ra-2A. WuttkeH. HeineW. E. H. LeckyVoltaire    
 
AUGUST THOLUCK
(1799-1877)
Der sittliche Charakter der Heiden
[2/2]

"Eine andere Klasse von Heiden glaubte sich durch ihre Bildung und ihren Verstand in religiöser Hinsicht weit über das Volk erhaben, indessen waren sie doch nicht so verblendet, daß sie nicht hätten anerkennen sollen, das Volk, bei welchem nicht die feineren Laster des Ehrgeizes und des Tugendstolzes die gröberen Ausbrüche der Sünde zu unterdrücken vermögen, könne nur durch positive Religionslehren in Zügel gehalten werden."

"Denn das ist dem Philosophen unmöglich, den Haufen der Weiber und der niedrigen Volkshefe zu Verstand zu bringen und sie zur Frömmigkeit, Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit zu führen, das muß durch den Aberglauben geschehen und dieser kann nicht sein ohne Fabeleien und Wundergeschichten."

So sehen wir, daß die besseren und gebildeteren Heiden wohl begriffen, wie nicht bloß töricht, sondern auch verderblich und Gefährlich die Religionslehren ihres Volkes waren, wie dieselben mehr dazu dienen konnten, die Sünde hervorzurufen, als zu unterdrücken, in Bezug auf welche Einsicht AUGUSTIN nicht mit Unrecht sagt:  "PLATO, welcher die Schlechtigkeit der griechischen Götter erkannt und ernst gerügt habe, verdiene eher Gott zu heißen, als jene Sündendiener."  Dennoch aber suchten die Besseren und Weiseren unter diesen Völkern selbst die entstellten und verderbten Religionsformen aufrecht zu erhalten, welche sie einmal hatten. Die Beweggründe dafür waren freilich verschieden. Einige drangen auf die Erhaltung derselben aus einer gewissen  vornehmen Trägheit.  Es waren dieses Menschen, welche keine feurige Begeisterung für das Heilige kannten, die im Gang der Welt mit fortleben wollten, doch aber eine innere innere Stimme nicht verleugnen konnten, welche sie auf das Bedürfnis eines positigen Zusammenhangs mit einer höheren Weltordnung hinwies. Durch Kampf und rastloses Forschen zur Erkenntnis der Wahrheit hindurchzudringen, waren sie zu träg, daher fürchteten sie sich vor dem Studium der Philosophie, welche so verschiedene Wege zeigt, allemal aber mit der bestehenden Religion in Streit zu sein schien. Sie hielten es daher für das Sicherste, diese letztere zu erhalten, um sich ihrer in Notfällen zu bedienen. Es ist dieses dieselbe Gesinnung, die sich bei manchen Orthdoxen verschiedener Parteien, besonders bei Katholiken, oft gezeigt hat, welche alles forschende Studium nur deswegen verwarfen und zu unterdrücken suchten, um sich des Trostmittels nicht berauben zu lassen. welches ihnen in Stunden der inneren und äußeren Not die Religion geben sollte. Jene träge Gesinnung der gebildeteren Heiden schildert EUSEBIUS. Sie spricht sich auch bei dem Heiden CÄCILIUS aus, welcher sich bei MINUTIUS FELIX so äußert:
    "Da nun entweder der Zufall gewiß ist oder die Natur unergründlich, wie viel verehrungswürdiger und besser ist es, zur Entscheiderin der Wahrheit die Lehre der Vorfahren anzunehmen, die überlieferten Religionen zu verehren, die Götter, welche deine Eltern dich fürchten lehrten, ehe wir tiefer in ihre Erkenntnis eindrangen, anzubeten, und kein Urteil über sie auszusprechen, sondern den Vorfahren zu trauen, welche in einer noch rohen Zeit beim Anfang der Welt Götter zu Königen oder Freunden zu haben gewürdigt wurden?"
