzes anzusehen ist. Ich halte diese Anschauung für unrichtig, aber es ist hier nicht der Ort, über sie zu verhandeln: offenbar betrifft sie das zweite hier ausgeschiedene Problem über die Art der Lückenausfüllung. - Dieser Gedanken von der "logischen Geschlossenheit des Rechts", der Gedanke also, daß für jede scheinbare Lücke "latente" oder objektiv feststehende Rechtssätze in der Rechtsordnung vorhanden sind, und daß darum die angebliche Lücke des Rechts nur eine Lücke im Wissen vom Recht ist, tritt wohl schon bei JHERING hervor, weniger deutlich im "Geist des römischen Rechts", Bd. I, § 3, Seite 31f und Bd. II, § 2, Seite 337f, klarer in seinen  Jahrbüchern,  Bd. 1, Seite 16; sodann bei BRUNS in von HOLTZENDORFFs  Enzyklopädie  "Das heutige römische Recht" § 9; siehe ferner BINDING, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, Seite 214, Regelsberger, Pandekten I, § 38, ZERNIK, Begriff und Voraussetzungen der extensiven Auslegung und der Analogie, Dissertation, Greifswald 1895, Seite 23-43, besonders Seite 31. (Dieser Schriftsteller geht von dem Standpunktaus, daß der mußmaßliche Wille des Gesetzgebers zu suchen sei, wobei er als mutmaßlichen Willen häufig nicht einen wirklichen Willen, dessen Vorhandengewesensein gemutmaßt werden kann, meint, sondern einen sich nicht vorhanden gewesenen Willen, der, wie man vermuten darf, vorhanden gewesen sein würde, wenn ...) Am tiefsten und eindringlichsten ist die Theorie von der logischen Geschlossenheit des Rechts von BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, 1892, Seite 372f, behandelt und befürwortet; er führt von publizistischen Schriftstellern für diese Meinung auch L. von RÖNNE, LABAND, H. A. ZACHARIAE und BORNAK unter Mitteilung ihrer Äußerungen an; wenigstens "für jene Teile der Rechtsordnung, in denen dem Richter die letzte Entscheidung des Einzelfalles zusteht", bekennt sich auch JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 325 zu dieser Lehre, während er sie im übrigen durchaus verwirft (siehe oben); energisch bekämpft wird sie von JUNG, "Von der logischen Geschlossenheit des Rechts" in der Gießener Festgabe für Dernburg 1900; gegen BERGBOHM auch KIPP zu WINDSCHEID, Pandekten I, § 23, Anm. 1b, obwohl dieser Schriftsteller in der Grundanschauung von der Art der Tätigkeit bei der Lückenausfüllung von BERGBOHM kaum abweicht; vergleiche Anmerkung 14 unter 1). BERGBOHM stellt übrigens seine Lehre, daß das Recht ein in sich geschlossenes lückenloses Ganzes sei, nur für den rechtserfüllten Raum auf, d. h. für den Raum derjenigen Tatsachen, die das positive Recht grundsätzlich seiner Regelung unterstellt; anders stehe es aber da, wo das positive Recht eine rechtliche Regelung zu geben ablehnt, hier sei keine Lücke vorhanden, eben weil das Recht mit diesen Tatsachengebieten nichts zu tun haben will, vielmehr sei das ein "rechtsleerer Raum"; siehe unten Anm. 14, Seite 43.
