ra-2ra-1ra-2J. F. HerbartG. RoskoffJ. B. ErhardF. BodenF. Mauthner    
 
HEINRICH RITTER
Über das Böse und seine Folgen

"Die Macht des Bösen darf nicht der Macht des Guten gleichgestellt werden. Die Philosophie fordert, daß wir einen obersten Grund aller Dinge annehmen, welcher gut ist; damit stimmen die Religionen des Monotheismus überein. Wenn wir aber die Macht des Bösen mit der Macht des Guten gleichsetzen, so würden wir zum Dualismus abfallen. Den Teufel und sein Reich können wir nur als Geschöpfe Gottes und Werkzeuge seines Willens ansehen; ihre Macht ist gegen die Allmacht Gottes Ohnmacht."

"Die Teufel gehören nicht ursprünglich zusammen; sie haben sich nur zusammengeschart; ihr Haupt ist nicht ihr Schöpfer, sondern nur ihr Führer; sie leben nicht in Frieden, wie die Kinder Gottes, sondern uneinig mit Gott, unter sich und in sich selbst, einen grimmigen Streit zwischen ihrem Willen und ihren Gedanken kämpfend. Daher werden wir uns auch ihre Persönlichkeit anders denken müssen als die Persönlichkeiten im Reich Gottes; denn der Begriff der Person setzt doch vor allem die Einheit des Subjekts voraus."

"Selbst denen, welche sich gegen Gottes Reich empört haben, müssen wir als Geschöpfen Gottes eine Gemeinschaft mit uns zugestehen; die Abscheu vor ihren Unternehmungen darf uns nicht verleiten ihren Personen den Anteil versagen, den sie als unsere Mitgeschöpfe in Anspruch zu nehmen haben. Den unbedingten Haß, welcher das Böse trifft, dürfen wir auf keine Personen werfen."


1. Schwierigkeiten des Gegenstandes

Wenn das Böse nicht das Häßliche selbst ist, so doch gewiß eins der häßlichsten Dinge. Unseren Haß gegen dasselbe bekennen wir ohne Scheu; sollte es unsere geheime Liebe heben, wir verleugnen sie, sogar vor uns selbst und geben ihm andere Namen. Nur in kochendem Ingrimm kann ein Mensch sagen, was SHAKESPEARE RICHARD III. sagen läßt: "Ich bin gewillt ein Bösewicht zu werden" und das Häßliche seines Ingrimms muß er sich selbst verbergen unter scheinbarer Kälte. Was so beständig sich verbirgt, muß zu den geheimsten Dingen gehören. Es gehört schon eine Verkehrtheit des Gemüts dazu, dem Bösen gern seine Gedanken zuzuwenden, wieviel mehr es genau zu untersuchen. Daher bleibt es wie eine dunkle Masse vor unseren Augen hängen, wie ein schreckhaftes Gespenst, welches seine Furchtbarkeit von unserer Zaghaftigkeit borgt. Je mehr wir seinen Anblick fliehen, um so ärger setzt es uns nach; je weniger wir wagen ihm dreist in das Auge zu schauen, um so mehr wachsen seine Schrecken. Vielleicht, wenn wir es über uns gewännen ihm Stand zu halten, es in seine Einzelheiten zu zerlegen, würde sich seine dunkle Wolke in Nebel auflösen und nichts übrig bleiben, was Kern hätte und Grund der Furcht oder des Abscheus abgeben könnte. Ohne Zweifel werden wir uns hierzu entschließen müssen, wenn wir wissen wollen, was er ihm ist. Aber wie den Entschluß durchführen? Können wir das Böse ohne Haß, ohne Widerwillen und Ekel betrachten?

Wir möchten wohl gern seinen Anblick meiden; aber unwillkürlich drängt er sich auf. Es erfüllt die Welt, in welcher wir leben. Sie ist nicht, wie sie sein sollte, d. h. wie sie unseren Wünschen, den Idealen unserer Vernunft entsprechen würde. Darin ahnen wir das Böse, in diesem Mißverhältnis zwischen dem, was ist und den Forderungen, welche wir an ihr Sein zu machen haben. Der praktische Mensch hat beständig mit Mißverhältnissen dieser Art zu kämpfen; er will, handelt und schafft in der Außenwelt nur um sie seinen Wünschen entsprechender zu machen. Auch der theoretische Forscher strebt nur dahin solche Mißverhältnisse auszugleichen; seine Gedanken, welche noch nicht der Wahrheit entsprechen, will er aus diesem Mißverhältnisse zum Sein ziehen. Soll man nun sagen, die Schuld läge an der wirklichen Welt oder an der Unmäßigkeit unserer Wünsche? Sie könnte auch wohl an beiden liegen. Aber was unsere Wünsche betrifft, so können wir sie doch nicht aufgeben. Sie mögen zuweilen töricht sein, dann sollen wir sie bessern; aber Praxis und Theorie würden wir besser wissen, wenn nur in unseren törichten Wünschen der Grund des Mißbehagens läge, welches uns über die Übel der Welt klagen läßt.

Jedoch sollte auch die Welt voll von Übel sein, darum würden wir sie noch nicht böse schelten dürfen. Vieles kann uns verletzen, mit Schmerz und Ungeduld mögen wir es vertragen; darum erzürnen wir uns noch nicht über dasselbe und nennen es arg oder böse. Schuld und Unschuld wissen wir zu unterscheiden und erst wo mit Absicht in die Welt gebracht wird, was unserem Wunsch und Willen zuwider ist, da bricht unser Zorn in Flammen aus und wir verdammen den bösen Willen, welcher das Unheil angerichtet hat. Erst der Wille des Menschen läßt uns das Böse in der Welt entdecken; in ihm suchen wir den Grund des Bösen, soweit wir ihn zu erforschen wissen. Er erst macht die von Übeln erfüllte Welt zu argen und bösen Welt, und darin sehen wir eine Steigerung des Übels, welche uns fast unerträglich scheint. Diese Welt ist ausgeartet, weil der Wille der Menschen in ihr anders ist, als er sein sollte.

Sehr natürlich ist es, daß wir die Übel, welche im menschlichen Willen begründet sind, am schwersten ertragen. Denn vom guten Willen begründet sind, am schwersten ertragen. Denn vom guten Willen der andern Menschen erwarten wir die meiste Hilfe in den Unternehmungen unserer Vernunft, von unserem eigenen Willen alles wahrhaft Gute; wenn er fehlt, sich sogar gegen unsere Wünsche wendet, wird dies auch die schwersten Übel zur Folge haben. Mit dem Gedanken an sie treten wir in das Gebiet der menschlichen Gesellschaft ein. Auch bei ihrer Beurteilung leitet uns ein Wunsch, ein Ideal, im Stillen gehegt oder laut ausgesprochen, der sozialen Verfassung in Kirche und Staat, im bürgerlichen Verkehr und in der Familie; in allen Zweigen des gemeinsamen Lebens unter den Menschen finden wir bei weitem nicht alles so, wie es sein sollte. In unseren Zeiten, in welchen alles an so viele Reformen, vorwärts oder rückwärts, denkt, können wir uns nicht verhehlen, daß die Verkehrtheit der Menschen uns die härteste Not bereitet. Und wann wären die Zeiten anders gewesen? Von langer Zeit her, seit Menschengedenken hat man darüber geklagt, daß die paradiesische Unschuld des goldenen Zeitalters dahin wäre.

