ra-2P. TillichJ. C. BluntschliBakunin    
 
ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Die Trennung von Staat und Kirche
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"Die Kirche hat für ihre Überzeugung nur besonders alte und eindrucksvolle Begründungen, sie schützt die Absolutheit ihrer Erkenntnis durch die Behauptung ihres zugleich übernatürlichen Charakters, womit sie Unzähligen, die vom Wechsel menschlicher Meinungen ermüdet sind, den allein möglichen Ausweg zu treffen scheint. Aber in alledem vertritt sie doch nur auf besondere Weise ein ganz allgemeines natürliches Bedürfnis des Menschen, das Bedürfnis nach festen und bleibenden Wahrheiten und Werten, die insbesondere für die Erziehung unentbehrlich sind."

"Die durch die Beziehungen ihrer Landesfürsten zusammengehaltenen Landeskirchen bildeten die wahre Einheitskirche, neben der die anderen Kirchen als Abgefallene und Häretiker zu beurteilen waren. Da war es dann auch von der Voraussetzung der einen, übernatürlichen Wahrheit aus ein schweres Problem, wie Gott einen solchen Abfall von ihr hatte zulassen können; und schon Luther hatte zur Beruhigung dieses schweren Bedenkens die Lehre ausgebildet, daß eben die katholische Papstkirche die in der Bibel geweissagte Kirche des Antichrist sei."

Alles das ist aus leidenschaftlichen Kämpfen der Gegenwart bekannt. Man muß nur die Billigkeit haben zu verstehen, daß das alles aus logisch sehr wohl begründeten Forderungen stammt, die auch der katholischen Kirche keineswegs allein eigentümlich sind. Es ist eben der Besitz einer absoluten Wahrheit, der zu diesen Folgerungen drängt und der sich vielleicht der politischen Beeinflussung des Staates, aber nimmermehr der geistigen Beeinflussung der Schule enthalten kann. Wo der Staat Schulen und Bildungsanstalten in seiner Hand hat, wird die Kirche wenigstens diese Seite der Staatsverwaltung mit unter ihren Einfluß zu bringen suchen müssen und auch die dazu dienlichen politischen Mittel nicht verschmähen können. Erleben wir es doch auch sonst stets von neuem, daß jede wissenschaftliche oder sozialethische Lehre, die sich als absolute Wahrheit oder, wie man sagt, als Ergebnis der modernen Wissenschaft und Forderung der Vernunft empfindet, ihre Hand auf die Schule legt, ihre Ergebnisse an der Staatsschule gelehrt oder gar ihre Weltanschauung dem Unterricht zugrunde gelegt sehen will. Es sind nicht weniger Anathematismen [Verfluchungen - wp] im Namen der modernen Wissenschaft, des Fortschritts und der Bildung ergangen, als in dem der Kirche und alle diese Anathematismen waren zugleich eine meist politisch-agitatorisch unterstützte Forderung, der eigenen Lehre den Thron in der Schule zu errichten. Das ist nur natürlich; denn das ist überall die Folge eines Glaubens an den Besitz gültiger allgemeiner Wahrheiten und eine rein technisch-fachmäßige Erziehung ohne jede Weltanschauung wäre in der Tat der geistige Tod. Die Kirche hat für diese ihre Überzeugung nur besonders alte und eindrucksvolle Begründungen, sie schützt die Absolutheit ihrer Erkenntnis durch die Behauptung ihres zugleich übernatürlichen Charakters, womit sie Unzähligen, die vom Wechsel menschlicher Meinungen ermüdet sind, den allein möglichen Ausweg zu treffen scheint. Aber in alledem vertritt sie doch nur auf besondere Weise ein ganz allgemeines natürliches Bedürfnis des Menschen, das Bedürfnis nach festen und bleibenden Wahrheiten und Werten, die insbesondere für die Erziehung unentbehrlich sind. Die Staatsschule von Ländern, die inbezug auf die Weltanschauung völlig neutral sind, sind das entweder nur scheinbar oder sie empfinden auch vielfach diesen Mangel eines geistigen Mittelpunktes. (4b) So liegt im Absolutismus des kirchlichen Systems in der Tat ein Wahrheitsmoment, das sich immer wieder geltend machen wird und gegen das nur der Vorwurf zu erheben ist, daß der von der kirchlichen Absolutheit gedachte Inhalt von Weltanschauung und Ethik für den modernen Menschen größtenteils unerträglich ist.

So dürfen wir insbesondere nicht vergessen, daß dieses Ideal der auf absolute Alleinwahrheit begründeten Einheitskirche und damit der kirchlich bestimmten Kultur und des kirchlich geleiteten Bildungswesens gar nicht der katholischen Kirche allein angehört. Es ist auch das Ideal der altprotestantischen, lutherischen oder reformierten Landeskirchen, und, wo der Altprotestantismus heute noch herrscht, bringt er auch heute noch die gleichen Folgerungen aus sich hervor. Der Protestantismus hat die Hierarchie verworfen und sich damit des Organs zur zwangsweisen Durchführung des Ideals freiwillig beraubt; er hat die Bejahung absoluter Werte und Normen dem einzelnen Individuum in das Gewissen und in die persönliche Überzeugung geschoben und damit die Offenbarungsautorität aus einer äußeren zu einer inneren gemacht. Aber gleichwohl war für die Reformatoren diese innere Offenbarung, wie sie ihnen aus der objektiven Grundlage, der Bibel, entstand, eine überall gleiche, da der heilige Geist sie aus der für alle identischen Bibelgrundlage auch nur auf eine für alle identische Weise wirken konnte. War der heilige Geist der Geist der Wahrheit, so mußte er beim vorausgesetzten Wahrheitsbegriff eine absolute Wahrheit und ein absolutes Gut enthüllen, die dann aber auch wegen ihrer Absolutheit für alle die gleichen sind in Wesen und Form. Gerade dazu bedurfte man ja auch des Wunders der Wiedergeburt und Erleuchtung, da doch schwankende menschliche Meinungen mit natürlichen Kräften mehr als genug zu haben waren. So haben auch die Reformatoren von der Einheitskirche sich nicht etwa freikirchlich getrennt, sondern sind von ihr nur gewaltsam ausgeschieden worden; und, ausgeschieden, haben sie nicht die Bahn einem frei variierenden Gemeindechristentum gebrochen, sondern, soweit es ihnen möglich war, und das heißt, soweit die Hand der von ihnen beratenen Landesgewalt reichte, die Einheitskirche als Landeskirche aufgerichtet, in der die Obrigkeit für die Gleichmäßigkeit der christlichen Lehre und für den Einfluß dieser Lehre auf das Gesamtleben zu sorgen hatte. Die gleichartigen, durch die Beziehungen ihrer Landesfürsten zusammengehaltenen Landeskirchen bildeten schließlich die wahre Einheitskirche, neben der die anderen Kirchen als Abgefallene und Häretiker zu beurteilen waren; nur sofern die auch in den anderen Kirchen vorhandene Bibel in den fremden Kirchen gleichfalls in einzelnen Seelen verwandte Wirkungen hervorbrachte, erstreckte sich die eigene Einheitskirche unsichtbar auch in die fremden hinein. Da war es dann auch von dieser Voraussetzung der einen, übernatürlichen Wahrheit aus ein schweres Problem, wie Gott einen solchen Abfall von ihr hatte zulassen können; und schon LUTHER hatte zur Beruhigung dieses schweren Bedenkens die Lehre ausgebildet, daß eben die katholische Papstkirche die in der Bibel geweissagte Kirche des Antichrist sei. Nur unter dieser Bedingung, nur wenn Gott selbst sie vorausgesagt hatte und damit die Verantwortung dafür übernahm, war ein derartiger Bruch in der absoluten göttlichen Wahrheit erträglich. (5) Selbstverständlich sind dann auch die Folgerungen, die aus diesem Landeskirchentum, dieser neuen Gestalt der Einheitskirche, fließen: die Folgerung einer durch Vermittlung der Polizei alles beherrschenden christlichen Lebens- und Lehrordnung und die Folgerung eines durchaus kirchlich bestimmten und abzweckenden Schulwesens. Die Schulen des Protestantismus sind Gelehrtenschaulen für Theologen und Juristen mit dem Mittelpunkt in der alles beherrschenden theologischen Fakultät, die Bürgerschulen sind meist von zukünftigen Theologen geleitete, stark geistliche Stadtschulen, die Volksschulen sind Kirchen- und Küsterschulen mit dem Schwerpunkt im Katechismus. (6) Und wie sehr diese Schulen als geistliche Anstalten gelten trotz ihres staatlichen Charakters, zeigt die technisch-juristische Lehre, daß die Verwendung des säkularisierten Kirchengutes für Schulzwecke eine pia causa [fromme Stiftung - wp], eine Erhaltung des Vermögens beim geistlichen Stiftungszweck bleibt, das Rechtssubjekt der Stiftung nicht berührt. (7)

