ra-2Friedrich Theodor VischerJonas CohnBerthold von KernAugust Döring    
 
ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN
(1714-1762)
Aesthetica (1)

"Wenn man bei den Alten von der Verbesserung des Verstandes redete, so schlug man die Logik als das allgemeine Hilfsmittel vor, das den ganzen Verstand verbessern sollte. Wir wissen jetzt, daß die sinnliche Erkenntnis der Grund der deutlichen ist; soll also der ganze Verstand gebessert werden, so muß die Ästhetik der Logik zu Hilfe kommen."


Einleitung

§ 1.

Wir sind gesonnen, die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften systematisch vorzutragen. Die ganze Wissenschaft ist unter dem Namen der Ästhetik bekannt, und da unser Lesebuch in der ersten Erklärung dieses Wort braucht, so müssen wir uns zuerst um seinen Ursprung bekümmern. Es kommt eigentlich von aisthanomai her; dieses Wort bezeichnet das, was sentio im Lateinischen bezeichnet, nämlich alle klaren Empfindungen. Da die Empfindungen in äußerliche und innerliche eingeteilt werden, in solche, die in meinem Körper als mir bewußt vorgehen und sich auf alle Sinne beziehen, oder in solche, die nur in meiner Seele vorgehen, so wird dieses Wort, das klare Empfindungen überhaupt bezeichnet, auf beides gehen. Da ferner das Wort sentio etwas sinnlich wahrnehmen bezeichnet, das griechische aber mit ihm völlig einerlei ist, so wird es auch sinnliche Vorstellungen bezeichnen, und so wird es beim PLATO gebraucht, wo aistheta den nomtis (2) entgegengesetzt sind als undeutliche und deutliche Vorstellungen. So teilte ARISTOTELES einige Seelen in aistheta, die noch Sinnlichkeit haben, und anaistheta, die auch diese nicht mehr haben. Wir sehen soviel, was die Alten zur Sinnlichkeit zählten, begriffen sie unter diesem Wort. Wenn man wissen will, was sie eigentlich in der Seele zur Sinnlichkeit zählten, so lese man den BUCHANAN, der im 3. Kapitel in der 3. Sektion von den Meinungen der Alten sagt, daß sie sensum communem, phantasiam und memoriam sensitivam dahin zählten, weil man die Seele noch nicht besser kannte. So wie man nun von logikos, von dem, was deutlich ist, logike gemacht, das die Wissenschaft des Deutlichen anzeigt, so machen wir nun von aisthetos aisthetike die Wissenschaft von allem, was sinnlich ist.

Wenn man bei den Alten von der Verbesserung des Verstandes redete, so schlug man die Logik als das allgemeine Hilfsmittel vor, das den ganzen Verstand verbessern sollte. Wir wissen jetzt, daß die sinnliche Erkenntnis der Grund der deutlichen ist; soll also der ganze Verstand gebessert werden, so muß die Ästhetik der Logik zu Hilfe kommen.

Die Ästhetik als eine Wissenschaft ist noch neu; man hat zwar hin und wieder Regeln zum schönen Denken gegeben, aber man hat in den vorigen Zeiten noch nicht den ganzen Inbegriff aller Regeln in eine systematische Ordnung in Form einer Wissenschaft gebracht, folglich kann auch dieser Name vielen noch unbekannt sein. Unser Paragraph schlägt noch verschiedene andere Benennungen vor, wenn man an Leute kommen sollte, denen die erste Benennung unbekannt wäre. Man nenne sie die Theorie von den schönen Wissenschaften, dieses ist der Titel, den Herr MEIER seinem Werk dieser Art beigelegt hat. Man hat den Namen  schöne Wissenschaften  lange gehabt, obgleich eigentlich nichts Wissenschaftliches drinnen gewesen ist. Man nenne sie die Wissenschaften unserer Untererkenntnisvermögen, oder um noch sinnlicher zu reden, (3) so nenne man sie mit dem BOUHOURS [Dominique Bouhours - wp] la logique sans epines [Logik der Dornen - wp]. Bei uns Deutschen ist der Titel: die Kunst schön zu denken, schon bekannt, man bediene sich auch dessen. Da uns aus der Psychologie bekannt ist, daß unsere Einsicht in den Zusammenhang der Dinge teils deutlich, teils verworren ist und jenes die Vernunft un das letzte anologon rationis ist, so benenne man sie darnach. Will man hingegen in Metaphern reden und liebt man die Mythologie der Alten, so nenne man sie die Philosophie der Musen und der Grazien. Noch mehr da die Metaphysik das Allgemeine der Wissenschaften enthält, so könnte man die Ästhetik nach einiger Ähnlichkeit die Metaphysik des Schönen nennen.