>In den Abrechnungen, welche wir mit der Wirklichkeit treffen, sind diese Klagen über den Menschen so überwiegend, daß man alles andere darüber zurückgestellt hat, was wohl sonst noch unseren Wünschen zuwider sein möchte. Davon zeugen die weitverbreiteten Meinungen, welche alles Übel von der Bosheit und Verschlechterung der Menschen herleiten. Alles andere, meinte man, ließe sich ertragen; nur die Schlechtigkeit der Menschen wäre unerträglich. Man lobt die Ruhe und Gesetzmäßigkeit der Natur. Nur der Mensch bricht ihre weisen Gesetze und in einem vergeblichen Kampf mit ihnen richtet er Verwirrung in der Welt an. Dadurch erst ist die Welt verkehrt geworden; allmählich, wie die Sage vom goldenen Zeitalter annimmt oder plötzlich, wie die Lehre vom Sündenfall behauptet, beide darin übereinstimmend, daß mit dem Menschen zugleich die Welt sich verkehrt habe. Diese Überzeugung hat ihren Grund darin, daß nur der Mensch kraft seines freien Willen das Gesetz der Natur brechen könnte und daß er daher auch als die alleinige Ursache angesehen werden müßte der Unregelmäßigkeiten, welche wir im Lauf der Dinge annehmen zu müssen glauben. Die Gesetzlosigkeit des menschlichen Willens hat sich in Streit gesetzt mit der ganzen übrigen gesetzlichen Welt und die unausbleibliche Folge hiervon ist gewesen, daß der Mensch nun auch befeindet wird von der Natur; die natürlichen Übel, an welchen wir gegenwärtig leiden, haben sich aus dem Unfrieden ergeben, in welchen wir uns mit dem natürlichen Lauf der Welt gesetzt haben. Nur der böse, gesetzlose Wille, wie weit er sich auch verbreiten möge, kann der Grund einer gesetzlosen Verwirrung in der Welt sein.

Über den Grund oder Ungrund dieser Meinungen wollen wir nicht entscheiden; gewiß ist es, daß sie eine weite Verbreitung haben. Das Gewicht des Bösen wird durch sie verstärkt; mit ihm wächst auch die Schwierigkeit des Problems, welches es uns vorlegt; denn je schwerer das Übel wirkt, als dessen Grund es angesehen wird, umso stärker wird der Abscheu, welchen es uns einflößt. Doch sehen wir nun auch, daß nicht hierauf allein die Schwierigkeit in seiner richtigen Schätzung beruht. Den Grund des Bösen suchen wir im Willen, den Willen aber lernen wir nur in uns selbst kennen, den guten und den bösen. Hätten wir den letztern nicht in uns selbst gefunden, so würden wir ihn nicht bei anderen Menschen vermuten können. Alle Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis treffen daher auch den Gegenstand unserer Untersuchung.

Sehr tief hat nun freilich wohl unsere Selbsterkenntnis nicht einzudringen, um das Böse in uns zu finden. Überall entdecken wir es, wo etwas in unserem Tun mit Recht zu tadeln ist. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, ob wir unser Handeln oder unser Denken zu tadeln haben; beides setzt bösen Willen voraus, einen Willen, welcher sich dem Gesetz ungehorsam ist und der Pflicht richtig zu handeln und richtig zu denken entzieht, dergleichen Abweichungen vom richtigen Weg begegnen uns fast überall; aber daß sie so häufig vorkommen, kann uns nicht rechtfertigen. Es gehört also nur ein geringes Maß der Selbsterkenntnis dazu um das Böse in uns zu entdecken; aber mit diesem Maß kommen wir doch nicht aus für unseren Zweck, der nicht allein darauf gerichtet ist es in uns aufzufinden, sondern auch zu erkennen, worin es besteht und was es zu bedeuten hat.

In der Welt ist nicht alles, wie es sein sollte; darin finden wir das Übel. In uns ist nicht alles, wie es sein sollte; darin sehen wir den bösen Willen angezeigt, der uns wider das Gesetz hat fehlen lassen. Die Gedanken, welche uns das Sein zeigen, stehen in Streit mit den Gedanken über das, was sein sollte. Wenn wir Übel und Böses finden, sind wir unzufrieden mit den Ursachen desselben, mit der Welt oder mit Gott, mit den Menschen oder uns selbst; bis zum Murren steigert sich das. Das Sein entspricht nicht dem Sollen, das ist unsere Klage. Es ist ein Streit der Gedanken in uns. Im bösen Willen hat sich dieser Streit zum heftigsten Widerspruch zugespitzt. Um zum bösen Entschluß zu kommen, muß der Wille erklären, daß sein solle, was dem Gesetz zuwider ist, d. h. was nicht sein soll. Die Gewalt des bösen will etwas durchsetzen, was gegen das Gesetz ist und damit er böse sei, muß er auch wissen, daß er gegen das Gesetz ist. Wer aus Unwissenheit fehlt, der sündigt nicht. Auf der einen Seite wird beschlossen: dies soll sein; auf der andern: dies soll nicht sein. Es sind dies Gedanken der Menschen; sie können beide irren. Das Böse aber schneidet zu tief in den Gang unseres Lebens ein, als daß wir es unentschieden lassen dürften, auf welcher Seite Irrtum sei.

Einander widerstreitende Gedanken lassen nur Schwankungen und Zweifel zu. So isti es mit den Gedanken, in welchen wir das Böse entdecken, und darin liegen ihre Schwierigkeiten. Die Theologen sagen: Das Böse verblendet. Den Irrtum haben wir zu ihm gezählt, weil er ein gesetzwidriges Denken ist, welches nur durch den Willen zustande kommen kann. Wir werden gestehen müssen, daß er nur in Verblendung gehegt wird. Wenn es so ist, wie werden wir das Böse mit ungeblendeten Augen in uns gewahr werden können? In dem Augenblick, in welchem wir es wollen, billigen wir es und halten es für gut; vorher und nachher waren andere Augenblicke, in welchen wir es verdammten; ja in demselben Augenblick, in welchem wir es wollen, regt sich der Verdacht, daß es nicht sein sollte. Auf welcher Seite liegt nun die Verblendung?

Die Gesetzeskundigen, die Theologen und Moralisten haben hierüber nicht lange gezweifelt. Sie haben sie dem Willen zugeschoben. Ich kenne das Gesetz und sehe das Gute; aber mein Fleisch, d. h. mein Wille, ist schwach, ich lasse mich zum Bösen verleiten. Gegen das Gesetz, gegen besseres Wissen und Gewissen hat sich der böse Wille empört; er verlangt für sich eine Ausnahme von der Regel des Sittengesetzes. Diese Lehre von der Verwirrung, Verleugnung und Ertötung des eigenen Willens ist nicht neu; aber nur selten oder nie ist sie konsequent gehandhabt worden. Wie könnte dies auch geschehen? Wer sich für sie entscheidet, läßt in seiner Entscheidung selbst den Willen wiederaufleben. Das Gesetz soll den Willen richten; wenn er nicht lebte, so würde für ihn kein Gesetz nötig sein, um ihm die Richtung zu geben. Das Gesetz will seine Anwendung haben auf den besonderen Fall; nur der Wille kann sie ihm geben; das Gesetz würde zu nichts sein, wäre es nicht für den wollenden Menschen. Daher können wir nicht ohne weiteres dem Gesetz Recht geben in seinem Streit mit dem Willen. Seine allgemeine Regel gestattet Anbequemungen an den besonderen Fall und für diesen auch vielleicht eine Ausnahme. Wir stehen hier vor einer Alternative, welche niemals aufgehört hat unsere Wahl zu beklemmen zwischen dem strengen Gebot des allgemeinen Gesetzes und der Not der Wirklichkeit, welche dieser Strenge nicht weichen will. Das ist der Grund unserer Unzufriedenheit. Das Gesetz ist unser Wunsch, unser Ideal, die Wirklichkeit ist unser Wille, wie er soeben ist, schwach und vielleicht gesetzwidrig. In dieser Unzufriedenheit mit uns selbst lernen wir das Böse kennen. Sollen wir uns zu denen schlagen, welche über das Gesetz oder zu denen, welche über die Wirklichkeit murren? Wohin wir uns auch wenden mögen, die unzufriedene Stimmung, welche uns auf beiden Seiten trifft, zeigt wenig vom Gleichmut, welcher uns ein ruhiges Urteil gestattet.