An diesem Punkt liegt dann auch der eigentliche Gegensatz des Altprotestantismus gegen das Täufertum. Gewiß handelt es sich hier um noch weitere Gegensätze, um die Verschiedenheit der Lebensstimmung gegenüber der Welt, um den konservativen rein geistlichen Charakter der lutherischen Reform, um den sozial-radikalen Charakter der täuferischen Wiedergeburt der Gesellschaft aus dem Geist der Bergpredigt. Aber das Täufertum hat diese Neigungen keineswegs überall gehabt und hat sie nach der Münsterischen Katastrophe aufgegeben. Gleichwohl blieb der Gegensatz und verschärfte sich fortwährend. Er liegt eben im letzten Grund darin, daß das Täufertum die objektive Alleinwahrheit und die Einheitskirche durchbrochen hat, indem es aus der lutherischen Innerlichkeit und Persönlichkeit des Glaubens auch eine mögliche Verschiedenheit des Glaubensausdrucks gefolgert und sich auf die Einheit im Praktischen zurückgezogen hat. Das Täufertum hat den absolutistischen Wahrheitsbegriff durchbrochen und einen relativistischen behauptet, der ihm freilich nur unwesentliche Verschiedenheiten zu bedeuten schien und die praktische Einigung nicht ausschloß. Es ist eine Vielheit religiöser Vereine. Das ist nun aber ein scharfer Gegensatz gegen die reformatorische Lehre, die bei allen Reformatoren den Absolutismus der Erkenntnis und die ihm dienende gottgestiftete Kirchenanstalt zur Voraussetzung hat. Allerdings hat LUTHER mit großartigem Idealismus am Anfang für ein freies Gemeinde-Christentum gekämpft, das auf Gewalt verzichten und alles vom Geist hervorgebracht sehen will. Allein LUTHERs Glaube setzte dabei als selbstverständlich voraus, daß der Anstalts-Geist hierbei mit geringfügigen, leicht zu duldenden Ausnahmen alle in dieselbe Wahrheit führen werde. Als er sich in dieser Erwartung enttäuscht sah, wandte er sich mit hartem Grimm gegen den erbsündigen Trotz und Irrgeist der Masse dem strengen Landeskirchentum zu und mußte in steigendem Maße alle die staatlichen Nachhilfen dulden und anerkennen, welche allein die Einheit des Glaubens und der Lehre aufrecht zu erhalten geeignet waren. Und so haben ohne LUTHERs anfänglichen idealistischen Glauben ZWINGLI und CALVIN in ihrer Weltverständigkeit von Anfang an gedacht. (8)

Es liegt daher auch dem protestantischen Kirchentum, soweit es sich nicht modernen Einflüssen geöffnet und LUTHERs anfängliche Lehre von der Freiheit des Glaubens nicht zugleich als Freiheit zu mannigfaltiger Lehre umdeuten gelernt hat, bis heute im Blut, sich im absolutistischen Sinn der Einheitskirche als Gesetzgeberin der gesamten Kultur zu fühlen. So zieht auch der konservative Protestantismus mit Gründen, die sich von den katholischen nicht unterscheiden und mit Mitteln, die von den katholischen nur durch die besondere, Beichtstuhl und Hierarchie ablehnende Art des Protestantismus sich unterscheiden, die Konsequenzen der konfessionellen Schule, der kirchlichen Beeinflussung des Bildungswesens überhaupt, der Forderung gläubiger Universitäten und theologischer Fakultäten insbesondere. Auch er setzt den politischen Apparat höfischer Einflüsse und parlamentarischer Majoritäten hierfür in Bewegung. Dabei sind seine Darlegungen über die Notwendigkeit einer solchen Weltanschauung insbesondere bei der Erziehung und Charakterbildung durch die Schule eindrucksvoll genug, um auch viele freigesinnte Protestanten für die konfessionelle Volksschule zu erwärmen, während sie freilich gegen die Besetzung der theologischen Fakultäten durch parlamententarisch, höfische, kirchenbehördliche und synodale Einflüsse sich leidenschaftlich wehren. Wir alle kennen die bitteren und verworrenen Kämpfe, die um diese Dinge unter uns ausgefochten werden und insbesondere wir Theologen kennen das dadurch so schmerzenreich gewordene Schicksal der theologischen Fakultäten nur zur Genüge. (9)


III.

Was aber auch immer das Wahrheitsmoment der hiermit beschriebenen Einheitskirche und der von ihr bestimmten Einheitskultur sein mag, das System besteht unter uns nur mehr in Resten, freilich in überaus starken Resten, die aus der mittelalterlichen Kultur in die unsere hereinragen. Die Gründe dieser Veränderung darstellen, hieße die Geschichte der Entstehung der modernen Kultur darstellen. Hier mögen nur wenige Andeutungen genügen.

Erstens ist das Ergebnis der großen Kämpfe von Staat und Kirche, zu denen das mittelalterliche System auch die christlichst gesinnten Regierungen führen mußte, die Verselbständigung des Staates, die Gewinnung der modernen Kernlehre von der Souveränität des Staates. Ist aber einmal erst der Staat derart die höchste irdische Gewalt, so zieht er in steigendem Maß alle weltlichen Interessen der Gesellschaft in seinen Machtbereich. Er verstärkt die Selbständigkeit der irdischen Interessen, und, indem sich aus der inneren Geschichte des Mittelalters sich überhaupt eine starke Verdiesseitigung aller Lebensinteressen ergibt, entsteht aus der Vereinigung von alledem eine starke Diesseitigkeit der Gesinnung. Der zunächst absolutistisch sich gestaltende Staat fährt zwar fort, die Kirchen aufs höchste zu schätzen, aber er benützt sie zu wesentlich irdischen, politischen und sozialen Zwecken, das jus in sacra [Kirchenrecht - wp] als ihn nicht berührend den Kirchen überlassend. Damit aber lösen sich auch die religiösen Interessen selbst innerlich vom Staat, müssen auf eigene Pflege und Organisation bedacht sein und treten neben der machtvollen Kulturorganisation des Staates als das Jenseits betreffend und als von subjektiver Überzeugung abhängig mehr und mehr zur Seite. Je mehr sich dann aber aus der Nivellierung durch den Absolutismus der moderne demokratische oder demokratisierte Staat ergab, umso schwieriger wurde die Verbindung des Staates mit der Einheitskirche. Die Demokratie mit ihrer Entfesselung des Individualismus und ihrem Bedürfnis nach freien Gruppierungen verträgt den religiösen Absolutismus nicht. (10)