Diese Wissenschaft und der Inbegriff ihrer Wahrheiten ist so neu nicht, daß man niemals zuvor schön gedacht hätte. Nein man hat praktische Ästhetiker gehabt, ehe man Regeln von der Ästhetik gewußt und ehe man sie in die Form einer Wissenschaft gebracht hat. Es wird nicht undienlich sein, eine kleine Einleitung in die Geschichte der Ästhetik zu geben. Die ganze Geschichte der Maler, Bildhauer, Musikverständigen, Dichter, Redner wird hierher gehören, denn alle diese verschiedenen Teile haben ihre allgemeinen Regeln in der Ästhetik. Dieses würde uns zu weitläufig sein; wir wollen nur bei denen stehen bleiben, die sich besonders auf die deutliche Kenntnis legten. Wir werden sehen, daß sie mehrenteils praktische Ästhetiker gewesen sind; und dann können wir schließen: haben diese, die sozusagen Profession von der deutlichen Kenntnis machten, mehrenteils sinnlich gedacht, wie vielmehr die anderen, denen die deutliche unbekannt war. Man teilte die Philosophen unter den Alten in Barbaren, Griechen und Römer. Bei allen diesen werden wir in der Geschichte die Wahrheit unseres Satzes sehen.

Zu den barbarischen Gelehrten gehören besonders die Ägypter, Chaldäer und Kelten. Diese legten sich vor allen anderen Völkern auf strenge Wissenschaften. Allein was taten die Ägypter? Sie dachten sinnlich und teilten ihre Gedanken sinnlich mit in den hieroglyphischen Bildern. Man sehe, was PLUCHE uns in seiner histoire du ciel davon bemerkt hat. Und so finden wir es bei den Chaldäern, die ihre Gelehrsamkeit in der Astronomie nicht streng deutlich wußten, und bei den Kelten, deren Druiden ihre Gelehrsamkeit, ihre Staatskunst und ihre Religion in Gedichten verfaßten und folglich sehr sinnlich vortrugen.

