ra-2SchillerO. KülpeJ. CohnFr. Th. VischerA. DöringW. Conrad    
 
BERTHOLD von KERN
(1848-1941)
Einleitung in die
Grundfragen der Ästhetik

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    1. Grundlegende Gesichtspunkte
2. Die elementaren ästhetischen Werte
3. Der Begriff des Schönen
4. Idealistische und realistische Kunst
5. Kants Ästhetik

"Fragen wir also nach jenen allgemeinsten Bedingungen, ohne welche ein ästhetischer Wert schlechterdings nicht denkbar ist, ohne welche er aufhört ästhetischer Wert zu sein, sehen wir uns den  Inhalt der Kunst  daraufhin an und versuchen wir aus ihm die Erkenntnis jener Bedingungen zu gewinnen, so gelangen wir zu der von Alters her in der Ästhetik betonten und auch auf den verschiedensten Standpunkten festgehaltenen Einsicht, daß jeder ästhetische Wert die  Einheitlichkeit  seines Inhaltes im Sinne der Einheitlichkeit seiner  Wirkung auf das betrachtende Subjekt  zur Voraussetzung hat, wenn er nicht von vornherein unsere Gefühlseinheit stören und auf Ablehnung stoßen soll."


3. Der Begriff des Schönen

Den ästhetischen Werten liegt der gemeinsame Begriff des  Schönen  zugrunde, in seiner denkbar allgemeinsten Fassung, in welcher er alles ästhetisch Wertvolle umgreift. Was bedeutet dieser Begriff und wie kommen wir zu ihm? Der Begriff des Schönen ist an ein  Subjekt  gebunden, das einen Inhalt, sei er Naturinhalt oder geschichtlicher Inhalt oder bloßer Gedankeninhalt, im subjektiven Denken erfaßt, auf sich bezieht und das Verhältnis beurteilt, in dem er zu ihm steht. Dieser Begriff des Schönen ist also gebunden an den Eindruck, den ein solcher Inhalt auf das Subjekt macht und an die Voraussetzung, daß dieses Subjekt jenen Eindruck wertet, als ihn  gefühlsmäßig  bearbeitet. Dann ist das Urteil der Schönheit eine besondere Art von Gefühl und diese besondere Art können wir nur definieren mittels einer Unterscheidung von anderen Arten. Dabei ergibt sich dann, daß das Gefühl des Schönen nichts enthält, was sich auf Nutzen oder Schaden bezöge, und nichts, was Begehren oder Abwehr unmittelbar in sich schlösse, sondern die bloße Art, wie sich ein neu auftauchender Empfindungs-. Wahrnehmungs-, Vorstellungsinhalt zum bereits vorhandenen psychischen Inhaltsbestand verhält, wie er sich diesem einschmiegt, in welcher Weise er ihn etwa umgestaltet und mehrt. Geschieht das in einer Weise, die den bestehenden Geistesinhalt, die eingewöhnten Anschauungen und besonders die bisherige Gefühlsweise und Gefühlsbetonung nicht stört, sondern mit ihr übereinstimmt, sie in gleichsinniger Weise fortbildet und erhebt, so erwächst für uns das Gefühl des Schönen, andernfalls das des Fremden und Unstimmigen, des Widersprechenden, des Häßlichen und Abstoßenden.

Gehen wir von den hochstehenden ästhetischen Gefühlen nach abwärts in die einfacheren, aber gleichartigen Gefühlsformen hinein, so werden wir auch die Frage beantworten lernen, wie wir etwa geschichtlich und phylogenetisch zu dieser Form des Fühlens und ihrem Ausbau bis zur absichtlichen Erzeugung durch die Hilfsmittel der Künste gekommen sind. So ist es schon ein tiefer Schritt abwärts, wenn wir die ästhetischen Gefühle auf den Begriff des bloßen  Gefallens  herabsetzen, zumal wenn wir dabei nicht an sprachliche, sondern nur an unmittelbar sinnliche Einwirkungen denken, vielleicht an die Schönheit der Perspektive, an die Formen- und Farbenschönheit von Pflanzen und Früchten, an bloße Farbenkontraste oder an die Auflösung musikalischer Klanggegensätze in adäquate Akkorde.