Wir sehen hieraus, daß die Schwierigkeiten im Problem des Bösen nicht geringer sind von der Seite des Gegenstandes, als von der Seite unseres persönlichen Abscheus vor ihm. Beiden Seiten haben auch, genauer betrachtet, denselben Grund. Sie beruhen beide darauf, daß wir dem Bösen nicht anders zu begegnen wissen, als in Haß und Streit. Große Massen desselben anzuerkennen, dazu sehen sich die meisten genötigt; aber um ihren wahren Gehalt abschätzen zu können, dazu würde gehören, daß man sich entschlösse sie in ihre Einzelheiten zu zergliedern. Und wer trüge nicht davon Scheu sich mit seinen Gedanken auf diesen Schmutz des Laster und der Sünde recht gründlich einzulassen? Wenn man jedoch eine Sache erforschen will, so ist über die Forderung nicht hinwegzukommen, daß man sich ihr hingebe, mit Liebe in sie sich versenke um sie im Innersten seiner Gedanken ihrer wahren Bedeutung nach sich anzueignen. Unmöglich ist dies beim Bösen, so lange wir in unserem Haß gegen dasselbe beharren und doch scheinen wir ihn nicht ablegen zu können oder zu dürfen. Daher scheint auch das Böse unerforschlich zu sein und nicht mit Unrecht würde man sagen, es sei das größte Rätsel der Welt, weil es seiner Natur nach nicht ohne Haß und Abscheu betrachtet werden könnte. Es hat die Welt verkehrt, wie man sagt; wie sollte die verkehrte, aus ihren Fugen gekommene, ihrer Ordnung und ihrem Gesetz entrückte Welt, wie sollte der Grund einer solchen Verkehrtheit nicht das größte Rätsel sein für die Vernunft des Menschen, welche alles in Ordnung und nach dem Gesetz ihres Denken begreifen will?

Rätsel reizen unseren Witz; aber nicht deswegen allein, weil es das größte Rätsel ist, wird unser Nachdenken vom Bösen gefesselt; es liegt auch unseren teuersten Interessen zu nahe, als daß wir die Erklärung seiner rätselhaften Erscheinung aufgeben könnten. Wie ein wunde Stelle an unserem Leib stellt es sich ar; berühren wir sie, so schmerzt es, aber dennoch können wir es nicht lassen sie immer wieder zu betasten; die Schmerzen wollen wir nicht, aber wir wollen die Wahrheit wissen, wenn sie auch schmerzen sollte. So wollen wir auch die Wahrheit des Bösen wissen, wie häßlich sie sein möge. Und wenn wir ernstlich die Wahrheit suchen, so werden wir auch wohl, wie die Naturforscher, Ekel und Widerwillen besiegen lernen um das Böse mit der Gemütsruhe des Beobachters ohne Übertreibungen des Hasses oder der Furcht ins Auge zu fassen. Sollen wir also dennoch dem Bösen unsere Liebe zuwenden um es unseren Gedanken einzuverleiben? Nein; aber der Wahrheit sollen wir sie zuwenden, die Wirklichkeit dreist zergliedern, den Menschen und uns selbst ruhig erforschen, welche wir am Bösen leiden. Wenn wir das Böse untersuchen, so haben wir es mit den Gegenständen zu tun, an welchen es haftet; denen dürfen wir unsere Liebe nicht versagen. Das erinnert uns daran, daß im Bösen nur eine Abstraktion uns vorliegt. Von ihm reden wir um ein Urteil abzugeben über einen einzelnen oder über eine Reihe von Willensakten; sie gehören der wirklichen Welt an, und wenn diese auch durch das Böse verkehrt sein sollte, so wird doch etwas Gutes an ihr übrig geblieben sein, welches unsere Liebe fordern darf. Nur unter dieser Bedingung, daß wir es ansehen dürfen als etwas nicht selbständig, sondern nur an einem anderen Vorhandenes, können wir den Abscheu vor ihm überwinden und das Interesse fassen, welches uns in seiner Erforschung beleben muß.

In unseren bisherigen Bemerkungen haben wir manche Probleme berührt ohne über sie entscheiden zu wollen. So wird es uns wohl noch länger gehen in unseren Überlegungen über ein schwieriges Problem, welches doch in der Meinung der Menschen fest steht und welches schon andere Meinungen der Menschen zu lösen gesucht haben. Unsere Absicht aber wußte zunächst fein die Hindernisse der Forschung zu entfernen und die Erscheinung des Bösen, welche das Problem vorlegt, rein von Entstellung in ihrer allgemeinen Weise auffassen zu lassen. Blinder Abscheu und blinder Haß sind die stärksten jener Hindernisse. Beseitigen wir sie, so bleibt noch immer genug übrig, was uns vom Bösen abwehrt. Seine Erscheinung zeigt uns einen Streit der Gedanken und der Willensakte, einen Streit in unserem Inneren. Freilich ist es nur ein besonderes, abstraktes Moment in unserem Dasein und Leben, aber in der Tat das schlimmste, was sich uns ereignen kann. Der innere Streit zerrüttet unser Leben; die Schwankungen des Zweifels lassen uns nicht weiter kommen; Ruhe und Zufriedenheit des Gemüts sind damit nicht vereinbar. Wenn auf einen Augenblick der böse Wille siegt und das Bewußtsein des Gesetzes nicht austilgen, sondern nur gewaltsam unterdrücken kann, in seiner rächenden Gestalt droht es beständig wiederzuerwachen. Anderer Abschreckungen vom Böse bedarf der nicht, welcher sein Heil in der Ruhe des Gemüts sucht.


2. Der Böse und das Reich des Bösen

Wenn es uns auch gelungen sein sollte im Allgemeinen begreiflich zu machen, daß es unumgänglich sei für die Erforschung des Bösen auf eine Analyse seiner Bestandteile einzugehen, so werden doch im Einzelnen aus dem Abscheu und dem Schrecken vor ihm gar mancherlei Vorurteile zurückgeblieben sein, welche wir noch zu zerstreuen habe, ehe wir die Geneigtheit annehmen können den beschwerlichen Gängen einer solchen sich zu unterziehen. Sie werden sich den Voraussetzungen entgegensetzen, welche uns dazu dienten die Notwendigkeit der Analyse zu zeigen und den Weg verdächtigen, welchen wir einzuschlagen für nötig halten.

Die eine dieser Voraussetzungen war, daß wir das Böse nur in unserem eigenen Willen kennen lernten als einen inneren Streit und es von uns aus auf andere übertrügen; die andere, daß wir es als eine Abstraktion zu betrachten hätten, welche in uns immer noch etwas Gutes zurückfließe in den strittigen Teilen, daß es also nicht als eine selbständige Macht zu betrachten wäre. Man sieht, diese Voraussetzungen stehen in einem gewissen Zusammenhang untereinander; die Annahmen, welche ihnen entgegengesetzt werden, haben sich auch zugleich gegen die eine und gegen die andere gerichtet.