So ging es auch mit den griechischen Philosophen. Ihre Einsicht war nicht pur deutlich. Ihre erste Philosophie war bloß undeutlich und fabelhaft. Wir reden hier nicht von den Dichtern, sondern bloß von den Philosophen. Man nehme den ORPHEUS und die sogenannten sieben Weisen als die ältesten unter ihren Philosophen. Vielleicht besaßen sie mehr Poesie als Politik. Ihre Apophtegmata [Sammlung von Aphorismen - wp] sind gewiß nur sinnlich schön. Das Haupt so verschiedener Sekten SOKRATES war sehr ästhetisch. Seine Schüler folgten ihm. ARISTIPPUS nannte seine Logik sogar eine Wissenschaft, die zum Angenehmen führt, und seine ganze Sekte legte sich darauf, die Sachen reizend abzuschildern. Machte nicht HEGESIAS ein so schönes Gedicht vom Tod, daß sich ville selbst umbrachten! Die Megarische Sekte, die sich auch Dialektiker nannten, setzte ihre Hauptbeschäftigung in der Sophistik und trieb das Ästhetische so weit, daß man einander mit einem Sophisma zu Tode ärgern konnte. Die Elische Sekte oder die Eretische, weil VENEDEMUS von Eretria ihr vornehmster Anhänger war, setzte ihr Größtes in eine gewisse Art der Beredsamkeit, sich eine Zeitlan herumzuzanken. Man merke vor allem den PLATO. Wie sehr war er nicht bemüht, alles deutlich zu machen. Er nannte aber doch seine Dialektik curam disserendi [Pflege der Diskussion - wp]. Mußte hier nicht schon etwas Sinnliches mit unterlaufen? Er teilte diese Dialektik in vier Teile, in die Apodiktik, Epicherematik, Rhetorik, Sophistik. Eine sehr unvollkommene Einteilung! Allein man sehe, wie viel Sinnliches in seiner Philosophie war. Seine Epicherematik war cura disserandi circa veresimilia vel probabilia [Pflege der Diskussion über Wahrscheinlichkeit - wp]. Er definierte seine Rhetorik durch enthimema vel imperfecta ratiocinatio [Argumentation oder unvollkommene Überlegung - wp]. Wieder unvollkommen erklärt! Allein soviel sieht man doch, es leuchtete ihm etwas Wahres in die Augen. Denn eine unvollkommene Schlußrede ist ein Werk des analogi rationis [Verhältnis der Vernunft - wp]. Er verdammte die Poesie, folglich blieb die Rhetorik vom Sinnlichen noch übrig, die er beibehielt, ob er gleich sonst kein Feind der Dichtkunst war, weil man weiß, daß er selbst Liebesbriefchen geschrieben, die er aber verbrannt, als sein ernsthaftes, philosophisches Gewissen aufwachte. Die Schule des PLATO teilte sich wieder in diejenigen drei Akademien, die näher bei seinen Lehren blieben, und in die, die mehr abgingen und den ARISTOTELES zu ihrem Stifter hatten. XENOKRATES, der Lehrer der ersten Akademie, mußte gewiß nicht bloß streng deutlich lehren, weil er einmal in einer Stunde den ausschweifenden POLEMON bekehrt. Durch einen trockenen Vernunftschluß geschah es gewiß nicht. ARKESILAUS, der Urheber der zweiten Akademie, war ein Rhetor und Dichter; folglich dürfen wir wohl nicht hinzusetzen, daß er ein praktischer Ästhetikus gewesen ist. Er führte Zweifel wider die Gewißheit der Dinge. KARNEADES aus der dritten Akademie wollte beredt gewiß machen, daß nichts gewiß wäre. Ein wunderlicher Satz, allein er tat es beredt, foglich ästhetisch. Nun folgt ARISTOTELES. Er war am Hofe des PHILIPPUS gewesen; er hatte den jungen ALEXANDER geführt, der ihn allemal sehr hochschätzte, um einen trockenen Vernunftschluß aber gewiß nicht. Er teilt seine Philosophie, wodurch die menschliche Kenntnis verbessert werden soll, in die Logik, Rhetorik und Poetik, die er zuerst als Wissenschaften vorträgt. Die Einteilung selbst ist unvollkommen. Wenn ich sinnlich schön denken will, warum soll ich bloß in Prosa oder in Versen denken? Wo bleibt der Maler und Musikus? Wenn ich sinnlich schön in Prosa denken will, brauche ich die Rhetorik; es ist also erst wieder eine Subdivision. Sie ist auch deshalb unbequem, weil sie uns zwingt, einerlei vielmal zu wiederhole und in der Poetik eben das zu sagen, was man schon in der Rhetorik gehört hat. Deshalb muß die Ästhetik allgemeiner sein; sie muß sagen, was von allem Schönem gilt, und bei jedem muß man die besondere Aufwendung der allgemeinen Regeln machen. Nach diesem Philosophen folgen die Kyniker. Vielleicht waren sie nicht die saubersten praktischen Ästhetiker, und sie zeigten uns, wie schlecht das Natürlich-Ästhetische ohne alle Kunst ist. Die Stoiker waren lakonisch in ihren Ausdrücken, wenn sie philosophierten; aber sie hatten selbst eine Rhetorik, die sie sehr schön durch artem bene dicendi di iis, quae copiosam orationem requirunt, ad persuadendum idoneam [die Kunst des Redens um auch die zu überzeugen, die ein Gebet erfordern - wp] erklärten.

Nach den Griechen folgen die Römer. CICERO war gewiß einer der berühmtesten von ihren Philosophen, allein wenn wir die Sache nach der Wahrheit untersuchen wollen, ein besserer Ästhetikus als Philosoph. SENECA wird ein gleiches Urteil von uns erhalten. In den scholastischen Zeiten, wo alle Wissenschaften in der Barbarei lagen, wurde keine einzige so sehr verabsäumt als die Ästhetik. Das ist jetzt der einzige Punkt, wo man nur dicke Theologien und Traktate von Jure sah, das Ästhetische aber gänzlich verwarf und auch gar nicht kannte. PETRUS RAMUS wagte es wieder am ersten das praktisch Ästhetische hervorzusuchen; allein die Zeiten waren noch zu finster, denn man machte noch in großen Konzilien zu Paris aus, ob man qui, quae, quod oder qi qae, qod schreiben sollte, und RAMUS und seine Schüler wurden darüber sehr verfolgt. Die große Verbitterung, die viele gegen alles, was man schöne denken heißt, blicken ließen, mochte auch mit aus der großen Vermischung des Verstandes und des Schönen, das in der eklektischen Philosophie Mode war, entstanden sein. Man führte einen Beweis und setzte dann ein paar Verschen hinzu. Dies ist fehlerhaft. Wir müssen deutlich denken, wir müssen schön denken, aber wir müssen die Grenzen zwischen beiden sehr wohl unterscheiden.