Zweitens bedeutet die moderne Welt eine gründliche Wandlung aller Gemeinschafts- und Korporationsideen. Hatte das Mittelalter trotz aller aristotelischen oder sonstigen Anleihen bei der antiken Staatslehre doch den Staat als eine Anstalt und Stiftung Gottes angesehen und in noch viel höherem Grad die Kirche als eine im Klerus organisierte anstaltliche Stiftung betrachtet, so hat die moderne Welt alle Gemeinschaften vom Staat bis zum Verein herab als eine aus menschlicher Tat und Schöpfung hervorgehende Willensorganisation betrachten gelehrt. Und wo sie nicht als solche entstanden sind, da werden sie doch als solche behandelt. So fiel die Idee der das Individuum einfach aus ihrem Schoß hervorbringenden und in ihn aufnehmenden Anstalt für den Staat, sie fiel seit der Freigebung der Assoziation für die innerhalb des Staates befindlichen einzelnen Korporationen, sie fiel auch für die Kirchen. Sie fiel großenteils für das eigene Selbstbewußtsein der Kirchen, die ihre Innerlichkeit und Selbständigkeit gegenüber einem verweltlichten Staat nur durch die Betonung der Freiwilligkeit ihrer Organisation behaupten konnte und sie fiel jedenfalls für alle nicht die kirchlichen Voraussetzungen teilenden Betrachter. (11)

Das Dritte ist die Erschütterung der ideellen Voraussetzungen und Inhalte der kirchlichen Weltanschauung. Eine neue Kosmologie und Anthropologie, eine kritische Geschichtswissenschaft, eine humanitäre Ethik erschütterten ihren ganzen Bestand, ihre formelle Offenbarungsautorität und ihre sachlichen Überzeugungen. Unter diesen Umständen verschwindet die allgemeine Selbstverständlichkeit der Kulturvoraussetzungen der Kirche und ein großer Teil der lebendigsten geistigen Kultur ist geradezu entkirchlicht. Weder die kirchliche Jenseitigkeit des Lebenszweckes, noch die absolute, um die Offenbarung gesammelte Autorität hält die Geister mehr in allgemeinem und unfraglischem Bann. Dann aber ist es für die im Staat organisierte Gesellschaft auch nicht mehr möglich, die Kirchen zum Mittelpunkt ihrer Kulturorganisation zu machen. Sie rücken in ihren verschiedenen Formen in den Bereich persönlicher Überzeugungen, die nicht zu einer Pflicht des Ganzen gemacht werden können, sondern ihren Anhängern überlassen bleiben müssen. Wo sie aber dennoch etwa von den Machthabern dem Ganzen aufgezwungen werden sollen, da erhebt sich eine leidenschaftliche, nicht zu stillende Gegnerschaft, die eine solche Religion zur Privatsache erklärt. (12)

Stärker noch als alle diese Stöße wirkte viertens das Nebeneinander verschiedener Konfessionen im selben Staat, das seit dem westfälischen Frieden nach und nach in fast allen Staaten Platz gegriffen hat. Ein solches Nebeneinander relativiert mehr als irgendetwas anderes die Wahrheitsidee. Was bei der Einheitskirche möglich und logisch gefordert ist, die Herrschaft ihrer Kulturidee über das Ganze, das ist bei der Vielheit konfessioneller Kirchen ganz unmöglich. Das Ganze der Gesellschaft muß sich auf den Standpunkt eines nur relativen Wertes dieser Kirchen stellen. Die religiös-ethische Wahrheit, wenn es sie gibt, muß über den Kirchen schweben, ist sozusagen eine außer und über den Kirchen liegende Toleranzreligion, die das Gemeinsame ihrer aller darstellt und jedenfalls mit keiner von ihnen zusammenfällt. Damit aber kommt von selbst entweder der Kampf des kirchlichen Absolutheitsgeistes gegen diese Lage und mit diesem Kampf eine verstärkte skeptische, die Kirchen auf reine Privatexistenz zurückweisende Reaktion oder es ergibt sich in den Kirchen selbst ein Gefühl ihrer Relativität, das ihren Absolutheitsgeist bricht und es ihnen selbst von sich aus unmöglich macht, als öffentliche Macht das Gesamtleben beherrschen zu wollen. Sie ziehen sich auf sich selbst zurück und suchen ihre Stärke in der freiwilligen und persönlichen Zugehörigkeit ihrer Mitglieder. (13)

Das Wichtigste aber ist, daß im eigentlichen Kern des religiösen Gedankens selbst jene Wendung von der objektiven äußeren zur subjektiven inneren Offenbarung, von dem für alle identischen Absolutismus zu einem jeden am Maß seiner Gewissensüberzeugung messenden Relativismus eingetreten war. Es ist das die Folge des protestantischen Glaubensbegriffs, sobald die wissenschaftliche und sonstige Kritik jenen Gedanken einer schlechthin objektiven Bibeloffenbarung einheitlichen Kirchenlehre zertrümmert hatten, der bei LUTHER und den anderen Reformatoren die subjektivistischen Konsequenzen zu verhindern ausdrücklich bestimmt war. Aber auch schon vorher waren diese Konsequenzen von kleineren Gruppen gezogen worden, von den Täufern, Mystikern und Spiritualisten, die neben anderen eigentümlichen Lehren doch vor allem die vom Geist als dem Träger subjektiver Offenbarungsgewißheit und dem Bewirker subjektiv verschiedener religiöser Vorstellungswelten ausgebildet hatten. Der Geist wirkt durch Vermittlung der Bibel und der Überlieferung, aber gestaltet daraus jedesmal frei verschiedene subjektive Wahrheitserkenntnis. Im niederländisch-englischen und vor allem dann in der englischen Independent-Bewegung kamm diese Richtung zur Verschmelzung mit dem radikalen Calvinismus, der von seiner Prädestinationslehre [Vorherbestimmungslehre - wp] her ihr innerlich wahlverwandt war und nur der Abwerfung der Lehre von der Vermittlung der Prädestion lediglich durch eine reine Kirchendoktrin bedurfte; und damit verbanden sich wohl auch die alten germanisch-rechtlichen Korporationsgedanken, die sich in der englischen Revolution gegen den fürstlichen Absolutismus erhoben. Von hier aus erwuchs dann die große freikirchliche Independenz-Bewegung, die seit der Toleranzakte und der Konstituierung des parlamentarishe Regiments zwei Drittel von England und Schottland und seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die amerikanischen Kolonialstaaten erfüllt. Der wesentlich von hier aus angeregte Pietismus trug in einem verkleinerten und ins Private gezogenen Maße diesen Gedanken auch auf den Kontinent; die großen, den Siegeszug des Methodismus begleitenden Vereinsbildungen und Sekten, schließlich auch die "Innere Mission" breiteten ihn aus; und gleichzeitig kam auch eine auf die Freiheit und Beweglichkeit der Wissenschaft sich einrichtende Frömmigkeit zu dem gleichen Ergebnis, religiöse Vereinigungen nur auf freiwillige Überzeugung zu begründen und religiösen Überzeugungen den Ausdruck ihres Gedankens frei zu geben. Das alles aber bedeutet eine freie Beweglichkeit des religiösen Gedankens und eine auch bei weitgehender Würdigung der Überlieferung doch völlig subjektivierte Überzeugung, womit der Gedanke der Einheitskirche und einer rein objektiv gestifteten Anstalt unverträglich wurde. (14)