Und an einer anderen Stelle sagt derselbe:
    "Was zweifelhaft ist, muß man lassen wie es ist und während so viele und so große Männer hin und her streiten, muß man nicht keck und leichtsinnig nach einer Seite hin ein Urteil fällen, damit weder altweibischer Aberglaube eingeführt, noch alle Religion umgestürzt werde."
Auch mag so mancher gebildete Heide, der sein ganzes Leben hindurch sich um religiöse Angelegenheiten nicht von Herzen bekümmerte, nachher in Stunden der Bedrängnis oder des herannahenden Alters nicht bloß auf jene äußereliche Weise in seiner Religion Trost gesucht und den Sagen derselben Aufmerksamkeit geschenkt, sondern wirklich von Herzen sich mit denselben beschäftigt haben, da, abgesehen von der Lehre aller Philosophen, ein Lehrgebäude über göttliche und menschliche Dinge in der Brust eines jeden Menschen ist, das auch mehr mit den Überlieferungen selbst der verderbtesten Religion, als den Sätzen vieler Philosophen übereinstimmt. In diesem SInne sagt vielleicht der alte KEPHALOS im Anfang der  Republik  des PLATO:
    "Du weißt wohl, wenn man alt oder krank wird, glaubt man fester an die Sagen der Unterwelt."
Eine solche Bekehrung eines heidnischen Freigeistes schildert uns PLUTARCH in der in mehrerer Rücksicht merkwürdigen Erzählung, die wir im Auszug wiedergeben, ohne zu untersuchen, was daran geschichtlich sei oder nicht:
    "THESPESIOS von Soli, ein Bekannter und Freund jenes PROTEGENES, der hier bei uns ist, lebte anfänglich sehr verschwenderisch und ausschweifend, nachher, als er sein Vermögen durchgebracht hatte, bewog ihn die Not zur Schlechtigkeit seine Zuflucht zu nehmen. Er enthielt sich keiner Niederträchtigkeit, die nur Geld einbrachte und bekam so wieder ein schönes Vermögen zusammen, geriet dabei aber auch in den Ruf der abscheulichen Ruchlosigkeit. Am meisten brachte ihn in üblen Ruf eine Weissagung des AMPHILOCHOS. Er hatte nämlich zu dem Gotte sich mit der Frage gewendet: Ob er den Rest seines Lebens besser leben würde? und ihm war zur Antwort geworden: Er würde besser werden, wenn er stürbe. Eben das geschah aber auch gewissermaßen nicht lange darauf. Er stürzte nämlich von einer Anhöhe herauch auf den Nacken, verwundete sich zwar nicht, starb aber doch von dem Fall. Am dritten Tag indessen beim Begräbnis erhält er auf einmal Kräfte, kommt zu sich und nun geschieht in seinem Leben ein wunderbare Umwandlung. Denn die Kiliker kennen keinen, der in jener Zeit gewissenhafter in Verträgen, heiliger gesinnt gegen die Gottheit, beschwerlicher den Feinden, zuverlässiger den Freunden gewesen sei, so daß auch die, welche mit ihm umgingen, die Ursache dieser Veränderung zu hören wünschten, indem sie mit Recht meinten, eine solche Veränderung des Lebens zu so trefflicher Gesinnung könne nicht von selbst gekommen sein. Dem war denn auch so, wie er selbst dem PROTEGENES und andern verständigen Freunden erzählte. Als nämlich seine vernünftige Seele den Körper verlassen hatte, fühlte sie sich wie ein Steuermann, der aus seinem Fahrzeug in die Tiefe des Meeres geschleudert wird. Dann richtete sie sich auf und plötzlich schien sein ganzes Ich zu atmen und überall her um sich zu blicken, als hätte sich die Seele wie ein einziges Auge aufgetan. Von den früheren Gegenständen sah er nichts, sondern die ungeheuren