Wir müssen der Kürze halber eilen und auf den CARTESIUS kommen. Wer ihn kennt, sieht auch, daß er ein ungemein munterer Kopf war. Seine Physik ist auf seiten der Ästhetik schöner als auf seiten der Philosophie. Man würde seine Cubi eher besingen als philosophisch von ihnen reden können. Sein Gedicht, das er noch im Alter in Schweden bei der Königin CHRISTINA gemacht, legt ein Zeugnis ab, daß er schön denken könne. Nun fingen die Philosophen an sich zu teilen. Wir bleiben bei den Neueren. Hier zeigt sich LEIBNIZ, der von allen Seiten groß war, auch als ein ästhetisch großer Kopf. Seine Theodizée ist wahrhaftig schön, und wie viel Zeugen geben die Historie und so viel Sprachen ab. WOLFF und BILFINGER sind nicht weniger ästhetisch schön. Wer die dilucidationes des letzteren gelesen hat, wird sehen, wie zuweilen der Witz mit unterspielt. Er wünscht darinnen, daß man die Regeln davon besser kennen möchte und die sinnliche Kenntnis mehr triebe. Dieser Wunsch gab mit Gelegenheit, daß Herr Prof. BAUMGARTEN die Disputation de nonnullis ad poema pertinentibus schrieb, die der Grund dieser Wissenschaft war. In der Metaphysik, wo er zeigte, daß die Untervermögen noch verbessert werden müßten, fragte man endlich, wo dies geschehe, und als die Ästhetik vorgeschlagen wurde, die noch immer in piis desideriis war, so brachte es das Verlangen sie zu sehen so weit, daß das gegenwärtige System zustande kam.

BOUHOURS, CROUSAZ in seinem traité du beau, die Gespräche der Maler, die Abhandlung vom Geschmack enthalten viel Allgemeines vom Schönen; aber sie erschöpfen es nicht. Es konnte noch nicht in die gegenwärtige Form einer Wissenschaft gebracht werden.

Jetzt kennen wir sie als eine Wissenschaft, folglich muß alles das von ihr gesagt werden können, was man von einer Wissenschaft sagt: sie muß gewisse Gründe haben. Ihre Konklusionen müssen gewiß aus diesen gewissen Gründen hergeleitet werden, folglich müssen alle ihre Schlüsse nach der Form und Materie richtig sein. Das konnte man nicht sagen, solange die Regeln des Schönen hin und her zerstreut waren. Da man auch Wissenschaften von Begierden hat, so unterscheidet sich die Ästhetik dadurch von ihnen, daß sie eine Wissenschaft einer gewissen Erkenntnis ist. Die Wissenschaften von Kenntnissen rechnet man zur philosophia instrumentali oder organica, folglich gehört auch sie zur philosophia instrumentali, und die Logik und philosophia instrumentalis werden nun nicht mehr als synonima anzusehen sein. Diese Ästhetik unterscheidet sich von der Logik dadurch, daß sie sinnliche Kenntnis, die unteren Erkenntniskräfte zu ihrem Gegenstand hat. Man könnte vielleicht noch eins und das andere wider unsere Erklärung einwenden; man könnte sagen, warum man nicht perficiendae zur Definition hinzugesetzt hätte. Allein (4) die wenigen Kennzeichen bestimmen einmal schon alles zum hinlänglichen Unterschied, und dann liegt das schon darin, weil alle Wissenschaft meine Kenntnis vollkommener macht. Man sagt, warum hat man nicht gesetzt: scientia de cognitione sensitiva et acquirenda et proponenda? Allein man weiß die Regel, ohne Not keine Einteilungen in die Definitionen zu bringen. Ferner wäre dies schon zu eng erklärt und ginge weit näher auf die Beredsamkeit, da die Erklärung auch auf Musik und Malerei gehen muß. Wollte man vorschlagen anstatt proponenda significanda zu setzen, so hat man das schon in unserer Definition. Denn indem ich schöne Gedanken bezeichnen soll, so muß ich wieder schön denken, damit ich jene schönen Gedanken nicht übel bezeichne.


§ 2.

Wir machen hier eine Einteilung wie in der Logik. Ein jeder brachte ein natürliches Vermögen zu schließen mit auf die Welt, das er durch Regeln der Kunst verbesserte. Ein jeder bringt auch ein natürliches Vermögen schön zu denken mit auf die Welt, das eben wie jenes in der Logik durch Regeln verbessert werden kann; und wir können hier das Verhältnis setzen: Wie sich die künstliche Logik zur natürlichen verhält, so verhält sich die künstliche Ästhetik zur natürlichen. Man könnte diese letzt weit bequemer den Mutterwitz nennen als die natürliche Ästhetik. (5) Wenn ich schöne Gedanken entwerfe, so ist die Ästhetik die ausübende (aesthecia utens). Wenn ich andern zeit, wie sie eine solche entwerfen sollen, so ist sie die lehrende (docens).


§ 3.