Von allen diesen Seiten her ist die Konsequenz die Entstaatlichung der Kirche und die Freigebung der Gemeindebildung. Sie ist bereits vollzogen in den Demokratien von Brasilien, Mexiko und Kuba, wo dadurch freilich an der Herrschaft des Katholizismus wenig geändert ist; sie hat ihr vielbewundertes und vielgescholtenes Musterbild in den Vereinigten Staaten und ist nun auch in Europa als Folge der Kämpfe der Demokratie gegen die römische Kirche in Frankreich durchgesetzt. In anderen Ländern, wie in der französischen Schweiz, in Holland und Norwegen, kämpfen starke politische Parteien dafür; in Italien hatte schon CAVOUR die berühmte Parole von der "freien Kirche im freien Staat" als einzige Überwindung des italienischen Kirchenelends verkündigt und auch bei uns regt sich allenthalben dieser Grundsatz. Doch bleiben freilich in all diesen Fällen die Kirchen infolge ihrer besonderen sozialen Bedeutung und Macht immer noch Gegenstand einer besonderen Gesetzgebung, die teils ihnen besondere Rechte, z. B. Schutz vor Störungen, gibt, teils vor ihnen, z. B. vor dem Wachstum der toten Hand, den Staat schützt; einfach auf die Stufe des Tanzklubs oder Turnvereins, wie die Gegner die Sache meist bezeichnen, ist die Kirche hierbei nirgends herabgedrückt, nicht einmal im französischen Gesetz. Aber allerdings ist bei gleichem Namen Sinn und Art des freikirchlichen Systems in den einzelnen Ländern grundverschieden, je nachdem das eine oder das andere der geschilderten Motive überwiegt. Insbesondere besteht ein sehr großer Unterschied zwischen dem amerikanischen Zustand und dem französischen Gesetz. Die amerikanischen Verhältnisse beruhen unter dem Einfluß täuferischer und puritanischer Gedanken, einer von Anfang an bestehenden bunten Vielheit der Kirchen, einer nicht bloß nivellierenden, sondern zugleich stark individualisierenden Demokratie und schließlich auch der aufklärerisch-relativistischen Ideen auf einer wirklichen Hochachtung vor den Kirchen, in deren Gewissen der Staat nicht eingreifen will und als ein rein weltliches Institut einzugreifen auch nicht befähigt ist und die ihrerseits mit ihren politisch indifferenten geistlichen Überzeugungen in keine politische Frage eingreifen und vor allem keinerlei Bedingungen zur Amtsfähigkeit herbeiführen dürfen. Darüber wacht die Demokratie der Union und der Einzelstaaten mit Eifersucht. Im übrigen aber gilt die Gesellschaft und die Kultur ausdrücklich als eine christliche, ist die Vereinsgesetzgebung vielfach den besonderen kirchlichen Gesetzgebungen sehr schmiegsam angepaßt, wahren die in allen Konfliktfällen angerufenen Zivilgerichte das religiös-ethische Interesse aufs Lebhafteste, wird der kirchlichen Ordnung weitgehender Schutz zuteil und sind auch die einschränkenden Gesetze gegen die tote Hand sehr billig, vermutlich in der Praxis noch billiger als im Gesetz. Das System ist eben hier nur der Ausdruck einer als christlich sich empfindenden Gesellschaft und zugleich einer radikalen Achtung vor der gerade die verschiedenen positiv-religiösen System hochschätzenden Gewissensfreiheit. (15) Demgegenüber ist das französische Gesetz wesentlich ein Kampfgesetz, das von einer gegen das Christentum skeptischen oder feindlichen Gesellschaft getragen ist und nicht der Anerkennung der religiösen Gewissensmächte, sondern der Repression des der Demokratie gefährlich gewordenen Katholizismus dient, ist in all dem das Endergebnis dieses heißen Kampfes von Einheitsstaat und Einheitskirche. All das war unverhüllt in seinem ersten Entwurf; aber auch in seiner sehr gemilderteren endgültigen Gestalt, zu der weiter gemilderte Ausführungsbestimmungen kamen, ist es immer noch drakonisch genug. Es stellt die Kirchen unter das Gesetz der Privatvereine und gesteht ihnen nicht einmal die Vorrechte der Associations d'utilite publique, wie z. B. den Wohltätigkeitsvereinen usw., zu. Es nimmt ihnen das Recht, Vermächtnisse und Stiftungen anzunehmen, Schulen und Krankenhäuser und ähnliches zu unterhalten, beschränkt ihnen die Ansammlung von Reservefonds und Zinskapital auf lächerlich geringe Summen, unterwirft sie einer äußerst eingehenden Polizeikontrolle in der Vermögensverwaltung und in der Überwachung der Predigt, beschränkt ihnen jedes Auftreten nach außen außerhalb des Kultgebäudes, konfisziert das in der großen Revolution schon einmal konfiszierte Kircheneigentum noch einmal als Staatseigentum und erschwert recht im Unterschied von den amerikanischen Gesetzen gerade der katholischen Kirche durch die Forderung einer rein laienhaften Organisation der Kultvereine die Behauptung ihres kanonischen Rechts. Die einzige Rücksicht auf die soziale Bedeutung der Kirche ist die Überlassung der Kirchengebäude, wobei aber die Pfarrhäuser u. ä. nicht inbegriffen sind, der Schutz gegen Gottesdienststörungen und die Erlaubnis zur Verbindung der Vereine zu Nationalvereinen. Dieses Gesetz wird Frankreich sicherlich nicht den religiösen Frieden geben. Jedenfalls aber beleuchtet es aufs deutlichste, was für einen verschiedenen Sinn die Trennung von Staat und Kirche haben kann. (16)

So sind denn auch die uns hier in erster Linie interessierenden Wirkungen des Systems auf das Verhalten des Staates zum religiösen Unterricht in beiden Fällen gründlich verschieden. Für Amerika versteht es sich von selbst, daß das staatliche und städtische Schulwesen und auch die nicht denominationellen Schulunternehmungen gymnasialer Art keinerlei Religionsunterricht kennen. Dieser bleibt den Kirchen überwiesen und ist von ihnen sehr stark entwickelt, bildet auch einen Hauptpfeiler ihres sozialen Einflusses. Aber die Religionslosigkeit der Schule schließt doch eine selbstverständliche Schätzung des religiösen Erziehungselementes nicht aus. In vielen Staaten wird Bibellektüre und Schulgebet als interdenominationell gepflegt. Hier sind es eigtentlich nur die Katholiken, die auf strenge Neutralität der Schule dringen. In den Mittelschulen geben vermutlich die philosophischen und historischen Fächer vielfach Gelegenheit, die allgemeine selbstverständliche Christlichkeit der amerikanischen Welt geltend zu machen. Vor allem aber gibt es neben den Staatschulen auch die Parochial- oder Kirchenschulen, die von den freilich daneben die allgemeine Schulsteuer bezahlenden Denominationen [Konfessionen - wp] errichtet werden, soferns sie eine ausgesprochen religiöse Erziehung wünschen. In ihnen lernen ungefähr 7 % der Schulbevölkerung. Und weiter gibt es charakteristische Kompromißschulen, wo etwa eine Konfession in der Staatsschule die Lehrer stellt und in den offiziellen Unterrichtsstunden absolute religiöse Neutralität walten läßt, um dann nach deren Beendigung im selben Raum und mit demselben Lehrpersonal eigentlich religiösen Unterricht zu erteilen. Und ebenso gibt es, wenn auch bei den hohen Kosten seltener, denominationell beeinflußte oder gestiftete Mittelschulen. Die Universitäten schließlich sind größtenteils denominationell beeinflußte Stiftugnen und haben alle selbstverständlich einen religiösen Mittelpunkt in ihrer Kirche und ihren Gottesdiensten, sehr häufig auch eine theologische Fakultät, die aber freilich auch dann stets eine sehr gesonderte Stellung im Ganzen einnimmt. Die Staatsuniversitäten kennen natürlich keine theologischen Institute. Daß aber dabei die theologischen Institute überhaupt nicht zu kurz kommen, zeigt ein statistischer Vergleich von 1902 mit den juristischen und medizinischen Instituten oder Fakultäten:

All das läßt deutlich erkennen, daß hier trotz aller religiösen Neutralität die Erziehung doch stark religiös beeinflußt ist und daß im übrigen, wo stärkerer religiöser Einfluß gewünscht wird, die kirchliche Privatschule ergänzend hinzutritt. Der Amerikaner verlangt dabei im allgemeinen vom Unterricht überhaupt wesentlich nur positive Kenntnisse und nicht Erziehung der Weltanschauung; sofern solches erstrebt wird, leistet es die allgemeine Christlichkeit der Atmosphäre, und, wo es noch nachdrücklicher erstrebt wird, da zieht er aus dem Prinzip der Freikirche auch die Konsequenz der Freischule. Daß damit kommenden Konflikten nicht vorgebeugt ist, liegt auf der Hand. Einerseits wird das Eindringen der Katholiken in die Schulen dafür sorgen, andererseits wird die auch in Amerika vordringende religiöse Skepsis und Erschütterung der Kirchen die Schule an Gesinnungsbildung mahnen. In solchen Erwägungen wurzelt die bis jetzt freilich nur in Privatschulen und Sonntagsschulen verwirklichte Forderung eines religiös neutralen, von allen Fragen der Weltanschauung unabhängigen Moralunterrichts. Es ist die Forderung der Gesellschaften für ethische Kultur, die ganz folgerichtig aus diesen Verhältnissen dort entsprungen sind und von da sich auch nach Europa ausgedehnt haben. Allein entweder wird es hierbei mit der Neutralität streng genommen, und dann behalten die Kirchen das Übergewicht, oder es werden die doch unvermeidlichen Grundlagen der Weltanschauung, sei es im religiösen, sei es im antireligiösen Sinne entwickelt und damit der Moralunterricht auf tiefere Voraussetzungen gestellt; dann ist es vorbei mit der Neutralität. (17)

Mitten im Konflikt befindet sich das auf so ganz anderen Grundlagen beruhende Frankreich. Im Unterschied von der Unfertigkeit und Buntheit des amerikanischen Schulwesens, das vielfach experimentiert und von lokalen Einflüssen abhängig ist, und auch im Gegensatz gegen die prinzipielle Richtung auf positive Kenntnisse ist das französische Bildungswesen streng zentralisiert wie bei uns und verzichtet es so wenig wie bei uns auf die Gesinnungs- und Weltanschauungsbildung. Hier wie überall auf dem Kontinent wirkt die uralte Erziehung durch die Einheitskirche nach und ist man nicht so rein praktisch wie im jungen Amerika. So fehlt hier von vornherein gerade die Elastizität, die in unserer Frage das amerikanische Bildungsweisen hat, und die Konflikte mit der herrschaftsgewohnten Kirche haben hier viel mehr Reibungsflächen. Die Unterrichtsgesetzgebung der dritten Republik hat nun freilich die Schulen dem geistlichen Einfluß, der geistlichen Mitwirkung und dem Religionsunterricht nach und nach völlig entzogen. Die katholisch-theologischen Fakultäten wurden 1885 aufgehoben und die katholische Theologie dem engherzigsten Seminarbetrieb damit ausgeliefert. Aber man mußte die kirchlichen Freischulen bestehen lassen, die von den, auch durch ihre Billigkeit sehr konkurrenzfähigen, Orden geleitet wurden. Zudem entstanden sieben freie katholische Universitäten für alle Wissenschaften. Darauf wurde dann 1880 diesen Universitäten das Graduierungsrecht entzogen und 1904 den Kongregationn jede Art von Schultätigkeit verboten. Das neue Kirchengesetz wird dem nur mehr die Schließung auch der beiden protestantisch-theologischen Fakultäten von Paris und Montauban hinzufügen. Aber dieses Kirchengesetz wird doch schließlich noch eine weitere starke Rückwirkung auf das Schulproblem ausüben. Ist für die Kirchen der Grundatz der Freiwilligkeit und Achtung der Überzeugung proklamiert, so wird man den Gläubigen nicht zumuten können, ihre Kinder in eine ihre Religiosität ignorierende oder bekämpfende Staatsschule zu schicken. Sie werden verstärkt den Ruf nach freien Schulen erheben, wo sie ihre Lebensüberzeugung auch dem Unterricht einhauchen können, und sie werden dann die logische Konsequenz und das moralische Recht auf ihrer Seite haben. Sie werden es umso mehr auf ihrer Seite haben, als auch der Staat aus guten Gründen der Meinung ist, sich nicht rein auf positive Kenntnisse beschränken zu sollen, sondern gerade religiöse Aufklärung und eine ethische prinzipielle Weltanschauung durch die Schule seinen Bürgern erteilen zu müssen. So hat er Unterrichtsbücher für Staatskunde und Moral schaffen lassen, die freilich wesentlich ein Kampfmittel gegen die Kirche sind, bisweilen allerdings auch eine allgemeine Gefühlsreligiosität vertreten. Einer der Mitschöpfer dieser Gesetzgebung, BUISSON, gibt sich alle Mühe, eine solche aus KANT, SPENCER und SCHLEIERMACHER destillierte neue Religion als die Schulreligion erscheinen zu lassen. Insbesondere ist z. B. die Schöpfung einer Bildungsschule für Lehrerinnen zur Gewinnung eines weltlichen Mädchenschulwesens charakteristisch, wo der erste Leiter der Anstalt zu Fontenay, PÉCAUT, mit scheinbar großer Wirkung und unter Billigung des Ministeriums religiöse, der protestantischen extremliberalen Theologie verwandte Grundsätze lehrte. Dagegen kehrt sich mit doppeltem Grimm die kirchliche Ideenwelt und ebenso der religionslose Positivismus, und die religiösen Kämpfe sind nun mitten in der Schule, die doch zu deren Schlichtung nur eine zentralistische Bürokratie hat und als Einheits- und Ideenschule nicht wie das Kirchengesetz die Bildung der Überzeugungsgruppen freigeben will. (18)