      2) In ganz anderem Sinn meinte es BRINZ, wenn er in seinen Pandekten I, Seite 129, 1873, schrieb: "Lücken, die namentlich die Analogie ausfüllen soll, existieren im Recht überhaupt nicht"; denn er verwies zur Erläuterung auf seine Bemerkung in der Anzeige von ADICKES' Schrift "Zur Lehre von den Rechtsquellen in der  Kritischen Vierteljahrsschrift  Bd. XV, 1873, Seite 164: "Bei näherem Betracht muß geleugnet werden, daß es Lücken im Recht gibt. Den horror vacui, den der Verfasser (ADICKES) hat, hatte vor ihm das Recht selbst; es gibt keinen rechtslosen Raum im Recht; ist für diesen und diesen Fall noch keine  actio,  keine  exceptio,  kein Erbrecht, keine Forderung, keine Befreiung gesetzt, so besteht da, wo der Verfasser (und mit ihm freilich die meisten) eine Lücke im Recht erblicken, lediglich eine Lücke auf Seiten des Rechtssuchenden; bei ihm fehlt es an der Erfordernis, das vom Recht für den Fall der  actio,  oder  exceptio  positiv gesetzt ist". Dieser wichtige Gedankenblitz hat aber kaum gezündet; aufgenommen, freilich nicht weitergeführt ist er von ZRODLOWSKI, Das römische Privatrecht I, 1877, Seite 104, wie mir scheint auch von STAMMLER, Archiv für die zivilistische Praxis, Bd. 69, Seite 33f (doch spielt hier wohl auch die erste Gedankenreihe mit hinein, darauf lassen die Zitate in seiner Anmerkung 68 schließen); ebenso EHRLICH, "Über Lücken im Rechte" in  Burians Juristischen Blättern , Bd. XVII, Nr. 38, 1888, Seite 447. (Die sehr lesenswerten Aufsätze von EHRLICH beschäftigen sich in der Hauptsache mit der anderen Frage nach der Art der Lückenausfüllung; mit Unrecht sind sie in der späteren Literatur meist, so auch von GENY, Méthode d'interprétation, 1899, mit Stillschweigen übergangen). STAMMLER und EHRLICH sagen dann auch folgerichtig, daß die angeblichen Lücken nur Lücken  de lege ferenda  [nachkünftigem Recht - wp] seien. Die Formulierung, die EHRLICH Seite 148 im Vorübergehen gibt, ist für die eine Gruppe von Fällen der  Lücke  durchaus zutreffend. Vergleiche auch Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen VII, Seite 64 oben "Ergänzungen und Änderungen des Gesetzes". - Meistens wird BRINZ' Bemerkung mißverstanden, sie wird zugunsten der ersten Theorie angeführt, die das Recht als ein logisch geschlossenes und lückenloses Ganzes ansieht, siehe zum Beispiel BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Seite 374 (der Rechtssuchende in BRINZ' Sinn ist die Prozeßpartei, nicht der, welcher Antwort auf eine theoretische Frage sucht).
    6) BGB § 147, Abs. 1, Satz 2; diese auf Vertragsanträge sich beziehende Bestimmung ist dann ihrerseits analog auf sonstige Willenserklärungen durch Fernsprecher auszudehnen, darüber siehe ERICH JUNG, Von der logischen Geschlossenheit des Rechts, Seite 10f.
    7) A. LANGEN, Die privatrechtliche Stellung der Wirte, 1902, Seite 6, Anm. 12.
    8) SOERGEL, Rechtsprechung 1900/01, zu BGB § 447 unter b. - Eine weitere Analogie: § 447 ist analog anzuwenden, wenn der Verkäufer selbst die Versendung ausführt; so mit Recht COSACK, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts I, Seite 417.
    9) Ebenso war in dem vielbesprochenen Fall der Entwendung von elektrischer Kraft zu urteilen; bekanntlich ist hier inzwischen ein eigenes Gesetz erlassen worden.
    10) BIELITZ, Nachträge zum praktischen Kommentar über das allgemeine Landrecht, Heft 2, 1832, Seite 28.
    11) Über den Grund des Ausschlusses der Analogie bei der Pönalisierung [Betrafung - wp] und gegen diesen Ausschluß ist zu vergleichen BINDING, Handbuch des Strafrechts I, Seite 17f.
    12) Siehe hierüber ZITELMANN, Zum Grenzstreit zwischen Reichs- und Landesrecht, Seite 28f; über den  Zweck des Gesetzes  und den  normalen Gesetzgeber  siehe ebd. Seite 33f.