Gestirne, in ungeheurer Entfernung voneinander, begabt mit wunderbarem Glanz und wunderbarem Getöne und die Seele glitt sanft und leicht wie in einer Windstille von einem Lichtstrom getragen, nach allen Richtungen hin. Er überging, was er sonst noch sah, in seiner Erzählung und sagte bloß: Er erblickte die Seelen der eben Verschiedenen, die aus dem Erdkreis heraufstiegen, sie bildeten eine flammenartige Blase, wenn diese zerriß, so ging daraus ruhig die Seele hervor, prächtig, in menschlicher Gestalt. Es bewegten sich aber die Seelen nicht alle gleich, einige schwangen sich mit wunderbarer Leichtigkeit herauf und stiegen unaufhaltsam in die über ihm liegende Höhe, andere drehten sich wie Spindeln, bald aufwärtssteigend, bald wieder herabsinkend und hatten eine gemischte und unruhige Bewegung. Die meisten kannte er nicht. Zwei oder drei aber erkannte er als seine Verwandten. Er wollte hinzutreten und sie anreden, doch sie hörten ihn nicht, denn sie waren nicht bei sich, sondern bewußtlos und jeden Augenblick, jede Berührung vermeidend, drehten sie sich zuerst für sich im Kreis, dann, wie sie auf mehrere trafen, die in demselben Zustand waren, bewegten sie sich mit diesen nach allen Seiten hin, indem sie undeutliche Töne ausstießen, wie Jauchzen mit Wehklagen vermischt. Andere wieder erschienen oben in der Höhe, hell leuchtend und aus Liebe sich einander anschließend, jene unruhigen aber fliehend. Eben dort sah er auch die Seele eines seiner Verwandten, aber nicht deutlich, denn es war derselbe schon als Kind gestorben. Jene indessen, sich ihm nähernd, sprach: "Willkommen THESPESIOS!" - Und da er antwortete, er heiße nicht THESPESIOS, sondern ARIDAIOS, erwiderte sie: "Früher hattest du zwar diesen Namen, von jetzt an aber heißt du THESPESIOS. Du bist indessen noch nicht gestorben, sondern nach einem besonderen Geschick der Götter deinem verständigen Geist nach hierher gekommen. Die andere Seele aber hast du wie einen Anker im Körper zurückgelassen. Jetzt und für die Zukunft sei dir ein Zeichen, dich von den wirklich Gestorbenen zu unterscheiden, daß die Seelen der Abgeschiedenen keinen Schatten mehr werfen und unverwandt ohne zu blinzeln ins obere Licht zu schauen vermögen." Darauf führte diese Seele den THESPESIOS durch alle Teile der jenseitigen Welt und erklärte ihm die geheimnisvollen Fügungen und Leitungen der göttlichen Gerechtigkeit, warum manche schon in diesem Leben gestraft werden, andere nicht und zeigte ihm auch alle Arten von Strafen, welche jenseits den Gottlosen zuteil werden. Mit heiliger Scheu sah er alles an und nachdem er dies alles als Zuschauer gesehen hatte, geriet er zuletzt noch, da er sich eben entfernen wollte, in gewaltige Angst, denn es ergriff ihn, eben als er von dannen eilen wollte, eine Frau, wunderbar an Aussehn und Größe und sprach: "Komme her, damit du alles desto besser behaltest!" und dabei langte sie ein glühendes Stäbchen, wie die Maler es haben, hervor, als eine andere sie hinderte und ihn erlöste. Er aber, plötzlich wie von einem gewaltigen Sturmwind fortgerissen, sank auf einmal in seinen Körper zurück und blickte am Grab wieder auf."
Noch ein Beispiel einer solchen Sinnesänderung gibt uns  der Atheist  BION, er in seiner letzten Krankheit bereute, was er gegen Gott gesündigt hatte.'