Mit dem Gefallen sind wir aber noch nicht am Ende der absteigenden Stufenfolge. An das Gefallen reiht sich unmittelbar das Gefühl des bloß  Angenehmen,  mit welchem das ästhetische Gefühl voll und ganz in das sinnliche Gefühl übergeht. Zwischen alledem besteht keine trennende Grenze, der Übergang ist ein kontinuierlicher. Und wenn wir diese kontinuierliche Linie noch weiter abwärts verfolgen, so gelangen wir schließlich zum Erlöschen des geistigen Gefühls, zum rein körperlichen Vorgang und können damit an die Frage herantreten: welches sind die elementaren Wurzeln des Begriffs des Schönen? Die Antwort lautet: er führt in seiner Wurzel zurück auf die körperliche Wirkung  adäquater  Reize, d. h. solcher Reize, die der physiologischen Beschaffenheit des Organismus angemessen, seinem Lebensprozeß förderlich und dessen wesentlichste Bedingungen sind. Sie gehören zu seinem Bedarf und werden weiterhin zu Bedürfnissen, deren Befriedigung das Gefühl des Angenehmen in seinen ersten Keimen entstehen läßt als eine Teilerscheinung der vitalen Reaktionen. In gleicher Weise reagiert der vergeistigte Organismus des Menschen auf gewisse hochzusammengesetzte Sinnesreize, wie sie von Natur- und Kunstinhalten ausgehen, mit dem Gefühl des  Schönen  und seinen Modifikationen, - vorausgesetzt, daß diese Reize dem Geisteszustand ebenso adäquat sind, d. h. seiner Einstellung entsprechen und harmonisch in sie eingehen.

Doch bedarf dies noch einer ergänzenden Erläuterung, die sich darauf bezieht, daß solche Reize aufgesucht und in der Kunst sogar willkürlich erzeugt werden. Auch hierfür lassen sich die natürlichen Vorstufen ungezwungen auffinden, nur daß wir diese in den organischen  Bewegungsvorgängen  aufsuchen müssen. Schon in den niedersten Stufen des organischen Lebens sehen wir pflanzliche und tierische Organismen auf Lichtreize, Berührungsreize, chemische Reize usw. Bewegungen ausführen, die nach den Reizquellen hin oder von ihnen fort gerichtet sind und die wir als tropistische, taklische, als Richtungsbewegungen bezeichnen. Die Reizquellen ziehen an oder stoßen ab, könnte man gleichfalls sagen. Die Ursache liegt in chemisch-physikalischen Bedingungen im Verein mit den Symmetrieverhältnissen des tierischen Körperbaus. Bei freilebenden Zellen und auch bei etwas höher stehenden tierischen Organismen hat sich für die Lichtreizbewegungen sogar die Bevorzugung bestimmter Farben experimentell feststellen lassen. Im Zusammenhang hiermit finden wir z. B. bei den Arbeiten mancher Gliedertiere und Vögel einen scheinbaren Kunst- und Schönheitssinn der in einer Symmetrie der Arbeiten und in Farbenanordnungen sich ausspricht und weiterhin zutage tritt in den Tanzbewegungen bei der Liebeswerbung, in Brunstrufen und Gesangsleistungen. Solche elementaren und instinktive Anlagen erfahren mit dem aufsteigenden Bewußtsein eine mächtige Entwicklung, die schließlich bis zu einem reinen, von Nutzwerten unabhängigen  Kunsttrieb  und beim Kulturmenschen zu vollwertigem  Kunstsinn  führt.