    13) Neben den ausdehnenden von einschränkender Analogie zu reden ist schwerer Mißbrauch. Denn bei dieser Entgegensetzung werden die Worte  ausdehnend  und  einschränkend  auf zwei verschiedene Objekte bezogen. Ausdehnend heißt die Analogie, weil sie den bereits vorhandenen Ausnahmesatz ausdehnt; einschränkend würde sie genannt werden, weil sie den allgemeinen Satz einschränkt, indem sie eine Ausnahme von ihm macht. Jede Analogie ist also zugleich ausdehnend und einschränkend: der ganze Unterschied ist wertlos.
    14) In den Erörterungen des Textes waren, um die Darstellung durchsichtiger zu gestalten, alle die Fälle beiseite gestellt worden, "wo das Gesetz ganze Bereiche von Lebenstatsachen außerhalb seiner Ordnung belässt" und zwar wurden drei Gruppen solcher Fälle unterschieden. Ich ziehe nunmehr auch diese Fälle heran und frage, wieweit bei ihnen von  Lücken  geredet werden kann.
      1) Ganz für sich stehen die Fälle der ersten Gruppe, wo das Gesetz die rechtliche Ordnung der bestimmten Lebensgebiete unterläßt, weil für sie eine andere rechtschaffende Quelle existiert. Von einer Lücke der Rechtsordnung in irgendeinem Sinn kann man hier nur sprechen, wenn man die einzelne Rechtsordnung nach ihrem Ursprung, nach dem Subjekt der Gesetzgebungsgewalt individualisiert; versteht man unter Rechtsordnung hingegen das Insgesamt von Rechtssätzen, die in ein und demselben Gebiet gelten, so läßt sich von Lücke natürlich nicht reden. Der Hinweis auf diese Fälle bei KIPP (zu WINDSCHEID, Pandekten I, § 23 Anm. 1b) ist darum nicht geeignet, BERGBOHMs Lehre von der Lückenlosigkeit des Rechts zu widerlegen.
      2) Da, wo der Gesetzgeber ein ganzes Lebensgebiet rechtlich ohne Ordnung läßt, weil er eine rechtliche Ordnung überhaupt nicht für angebracht erachtet - dies sind die Fälle der dritten genannten Gruppe -, liegt das vor, was BERGBOHM den "rechtsleeren Raum" nennt, siehe Anm. 5, Seite 40. Mit dem Ausdruck "rechtsleerer Raum" wird demnach allerdings etwas Wirkliches bezeichnet; fraglich ist aber doch, ob der Begriff nicht allzu unbestimmt ist, um praktisch mit Nutzen verwendbar zu sein. Diese Unbestimmtheit ist nach zwei Seiten hin vorhanden. Einmal ist es nicht möglich, den rechtsleeren Raum von einem Tatsachenraum zu trennen, für den der Gesetzgeber absichtlich eine bestimmte Wirkung ausschließt. Wenn BGB § 105, Abs. 1 sagt, die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen sei nichtig, stellt es damit diese Willenserklärungen in den rechtsleeren Raum oder ordnet es sie nicht vielmehr, nur durch einen Satz verneinenden Inhalts? Schärfe hätte nach dieser Richtung hin der Begriff des rechtsleeren Raums nur, wenn man jede Tatsache, an die keine bestimmte positive Wirkung geknüpft ist, als in den rechtsleeren Raum fallend ansehen würde - aber dann hätte der Begriff einen so riesigen Umfang, daß er ganz wertlos wäre. Zu zweit ist zu erwägen, daß ein und dieselbe Tatsache in Bezug auf die eine Art von Rechtssätzen sehr wohl positiv geregelt sein kann, während sie für eine andere Art außer Betracht gelassen ist: eine Handlung kann z. B. zivilrechtlich Schadensersatzfolge nach sich ziehen, während der Strafgesetzgeber sich mir ihr noch überhaupt nicht beschäftigt, sie also rechtsfolgefrei gelassen hat - dann müßte sie zivilrechtlich als dem rechtserfüllten, strafrechtlich als dem rechtsleeren Raum angehörig betrachtet werden: wir hätten schließlich so viele Arten von  Räumen  anzunehmen, wie es Arten von rechtlichen Regelungen gibt; kurz, wir kommen ins Bodenlose. - Jedenfalls scheint mir aber dies sicher, daß gerade für die Lehre von den Lücken zwischen dem rechtsleeren Raum in BERGBOHMs Sinne und den Fällen, in denen die herrschende Lehre von Einzellücken spricht, kein praktischer Unterschied besteht. Eine Lücke in dem Sinn, daß der Richter nicht entscheiden könnte, besteht auch dort nicht: findet der Richter, daß die Rechtsordnung an diese Tatsache die in Frage stehende Rechtswirkung nicht angeknüpft hat, so hat er ja eine mögliche Entscheidung, er verneint eben die Wirkung. Will er das nicht, will er auch hier in Analogie einer positiven Bestimmung irgendein positive Wirkung festsetzen, so ändert er eben auch hier den allgemeinen negativen Satz; bekanntlich wird ja die Grenzlinie zwischen dem  rechtsleeren  und dem  rechtserfüllten  Raum beständig hin und her verschoben, sei es durch die Rechtssprechung, sei es durch die Gesetzgebung (BERGBOHM, a. a. O., Seite 377f).