Eine andere Klasse von Heiden glaubte sich durch ihre Bildung und ihren Verstand in religiöser Hinsicht weit über das Volk erhaben, indessen waren sie doch nicht so verblendet, daß sie nicht hätten anerkennen sollen,  das Volk, bei welchem nicht die feineren Laster des Ehrgeizes und des Tugendstolzes die gröberen Ausbrüche der Sünde zu unterdrücken vermögen,  könne nur durch positive Religionslehren in Zügel gehalten werden. Auch sie waren daher dafür, daß eine Volksreligion bestehe, da eine solche auch in ihrer verderbtesten Gestalt doch noch mehr wirke, als eine abstrakte kalte Philosophie. Diese Gesinnung spricht STRABO aus, welcher überhaupt die Wirkungen der Religion sehr in das Gebiet seiner Betrachtungen gezogen hat. Er sagt:
    "Fabeln haben nicht bloß die Götter erfunden, sondern auch die Städte noch viel früher und so auch die Gesetzgeber des Nutzens halber, indem sie eine natürliche Neigung des vernünftigen Wesens berücksichtigten. Der Mensch ist nämlich wißbegierig, den Anfang dazu macht die Begierde nach Fabeln, damit beginnt bei den Kindern der allmählich immer stärker werdende Anteil an Erzählungen. Der Grund davon ist, weil die Fabel etwas Neues, Ungewöhnliches aussagt. Das Neue aber und was man früher nicht wußte, ist angenehm, eben das macht auch wißbegierig. Ist aber Wunderbares und Unerhörtes dabei, so vergrößert dies das Vergnügen, welches der Sporn ist zu allem Lernen. Im Anfang nun muß man sich dergleichen Lockmittel bedienen, mit steigendem Alter aber zur Erlernung des Wirklichen leiten, wenn der Verstand schon erstarkt ist und keiner Schmeichler mehr bedarf. So ist denn auch jeder Ungebildete und Unwissende gewissermaßen ein Kind, er hängt auch ebenso an Fabeln; um nichts weniger trifft dies ein bei dem etwas Gebildeten, auch dieser ist noch incht stark am Verstand, auch kommt die Gewohnheit des Kindesalters hinzu. Da aber das Wunderbare nicht bloß angenehm, sondern auch furchtbar sein kann, so muß man sich bei Knaben und noch nicht Erwachsenen beider Gattungen bedienen. Den Knaben geben wir liebliche Fabeln, um anzulocken, furchtbare, um abzuschrecken. So ist die Lamia, Gorgo, der Ephialtes, die Mormolyke eine Fabel. Auf diese Weise werden auch die niedrigen Klassen der Städtebewohner durch angenehme Fabeln angetrieben, wenn sie von den Dichtern die mythischen Großtaten erzählen hören, wie die Kämpfe des HERAKLES oder des THESEUS oder die von den Göttern erteilten Ehren oder wenn sie Bilder, Statuen, Kunstwerke sehen, welche dergleichen fabelhafte Katastrophen darstellen; sie werden dagegen abgeschreckt, wenn sie von den Göttern Züchtigungen, Schrecknisse und Drohungen durch Worte oder durch grausige Erscheinungen erwarten oder auch meinen, sie erfahren zu haben.  Denn das ist dem Philosophen unmöglich, den Haufen der Weiber und der niedrigen Volkshefe zu Verstand zu bringen und sie zur Frömmigkeit, Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit zu führen, das muß durch den Aberglauben geschehen und dieser kann nicht sein ohne Fabeleien und Wundergeschichten.  Denn der Donnerkeil, die Aegide, der Dreizack, die Lampen, die Drachen, die Thyrsus-Speere der Götter sind Fabeln, wie die ganze alte Götterlehre. Das haben die Gründer der Staaten wegen der kindisch Gesinnten als Popanz angenommen."