Die Ästhetik nach Regeln gelernt, wird besonderen und vorzüglichen Nutzen haben, sowie die Logik, die man nach Regeln erlernt. Man setze zwei Leute vollkommen gleich; der eine habe sich geübt, aber ohne Regeln, der andere habe sich ebenso stark geübt, kenne aber zugleich die Regeln, so wird sich der Nutzen  erstens  darin, daß sie uns dient, glücklicher in den streng deutlichen Wissenschaften fortzukommen. Wenn ich zu Wissenschaften gelangen soll, so muß allemal zuvor ein gewisser Grund gelegt werden, das sind bei uns die Schulen. Da werden wir an verschiedene Abwechslungen der Arbeit gewöhnt, und je besser hier schon die Anweisung zum Schönen ist, je glücklicher werden wir in den andern strengen Wissenschaften fortkommen. Der  andere Nutzen  besteht darin, daß sie zeigt, wie wir das Wissenschaftliche für die Fassung eines jeden andern einrichten sollen. Wenn wir mit unserer Gelehrsamkeit nützlich werden wollen, so müssen wir diese Kunst verstehen, und ohne Ästhetik werden wir sie nicht erlangen. Durch sie wird der Theologus ein guter Homilete werden. Der Jurist wird sich aus den Rechten und seiner Sprache für den gemeinen Mann bequem ausdrücken lernen; und der Arzt wird die Krankheit dem Patienten verständlich darlegen.

Da wir endlich sind, so kann nicht alles von uns demonstriert werden. Der Vernünftige sieht es, und er sieht zugleich, es würde die Mühe nicht verlohnen, jede kleine Wahrheit in eine Demonstration zu bringen. Allein auch diese Wahrheiten, die teils nicht demonstriert werden können und noch öfter die dazu die Mühe nicht belohnen, können doch nicht gänzlich verabsäumt werden. Dazu wird uns nun diese Kenntnis, die den Geschmack festsetzt, dienen. Man bedenke, daß man in Gesellschaften kommen kann, wo die Rede von einer Sache ist, von der ich eben nicht Profession mache. Diese kann ich nicht demonstrieren. Es würde auch unnützlich sein; ästhetisch sich darüber auszudrücken ist genug. Dies sind die  drei  Hauptnutzen der Ästhetik. Der  vierte  würde sein, daß sie uns sanftmütiger, obgleich nicht eben tugendhafter macht. Die Erfahrung beweist es. Wenn zwei Leute zornig werden, auch beide strafbar losschlagen, so wird der ästhetische Kopf weit gelinder gehen, weit feiner sich zeigen und es nicht übertreiben, welches aber vielleicht der andere tut. Dem ersten wird dies und jenes nicht edel, nicht groß genug scheinen. Wenn wir die schönen Wissenschaften studieren, so fangen wir an, mehr nach Deutlichkeit zu begehren, folglich werden wir auch zugleich weit freier, deshalb man sie freie Künste genannt. Der Nutzen der Ästhetik wird im gemeinen Leben nach all dem gewiß nicht gering sein. Meine deutliche Kenntnis ist nicht so stark als die sinnliche. Wenn ich diese letzte von einer gewissen Sache habe, so werden alle Schlüsse deutlich und in forma mich nicht vom Gegenteil überführen. Wenn wir also andere von der Wichtigkeit gewisser Güter überreden wollen, so werden wir die Sinnlichkeit zu Hilfe nehmen müssen; und die Regeln davon gibt die Ästhetik. Wollte man einen Einwurf dagegen vom Mißbrauch der Poesie hernehmen, so würde man vergessen, daß der Mißbrauch einer Sache die Sache selbst nicht aufhebt. Ein praktisch theoretischer Ästhetikus wird in der Gesellschaft angenehmer und nützlicher sein, der mit jenem sonst gleiche Erziehung und gleiche Wissenschaften hat, aber die Regeln der Ästhetik nicht kennt. Deshalb kann ein deutlich Denkender doch in seinem Wert bleiben, und man kann nicht schließen, dieser schreibt sinnlich, also kann er nicht deutlich schreiben. VENETUS hat in seinem Gedicht de harmonia mundi beides als eine Eigenschaft eines großen Geistes angemerkt. Es sagt, ein großer Geist schwingt sich bis in das Himmlische, er läßt sich aber auch wieder auf das Sinnliche so herunter, daß es scheint, daß er hier zu Hause sei und er eine doppelte Natur habe. Man muß die Sprache des Verstandes und der Sinnlichkeit reden können.


§ 4.