Gerade diese biologischen Vorstufen der ästhetischen Gefühle einerseits und des Kunstsinns andererseits eröffnen uns auch die Antwort auf eine weitere Frage: was bedingt den  Wert des Schönen  für das Subjekt? Daß solche natürlichen Funktionen wie z. B. die elementaren Richtungsbewegungen und die instinktiven Handlungen den Organismen meistens Nutzen bringen, ist jedenfalls nicht deren Ursache, sondern vielmehr eine bloße Konsequenz, die dann in der natürliche Auslese und ähnlichen phylogenetischen Entwicklungsvorgängen zur Festigung und weiteren Steigerung solcher organischen Anlagen führt. In richtiger Einstellung unserer Begriffe werden wir also sagen müssen: es liegt hier eine natürliche Einstellung der Organismen vor, die deren Wesen kennzeichnet und die weitere Entwicklung beherrscht, sowohl im individuellen als im phylogenetischen Sinne. Die Reflexbewegungen und Instinkthandlungen der höheren Tiere sind entwicklungsgeschichtliche Fortsetzungen der niedersten und ursprünglichsten Bewegungsformen. Ihnen allen ist es gemeinsam, daß sie eben zum Wesen des Lebens gehören, welches in der Reaktion auf Reize besteht. Es ist ein allgemeines biologische Gesetz, daß jedes Glied des Lebens der Funktion bedarf um zu leben und daß nur durch die Funktion das Leben erhalten, gefördert und gesteigert wird. Wo die noterzwungene Arbeit fehlt, tritt das Spiel an ihre Stelle. Schließlich würde in der naturwissenschaftlichen Anschauungsform alles das auch auf den Menschen und insbesondere auf dessen Kunstsinn anwendbar sein. Setzen wir dieses Ergebnis in die psychische Auffassungsweise um, so heißt das: es liegt im Wesen des Menschen, von gewissen Objekten angezogen oder abgestoßen zu werden und in der Betätigung dieses Teiles seines Wesens, den wir  Gefühlsleben  nennen, Befriedigung und Förderung zu finden. Das ist der natürliche Wert des Schönen für das Subjekt, das im Wogen der Gefühle einen reinen, von jedem Nutzen absehenden Lebenswert begreift. Nun erst greift der höhere Geisteszustand des Menschen ein, insofern er Lebenszwecke setzt und verwirklicht. Nicht mehr ist es jetzt die unbewußte Natur, sondern das bewußte Denken, welches die individuelle und die geschichtliche Entwicklung in die Hand nimmt. Der Lebenswert der Befriedigung und der Betätigung wird zum  ästhetischen Gefühlswert,  welcher aufgesucht und gepflegt wird und das Ergebnis ist die Kunst, der Kunstgenuß und die Erzeugung von Kunstwerken. Der Zweck, der sich nun auch mit einer gereifteren und weiter blickenden Erkenntnis verbindet, führt jetzt sogar noch höher hinauf und baut die Kunst in idealem Denken zum Erziehungsmittel für das Gefühlsleben, zu seiner Erweiterung und Vertiefung und im praktischen Denken zur angewandten Kunst aus. In letzterer kann das Gefühlsleben realistische Formen annehmen und den materialen Lebensbedingungen nachgehen oder die idealistische Form beibehalten und ethische Interessen verfolgen oder auch beide Formen verschmelzen.

Waren es bisher hauptsächlich die ästhetischen  Gefühle,  denen die Erörterung gegolten hat, so fordern nun auch die ästhetischen Werte in ihrer  Objektivität  die Erörterung heraus. Es ist das selbstverständlich nur ein anderer Gesichtspunkt, der die Frage zu beantworten hat: was bedingt den ästhetischen Wert eines  Kunstwerkes?  Von grundlegender Bedeutung ist hier die Frage nach den allgemeinsten Bedingungen eines ästhetischen Wertes überhaupt und diese Frage führt zurück auf das allgemeinste Wesen unseres Gefühlslebens. Dieses Wesen aber ist die  Einheit  unseres Ichs, über welcher das Gefühlsleben wacht, indem es die Erlebnisinhalte unserem Ich einverleibt und Reaktionen hervorruft, die dessen Einheit wahren.

Fragen wir also nach jenen allgemeinsten Bedingungen, ohne welche ein ästhetischer Wert schlechterdings nicht denkbar ist, ohne welche er aufhört ästhetischer Wert zu sein, sehen wir uns den  Inhalt der Kunst  daraufhin an und versuchen wir aus ihm die Erkenntnis jener Bedingungen zu gewinnen, so gelangen wir zu der von Alters her in der Ästhetik betonten und auch auf den verschiedensten Standpunkten festgehaltenen Einsicht, daß jeder ästhetische Wert die  Einheitlichkeit  seines Inhaltes im Sinne der Einheitlichkeit seiner  Wirkung auf das betrachtende Subjekt  zur Voraussetzung hat, wenn er nicht von vornherein unsere Gefühlseinheit stören und auf Ablehnung stoßen soll.