Ebenso vornehm, aber auch eben so staatsklug erklärt sich der umsichtige und scharfblickende POLYBIUS:
    "Sehr zum Besseren unterscheidet sich der römische Staat von den übrigen durch den Glauben an die Götter. Was bei anderen Menschen getadelt wird, scheint mir gerade die Begründung des römischen Staates auszumachen, nämlich der Aberglaube. Denn was Bezug darauf hat, ist so ausgebildet und in das Privat- und öffentliche Leben so tief eingedrungen, als nur irgend möglich ist. Vielen wird das auffallend erscheinen. Mir aber scheint es, man habe des gemeinen Haufens willen dies so veranstaltet. Wollte man aus lauter weisen Männern einen Staat bilden, so wäre vielleicht ein solches Verfahren gar nicht nötig. Da aber jeder Volkshaufen leichtsinnig und voll ausschweifender Begierden ist, voll unvernünftigen Zornes, heftiger Wut, so bleibt nichts anderes übrig, als sie durch unsichtbare Schreckmittel und dergleichen Schaudergeschichten im Zaum zu halten. Daher scheint es mir, daß die Alten die Vorstellungen von den Göttern und die Lehre von der Unterwelt keineswegs ohne Grund unter dem Volk verbreitet haben und daß weit leichtsinniger und unvernünftiger die verfahren, welche sie jetzt entfernen. Denn diejenigen, welche bei den Griechen öffentliche Gelder verwalten, können, auch wenn ihnen nur ein einziges Talent anvertraut wird, nicht treu sein, mögen auch zehn Kontrolleure, ebensoviel Siegel und doppelte Zeugen zugegen sein; bei den Römern aber beobachten die, denen in Ämtern oder bei Gesandtschaften auch noch so große Summen anvertraut werden, ihre Pflicht bloß um des Eides willen. Bei anderen Völkern ist es selten, jemanden zu finden, der öffentliche Gelder nicht veruntreute, bei den Römern aber ist es selten, einen bei so einer Tat anzutreffen."
An diese gewiß von allen Staatsleuten zu beherzigende Stelle schließen wir noch eine aus POLYBIUS verwandten Inhalts:
    "Soviel als dazu dient, die Gottesfurch und Frömmigkeit unter dem Volk zu erhalten, muß man auch einigen Schriftstellern nachsehen, welche über dergleichen DInge sehr viel Sonderbares und Märchenhaftes erzählen, nur Übertreibung in diesem Stück darf man nicht erlauben."
Aus demselben staatsklugen Grund übten auch selbst die leichtfertigen Athener keine Duldung aus gegen solche, welche das Dasein der Götter auch nur zweifelhaft darstellten. So wurde PROTAGORAS, der Abderite, wegen dieses Zweifelsinnes aus der Stadt getrieben und seine Bücher in öffentlicher Volksversammlung verbrannt.

Aus edlerem Grund entsprang aber bei einer dritten Klasse die Anhänglichkeit an die väterlichen Religionslehren. Diese Klasse von Menschen bildete sich bei überhandnehmendem Unglauben. In den letzten Jahrhunderten vor und den ersten Jahrhunderten nach CHRISTO geriet nämlich das Heidentum in immer größeren Verfall, der Aberglaube und der Unglaube, wie wir das weiter unten genauer sehen werden, verdrängte immer mehr die einfache Überzeugung von den auch aus der verstellten Religion noch hervorschimmernden Wahrheiten. Die Bildung des Geistes war so weit fortgeschritten, daß die Religion in ihrem mythischen Gewand nicht mehr als zuverlässige Wahrheit angenommen wurde; der beigemischte Irrtum machte auch das echt Göttliche, das versteckt und verderbt war, ungewiß. Es war also wirklich die von der Vorsehung vorbereitete Zeit gekommen, wo das Heidentum einer neuen Lehre und einem neuen geistigen Leben weichen sollte. Diejenigen nun, welche in der Zeit dieses allgemeinen Verfalls die neue göttliche Heilsanstalt nicht kannten oder nicht kennen wollten, dennoch aber das Bedürfnis nach einer göttlichen Offenbarung unverleugbar in ihrem Innern fühlten, begaben sich an eine tiefere Erforschung dessen, was ihre Religion ihnen bot. Da ein großer Teil