      3) Ausgeschieden wurden Seite 8 endlich noch die Fälle, wo das Gesetz einen ganzen Tatsachenbereich  einstweilen  noch ohne besondere rechtliche Ordnung beläßt, weil es sich zur Regelung noch nicht reif genug fühlt. Von einem rechtsleeren Raum wird BERGBOHM selbst hier so wenig wie ich zu reden gewillt sein: der Gesetzgeber will diesen Tatsachenbereich keineswegs außerhalb der rechtlichen Regelung stellen, er erwartet eine solche vielmehr von der freien  lückenausfüllenden  Tätigkeit der durch die Rechtswissenschaft unterstützten Praxis. Höchstens könnte man hier von einem  einstweilen  noch rechtsleeren Raum sprechen; aber auch das wäre unrichtig, vielmehr pflegt die Sache nur so zu liegen, daß für diesen besonderen Tatsachenbereich eine  besondere,  gerade ihm allein gewidmete und seine Eigentümlichkeiten berücksichtigende rechtliche Regelung fehlt, daß aber eine rechtliche Entscheidung doch schon nach dem vorhandenen Recht möglich ist, weil im Hintergrund die  allgemeinen  Rechtsgrundsätze als anwendbar übrig bleiben, z. B. bei einer besonderen Art rechtlich nicht besonders geregelter Verträge die allgemeinen Vertragsgrundsätze. Es handelt sich also hier um eine Lücke der Art, wie sie im Text Seite 18f gekennzeichnet ist; auch die Ausfüllung dieser Lücke geschieht auf die dort angegebene Art.
    15) Unrichtig ist es darum auch, zu sagen, daß der Richter durch seine Analogieentscheidung neues Recht zwar nicht schafft, aber doch "neues Recht anbahnt" so z. B. BRINZ, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. XV, Seite 165. Ist die Analogie billigenswert, so ist er als analog neu aufgefundene Satz von vornherein vollständig fertiges Recht, nicht bloß erst angebahntes; daß bei einem späteren gleichen Fall ein anderer oder gar derselbe Richter die Analogie als nicht billigenswert wieder verwerfen, das Dasein des analogen Satzes also leugnen kann, ist kein Einwand gegen die Behauptung, daß der Satz schon Recht sei: auch die Auslegung, die ein Richter einem geschriebenen Rechtssatz gibt, kann ein anderer oder gar derselbe Richter später wieder verlassen; ich halte es darum auch nicht für richtig, wenn KNITSCHKY im  Archiv für öffentliches Recht,  Bd. XIII, Seite 243 den durch Analogie gefundenen Rechtssatz einen "bloß vorläufigen" nennt.
    16) Bei allen derartigen Lücken muß der Richter ergänzend vorgehen: das Gesetz befiehlt ihm das, weil es überhaupt befiehlt, angewendet zu werden - dem Richter würde sonst nur übrig bleiben, das Gesetz wegen Unbestimmtheit für nichtig zu erklären. Nicht selten wird übrigens zweifelhaft sein, ob das Gesetz eine Auffindung lückenausfüllender Rechtssätze oder Entscheidung nach freiem Ermessen haben will: dies ist eine Auslegungsfrage.