Dies war der allgemeine Nutzen der Ästhetik; wir wollen hier noch einige besondere anführen. Die Philologie, die Wissenschaft der Rede, insofern sie ein Zusammenhang von Tönen ist und welche zeigt, wie man diese Töne regelmäßig machen soll, wird großen Nutzen von der Ästhetik haben. Die Kenntnis des Schönen wird uns zeigen, was bei den Worten, bei den Zeichen der Worte und der Rechtschreibung zu bemerken ist; sie verbessert unser Bezeichnungsvermögen; sie zeigt, wie ich die Wörter auf solche Art verbinden soll, daß sie schöne Gedanken schön bezeichnen usf. Da fast alle auszulegenden Schriften ästhetisch geschrieben sind, so hat die sinnliche Kenntnis einen großen Anteil an ihnen und der Hermenekte wird sie haben müssen, wenn er im Erklären fortkommen will. Wenn die Ausleger des HORAZ bessere Ästhetiker gewesen wären, so würden sie die Worte der 20. Ode im 2. Buch: non ego, quem vocas, dilecte Maecenas, obibo nicht gemartert haben, sie würden auf das Leben des HORAZ, die besonderen Umstände dieser Ode und den abergläubischen Begriff des Wortes vocare (weil nämlich Mäcenas schon gestorben und damals mortuus illum vocavit eben das bezeichnete, was etwa bei uns, erist seinem verstorbenen Vater nachgefolgt, anzeigt) gesehen haben und einen schönen Gedanken im HORAZ gefunden haben.

Der Exegete, der sich den wahren Sinn eines Schriftstellers und zwar vollkommen vorstellen muß, wird die ästhetische Kenntnis ebenfalls brauchen. Er muß Deutlichkeit der schönen Worte haben, wenn er sie für schön angeben und die logische Wahrheit derselben anzeigen will. Er muß erläutern, er muß das, was er nun erklärt, praktisch anwenden. Er wird ohne Kenntnis der Ästhetik es nicht recht glücklich tun können. So wird der übrige Nutzen für die Rhetorik und Poetik sich auch zeigen. Die Rhetorik, wenn sie nach Gründen des Schönen soll erlernt werden, muß sich auf die allgemeinen Regeln der Ästhetik gründen und ihr Besonderes nach denselben bestimmen; sie werden richtige Gründe vom Rührenden, Edlen usf. geben, und also wird sie auch der Kanzelredner mit Vorteil brauchen können, dessen Redekunst zuweilen sehr verstellt ist. Daran, daß die Poesie hierher gehöre, wird niemand zweifeln, und alle Künste, die man schön nennt, werden von der Kenntnis dieser Regeln den größten Nutzen haben. Man sagt von der italienischen Musik, daß sie in Erstaunen setze, und von der französischen, daß sie mehr rühre und einnehme. Hier wird die Ästhetik nützlich angewendet, und die Frage, welche von beiden die beste sei, nach ihren Regeln bestimmt werden können. Wenn man die Frage aufwirft, ob ein guter natürlicher Kopf sich ohne alle Regeln helfen könne und ob das gute Naturell ersetze, was der Kenntnis der Regeln abgeht, so wird man darauf antworten können, daß ohne alle Regeln das gute Naturell sich übereilen könne, daß aber hingegen auch die Demonstration einer jeden speziellen Wissenschaft des Schönen für einen natürlich schönen Geist überflüssig sei, und eine gute Ästhetik, die ihm die allgemeinen Regeln beibringt, hinreiche, ihn vollkommen zu machen, denn sie bringt ihn zu einer philosophischen Kenntnis und lehrt ihn Gründe angeben.


§ 5.

In diesen und den folgenden Paragraphen werden einige Einwürfe erhoben, die man etwa wider diese Wissenschaft als eine neue Disziplin ihrer Form nach machen könnte. Man sagt, wie weitläufig ist das Feld der schönen Wissenschaften, wie kann man in einem halben Jahr von allen Kenntnis haben und sie in einem kleinen Buch abhandeln, allein ich antworte, daß wir hier nur den Grund legen, worauf das Übrige weitergebaut wird. Die Ästhetik geht viel weiter als die Rhetorik und Poetik und ist also nicht mit ihr einerlei; ebensowenig ist sie mit der Kritik einerlei. Wenn ich eine Schrift oder ein Gemälde oder eine Musik nach Deutlichkeit beurteilen will, so muß eine Theorie da sein; diese Theorie ist aber niemals die Kritik selbst, ob ich sie gleich hernach zur Kritik anwenden kann. Wenn ich beurteile, darf ich nicht bloß nach meinem Geschmack, sondern muß nach Deutlichkeit urteilen. Die Ästhetik geht viel weiter als die Kritik, und sie kann zu mehreren Dingen als zum Beurteilen nur allein gebraucht werden. Das Verhältnis wird richtig sein, wie die Logik zur kritischen Logik, so die Ästhetik überhaupt zur kritischen Ästhetik.


§ 6.