Das mag eine formale Forderung sein, wie schließlich jede Allgemeinheit; aber eine grundsätzliche Trennung der Form vom Gehalt ist ja gar nicht möglich, weil jeder allgemeinere Begriff dem engeren gegenüber ein formaler wird und umgekehrt jeder engere Begriff in der Analyse einen inhaltlichen Wert bedeutet. Form und Inhalt sind  relative  Begriffe und der Gegensatz zwischen  Formästhetik  und  Gehaltsästhetik  ist eine bloße Stufenfolge in der Auffassungsweise. Dieser scheinbare Gegensatz löst sich vollkommen auf in der Frage, ob wir bei der Würdigung eines Kunstwerks den Gesichtspunkt des Ganzen oder den seiner Teile zugrunde legen sollen. Lediglich ein  Gesichtspunkt  des Ganzen oder den seiner Teile zugrunde legen sollen. Lediglich ein  Gesichtspunktunterschied  liegt hier vor. Darüber hinaus aber ist hervorzuheben, daß Ganzes und Teil ein untrennbares Begriffspaar sind, das sich gegenseitig erfordert und bedingt, daß ein Ganzes nur zu denken ist im Hinblick auf seine Teile und diese letzteren nur als Bestandteile eines sie umfassenden Ganzen. Demnach machen auch jene Gesichtspukte und jene Auffassungsweisen, die im Streit zwischen Formästhetik und Gehaltsästhetik zutage treten, erst in ihrer gemeinsamen Verwendung ein vollständiges und vollgültiges Urteil aus und sind gar nicht voneinander zu trennen, sondern gehen ständig ineinander über und ineinander auf. Die vollkommene Angemessenheit der Form an den Inhalt wird dadurch zur notwendigen Bedingung für die ästhetische Wirkung, ohne daß damit der Inhalt an eigener Bedeutung verliert.

Die hier aufgestellte Forderung der  Einheitlichkeit,  die ich in Beziehung auf den ästhetischen Wert eines Kunstwerks noch näher zu beleuchen haben werde, entspricht dem allgemeinsten Wesen unseres Geisteslebens, dessen Grundzug sein eigener einheitlicher Zusammenhang ist, der weder innere Widersprüche seines Inhalts noch auch zusammenhanglose Bruchstücke verträgt. In der Erkenntnis wie im Gefühlsleben und dem praktischen Handeln macht sich dieser Grundzug geltend, seinen Schwerpunkt erlangt er aber im Gefühl, welches auf jeden Verstoß gegen dieses Prinzip mit Unlust reagiert. Die geschlossene Einheit unseres Ichs, die dessen Lebensfrage ist, die nichts mehr und nichts weniger als seine Existenzfähigkeit bedeutet, sie ist es, welche jene Forderung stellt und jede Verletzung des Einheitsprinzips wie eine körperliche Wunde empfindet.

Die inhaltliche Grundlage der Einheit ist allerdings die Mannigfaltigkeit und als solche stellt auch sie ihre Bedingungen. Je größer die Mannigfaltigkeit, umso reicher ist der Inhalt, umso mehr nimmt er das Gefühl in Anspruch, das durch Kontraste am stärksten geweckt wird. Aber all das darf nur so weit gehen, daß es die Vereinheitlichung, die gefühlsmäßige Verschmelzung der gewonnen Eindrücke, nicht stört und nicht über ein gewisses Maß hinaus erschwert. Schon die räumlich-zeitlichen Formverhältnisse eines Kunstwerks kommen dabei in Betracht, die ebenmäßige Gliederung seines Inhalts. Wie feinfühlig unser ästhetisches Gefühl in dieser Hinsicht ist, läßt sich leicht schon an der äußeren Gesamtform eines Gemäldes zeigen. Eine quadratische oder runde Form befriedigt uns nicht, weil ihr die Mannigfaltigkeit fehlt; noch weniger aber eine ausschreitende Differez, die uns unweigerlich abstößt, falls sie nicht etwa durch übergeordnete Formverhältnisse beherrscht wird; was unser Gefühl verlangt, ist neben der Symmetrie das Ebenmaß des goldenen Schnitts. Das Beispiel ist roh, aber es zeigt umso schroffer die Feinfühligkeit. Das Verhältnis der räumlichen Größe oder der zeitlichen Dauer zum Umfang der inhaltlichen Idee ist die hier sich anreihende weitere Bedingung für die ästhetische Wirkung. Ein Mißverhältnis hierin beleidigt in gleicher Weise das Gefühl, läßt unbefriedigt oder langweilt.