Sie sind sehr allgemein verbreitet und stützen sich auf religiöse Autoritäten. Man ist der Meinung, das Reich des Bösen sei zu weit verbreitet über die ganze arge Welt, als daß es seine Macht nur aus dem Willen der Menschen ziehen könnte. Man hat es wie das Gegenstück zum Reich des Guten sich gedacht, dem Reich Gottes und wie man diesem eine Person vorsetzte, so hat man auch für jenes eine einigende Person angenommen, welche es in Empörung gegen Gott leite. In ihr hat man das Böse personifiziert; das Böse wurde der Böse, eine durch und durch böse Substanz, ein in reiner Bosheit selbständiges Wesen, nicht mehr eine Abstraktion. Das ist die Lehre vom Teufel und seinem Reich, über welche die theologischen Vermutungen und Streitigkeiten nicht aufgehört haben sich zu verbreiten und zu entzweien, nicht allein unter den Christen, sondern auch unter den Heiden.

Es ist nicht unseres Geschäfts die dunklen Autoritäten zu erklären, welche uns sparsame Andeutungen über das Reich des Teufels geben. Daß sie sparsam und dunkel sind, wird man uns zugeben, wenn man bedenkt, wie wenig es gelungen ist aus ihnen eine Dämonologie zusammenzusetzen. Was von der Ordnungen der guten Engel gelehrt worden ist, hat ein sehr fragliches System ergeben, aber doch ein System; noch viel weniger Zuverlässiges weiß man über den Staat der bösen Engel zu sagen. Er wird dies ein Zeugnis dafür abgeben, daß diese Lehre vom Reich des Teufels wenigstens in ihren Einzelheiten keinen wesentlichen Punkt der religiösen Offenbarung abgibt.

Etwas anderes ist es mit den allgemeinen Beweggründen der Religion zu diesen theologischen Lehren. Unsere Untersuchungen, welche zwischen Vernunft und Erfahrung verkehren, sind freilich von den theologischen Untersuchungen, welche für den religiösen Glauben und die religiöse Übung sorgen, sehr verschieden in ihrem Verfahren; aber auch für Vernunft und Erfahrung ist die Religion der Menschen keine gleichgültige Sache und die Störungen, welche uns Glaube oder Aberglaube beweisen könnten, müssen wir abzuwenden suchen. Dabei ist vor allen Dingen zu berücksichtigen, daß die verschiedenen Zwecke der Theologie und der Philosophie auch verschiedene Lehrweise fordern. Beide haben miteinander gemein, daß sie einen höchsten Grund aufsuchen und in Gott ihn finden; vom Niedrigsten, den Erscheinungen, zu ihm aufsteigend, kann es nicht ausbleiben, daß sie auch die mittleren Gebiete berühren. Aber die Religion will die Gemüter der Menschen aller Art bewegen und greift zu diesem Zweck zu allen Mitteln, welche ihre Phantasie erregen können; die kühnsten Metaphern sind ihr die besten Hebel; was im Gemüt der Menschen als Begriff und Gedanke lebt, das entfaltet sich in ihren Darstellungen zu einer reichen Welt der Bilder, in welcher alles greifbare Gestalt und persönliches Leben predigt. So werden die mittleren Regionen zwischen dem Größten und Kleinsten von der Religion bevölkert und belebt. Sie sieht überall die vermittelnden Kräfte Gottes, seine Boten, die Engel; sie erblickt den Finger Gottes sichtbar in seinen Wundern. Und sollten das leere Phantasien sein? Von anderer Art aber ist die bloße Abstraktion der Philosophie, weniger fromm, nicht darauf berechnet das Gemüt zu erschüttern, sondern nur den Verstand zu belehren. Sie ist nicht weniger davon überzeugt, daß zwischen Größtem und Kleinstem der Zusammenhang nicht fehlt; aber ihn überall nachzuweisen fehlen ihr die Mittel. Wo die voreilig ratenden Phantasie die mittleren Regionen auszufüllen sucht, da begegnet sie ihr mit Bedenken und Zweifeln. Den Glauben der Religion dagegen sieht ihr Zweifel nicht an, weil es nicht ihres Amtes ist alles genau zu erforschen und wissenschaftlich sicherzustellen, sondern das Gemüth der Gläubigen zu ergreifen und mit Begeisterung für das Reich Gottes zu erfüllen.

Bei dieser Verschiedenheit beider Weisen im geistigen Verkehr der Menschen dürfen wir nun doch eine Verständigung unter nicht aufgeben. Wir von unserer Seite haben ihn dadurch zu unterhalten, daß wir die allgemeinen Beweggründe der Religion zu ihren Lehrweisen zu begreifen suchen. Was ihnen entspricht, werden wir billigen können, wenn wir es auch nicht durchgängig verstehen sollten; wo sich aber etwas beimischt, was ihnen widerspricht, da würden wir nicht mehr Religion, sondern Aberglauben sehen müssen. Daß ein reichlicher Teil von diesem den Meinungen über den Teufel und sein Reich sich zugesellt hat, wird kein billig Denkender leugnen; eine andere Frage aber ist es, ob sie deswegen gänzlich verworfen werden sollen.

Die Absichten der Religion gehen auf die Mahnungen zum Gottesreich. In der Wahl der Mittel ist sie nicht zu ängstlich. Sie weiß, daß sie Menschen zu erziehen hat, denen mit reiner Vernunft nicht beizukommen ist. Wie der Pädagoge will sie nicht zuerst belehren, sondern bewegen. Sie belehrt zwar über Gott und das Reich des Guten und sucht zu ihm heranzulocken; aber sie sucht auch abzuschrecken von seinem Gegenteil und setzt an die Stelle der lauteren Beweggründe die Furcht und den Schrecken. Auf diese Seite fallen die Schilderungen vom Reich des Teufels. Die Motive, welche zu ihnen führen, werden wir unter zwei Klassen zusammenfassen können. Man will die Macht des Bösen veranschaulichen, damit wir jede Berührung mit ihm meiden. In beiden Motiven liegt nichts, was den Absichten der Religion nicht entspräche. Nur völlig lauter sind sie nicht und gegen Ausschreitungen in ihrem Gebrauch werden wir uns wehren müssen.

Was nun zuerst die Macht des Bösen betrifft, so hat die Theologie verschiedene Weisen gebraucht uns davon zu überzeugen, daß sie nicht so gering sei, als man meinen könnte, wenn man das Böse nur im Willen des einzelnen Menschen suchte. Neben diesen Mitteln könnte die Lehre vom Teufel überflüssig zu sein scheinen; doch fügt sie zu den andern noch eins hinzu, welches jene unberührt lassen: Sie betrachtet das Böse als etwas, was nicht allein unter den Menschen auf Erden herrscht, sondern was sich auch über die ganze Welt verbreitet hat. Es soll seinen Ursprung und den Mittelpunkt seiner Herrschaft in der nächsten Nähe Gottes, in den mittleren Gewalten haben, welche zwischen Gott und den Menschen, zwischen dem Höchsten und Niedrigsten im sittlichen Reich stehen. Hierdurch wird die Vorstellung an der Macht des Bösen um vieles gesteigert; sie erreicht die mysteriöse Höhe, in welcher wir überhaupt die Vorstellungen der Religion schweben sehen.

Wir wüßten in der Tat nichts anzuführen, was uns diesen Flug der religiösen Betrachtungen verbieten könnte, wenn man von ihrer Beglaubigung absieht. Die Macht des Böse oder seiner Folgen finden wir überall verbreitet, wohin unsere Erfahrung nur reichen mag; als eine durch alle Räume der Welt dringende Macht dürfen wir sie uns vorstellen; als zu einem einigen Reich verbunden müssen wir sie uns denken, wenn wir ihr nichts von ihrer Kraft rauben wollen; an Personen wird sie geknüpft sein müssen; denn wo wäre eine in sittlicher Weise wirkende Macht, welche nicht von einer Person ausginge? Diese Personen werden auch unter einer herrschenden Person ihr Gemeinwesen zusammenhalten müssen, um ihre gemeinsamen Zwecke zu betreiben. Damit haben wir das ganze Reich des Bösen zusammen mit ihrem Haupt, dem Teufel. Aus den Beweggründe der Religion ergibt sich diese Vorstellungsweise ungezwungen.