Hinter dem freikirchlichen System taucht überall das Schulproblem als noch schwierigeres auf. Es gibt freilich noch mehrere solche wunde Punkte des Systems, die für die Enthusiasten einer solchen Neuordnung hier nur im Vorbeiweg angedeutet seien. Das erste und wichtigste ist, daß die römische Kirche, so wie sie bis jetzt bei uns ist, sich ihm niemals fügen wird oder nur mit soviel Bewegungsfreiheit ausgestattet sich auf das System einlassen wird, daß die Parole von "der freien Kirche im freien Staat" sich zu der "vom freien Hecht im freien Karpfenteich" verwandelt. Das amerikanische System ist nur möglich bei der besonderen Gestaltung des Katholizismus, die dieser dort in absolut demokratischer Luft und unter protestantischen Einfluß angenommen hat. Der "Amerikanismus" enthält sich schlechthin jeder Politik, stellt das Dogma zurück, betreibt die praktische karitativ-soziale Arbeit und fördert überall die persönliche Initiative. Es fehlte nicht an Versuchen, die gleichen Ideen nach Europa zu übertragen, und die Zukunft wird deren vermutlich immer mehr bringen. Aber dem Unternehmen einer Verpflanzung dieses Geistes in die französische Kirche ist die offizielle Hierarchie und Theologie mit so leidenschaftlichem Haß und mit so vernichtenden Schlägen entgegengetreten, daß in dieser Hinsicht vorläufig in Europa und vollends in monarchischen Ländern sehr wenig zu hoffen ist. (19) Eine zweite Schwierigkeit ist, daß mit diesem System der Staat die Kirchen in die Arme der Orthodoxie treibt, die immer die stärkere und aggressivere Macht ist, und auf die Gegengewichte einer von ihm geforderten wissenschaftlichen Ausbildung gymnasialer und universitärer Art verzichtet, was jedenfalls vom allgemeinen Kulturinteresse aus kein Vorurteil ist. (20) Weiter bringt das System die Gefahr einer Herrschaft des Geldsacks in den Kirchen mit sich, eine Gefahr, die in Amerika recht häufig verwirklicht ist und die seiner Zeit ROBESPIERRE bestimmte, gerade aus demokratische Gründen im Interesse der Armen und der Masse sich gegen die Trennung zu erklären. (21) Ferner überschüttet das geschäftliche Reklame- und Konkurrenzwesen, wozu die Kirchen durch ihre finanziellen Bedürfnisse und ihren Propaganda genötigt werden, sie mit einer Unmasse widerwärtiger, roher und äußerlicher Praktiken. Zugleich entstehen ernste vermögensrechtliche Schwierigkeiten, die eine beständige Hereinziehung der Zivilgerichte in das kirchliche Leben nötig machen. (22) Schließlich aber ist gerad vom religiösen Standpunkt selbst aus eine derartige Spaltung und Zertrümmerung des religiösen Gemeinbesitzes, eine derartige Herabsetzung des mitgegebenen Erbes zu einem Gemächt jedesmal neuer Willenserklärungen, diese Verwandlung der großen geistigen Heimat in lauter selbstgewählte Vereine mit fortwährendem Aus- und Eintritt doch auch ein schwerer Verlust alter Lebenswerte und alter Lebenssicherheit. (23) Aber es stehe mit diesen Bedenken, wie es wolle, am allgemeinsten fühlbar und am brennendsten ist doch die Wirkung auf das Schul- und Erziehungsproblem. In Holland hat der streng calvinistische Minister KUYPER sich vom religiösen Standpunkt aus energisch für die Freikirche erklärt, aber zugleich gesetzlich gefordert und durchgesetzt, daß die freikirchlichen Schulen dann überall vom Staat übernommen werden und bisher staatliche bei Einhaltung der allgemeinen Unterrichtsbestimmungen religiös geleitet werden, sobald ihre Besucherzahl einen gewissen Prozentsatz von Konfessionellen erreicht. (24) Auch in England hat das dort bestehend relativ freikirchliche System einen schweren Schulkonflikt herbeigeführt, indem der Staat, die bisherige Freischule zurückdrängend, reine Staatsschulen schaffen will, an denen er einen undogmatisch-neutralen Religionsunterricht zur Befriedigung der verschiedenen Gruppen in Aussicht nimmt. Aber dagegen erhebt sich leidenschaftlich der Dissent, die Stütze der liberalen Partei, weil er von da eine unvermeidliche religiöse Beeinflussung der Schule durch die anglikanische Staatskirche fürchtet. Der Dissent will die Beibehaltung eines Systems, das dem jetzt in Holland eingeführten ähnlich ist. (25) Es ist überall dieselbe Sache: das Leben des Staates ist von der religiösen Überzeugung seiner Bürger nicht zu trennen, und, wenn diese Überzeugungen sich stark unterscheiden, dann wird dieser Kampf überall bis in das innere Gefüge des Staates hineinreichen. Man kann dann Staat und Kirche trennen und damit in einer solchen Lage Staat wie Kirchen zu befreien und zu entlasten scheinen, aber mindestens in der Schule treffen die Gewalten doch wieder aufeinander; das Interesse des Staates und der Gesellschaft an einer einheitlichen idealen Weltanschauung und Ethik und die Interessen geschiedener Kirchen an der charaktervollen Durchbildung ihrer Gläubigen mit ihren Gesinnungs- und Weltanschauungsgrundsätzen, stoßen immer wieder zusammen. Wenn der Staat in der allgemeinen Staatsschule eine neue Schulreligion zu pflegen sucht ohne Möglichkeit eines Kultus und ohne positive Anschaulichkeit, dann wird er in diesem Kampf schwerlich der stärkere sein. Verzichtet er aber ganz darauf, so wird er auf die Dauer die geistige Verarmung seiner Schule empfindlich spüren und wird der Kirche durch alleinige Überlassung des Religionsunterrichts eine ungeahnte Macht verleihen, gegen die zu kämpfen er sich der Mittel beraubt hat. Sucht er aber allen gerecht zu werden, so sprengt er sein einheitliches Schulwesen und hat mit der Herrschaft über die Kirche auch die über die Schule aus der Hand gegeben.