    17) Auch hier muß, entsprechend dem Seite 25f Gesagten, die Vorstellung festgehalten werden, daß der Richter zwecks Ausfüllung der Lücke nicht einen neuen Rechtssatz schafft, sondern daß der von ihm angewandte Satz, eben weil er analog ist oder der  Natur der Sache  entspricht oder wie man sich sonst ausdrücken will, bereits vorher als Rechtssatz bestand und jetzt vom Richter nur aufgefunden wurde.
    18) Eine verwandte Art von Lücken liegt da vor, wo das Gesetz einen Begriff gebraucht, ohne ihn genau zu definieren. Auch hier geht das Gesetz davon aus, daß der Begriff einen festen, wennschon erst noch zu erkennenden, Inhalt habe, so daß die Subsumtion unter den Begriff als dem Recht entsprechend oder widersprechend beurteilt werden kann. Möglicherweise wird zwecks des näheren Inhaltes des Begriffs stillschweigend auf die Begriffsbildung einer anderen Wissenschaft oder auf den Sprachgebrauch des täglichen Lebens verwiesen; versagen diese Quellen aber - und nur die allerweingsten nicht aus der Jurisprudenz stammenden Begriffe sind vollkommen zuende gedacht (fast nur die mathematischen sind es), so daß die Subsumtion niemals Zweifeln Raum läßt -, so soll der Richter doch nicht etwa  nach freiem Ermessen  urteilen, in dem Sinne, daß jede von ihm getroffene Entscheidung dem Recht gemäß wäre, vielmehr ist die Vorstellung, die unseren Gesetzen zu Grunde liegt, immer die, daß ein fester Begriff existiert und vom Richter nur zu entdecken ist. Jede Subsumtion ist deshalb mit dem Rechtsmittel der Revision angreifbar. Wir haben also wiederum eine Lücke des Gesetzes im Sinne einer nicht genügenden Bestimmtheit. Ein großer Teil unserer Jurisprudenz müht sich mit der Arbeit ab, die Begriffsinhalte genauer herauszuarbeiten; als Beispiel diene nur der Begriff  Beleidigung, Urkunde, höhere Gewalt, Betrieb einer Eisenbahn.  Auch bei dieser Arbeit einer näheren Umgrenzung des Begriffs, die durch immer neue empirisch herandrängende Fälle gefordert wird, geht der Jurist auf dem Weg der  Analogie  vor. Und da bringt es A. FOREL in HARDENs "Zukunft", Bd. XI, Nr. 1 (4. Oktober 1902) Seite 11 fertig, zu schreiben: dem Juristen "mangelt jede Fühlung mit dem Leben. Für den wissenschaftlichen Analogieschluß, für die langsame, immer wieder zweifelnde, immer sich verbessernde naturwissenschaftliche Induktion geht ihm jedes Verständnis ab" usw.!
    19) JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 326f. Zur Rechtfertigung des ersten Beispielfalls ist zu vergleichen LEBON, Das Staatsrecht der franz. Republik (in MARQUARDSENs Handbuch des öffentlichen Rechts, Bd. IV 1, Abt. 6, 1886) Seite 63 und 65 (Anordnung der Neuwahlen durch Dekret des Präsidenten der Republik), ferner BATBIE, Traité théoretique et pratique (zweite Ausgabe 1885, Bd. III, Seite 7.
    20) Aus der neueren Literatur über diese Frage ist hervorzuheben, außer den in Anm. 5 angeführten Schriften von EHRLICH und JUNG sowie GENYs ebd. bereits genanntem großen Werk, vor allem die köstliche Prorektoratsrede von GUSTAV RÜMELIN, Werturteile und Willensentscheidungen, Freiburg 1891; sodann BEKKER, Scherz und Ernst, Seite 86f, 105f, 147f. Über die Analogie im Sinne der Logik siehe neuestens die Abhandlung von MACH in OSTWALDs "Annalen der Naturphilosophie", Bd. I, 1902, Seite 5f.