der griechischen Mythen bloß Symbole sind, welche aus dem alles Geistige in veranschaulichenen Bildern darstellenden Orient in das Abendland übergingen, von den leichtfertigeren Griechen aber bald, ohne nach dem tieferen Sinne zu forschen, nur als unterhaltende Erzählungen betrachtet wurden, so mußte solchen forschenden, ernsten Männern der ursprüngliche Sinn sich wieder offenbaren, wenn sie zumal von PLATO schon Beispiele und Versuche erhalten hatten, welcher gewichtvolle Sinn oft den einfachsten Mythen zu entlocken sei. Dazu kam, daß die Geheimlehren der Griechen für den weiter Vorgeschrittenen noch die Deutung von so manchen Sinnbildern und Sagen erhalten hatten, wodurch dieselben in erhabenerem Licht erschienen. Es geschah also in jener Zeit, daß Männer von jenem religiösen Bedürfnis getrieben, nach Anleitung der Deutungen der Geheimlehren und nach dem Vorbild PLATOs, den ethischen und physischen Sinn der Mythen aller Völker aufsuchten und da sie Mehreres wahr und glücklich gelöst hatten, in einigen Mythen wirklich, in anderen vermeintlich hohe Weisheit gefunden, die Mythologien der alten Welt für die Schatzkammer aller höheren Erkenntnis hielten und als solche priesen. Da ferner die Sagenwelt aller Nationen des Altertums eine gemeinsame Wurzel in Hochasien hat, da die Mythologien der einzelnen Völker nur als Äste eines und desselbigen Baumes zu betrachten sind und daher in der Tat große Ähnlichkeiten miteinander darbieten, so war es in der Sache gegründet, daß jene Forscher zu dem Ergebnis gelangten, ein und dieselbe göttliche Offenbarung finde sich bei allen Völkern, nur unter verschiedenartigen Symbolen und Hüllen und gerade dadurch werde die Gewißheit der vaterländischen Religion erhöht - gewiß ein ansprechender und begeisternder Gedanke! - So sagt PLUTARCH, welcher der vornehmste unter diesen Neu-Platonischen Religionsphilosophen ist:
    "Wir glauben nicht, daß verschiedene Götter bei verschiedenen Völkern sind, griechische und ausländisch, südliche und nördlich; sondern wie Sonne und Mond und Himmel und Erde und Meer allen Menschen gemein, von anderen aber anders benannt wird, so sind, während  ein  Verstand alles ordnet und  eine  Vorsehung alles leitet und dienende Mächte über alles geordnet sind, bei Verschiedenen verschiedene Verehrungen und Benennungen von den Gesetzen festgestellt worden."
Wie sehr diese Männer das Belebende einer positiven, im Glauben verrichteten Gottesverehrung fühlten, zeigt derselbe PLUTARCH, indem der die Wonne des Gottesdienstes schildert: "Freilich muß man vom Glauben an die Götter den Aberglauben wie vom Auge den Schmutz entfernen.  Ist indessen dies nicht möglich, so möge man ja nicht zugleich das Glaubensauge ausstechen oder blenden, wodurch die meisten an den Göttern hängen.  Dieser Glaube ist aber nicht etwas Furchterregendes, Düstres, wie die Epikuräer ihn darstellen, um dadruch die Vorsehung zu verleumden, als schreckte sie uns wie Kinder oder verfolgte uns wie eine verderbende schauerliche Rachegötting.  Es gibt wohl wenige unter denen, welche die Gottheit fürchten, denen es besser wäre, wenn sie sie nicht fürchteten.  Denn indem sie dieselbe wie einen Fürsten, welcher den Guten gnädig, den Bösen feindlich ist, fürchten, werden sie durch diese  eine  Furcht, um welcher willen sie nicht vieler anderen bedürfen, die sie vor dem Bösestun bewahrten, sondern die Bosheit still an sich halten, bis sie sich allmählich verzehrt, lange nicht so sehr beunruhig, als die, welche der Bosheit ihren Lauf lassen, ihrer Keckheit Raum geben, nachher aber sogleich in Schrecken geraten und Reue empfinden. Die Gesinnung indessen, welche die meisten Ungebildeten, aber nicht ganz Verdorbenen gegen die Gottheit hegen, hat freilich neben der Ehrfurcht