Eine Formfrage, die zum Inhalt überleitet, ist die innere  Gliederung  eines Kunstwerks. Bei aller Mannigfaltigkeit des Inhalts, bei allem Wechsel seiner Bestandteile, bei allem Gegensatz der Kontraste verlangen wir doch, daß der Zusammenhang all dessen durchsichtig bleibe, daß das Gefül der Einheit wachgerufen werde und die Verbindungsbrücken, auf denen wir zur subjektiven Vereinheitlichung des Inhalts gelangen, erkennbar seien oder gewiesen werden. Wir nehmen mancherlei formale Mittel zu Hilfe, um die Gliederung hervortreten zu lassen und die Strenge, mit der wir sie durchführen, das Gefallen, mit welchem wir sie begleiten, zeugen für deren ästhetischen Wert. Hierher gehört z. B. der musikalische Rhythmus, dieses hervorstechendste elementarste Hilfsmittel der Gliederung und sein Ausbau zur Hervorhebung von Gleichartigkeiten, Kontrasten und Übergängen. In der Dichtkunst entspricht ihm das Versmaß und die Stropheneinteilung und wir sind aus Gründen der Einheit zwischen Form und Inhalt außerordentlich empfindlich gegen Unstimmigkeiten zwischen Gedankenführung und Vers- oder gar Strophenführung. Die Dichtkunst bedient sich indessen noch eines anderen Hilfsmittels für die engere Schürzung des Zusammenhangs. Dieses Hilfsmittel ist der Reim. Mag ihm auch - gleich dem Rhythmus - eine gewisse sinnliche Wirkung zukommen, sein höherer ästhetischer Wert liegt in der vereinheitlichenden Beziehung der einzelnen Verse aufeinander. Das alles ist lediglich zu verstehen unter dem Gesichtspunkt der Einheit als eines Grundzuges unseres Wesens, welcher deshalb auch zu einem Grundzug unserer ästhetischen Gefühle wird.

Wesentlicher noch als diese Formverhältnisse sind natürlich die Bedingungen der Einheit im  idealen Inhalt  des Kunstwerks. Bei landschaftlichen Darstellungen z. B. verlangen wir eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der motivierenden Idee, dem gewählten Naturinhalt, der Aufnahme zufälliger Gegenstände in ihn und der Tönung des Ganzen durch die veränderlichen Charaktere der Jahreszeiten und der Tagesperioden. Bei Darstellung lebender Typen (Tiere, Menschen, Götter) tritt an dessen Stelle die Übereinstimmung der in ihnen sich verkörpernden Idee mit der Körperhaltung und der Betonung der Körperformen hinsichtlich ihrer natürlichen Ausstattung beziehungsweise hinsichtlich einer Entblößung oder Umkleidung. Im Drama wird die Einheit beherrscht durch den leitenden Faden, der nicht abreißen, nicht zerfasern, nicht in Nebenwege oder Abwege sich verlieren darf, durch die Motivierung unter einem einheitlichen Gesichtspunkt, durch die enge Schürzung der Interessen, die sich nicht zerspalten dürfen, durch die vorwiegende Behandlung der Tatsachen, die dem dramatischen Charakter gemäß für sich selber sprechen und nicht mit subjektiven Motvierungen verbrämt werden sollen. Demgegenüber sind Widersprüche oder schiefe Beziehungen in der Durchführung von Gedankenketten, ungleichmäßige oder dem Zusammenhang nicht angemessene Gefühlsbetonung, Untiefen im dramatischen Ausgleich, äußerer Tand in der bildenden Kunst, Mißverhältnisse zwischen musikalischem Motiv und instrumentierender Betonung nur einige Beispiele für Kunstfehler, welche die innere Einheit stören und dadurch den ästhetischen Wert beeinträchtigen. Diese Andeutungen mögen genügen, um jedenfalls das zu erweisen, daß bis in unscheinbarste Einzelheiten hinein die  innere Einheit  eines Kunstwerks - die Beziehung aller seiner Teile auf das Ganze, ihre durchgängige und notwendige Wechselwirkung aufeinander und die Beherrschung aller Teile durch das Ganze in bezug auf Form und Inhalt - der beherrschende Gesichtspunkt ist, der über den ästhetischen Wert entscheidet.