Die Philosophie wagt diesen Flug nicht, weil sie über die mittleren Gebiete zwischen dem obersten Grund und zwischen den irdischen Dingen unserer Erfahrung nur Dunkel verbreitet sieht. Das Gute und Sittliche erblickt sie in Gott und der Menschenwelt und sonst nirgends; aber darf sie den Ahnungen des Menschen verbieten, es und in Verbindung mit ihm auch das Böse in einem viel weiteren Umfang aufzusuchen? Sie selbst wird sich sagen müssen, daß sie sich nur wegen des beschränkten Gesichtskreises ihrer gegenwärtigen Forschung gefallen lassen muß sittliches Lob und sittlichen Tadel nicht weiter auszudehnen, als die Erde und auf ihr das Leben der Menschen reicht. Wir haben uns diesen Kreis ausdrücklich für unsere Untersuchungen über das Böse abgesteckt; aber dies ist nur wegen der wissenschaftlichen Sicherheit geschehen. Wenn wir auf den obersten Grund der Dinge sehen, so werden wir uns sagen müssen, daß die Herrschaft des Guten gewiß viel weiter reicht, als wir sie sehen können, und so wird es ebenfalls sein mit der Widersetzlichkeit gegen ihr Gesetz. Die Freiheit, welche die Philosophie sich selbst versagen muß, sich das Böse und das Gute über alle Räume der Welt verbreitet sich zu denken, gehört zu den Vorrechten der Religion. Wie wir unter Menschen gute und böse zu unterscheiden pflegen, mit demselben Recht wird man auch unter den höheren Gewalten der Welt einen solchen Unterschied machen können.

Doch haben wir uns hierbei auch vor Übertreibungen zu hüten, welche den Absichten der Religion zuwiderlaufen würden. Die Macht des Bösen darf nicht der Macht des Guten gleichgestellt werden. Die Philosophie fordert, daß wir einen obersten Grund aller Dinge annehmen, welcher gut ist; damit stimmen die Religionen des Monotheismus überein. Wenn wir aber die Macht des Bösen mit der Macht des Guten gleichsetzen, so würden wir zum Dualismus abfallen. Den Teufel und sein Reich können wir nur als Geschöpfe Gottes und Werkzeuge seines Willens ansehen; ihre Macht ist gegen die Allmacht Gottes Ohnmacht. Wenn Macht auf Einigkeit beruth, so werden wir uns auch das Reich des Bösen als weniger einig denken müssen als das Reich des Guten. Die Teufel gehören nicht ursprünglich zusammen; sie haben sich nur zusammengeschart; ihr Haupt ist nicht ihr Schöpfer, sondern nur ihr Führer; sie leben nicht in Frieden, wie die Kinder Gottes, sondern uneinig mit Gott, unter sich und in sich selbst, einen grimmigen Streit zwischen ihrem Willen und ihren Gedanken kämpfend. Daher werden wir uns auch ihre Persönlichkeit anders denken müssen als die Persönlichkeiten im Reich Gottes; denn der Begriff der Person setzt doch vor allem die Einheit des Subjekts voraus.

Wir berühren hiermit das andere Motiv der Lehre vom persönlich Bösen und seinem Reich. Man hat durch sie den Abscheu vor ihm steigern wollen. Man glaubte niemals zu weit gehen zu können im Gebrauch der Mittel, welche Abscheu vor ihm einflößen müßten. Daher meinte man, am Bösen bliebe nichts Gutes, der Teufel und sein Reich wäre von Grund aus verdorben, das reine Böse. Erst hierdurch freilich konnte man dazu gelangen den Gedanken einer bösen Person und eines Reiches böser Personen in voller Strenge zu behaupten: denn wenn an einer Person noch etwas Gutes bleibt, so ist das Böse an ihr nur eine Abstraktion.

Aber eben hierin liegen auch die Klippen, welche jeden Versuch einer Dämonologie scheitern lassen. Denn wollte man den Gedanken einer durch und durch bösen Person folgerichtig durchführen, so würde man vom Monotheismus zum Dualismus abfallen müssen. Bleibt man jenem getreu, so ist der Böse nicht Prinzip seiner selbst; wenn er sich gegen das Gute empört, so bleibt er doch Geschöpf Gottes und trägt das Gute an sich, welches Gott in ihm geschaffen hat. Er muß Gott bekennen und bezeugen, wenn auch unter Zittern. Das ist die Uneinigkeit im Reich des Bösen in ihrem tiefsten Grunde; sie läßt nicht zu, daß eine Person rein aus nichts als Bösem bestehe; sie nötigt uns von dem Gedanken abzusehen, daß wir unsere Abscheu vor dem Bösen unbedingt auf eine oder viele Personen werfen dürften, weil an ihnen nichts Gutes und sich unserer Liebe nichts Wertes finden ließe. Selbst denen, welche sich gegen Gottes Reich empört haben, müssen wir als Geschöpfen Gottes eine Gemeinschaft mit uns zugestehen; die Abscheu vor ihren Unternehmungen darf uns nicht verleiten ihren Personen den Anteil versagen, den sie als unsere Mitgeschöpfe in Anspruch zu nehmen haben. Den unbedingten Haß, welcher das Böse trifft, dürfen wir auf keine Personen werfen.

Der beste Beweis, wie wenig es gelingen kann zur Steigerung der Abscheu vor dem Bösen es uns in einer Person ohne Beimischung des Guten zu vergegenwärtigen, liegt darin, daß zum Guten nicht allein der Wille, sondern auch die Erkenntnis gehört, weil die gute Erkenntnis nur durch den guten Willen erlangt wird. Die Macht des Teufels kann nicht ohne Klugheit gedacht werden. Der dumme Teufel hat immer nur eine lustige Person abgegeben; den furchtbaren Teufel hat man mit gutem Verstand ausstatten müssen. Den gründlichen Abscheu vor dem Bösen können wir nicht aufrechterhalten, wenn wir es zu einer Person zusammenwachsen lassen.

Die Ergebnisse unserer Betrachtungen über diesen vielbestrittenen Lehrpunkt laufen also darauf hinaus, daß wir es den Ahnungen der Religion nicht verwehren dürfen, sich die alle Welt durchdringende Macht des Bösen, seine kosmische Bedeutung, in persönlicher, übermenschlicher Gestalt gleichsam zu verkörpern, ihnen aber auch nicht zutrauen zu können, sie würde imstande sein, eine konsequente Lehre auszubilden, welche das Reich des Bösen als reine Bosheit erkennen ließe. Es wird gestattet oder geboten sein, sich die Bosheit der Menschen im Zusammenhang zu denken mit einem viel größeren, über die Welt sich verbreitenden Reich des Bösen; aber dieses Reich als schlechthin böse und außer jedem Zusammenhang und jeder Gemeinschaft mit dem Guten sich auszumalen um es zu einem Gegenstand der vollen Abscheu zu machen, das übersteigt die Grenzen der möglichen Konsequenz. Einen Teufel, der nichts als Bosheit wäre, kann niemand denken. Sein Bild gehört den Personifikationen abstrakter Gedanken an, welche kein Leben gewinnen können. Das Unternehmen es zu zeichnen ist der Dämonologie nicht gelungen. So hat es auch nur Verzerrungen abgeworfen, wenn man Glieder seines Reiches, wenn man böse Menschen als Musterbilder der Bosheit schildern wollte. In dieser Richtung religiöser Ahnungen läßt sich nicht weiter vordringen als bis zu der Annahme mittlerer dämonischer Mächte, welche die Bosheit der Menschen mit der Bosheit in der großen Welt in Verbindung bringen. Über das mittlere Gebiet, welchem sie angehören, stehen uns viele Vermutungen frei; ebenso über den Zusammenhang der überirdischen Mächte in ihm und über die Macht, welche sie über die Menschen gewinnen können; aber diese Mutmaßungen haben ihr Maß, welches sie ohne Verletzung allgemeingültiger Grundsätze nicht überschreiten dürfen. Das Reich des Bösen kann nicht ohne Zusammenhang mit dem Reich des Guten bleiben; die höhere Macht des letzteren kann nicht aufhören sich auch in ersteren zu bezeugen; vom Guten kommt seine Macht; wenn ihm alles fehlte, würde es auch keine Macht haben.