und Scheu auch noch eine gewisse Beängstigung und Furcht, welche man auch Aberglaube (Deisidaimonie) zu nennen pflegt;  tausendmal einflußreicher und größer ist aber dabei die Fröhlichkeit und gute Hoffnung,  mit der sie den Lohn der Frömmigkeit, als von den Göttern ausgehend, erbitten und aufnehmen. Dies erhellt sich auch aus den deutlichsten Beweisen. Denn kein Aufenthalt in den Tempeln, keine Festzeit, keine Tat und kein Anblick erfreut mehr, als was wir selbst sehen oder tun in Bezug auf die Götter, mögen wir den bacchantischen Lustbarkeiten, den heiligen Reigen, oder den Opfern oder Mysterien beiwohnen. Denn das Gemüt ist hierbei nicht trübsinnig, niedergeschlagen und mißmutig, als ginge es mit Tyrannen und furchtbaren Züchtigern um, wie es alsdann der Fall sein müßte,  sondern wo es überzeugt ist, daß die Götter am meisten gegenwärtig sind, da überläßt es sich, Trübsinn, Furcht und Kummer verbannend, der Freude  bis zum Rausch, Scherz und Gelächter; in den Liebesfesten, wie der Dichter sagt:
    Selbst der Greis und die Greisin, wenn der goldnen Aphrodite
    Sie gedenken, auch denen wird das liebe Herz von Freude bewegt -
bei den festlichen Aufzügen aber und Opfern wird nicht bloß der Greis und die Greisin, nicht bloß der arme und gemeine Mann, sondern auch
    Die dickschenklige Malerin, die an der Mühle sich bewegt,
ja auch der Haussklave und Tagearbeiter von Wohlsein und Freude belebt werden. Reiche und selbst Könige feiern festliche gemeinschaftliche Mahle. Bei den Opfern und wenn sie die Gottheit am nächsten zu berühren glauben, fühlen sie unter der Verehrung eine ganz besondere Wonne und Freude. Davon aber weiß der nichts, welche die Vorsehung leugnet.  Denn es ist weder des Weines Fülle, noch das gebratene Fleisch, was an den Festen erfreut, vielmehr ist es die liebliche Hoffnung und der Glaube, der Gott sei wohlwollend gegenwärtig und nehme freundlich das Dargebrachte an.  Flöte und Kranz fehlen bei jedem anderen Fest; ist aber der Gott nicht gegenwärtig beim Opfer, so ist, wie das Opfertier des Mahles, so auch alles Übrige gottverlassen, unfestlich und unbegeisternd, ja alles ist freudenleer und trübe für den Opfernden.  Aus Furcht der Menge heuchelt er Gebete und Anbetungen, ohne daß er ein Bedürfnis hat und spricht Worte aus, die mit seiner Philosophie in Widerspruch stehen.  Wenn er opfert, tritt er neben den schlachtenden Priester, wie neben einen Koch und hat er geopfert, so geht er weg mit dem Vers des Menander:
    "Geopfert hab' ich Göttern, die auf mich nichts achten."
Wohl hat PLUTARCH hier treffend und ergreifend die Gemütsleere dessen geschildert, der ohne Glauben an eine Offenbarung Gottes dennoch in der Reihe solcher lebt, welche diesen Glauben noch besitzen; wohl hat er Recht, wenn er an einer anderen Stelle sagt, man müsse alle Gründe aufsuchen, um  den frommen, väterlichen Glauben  zu verteidigen, aber es frägt sich eben, ob die Mittel, welche diese Philosophen ergriffen, die rechten waren, um allgemein wieder die heidnische Religionslehre in Ansehn zu bringen. Dunkel scheint dem PLUTARCH selbst der Grund vorgeschwebt zu haben, warum das Heidentum, als es einmal so weit versunken war, kaum einer Verbesserung fähig sein mochte. Er macht nämlich bemerklich, daß die Worte wie Münzen gelten. In alter Zeit, sagt er, sei weit mehr Begeisterung unter den Menschen gewesen; damals sei die Geschichte und Philosophie und Religion und das ganze Leben Poesie gewesen, daher hätten nach den Bedürfnissen der Menschen auch die Götter ihre Aussprüche in hochdichterischen Ausdrücken gegeben. Jetzt aber, zu seiner Zeit, sei man weit einfacher und prosaischer geworden, daher erfordere auch das Bedürfnis seines Zeitalters einfache, ungezierte Götter-Aussprüche.