Der Fortfall der theologischen Fakultäten freilich wird scheinbar bei alldem am leichtesten verschmerzt werden. Die Leute, welche glauben, daß jede Vertretung des Christentums bei wissenschaftlicher Gesinnung nur durch grobe Selbsttäuschung möglich sei, werden jubeln über die Reinigung der Wissenschaft, und die Konfessionellen werden sehr zufrieden sein, daß ihnen der Staat keine Gymnasial- und Universitätsbildung und vor allem keine Einwirkung der modernen Wissenschaft mehr aufnötigt. Aber in Wahrheit ist auch hier ein ernster Verlust anzuerkennen. Es fällt jedes, mit allen Mitteln der Wissenschaft und allen Anregungen wissenschaftlicher Umgebung ausgestattete Organ weg, das historisch über Entstehung und Wesen der Kirchen unterrichten und prinzipiell die Fortentwicklung der Religion mitbestimmen könnte, jeder Einfluß, der die gewaltigen sozialen Energien der Kirchen mit der vollen Wissenschaft in Berührung brächte, und jede Möglichkeit für aufrichtige Fromme, eine Religionsgestalt zu gewinnen, in der wissenschaftlicher Wahrheitsgehalt und religiöser Geist durch eine planmäßige, umfassende Arbeit sich durchdringen können. (26) Eine in die philosophische Fakultät etwa einzustellende Professur für Kirchengeschichte und die Vorlesungen der Philosophen über Religionsphilosophie und Ethik können bei dem großen Umfang der hier vorliegenden Aufgaben und Stoffe nicht genügen. Wollte man aber etwa eine religionswissenschaftliche Sektion in oder neben der philosophischen Fakultät schaffen, wie es die Holländer in Verfolgung des Gedankens einer Trennung von Staat und Kirche getan haben, so bekäme man entweder eine Disziplin, die zu entwicklungsgeschichtlichem Herumschweifen in allen Zeitaltern, zum Dilettantismus ohne Spezialfach, zur Religionsforschung ohne religiöse Stellungnahme verbunden ist und daher niemand, am wenigstens sich selbst, Freude bereitet; oder man hätte bei Vertretung eines religiösen Programms doch wieder unter anderem Namen eine theologische Fakultät und mit ihr alle Querelen der Gläubigen und Ungläubigen über sie; und fehlen würde ihr nur das wichtigste, ein geordneter Zufluß von Zuhörern.
LITERATUR Ernst Troeltsch, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten. - Rede gehalten am 22. November 1906 an der Universität Heidelberg, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    4b) REIN, Zum Religionsunterricht, Hilfe Nr. 27, 1906; W. FÖRSTER, Jugendlehre, 1906, Seite 165f. Ein amerikanischer Gelehrter beantwortete meine Frage, weshalb die Erziehungsliteratur in Amerika einen so ungeheuren Raum einnehme, mit der Erklärung, daß der Mangel des Religionsunterrichts an den Schulen zu Schwierigkeiten in der einheitlichen Charakterbildung führe, und daß man ein Gefühl habe das ersetzen zu müssen. Der Unterrichtsminister der Union, Herr HARRIS, meinte freilich, dadurch werde die Religion nur verwässert und es sei besser, sich auf die Kirchen zu verlassen, die zugleich den Einfluß des Kultus auf das Gemüt zur Verfügung hätten.
    5) Meine Arbeiten "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" in "Kultur der Gegenwart" herausgegeben von HINNEBERG I, 4 und "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt", 1906; außerdem W. KÖHLER "Reformation und Ketzerprozess", 1901; SCHEEL, Luthers Stellung zur heiligen Schrift, 1902 und vor allem RIEKER, Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands" 1902, wo die Bedeutung der absolutistischen Erkenntnistheorie richtig erkannt ist, wie übrigens schon bei MEJER.
    6) OTTO GIERKE, Genossenschaftsrecht III, Seite 807
    7) Zum Täufertum vgl. meine erwähnten Arbeiten, sowie HEGLER, Sebastian Francks lateinische Paraphrase der deutschen Theologie, 1901 und "Geist und Schrift bei Sebastian Franck" 1892, auch MAX WEBER "Kirche und Sekten" Christliche Welt, Nr. 24 und 25, 1906. LUTHERs anfängliche Gemeinde-Idee ist allerdings bei RIEKER sehr wenig einleuchtend gewürdigt und seine Meinung durch den Verweis auf die dürftigen Bemerkungen von ACHELIS (System der praktischen Theologie I, Seite 35f) nicht gedeckt. Sehr einleuchtend sind mir dagegen die Ausführungen von W. KÖHLER "Entstehung der reformatio ecclesiorum Hassiae von 1526 (Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht 1906, Seite 199 - 232), wo das Zusammenbestehen von LUTHERs Staatskirchentum und seiner idealistischen Idee einer engeren Vereinigung der wahrhaft lebendigen Gläubigen zur eigentlichen Kult- und Liebesgemeinschaft sehr gut gezeigt ist. Es wäre ein besonderer Zusammenschluß der Erweckten und Bekehrten innerhalb einer im Ganzen durch die Obrigkeit in christlicher Zucht und christlicher Lehreinheit gehaltenen "äußeren Christenheit". Dabei wäre der starke überweltliche Spiritualismus von LUTHERs erster Zeit mit in Anschlag zu bringen, der später nicht bloß Not-Kompromissen, sondern einer stärkeren Innerweltlichkeit weicht, worüber ebenfalls KÖHLER richtig urteilt in den letzten Jahrgängen des "Theologischen Jahresberichtes" und in "Entstehung des Problems Staat und Kirche", 1903, Seite 34. Das Wichtigste ist, daß in allen Fällen die grundlegende Wahrheitsidee dieselbe ist. Andererseits ist auch bei den Täufern der Relativismus und die Vereinskirchlichkeit aus stark supranaturalen Ideen erst hervorgegangen, aus der pessimistischen Abschließung von der Welt, aus der schwärmerischen Erleuchtung und aus der Vielheit ihrer weltscheuen Konventikel [kleine Zusammenkunft - wp].
    8) TEWS, Schulkämpfe; THEODOR KAFTAN, Die Schule im Dienst der Familie, des Staates und der Kirche, 1906. Die hier sonst und bei der Verteidigung der protestantischen Konfessionsschule gehörte Einschränkung, daß das eine Beherrschung der Schule nicht durch die Kirche, sondern durch den protestantischen Staat und daher vom lutherischen Staatsbegriff aus zu verstehen sei, könnte an sich wohl eine Milderung des Klerikalismus bedeuten, ist aber heute im paritätischen Staat ganz unmöglich, der sich mit dem Zwecke einer Konfessionskirche nicht mehr identifizieren kann. In Wahrheit müssen hier doch dann als Träger der Konfessionalität der Schule die kirchlichen und synodalen Instanzen und die protestantisch-konservativ-konfessionellen Parlamentsparteien eingreifen. Alles Argumentieren aus dem lutherischen Staatsbegriff ist für die Gegenwart völlig unpraktisch, weil es einen diesem Begriff entsprechenden Staat nicht mehr gibt. Auch wo er wie bei STEIN und HEGEL Ethos und Religion in sich aufnimmt, tut er das als ein völlig modernes Kulturgebilde, das nicht supranaturalen Autoritäten dient, sondern die human-religiöse Lebenssubstanz einer freien und weltlichen Gesamtkultur entwickelt, wobei er sich der Kirchen etwa bedient, aber nicht selbst den Kirchen dient. Dadurch ist HEGELs Staatsbegriff, den RIEKER viel zu nah an den LUTHERs heranrückt, prinzipiell von ihm geschieden und darum sind auch die zahlreichen, an sich höchst lehrreichen und großgesinnten Artikel der Christlichen Welt zu unserer Frage in diesem Punkt meines Erachtens unzutreffend. FÖRSTER schreibt (1808 Christliche Welt 1904, Nr. 46) von STEINs protestantischer Staatsidee und nennt sie "die  durch idealistische Philosophie und Dichtung humanisierte  protestantische Staatsidee. In dieser Humanisierung steckt der Unterschied, wozu die Souveränität als eine gleichfalls nicht wesentlich protestantische Idee hinzukommt.
    9) Über die Bedeutung der Demokratie für unsere Frage siehe P. SABATIER, A propos de la separation, 1900 und das hochinteressante Buch von HOUTIN, L'americanisme, 1904.
    10) GIERKE, Genossenschaftsrecht I