Die Absichten der Religionen können nicht mehr fordern, als daß wir den Zusammenhang des Bösen im Menschen mit den allgemeinen Gebrechen der Welt anerkennen, wie er auch vermittelt sein möge; denn nur das Heil des Menschen haben sie im Auge. Daher geben auch die religiösen Ahnungen über das Reich des Bösen nur einige fragmentarische Andeutungen. In ihnen ist daher auch viel mehr Bildliches und Poetisches, als es denen zu sein scheint, welche sie in ein wissenschaftliches Dogma übersetzen möchten. Nur den Ahnungen des Menschen über den Weltzusammenhang geben sie begeisterte Worte; wenn wir ihnen eine wissenschaftliche Bedeutung beilegen wollten, würden wir sie überschätzen. Besonders dürfen wir den Worten, welche die Abscheu vor dem Bösen schärfen sollen, eine dogmatische Absicht nicht unterschieben. Wenn man Abscheu wecken will, will man nicht zu ruhigen, unparteiischen Beobachtung des Gegenstandes auffordern. Eben in dieser Abscheu haben wir das größte Hindernis für die Forschung über das Böse erkannt; wir werden daher auch in den religiösen Schilderungen, welche die reine Bosheit des dämonischen Reiches veranschaulichen sollen, nur wenig Belehrung über dasselbe zu erwarten haben.

Sehr viel hat sich die Theologie mit der Untersuchung über das Böse zu tun gemacht; was wir aber über ihre Schilderungen vom Reich des Bösen bemerkt haben, kann uns nicht die Meinung erwecken, daß sie den Weg eingeschlagen hätte, welcher zur Aufklärung über dasselbe der ersprießlichste wäre. Wir tadeln sie deswegen nicht; denn an die Religion sich haltend will sie erbauen und ihre Belehrungen zielen nur darauf ab, der Erbauung zu dienen. Sie hat das Recht dem Zug zu folgen, in welchen uns die religiösen Erregungen unseres Gemüts ziehen; aber die Lehren, welche hieraus fließen, bezwecken weniger über den Gegenstand, als über seinen Eindruck auf ein frommes Gemüt aufzuklären. Der Theologie als einer praktischen Wissenschaft ist es zwar erlaubt auch die Philosophie zu Rate zu ziehen über ihre Gegenstände; aber von dieser Erlaubnis wird sie doch nur Gebrauch machen nach dem Maß ihrer Bedürfnisse und soweit diese nicht auf die Einzelheiten der Seelsorge eingehen, sondern nur die allgemeine Theorie betreffen, hängen sie alle von der Erforschung des Bösen ab; denn von ihm handelt sie nur, um von ihm abzuschrecken und Abscheu zu erregen. Was sie vom Reich des Bösen nicht übergehen darf, dient nur zur Folie um die Herrlichkeit des Gottesreiches in ein umso helleres Licht zu setzen. All das liegt in entgegengesetzter Richtung vom Weg, welchen wir einschlagen müssen. Sie will vom Bösen abziehen; wenn wir es aber erforschen wollen, müssen wir uns ihm zuwenden. Sie lenkt unser Augenmerk auf seine allgemeine Verbreitung, seine großen Massen, das Häßliche und Abscheu Erregende in ihm; aber das ist uns als das erschienen, was uns hindert, es im Einzelnen zu untersuchen und zu einer ruhigen, vorurteilsfreien Würdigung zu bringen. Im Schwung der religiösen Begeisterung, von welcher die Eingebungen der Theologie ausgehen, wird der Ausgangspunkt unserer Erkenntnis vom Bösen nur wenig beachtet.


3. Der psychologische Standpunkt
der Untersuchung über das Böse

Vom theologischen unterscheiden wir den psychologischen Standpunkt in der Untersuchung über das Böse. Auf ihn sehen wir uns zunächst verwiesen, wenn wir uns fragen, was uns von ihm als Problem vorliegt. In ähnlicher Weise wie Seelenkrankheiten uns rätselhafte Erscheinungen zeigen und Gegenstände einer sorgfältigen psychologischen Forschung werden, begegnet uns auch der böse Wille in unserer Seele. Hierauf beruth alle Kenntnis, welche wir vom Bösen haben. Die Erfahrung unseres eigenen Seelenlebens zeigt es uns zuerst. Aus ihr müssen wir seine Beurteilung und das Verständnis aller Überlieferungen über sein Vorkommen schöpfen.

Doch für die Gruppierung unserer Gedanken ist hierdurch nur wenig gewonnen. Über die Stellung der Psychologie unter den philosophischen Wissenschaften herrschen bisher noch sehr verschiedene Meinungen. Fast alle andern philosophischen Untersuchungen zieht sie an sich heran; selbst die Religion und die Theologie fallen in den Bereich der Forschungen über die menschliche Seele. Nur darin scheint man einig zu sein, daß sie die Wissenschaft ist, welche sich unter allen philosophischen Lehren am engsten an die Beobachtung der Tatsachen unseres Bewußtseins anschließt und diese Tatsachen auch im weitesten Umfang erörtern soll.

Unter diesen Tatsachen finden wir auch den bösen Willen. Hiervon gehen alle Urteile über das Böse aus. Ohne Zweifel erstrecken sie sich von da aus weiter, von unserem Willen auf unsere Handlungen und Werke im inneren und äußeren Leben, von uns auf andere in der Gesellschaft der Menschen und selbst das ist nicht ausgeschlossen, was die Theologie unternimmt, dem Bösen eine kosmische Bedeutung beizulgen; doch für alle diese weiteren Ausdehnungen des Begriffs muß als Ausgangspunkt die eigene Erfahrung festgehalten werden. Sie legt das Problem vor, das Urphänomen des Bösen. Wenn es nicht richtig aufgefaßt sein sollte, so würde seine richtige Lösung unmöglich sein.

Falsch aber würde das Problem gestellt werden, wenn man sagen wollte, wie wohl geschehen ist, das Böse wäre eine einfache Tatsache unserer Erfahrung. Daß ein böser Wille vorhanden ist, spricht nicht allein das tatsächlich Verlorene eines Willens aus, sondern fällt auch ein Urteil über ihn. Es werden hier zwei Tatsachen in einen Satz zusammengefaßt; die eine ist der Wille, die andere das Urteil, welches ihn für böse erklärt. Diese Bemerkung liegt so sehr in der Natur der Sache, daß nur Vorurteile sie verdunkeln können. Wenn sie unbeachtet bleibt, so ist die Folge, daß man die Analyse der für einfach gehaltenen Tatsache unterläßt und dadurch das einzige Mittel zum Verständnis des vorliegenden Problems verliert. In einem sehr schnellen Verlauf können zwar Wille und Urteil über ihn zusammenzufallen scheinen; für unser Nachdenken aber werden sie immer unterscheidbar bleiben. Die Täuschungen, welche in diesem schnellen Verlauf der Erscheinungen liegen, gehörten zu den gewöhnlichsten Hindernissen der richtigen empirischen Erkenntnis.