Wenn man den Philosophen als einen Fels vorstellt, der bis über die Hälfte in die Wolken geht, mit der Überschrift non pertubatur in alto, so vergißt man den Menschen und bedenkt nicht, daß die Stoiker mit ihren Weisen schon lächerlich wurden. Der Philosoph bleibt ein Mensch, folglich behält er Sinnlichkeit, und auf dieser Verbesserung muß er auch als Philosoph denken. Als Philosoph braucht er ästhetische Übungen nicht, aber die Theorie derselben gehört für ihn.


§ 7.

Man sagt, weil die Verwirrung in Irrtum führt, so muß ich mich mit der verworrenen Kenntnis nicht abgeben. Allein wir haben 1. schon angemerkt, daß wir ohne verworrene Vorstellungen nicht zu deutlichen gelangen können. Durch lebhafte Klarheit muß ich in das Reich der Deutlichkeit eingehen. Und 2. erfolgt nicht allezeit bei einer jeden Verwirrung Irrtum. Unsere Gegner sagen, die Verwirrung ist die Mutter des Irrtums; lasset uns die Metapher fortsetzen; eine Mutter darf nicht immer gebären, so darf auch die Verwirrung nicht immer Irrtümer hervorbringen. In der Natur ist nicht jetzt Nacht, und dann folgt gleich heller Mittag, sondern es ist eine Dämmerung dazwischen. So haben wir nicht gleich hellen Mittag der Kenntnis, sondern die Verwirrung als die Dämmerung ist dazwischen. Und so wie der, so sie aus dem Reich der Natur nehmen wollte, töricht und schädlich handeln würde, so auch der, so sie aus dem menschlichen Verstand nehmen will, denn sie hilft uns zur Deutlichkeit. Wir suchen sie auch nicht, weil sie verworren ist, sondern weil sie lebhaft ist; und dürfen wir ein Exempel aus der Theologie geben: Gott sucht den Sünder, aber nicht weil er ein Sünder ist. Wir suchen unsere sinnliche Kenntnis von groben Irrtümern zu befreien.


§ 8.

Wenn man sagt, die deutliche Kenntnis sei besser, so redet man sehr unbestimmt. Es ist nicht allgemein wahr. Von vielen Stücken darf ein endlicher Geist, wie der Mensch ist, gar nicht deutliche Kenntnis verlangen, weil sie nicht die Mühe belohnen und die sinnliche hinreichend ist. Zuweilen ist dieser Ausspruch auch nur ein Machtspruch der Faulheit, weil man ein paar Definitionen auswendig gelernt hat und sich nicht weiter Mühe geben will.


§ 9.

"Die Sinnlichkeit und die Kenntnis von ihr wird den Verfall der strengen Wissenschaften verursachen, welche zum Gipfel der Hoheit zu bringen, zu welchem sie in unseren Tagen gelangt sind, doch so viel Mühe gekostet hat." Was soll dieser Einwurf beweisen? Ist ein Geist groß genug, so wird er sinnliche und deutliche Erkenntnis befördern, ist er aber schwach, so wird er das eine versäumen; aber wird deshalb das Ganze der Wissenschaft leiden? Kann nicht in den strengen Wissenschaften selbst jemand auf die Metaphysik fallen und die Ethik verabsäumen? Leidet aber deshalb eine Wissenschaft um der andern willen? Und dann bemerke man, ob es für die deutliche Kenntnis gut wäre, wenn die sinnliche unbrauchbar bliebe.


§ 10.

Da die Kunst ein Inbegriff mehrerer Regeln etwas vollkommener zu machen ist, diese Regeln aber historisch oder auch nach Gründen vorgetragen werden und diese Gründe hinlänglich gewiß oder nicht hinlänglich gewiß sein können, da ferner die hinlänglichen Gründe eine Wissenschaft geben, so muß ein jeder zugestehen, daß die Ästhetik nach der Definition der Wissenschaft eine Wissenschaft sei; allein sie bleibt auch eine Kunst; dies leugnen wir nicht. Allein in diesem Verstand wird auch die Logik eine Kunst sein, wie man sie auch ehemals genannt hat, jetzt aber mit Grund eine Wissenschaft nennt. Man wird dieses Verhältnis setzen können: Wie sich die Logik als Kunst zur Logik als Wissenschaft verhält, so verhält sich die Ästhetik als Kunst zur Ästhetik als Wissenschaft. Wenn man diesen ganzen Einwurf auch zugäbe, so würde daraus doch nicht folgen, daß die Ästhetik nicht zu schätzen sei, sondern nur, daß sie nicht als Wissenschaft zu schätzen sei.


§ 11.