    11) TROELTSCH, Wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie, 1900, Typische Äußerungen dieser Art in der Dokumentensammlung der Cahiers de la Quinzaine VI 14, RAOUL ALLIER, La separation.
    12) Hauptgesichtspunkt bei HINSCHIUS, Seite 210f und O. MEJER, Vorrede
    13) ALEXANDRE VINET, Memoire en faveur de la liberte des cultes, 1826, KUYPER, Reformation wider Revolution, 1904; RIEKER, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung, 1899; von SCHULZE-GÄVERNITZ, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel, 1906; Meine bereits erwähnten Arbeiten. Wenn die letzteren so verstanden worden sind, als wollten sie LUTHER zugunsten der Täufer herabdrücken, so war dieser Eindruck jedenfalls nicht beabsichtigt. Der von den Täufern ausgehende Subjektivismus und Relativismus in religiösen Dingen entspricht jedenfalls den modernen Verhältnissen, während der dem Katholizismus und Altprotestantismus gemeinsame supranaturale Absolutismus ihnen zweifellos nicht mehr entspricht. In den hier interessierenden Fragen zeigt dies besonders charakteristisch der extreme Subjektivismus von BONUS, Der Kulturwert der deutschen Schule, 1904 oder "Staat und Kulturstaat", Christliche Welt, 1904. Aber ob er auch sachlich ein reiner Fortschritt ist, das ist eine andere Frage. In der Weise der Reformatoren ist das Allgemeingültige nicht wieder herzustellen, aber an und für sich ist der Gedanke endlos verschiedener Wahrheiten unmöglich und eine Zersetzung der Kultur, die bei den mehr praktisch gerichteten und sich praktisch einigenden Angelsachsen leichter ertragen wird als bei uns theoretisierenden Deutschen. Sehr hübsch zeigt das eine an GOETHEs pädagogische Provinz anknüpfende Erwiderung SCHIELEs an BONUS, Christliche Welt, 1905, Nr. 13. Ich meinerseits halte es durchaus mit der pädagogischen Provinz.
    14) RÜTTIMAN, Kirche und Staat in Nordamerika, 1871; THOMPSON, Kirche und Staat in den Vereinigten Staaten, 1873; G. von POLENZ, Das Land der Zukunft; LOHANs Streiflicher auf amerikanisches Kirchenwesen, Christliche Welt, 1902, Nr. 14 - 16. Dazu kommen allerhand persönliche Reiseeindrücke.
    15) RAOUL ALLIER, Une revolution, 1906; P. SABATIER, A propos de la separation, Cahiers de Quinzaine VI, 14. In der ersten Schrift auch der Text des Gesetzes, derselbe deutsch Tübingen 1906. Die Schriften von ALLIER orientieren vortrefflich, das Cahier enthält Beleuchtungen des Gesetzes aus allen Lagern. Wesentlich übereinstimmend mit meiner Auffassung: OTTO MAYER, Frage der Trennung von Staat und Kirche in der Gegenwart, Neues Sächsisches Kirchenblatt, Nr. 31 - 32, 1906. Wenn die französischen Protestanten das Gesetz verhältnismäßig mild beurteilen, so kommt das davon, daß es für sie eine Lebensfrage ist, sich auf die Seite der Demokratie gegen den Katholizismus zu stellen. Zum allgemeinen siehe auch die zahlreichen Artikel von LACHENMANN über die religiöse Lage in Frankreich in Christliche Welt, 1904, 1905, 1906.
    16) REIN, Handbuch zur Pädagogik, Art. "Amerikanisches Schulwesen"; die statistischen Notizen stammen aus dem Bericht des United States Bureau of education, Chap. XXXVI, Professional schools, den ich der Güte des Herrn HARRIS, Commissioners of education, verdanke. Die Reformbestrebungen der ethischen Kultur bei FÖRSTER, Jugendlehre, 1906, Seite 152f 17) REIN, "Handbuch der Pädagogik", Art. "Amerikanisches Schulwesen"; die statistischen Notizen stammen aus dem Bericht des United States Bureau of education, XXXVI Professional schools, den ich der Güte des Herrn HARRIS, des US-Commisioners of education, verdanke. Die Reformbestrebungen der ethischen Kultur bei FÖRSTER "Jugendlehre" 1906, Seite 152f
    18) REIN, ebd. "Französisches Schulwesen", die charakteristische Schrif von BUISSON "La religion, la morale et la science: leur conflit dans l'education contemporaine" 1904. Ein Exemplar einer Instruction civique, deren es gegen 200 verschiedene gibt, habe ich in Paris bei einem fliegenden Buchhändler erstanden. Im übrigen FÖRSTER, "Jugendlehre" 1900f, dessen Urteil über diese Literatur sehr ungünstig ist.
    19) HOUTIN "L'américanisme"; das Buch ist eine Fundgrube für die Geschichte und innere Entwicklung des modernen Katholizismus.
    20) Siehe die hübsche "Bremer Phantasie" in SCHIELE "Religion und Schule" 1906 und die treffenden Sätze von BONUS über "Die freie Kirche im freien Staat, Christliche Welt 1904, Nr. 10: "In  unseren  Verhältnissen bedeutet die Formel praktisch weiter nichts als die Entschlossenheit des Liberalismus seinen parlamentarischen Einfluß auf diesen Zweig des Kultusministeriums und seinen agitatorischen Einfluß auf die kirchlichen Vertreterschaften nicht auszuüben. Dieser Entwicklung geht parallel die orthodox-reaktionäre sogenannten "Selbständigkeitsbewegung", die das offene Programm hat, daß alsbald nach erlangter "Freiheit" ein allgemenes Morden innerhalb der "frei" gewordenen Kirche angehen solle. Und so wurden PILATUS und HERODES Freunde auf Kosten der Religion." Bekannt sind die abschreckenden Wirkungen des Systems in Belgien, die nicht anders wären, auch wenn der Staat das Kultusbudget abschaffte.
    21) ROBESPIERREs Einspruch bei ALLIER "Une révolution" Seite 65 und O. MAYER a. a. O.
    22) Siehe die Prozesse bei RÜTTIMANN, wo im Falle von Streitigkeiten oder Lehrdifferenzen in Gemeinden die Zivilgerichte die Berechtigung zum Fortgebrauch des Kircheneigentums zu entscheiden haben. Ein ungeheuerlicher Fall dieser Art ist die Folge der Wiedervereinigung der schottischen Freikirche mit den freikirchlichen Presbyterianern, wo ein kleiner dissentierender Rest die Millionen des Vermögens, die Gebäude und Anstalten erhalten hat und, während er selbst mit all dem nichts anfangen kann, die andern ohne Pfennig auf die Straße gesetzt hat. Der Prozeß erregt ganz Schottland aufs Tiefste. Auch dem französischen Staat entstehen von hier aus Schwierigkeiten, indem er in Fällen von Schismen [Kirchenspaltung - wp] den obersten Verwaltungsgerichtshof anerkennt. Urteilt dieser hierbei über die Kontinuität nach dem Urteil der Bischöfe, dann ist jedes Schisma tot geboren und vom Staat selbst verhindert, der es dringend wünschen muß. Urteilt er nicht nach dem bischöflichen Urteil, dann verletzt er innere Glaubensgesetze der Kirche und die formelle Gerechtigkeit. Auch bei uns würde für alle Trennungen hier die Hauptschwierigkeit liegen, die Konfessionellen würden als die rechtlich und formell allein berechtigten Inhaber des Vermögens alle Nicht-Konfessionellen ohne jedes Vermögen und ohne jede Kirche zum Auszug nötigen.
    23) Gegen die Trennung HINSCHIUS, 261f, vom religiösen Standpunkt aus G. TRAUB "Die gemeinschaftbildende Kraft der Religion" in "Beiträge zur Weiterentwicklung der Religion", die scharfsinnige Schrift von C. SCHEER, "Staat und Kirche", Mühlhausen i. E. 1905, treffliche Aufsätze E. FÖRSTERs, Christliche Welt 1904, Nr. 1, 1905 Nr. 34 - 38.
    24) SCHOWALTER, "Christliche Politik in Holland", Christliche Welt 1905, Nr. 41, 43, 45, 52 und 1906 Nr. 18; auch das schon erwähnte Buch von KUYPER selbst.
    25) EYCK "Sir Henrys erste Session" Hilfe 1905, Nr. 32, Nation Nr. 34.
    26) Ähnliche Ausführungen in der ergreifenden Rede, die MÉnÉGOZ zur Eröffnung des letzten Semesters der Pariser Fakultät gehalten hat "Lecon d'ouverture" 1905; auch PAULSEN "Deutsche Universitäten", 1902, Seite 495f; mit der dort vertretenen Auffassung von der Aufgabe der Theologie bin ich durchaus einverstanden. Über die holländischen theologischen Fakultäten siehe SCHOWALTER, Christliche Welt 1900, Nr. 18