Mit unserem guten ist es ähnlich wie mit unserem bösen Willen; auch in ihm lassen sich Wille und Urteil über ihn unterscheiden. Gutes und Böses pflegt man überhaupt wie zwei Arten derselben Gattung zu behandeln nach denselben Gesetzen des Denkens, obwohl sich dagegen Bedenken melden, und eins dieser Bedenken gibt sich auch hier zu erkennen. Mit dem guten Willen ist das ihn billigende Urteil in einem Schlag vorhanden; den Entschluß zum Guten kann ich nicht fassen ohne ihn für gut zu halten. Wenn wir aber im Gegenteil annehmen wollten, daß auch mit dem bösen Willen das ihn mißbilligende Urteil in einem Schlag vorhanden sein würde, so würden wir irren. Vielmehr den Entschluß zum Bösen kann ich nur fassen, wie früher gesagt wurde, in einer Verblendung, über seinen Wert nämlich, indem ich es für zulässig und gut halte. Wenn ich dagegen das Böse mißbillige, so stehen zwei Urteile einander entgegen von widersprechender Aussage, welche von derselben Person nicht zugleich gefällt werden können; indem ich das Böse will, billige ich es; indem ich es für böse erkläre, wird es von mir mißbilligt. Dies ist der Beweis, daß die Tatsache des Bewußtseins, welche uns vom Vorhandensein des Bösen überführt, ein zusammengesetzter Verlauf von Tatsachen ist, die in der Zeit einander folgen.

Das Vorhandensein des Bösen bleibt dabei unbestritten. Im Verlauf der Tatsachen unseres Bewußtseins muß etwas Böses zugegeben werden; worin es aber besteht, ist nun nicht mehr so sicher, wie es zu sein schien, so lange wir meinten daß es als einfache Tatsache vorläge. Daß diese Berichtigung des Tatsächlichen ihren guten Grund habe, wird jeder aus seiner Erfahrung leicht entnehmen können. Im Ganzen verleugnet sich wohl niemand, daß nicht alles gut in ihm bestellt ist; wenn es aber im Besonderen darauf ankommt anzugeben, wo die Schuld liege, so fordert das eine schwierige Selbstprüfung, über deren Genauigkeit in allen Punkten man selten sich Rechenschaft geben kann.

Das Urphänomen des Bösen zerlegt sich also in zwei Bestandteile, den Willen und das Urteil über ihn. Gewöhnlich sucht man nur im ersteren das Böse. Dies kann sich auf die Praxis berufen, in welcher das letzte Urteil die Entscheidung gibt. Auch die Theorie pflegt beizustimmen; denn das reifere Nachdenken der zweiten Gedanken scheint uns einen besseren Grund zu haben als die weniger überlegten schnellen Entschlüsse, welche beim ersten Angriff der Sache gefaßt werden. Einer solchen Übereinstimmung der Meinungen wird sich schwer widerstehen lassen. Sie hat sogar ein geheiligtes Ansehen an sich gezogen. Man sagt, der böse Wille wird verurteilt von eine Ausspruch eines unfehlbaren Gewissens oder des göttlichen Sittengesetztes. Dennoch können wir diesen Meinungen nicht ohne Bedenken uns unterwerfen. Wenn man auch zugeben wollte, das Gewissen könnte nie irren: so würde doch erst zu beweisen sein, daß unser Urteil über den Willen ein Ausspruch des Gewissens ist; die höchste Autorität des göttlichen Gesetzes fechten wir nicht an, aber die Anwendung desselben auf den vorliegenden Fall ist dem Zweifel unterworfen. Wenn das spätere Urteil unseren früheren Willen verdammt, so kann es, wie alle unsere Urteile, irren; wenn es als das reifere Urteil das Vorurteil größerer Sicherheit für sich hat, so haben wir es doch nicht gleichzusetzen dem letzten Urteil, von welchem keine Berufung statthaft wäre. Was wir also schon früher als möglich setzten, daß der Wille mit Unrecht als böse verdammt würde, muß aufrecht erhalten werden. Ist es uns nie vorgekommen, daß wir uns Vorwürfe gemacht haben ohne Grund? Das psychologische Urphänomen bezeugt uns nur einen noch nicht endgültig entschiedenen Streit zwischen Willen und Urteil.

Aber wenn nun auch zweifelhaft bleiben sollte, ob der Wille als böse zu verdammen ist, würde dadurch das Böse verschwinden? Vielmehr es würde nur der anderen Seite der vorliegenden Tatsachen, es würde nur dem Urteil zufallen; dieses würde im Unrecht bleiben. Wir haben zwar früher vom Willen gesagt, nur in ihm könnte der Grund des Bösen gesucht werden; aber wir haben auch schon bemerkt, daß die Urteile unseres Verstandes in unserem Willen begründet sind. Mein freies Denken findet seinen Abschluß in einem Entschluß meines Willens; ich urteile, weil ich urteilen will. Mag es daher sein, daß mein früherer Wille, welcher jetzt vom Urteil verdammt wird, oder daß mein jetziger Wille, welcher das verdammende Urteil fällt, vor dem obersten Gesetz nicht bestehen kann, etwas Gesetzwidriges ist da im Verlauf der Tatsachen, welche uns das Problem des Bösen vorlegen.

Hierdurch stellt sich das tatsächlich Vorliegende etwas anders, als es in einer gewöhnlichen Meinung gefaßt wird. In dieser pflegt man den Willen zu beschuldigen, das Urteil freizusprechen; die Verdammung des ersteren fällt daher unbedingt aus. Daraus kann man sehen, daß man in dieser Auffassungsweise nichts weniger als beim Tatsächlichen stehen bleibt. Das Tatsächliche legt uns nur etwas Problematisches vor. Bei den Tatsachen des Bewußtseins stehen bleibend verteilt sich uns der Verdacht, welcher am Bösen klebt, zwischen Willen und Urteil oder bleibt auch an beiden haften, denn beide zugleich können fehlen. Die Tatsachen legen uns nur das Problem vor; das letzte Urteil ist noch nicht gesprochen. Die Erfahrung hat nun herausgestellt, daß der Mensch im Guten mit sich einig ist, im Bösen dagegen sein Wille und sein Urteil auseinanderklaffen.