Man gibt endlich zu, daß das schöne Denken schätzbar ist, allein man sagt, das zwingen keine Regeln, das muß alles die Natur tun. Wir wissen aber schon, ein guter Kopf ohne alle Regeln und Regeln ohne einen natürlich guten Kopf können beide einzeln nichts ausrichten, aber verbunden zwingen sie alles. Wenn man sich hier auf das Zeugnis der Gelehrten berufen will, so würde man Urteile pro und contra finden. QUINTILIAN erklärt sich im 24. Kapitel des 2. Buches über den Redner so, daß er der Kunst mehr beilegt als der Natur und sich des Gleichnisses eines königlichen Gartens bedient, wo zwar fruchtbare Erde viel tut, aber der Fleiß des Gärtners noch mehr zwingen muß. Man unterscheide so wie er das Unentbehrliche und das Bessere. PINDAR schreibt der Natur alles zu und sagt, die viel gelernt haben, sind in ihrer Vielschwätzerei wie die Raben gegen den Adler. CICERO hingegen wünsht, daß man Regeln hätte, wie die Scherze einzurichten wären. Daß Regeln und Natur aber zusammenkommen müssen, wenn etwas vollkommen werden soll, wird die Erfahrung lehren.


§ 12.

Man sagt, in der Schrift wird befohlen, das Fleisch, das ist die verderbten Untererkenntniskräfte der Seele, zu kreuzigen und gar nicht auszubessern. Allein man vermischt hier Unterdrückung des Sündlichen, was in ihnen ist, mit der gänzlichen Ausrottung des Sinnlichen. Das letzte hieße die menschliche Natur ablegen wollen, und das fordert die christliche Religion nie; sondern sie will nur, wir sollen über diese verworrene Kenntnis herrschen. Die Ästhetik verstärkt überdem die sinnlichen Begierden nicht, sondern sie trägt vielmehr zum Vorteil der Gottesfurcht das Ihrige bei. Sie lehrt uns Gedanken als häßlich verabscheuen, wenn sie ihr zuwider sind. Sagt man, zur Gottesfurcht muß ich übernatürlicherweise zubereitet werden und nicht durch Künste, so bedenkt man nicht genug, daß einige Grade der Besserung durch menschliche Künste gezwungen werden können und nicht übernatürlich geschehen. Da wir zudem noch Überbleibsel des göttlichen Ebenbildes in dieser Kenntnis haben, so können wir sie durch die Ästhetik deutlicher auseinandersetzen und näher erkennen.


§ 13.

Wir nennen die Logik die ältere Schwester der Ästhetik in Ansehung der Theorie, sonst würde in Ansehung der Ausübung die Ästhetik die ältere sein. Nach den Ideen, nach welchen wir die Logik eingeteilt, werden wir auch die Ästhetik einteilen. In der Theorie überhaupt werden wir auch die Ästhetik einteilen. In der Theorie überhaupt werden wir zuerst von den schönen Gedanken reden, und wie man sie bilden soll; ferner in was für eine Ordnung man sie bringen und wie der Ausdruck (der kann in Mienen, in Worten, in Pinselstrichen usw. sein) beschaffen sein muß. Der besondere Teil wird alsdann auf die Ausübung gehen und sehen, wie schöne Gedanken wirklich werden. HORAZ gibt den Dichtern und zugleich jedem Schöndenkenden die Regel, sich eine Materie dazu wählen, deren er mächtig ist.
LITERATUR Alexander Gottlieb Baumgarten - "Aesthetica" in Bernhard Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten, Inaugural-Dissertation, Borna-Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Kollegnachschrift aus dem Besitz der Königlichen Bibliothek in Berlin. Sie umfaßt 47 Blätter; auf der ersten Seite heißt es: A. G. Baumgarten. Kollegium über die Ästhetik. Die Handschrift ist ausführlicher und bietet für viele Stellen einen Kommentar. Die Handschrift enthält den ersten Teil der "Aesthetica", der im März 1750 herausgegeben wurde. An der Echtheit ist kein Zweifel. Was Orthographie, Interpunktion und Sprache betrift, so ist natürliche die Orthographie bei der Herausgabe der neueren angepaßt. Bei der Sprache ist sehr darauf Rücksicht genommen, das ganze als ein Denkmal des achtzehnten Jahrhunderts zu respektieren.
    2) Müßte eigentlich nomtois heißen als dat. plur.; in der Handschrift steht aber nomtis.
    3) Ist zu ergänzen "will". Das Wort "will" fehlt in der Handschrift.
    4) In der Handschrift steht: "Alle die wenigen Kennzeichen" usw. Das ist offenbar ein Schreibfehler, denn es gibt keinen Sinn und muß heißen "allein".
    5) Das Wort "Ästhetik" fehlt in der Handschrift; es heißt da bloß "als die natürliche". Ästhetik ist aber offenbar zu ergänzen.