Der edle Heide wußte nicht, daß damals schon die einfachste und faßlichste Offenbarung Gottes an das Menschengeschlecht gekommen war. Jene Poesie nun in der heidnischen Religion war es auch, welche einer Umbildung auf jenem von den Platonikern versuchten Weg entgegenstand. Denn wenngleich jene Männer in den Mythen einen schönen sittlichen Sinn nachwiesen oder hineinlegten, so erschien doch dem Volk eben nur die Lehre als eine schöne Poesie. Den sittlichen Kern herauszufinden, waren sie zu unverständig oder zu träge. Dies spricht schon recht treffend DIONYSIUS von Halikarnassos aus. Er sagt:
    "Ich weiß zwar, daß Viele die griechischen unzüchtigen Fabeln dadurch entschuldigen, daß sie allegorisch seien; aber wiewohl ich dies so gut als irgendjemand weiß, bin ich dennoch sehr vorsichtig gegen sie und halte es mit der römischen Götterlehre, indem ich erwäge, daß das Gute aus den griechischen Mythen nur gering ist und auch nicht Vielen etwas helfen kann, sondern bloß denen, die erforscht haben, weswegen sie erfunden worden sind; Wenige sind es jedoch, die dieser Philosophie teilhaftig geworden sind. Dagegen pflegt der große, unphilosophische Haufen jene Erzählungen eher im schlechteren Sinne zu nehmen und eins von beiden zu erfahren, entweder die Götter zu verachten, die sich in der größten Schlechtigkeit herumwälzen oder sich auch des Abscheulichsten und Verworfensten nicht zu enthalten, wenn sie sehen, daß dasselbe auch die Götter tun."
So bewies es sich dann auch durch die Tat, daß die Bemühungen jener Platoniker keineswegs bis zum armen, sich selbst überlassenen Volk durchdrangen; dies blieb nach wie vor seinen dumpfen, verkehrten Begriffen und elenden äußeren Zeremonien überlassen. Aber wichtig und groß müssen uns diese Bestrebungen nichts desto weniger teils an sich erscheinen, als aus heiligen und für das Göttliche entflammten Gemütern hervorgehend, teils in Rücksicht aufs Christentum, welches alle jene von den Platonikern und insbesondere von PLUTARCH gefühlten Bedürfnisse so überschwenglich befriedigte, indem es nicht nur durch die Lehre von einem heiligen Gott und einem heiligen Gottestaat, in welchem jeder Erlöste und von der Sünde Gereinigte aufgenommen werden soll, den sittlichen Anlagen des Menschen ein erhabenes Ziel vorsetzte, sondern auch durch den Versöhnungstod und die vom göttlichen Versöhner ausströmenden Lebenskräfte dem gefallenen das Vermögen verlieh, in jene himmlische Ökonomie eingehn und Teil haben zu können am seligen Leben. Auch waren es hier nicht bloß die  pepaideumenoi,  die Gebildeten, die an der verheißenen Herrlichkeit Anteil hatten, sondern jedes Glied des Menschengeschlechts bekam dasselbe Anrecht auf die königliche Priesterwürde der Erlösten, dasselbe himmlische Erbteil. Denn das Mehr oder Minder des Wissens und der Erkenntnis sollte ja nicht ferner mehr der Maßstab der Würde für den Menschen sein, wei das der gewöhnliche Irrtum auch der besseren Heiden, auch eines PLATO war, auch nicht Kasteiungen sollten diese Würde dem Menschen versichern, zu welchen jeder Körper geeignet ist, sondern das kindliche Aufnehmen im Glauben des Wortes vom Kreuz, die Nachfolge des verachteten JESU unter Hohn, Schmach und Spott, in Selbstverleugnung, Demut und Liebe.
LITERATUR August Tholuck, Der sittliche Charakter des Heidentums, Gotha 1867