Was am meisten dieser richtigen Erhebung des Tatbestandes sich entgegensetzt, besteht in der ungleichmäßigen Beurteilung des Willens und des Urteils, welche in der praktischen Denkweise herrscht. Ihr liegt es mehr nahe an jene als an diese sich zu halten: das Urteil des Verstandes zu untersuchen fällt der Theorie zu; die gewöhnliche Denkweise nimmt es ungeprüft als richtig an. Hieraus ist die Meinung entstanden, die Sünden des Verstandes hätten wenig oder nichts zu bedeuten; nur unfreiwillig gerieten wir in Irrtum; Täuschung könnten wir gar nicht vermeiden und nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn wir den gewöhnlichen Vorurteilen der Menschen folgten. Als wenn wir unser Urteil nicht zurückhalten könnten. Folgerichtig läßt sich diese Gleichgültigkeit gegen die Gedankensünden freilich nicht festhalten. Wenn es sich um heilige Wahrheiten handelt, dann ist man eifrig genug nicht allein den Irrtum, sondern auch die Unwissenheit und den Unglauben zu verdammen. Man mag Ursache haben einige Überzeugungen für unerläßlicher zu halten für das sittliche Leben als andere; aber schließlich muß doch jede Wahrheit uns als heilig gelten und jede Verleugnung derselben als Sünde. Man hat mit Recht darauf gedrungen, daß wir das Böse bis in die kleinsten Regungen unseres Bewußtseins verfolgen sollten, weil es seine Wurzeln in der Dämmerung unseres Bewußtseins hat; das wird uns auch leiten müssen in der Beurteilung der kleinen Fehler, welche in Vorschnelligkeit und Lässigkeit des Verstandesgebrauchs begangen werden. Wir haben Gesetze für das richtige Denken wie für das richtige Wollen; wenn wir die einen oder die anderen übertreten, so sündigen wir gleich schwer und in beiden Fällen gegen die Gesetze für das richtige Wollen. Daß man die Sünde gegen die Gesetze des Willens in der gewöhnlichen Meinung von der Sünde gegen die Gesetze des Denkens unterscheidet und für schwerer als diese hält, liegt nur darin, daß man beim Willen auch sogleich an das Handeln denkt, zu welchem er führt, und an den Schaden, welchen es in der Gesellschaft der Menschen anrichtet, während das Denken im Innern des Menschen verschlossen bleibt und seine Sünden nur dem Denkenden schaden. Aber der größere oder geringere Schaden des Bösen wird nicht zu seinem Maßstab genommen werden dürfen.

Unsere Auffassung der Tatsache verteilt aber auch nicht allein, wie wir sagten, den Verdacht, sondern auch die Last des Bösen zwischen die beiden Glieder seines Verlaufs. Wie auch das redliche Urteil ausfallen mag, zur Schuld des Willens oder des Urteils, einer von beiden behält Recht oder auch beide teilen Recht und Unrecht untereinander, d. h. in den Tatsachen, welche uns das Problem des Bösen vorlegen, ist nicht alles böse, sondern es kommt auch etwas Gutes zum Vorschein. Mit anderen Worten können wir sagen: im Leben der Dinge sind Gutes und Böses immer miteinander verbunden und nicht allein in dem Sinne, welcher schon früher bemerkt wurde, ist das Böse eine Abstraktion, daß es an einer Person sein muß, welche auch etwas Gutes an sich tragen kann, sondern auch in der Weise, daß es im Leben einer solchen Person immer in Verbindung mit etwas Gutem vorkommen muß und nur eine Seite der in ihrem Leben verbundenen Momente bezeichnet.

Damit fällt nun freilich das unbedingt verdammende Urteil weg über das Böse, wie es als Tatsache in der Wirklichkeit vorliegt; nur über das Böse in seinem abstrakten Begriff kann es aufrecht erhalten werden. In der Wirklichkeit haben wir immer das mit ihm verbundene Gute zu schonen. Am deutlichsten ergibt sich diese Verbindung in den Fällen, in welchen wir annehmen, daß die endgültige Entscheidung auf beiden Seiten der streitenden Parteien ein Recht und ein Unrecht finden würde, und am leichtesten werden solche Fälle sich nachweisen lassen, in einer auch für die gewöhnliche Denkweise verständlichen Fassung, wenn wir vom Urteil ausgehen, weil man ihm seine Fehler am wenigsten hart anzurechnen pflegt.

Unsere Urteile über den Willen pflegen in viel unbedingterer Form gefällt zu werden, als unsere Urteile über den Verstand. Die Gegensätze zwar, um welche sie sich drehen, sind nach beiden Seiten zugleich scharf gestellt; der Wille ist gut oder böse, das Urteil des Verstandes ist wahr oder falsch; aber in der Anwendung derselben zeigt sich bald, wenigstens in der allgemeinen Theorie, ein merklicher Unterschied. Im gewöhnlichen Leben ist man wohl geneigt gewesen zwischen gutem und bösen Willen etwas Mittleres anzunehmen, halb gut, halb böse: in der Theorie aber hat man sich gegen diese laxe Beurteilung gesträubt. In ihr hat man das allgemeine Gesetz vor Augen, welches zum Maßstab für alle Sittlichkeit genommen werden muß; es gebietet unbedingt und läßt keinen mittleren Weg zu. Einem jeden unserer Zeitgenossen wird noch in frischem Gedächtnis sein, mit welcher Strenge KANT es in seinem kategorischen Imperativ ausgesprochen hat. Du sollst deine Pflicht wollen; willst du sie, so ist dein Wille gut, im Gegenteil ist dein Wille böse; zwischen diesen beiden Extremen gibt es nichts Mittleres. Man fürchtet einen Verrat gegen die Heiligkeit des Sittengesetzes sich zuschulden kommen zu lassen, wenn man sich von dieser Alternative auch nur das Geringste abdingen ließe. Nur in dieser Strenge des Urteils glaubt man dem Hang zum Bösen und zur Entschuldigung des Bösen entgegenarbeiten zu können. Daher nimmt man auch an, daß guter Wille, pflichtmäßige Gesinnung und der im Guten feste Charakter mit einem Mal fertiig und vollkommen vorhanden wären. Anders werden die Urteile über Wahres und Falsche von der Theorie gefällt; der Natur der Sache nach ist sie heimischer in den Vorgängen des theoretischen als des praktischen Lebens. Auch auf diesem Gebiet muß man die Pflicht richtig zu beurteilen anerkennen; Pflichterfüllung und Pflichtübertretung stehen einander ebenso entgegen, wie im praktischen Leben. Aber die Erfahrung hat uns gelehrt, daß wir nicht so plötzlich zur Wahrheit und zum richtigen Urteil gelangen, wie man meint zum guten Willen gelangen zu können; in ihren Untersuchungen über das theoretische Leben hat die Theorie zugestehen müssen, daß man zu etwas Mittlerem kommen könnte zwischen Wahrem und Falschem. Zweifel und Meinungen sind möglich, ungenaue Urteile, welche weder reiner Irrtum, noch reine Wahrheit sind, halb wahr, halb falsch. Unsere Pflicht richtig zu denken sollen wir erfüllen; aber wenn wir sie nicht erfüllt haben, so müssen wir sie nich notwendigerweise übertreten haben, sondern wir können in ihrer Erfüllung begriffen bleiben und nur noch nicht fertig mit ihr geworden sein.

Die Anwendung hiervon auch auf den Willen zu machen, würde wohl nicht allzu schwierig sein. Es genügt uns aber uns davon zu überzeugen, daß, wenn im Urphänomen des Bösen sich das Urteil dahin entscheidet, daß der Wille böse ist, dieses Urteil halb richtig, halb falsch sein könnte, um gewahr werden zu lassen, daß eine Verbindung von Gutem und Bösen in den Erscheinungen unseres Lebens nicht zu den Unmöglichkeiten gehört.

Unsere Absicht bei den gegenwärtigen Untersuchungen war nur die psychologische Tatsache festzustellen. Wir haben sie erreicht und können uns vorläufig hiermit begnügen. Weitere Untersuchungen werden nicht ausbleiben; denn wir haben nur gezeigt, wie das Böse erscheint, als ein Streit nämlich in uns zwischen Willen und Urteil, man wird auch wissen wollen, was es ist. Solange das Böse dauert, ist über den Streit nichts entschieden; daß eine Entscheidung gesucht werden muß, wird sich niemand verbergen können; aber solange das Böse schwebt, schwebt auch der Rechtsstreit; es werden noch manche Voruntersuchungen dazu gehören, ehe wir zu einer richtigen Entscheidung über ihn gelangen können.
LITERATUR Heinrich Ritter - Über das Böse und seine Folgen, Gotha 1869