Aber damit nicht genug. Es  fehlt  uns noch ein  anderer  und bei weitem der  entscheidenste  Gesichtspunkt für die ästhetische  Wirkung,  der umso mehr hervortritt, je mehr die Kunst in die Höhen unseres Geisteslebens vordringt. Die inhaltsreichsten und verwickeltsten ästhetischen Gefühle erzeugt die Kunst im  Tragischen.  Hier führt sie uns die Konflikte, die Widersprüche, die Unstimmigkeiten im persönlichen oder im Volksleben oder im Völkerleben vor Augen und bringt unsere Gefühle dadurch in höchsten Aufruhr und in Widerstreit gegeneinander, um diesen ganzen Widerstreit und Aufruh schließlich aufzulösen in einer Art und Weise, die unserem gewohnten, uns beherrschenden Gefühlsleben und insbesondere unseren, im Gefühlsleben wurzelnden sittlichen Grundsätzen entspricht, sie aus dem tragischen Konflikt unangetastet und unbeeinträchtigt hervorgehen läßt, sie wenn möglich festigt und durch neue Gesichtspunkte ergänzt und steigert. Der Regel nach vollzieht das Kunstwerk im Interesse der Nachwirkung die Lösung nicht selbst, sondern bahnt sie nur an und überläßt die volle Lösung unserem Eigenen gefühlsmäßigen Denken, indem sie durch das erweckte Interesse und den nicht ausgetragenen Konflikt uns in der Nachwirkung dazu verpflichtet. Vielleicht will das Drama auch unser gewohntes Gefühlsleben als unzureichend erweisen und auf diese Weise zu seiner Erhöhung beitragen. Jedenfalls ist die  Tragik  immer nur  Mittel zum Zweck.  Nicht in ihr liegt der Kunstwert, sondern in der Art ihrer Auflösung. Und gerade diese Auflösung muß derart erfolgen, daß sie widerspruchslos in unser Gefühlsleben eingeht und Übereinstimmung erzeugt, daß sie dessen eigene innere Übereinstimmung, also seinen einheitlichen Zusammenhang nicht zerreißt, sondern festigt und erhöht. Das ist die ästhetische Bedingung für den Wert der Tragödie wie auch für alle anderen Erzeugnisse der Kunst.

Es ist zuzugeben, daß die vielumstrittene Wirkung des Tragischen auch anders zu deuten versucht worden ist, aber die allgemein für alle Fälle zutreffende Deutung ist nur die vorstehende; ihr gegenüber sind andersartige Wirkungsweisen nur Nebenwirkungen. Dafür spricht besonders die Darstellung des sittlich Verwerflichen im Dram, für welche SHAKESPEAREs RICHARD III. das Vorbild ist. Die ästhetische Rechtfertigung eines derartigen Kunstinhalts ist nur auf dem dargelegten Wege möglich; der Untergang des Schlechten ist hier die gefühlsmäßige Auflösung und er wirkt befriedigen, trotzdem auch er als Vernichtung ein negatives Vorzeichen hat, weil er die Negation des sittlich Negativen bedeutet und dadurch unserem sittlichen Gefühl gerecht wird. Dasselbe trifft für die Darstellung des Abschreckenden oder gar des Häßlichen in der bildenden Kunst zu, wenn diese sich seiner bedient, um im Kontrast oder auch nahezu ohne solchen zu wirken; hier wird das Gefühl des Häßlichen aufgehoben und übertroffen durch einen höheren Gefühlswert, durch den der realistischen Wahrheit oder durch den der Zweckmäßigkeit oder der Unterordnung äußerlicher Merkmale unter geistige Vorzüge z. B. beim Porträt. Kennzeichnend hierfür ist auch die ästhetische Wirkung des Erhabenen; die drückende Übermacht des Erhabenen würde an und für sich unser Gefühlsleben nur beeinträchtigen; seine ästhetische Wirkung hingegen beruth darauf, daß wir uns bei derartigen Darstellungen aus dem Naturinhalt als ein Teil desselben, beim geistig Erhabenen als gleichartige Wesen fühlen oder auch durch Einfühlen in eine überlegene Größe an ihr gefühlsmäßigen Anteil gewinnen. In allen diesen Fällen ist der Gegenstand des Kunstwerks nur Mittel zum Zweck, nur die vorbereitende Erregung, Beunruhigung, Aufwühlung des Gefühlslebens, um durch die Auflösung des Widerstreits oder durch die Anbahnung dieser Auflösung des Widerstreits oder durch die Anbahnung dieser Auflösung die ästhetische Idee umso entschiedener und nachhaltiger zur Wirkung zu bringen. Diese ästhetische Idee aber muß durchaus in Übereinstimmung stehen mit der Grundrichtung und der Dauereinstellung unseres eigenen Gefühlslebens und widerspruchslos in dieses eingehen können, seinen inneren Zusammenhang bestätigen und stärken.

Welche maßgebende Rolle die Rücksicht auf das Gefühlsleben des anschauenden Subjekts im Kunstwerk spielt, geht weiterhin aus der künstlerischen Bedingung der Mannigfaltigkeit des Inhalts, der Abwechslung, der Kontraste hervor. Es ist die Rücksicht auf die Ermüdbarkeit der Gefühlsvorgänge, auf deren Abstumpfung bei übermäßiger Inanspruchnahme oder einförmigen Anschlagen stets gleichartiger Gefühlstöne. Schrille, unvorbereitete, der allmählichen Steigerung entbehrende Effekte tun dem ästhetischen Wert Abbruch, weil sie den ruhigen, sammelnden und inhaltsreichen Ablauf der Gefühlskombinationen stören, ihn abbrechen und veroberflächlichen. All das beleuchtet die ästhetische Bedeutung der Beziehungen zwischen dem Kunstwerk und dem es aufnehmenden Subjekt, die Abhängigkeit der ästhetischen Wirkung von der Gefühlslage des letzteren und des ihm übergeordneten Zeitgeistes, mit einem Wort die  Relativität des ästhetischen Wertes.  Zum schroffen, aber charakteristischen Ausdruck hat diese psychologische Tatsache LIPPS gebracht, wenn er dasjenige schön nennt, in welches wir uns positiv ästhetisch einzufühlen vermögen, häßlich den Gegenstand der negativen ästhetischen Einfühlung.

Hiermit haben wir den  abschließenden  Gesichtspunkt gewonnen, der noch jenseits der inneren Einheit eines Kunstwerkes schwebt, der eine Einheit umfassenderen Grades und höheren Ranges bedeutet.  Es ist die Übereinstimmung der Idee und des gesamten Inhalts eines Kunstwerks mit unserem eigenen Gefühlsleben.  Dieser Gesichtspunkt führt aber noch höher hinauf, nämlich zum menschlichen Gefühlsleben überhaupt. Nicht unser individuelles Gefühlsleben ist maßgebend für den ästhetischen Wert, sondern das Gefühlsleben auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung, das Gefühlsleben als objektives System, wie es sich darstellt im Schatz seiner Kunstwerke, soweit sie allgemeine Anerkennung gefunden haben. Aus den Kunstwerken selbst ermitteln wir durch ihre Analyse die Gesetze, die den Kunstwert bedingen. Aber der Inhalt dieser Gesetze, mag er auch durchaus objektiv lauten,  begründet  sich dennoch ausschließlich auf dem  Verhältnis  zwischen Kunstwerk und Gefühlsleben. Jedes Kunstwerk ist in Ansehung seines künstlerischen Gehalts ein Erzeunigs des Gefühlslebens und ist in seiner Wirkung einzig und allein abhängig von der Art, wie das Gefühlsleben darauf reagiert. Ohne diese Beziehung auf das Gefühlsleben hat ein Kunstwerk überhaupt keinen Kunstwert, ist es weder schön noch häßlich, ohne ihn ist es ein mechanisches Gebilde, das den wertvollsten Zwecken dienen mag, aber nicht dem Zweck, dem die Kunst als reine Kunst um ihrer selbst willen gilt. Diese Kunst ist eine Arbeit von Gefühlsleben zu Gefühlsleben und ein Mittler zwischen beiden. In der Kunst haben die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte und ihre geistigen Führer an der Entwicklung und Erziehung unseres Gefühlslebens gearbeitet und ihre Arbeit niedergelegt in Erzeugnissen, welche die Jahrtausende überdauern. Und selbst wenn diese Erzeugnisse der zerstörenden Zeit verfallen, auch dann haben sie vorher fortzeugend gewirkt und noch Vollkommeneres geboren, indem sie das ästhetische Urteil "schön" in seinem Inhalt objektiv festgestellt und erzogen, indem sie das ästhetische Gefühlsleben der menschlichen Gemeinschaft zu immer größerer Entfaltung geführt, indem sie eine ästhetische  Kultur  zur Entwicklung gebracht haben.
LITERATUR Berthold von Kern, Einleitung in die Grundfragen der Ästhetik, Berlin 1913