ra-2MauthnerE. BergmannG. AdlerT. D. WeldonM. Scheler    
 
JOHANNES VOLKELT
(1848-1930)

Jllusion und
ästhetische Wirklichkeit


Die Kunst versetzt uns ihrem Wesen nach in eine Welt, die uns echt und wahrhaft umfängt, in der wir fest und sicher stehen. Wäre die gekennzeichnete Jllusion der Zweck der Kunst, so wäre die Kunst ein Unternehmen mit dem Zweck, uns irre zu führen, uns zu betrügen. Die Kunst würde dann mit dem Wahrhaftigkeitsbedürfnis des Menschen in Widerspruch treten. Das Ideal eines Künstlers wäre dann der zu Täuschungszwecken arbeitende Verfertiger künstlicher Blumen, der Hersteller künstlicher Edelsteine oder jener Professor Spalzani in Hoffmanns Erzählung vom Sandmann, in dessen Marionetten-Meisterwerk Olympia sich Nathanael schwärmerisch verliebt.


I. Der Begriff der Jllusion

1. Ist Jllusion eine Bewußtseinshaltung, die zum Wesen der ästhetischen Geistesverfassung gehört? Oder kommt sie auf ästhetischem Boden nur unter bestimmten Voraussetzungen zustande? Oder ist sie mit dem ästhetischen Verhalten etwa gar nicht verträglich?

Soll Klarheit in diese Frage kommen, so muß vor allem der Sinn festgestellt werden, den man mit dem Wort "Jllusion" zu verknüpfen hat. Ich betrachte zunächst die gewöhnliche Redeweise. In dieser gebraucht man dieses Wort meistens so, daß die damit gemeinte Stellung des Bewußtseins zu seinem Gegenstand geradezu unter den Begriff der Täuschung fällt. "Sich in Jllusion befinden" heißt "in Täuschung stehen". Aus dem Zustand der Jllusion ist alles Innewerden der Täuschung, in der man steht, ausgeschlossen. Wird der Getäuschte dann aus irgendeiner Veranlassung seiner Täuschung inne, so fühlt er sich durch sie herabgewürdigt. Der Bewußtseinszustand der Täuschung erscheint ihm als etwas, das nicht sein soll. So haftet der Jllusion in diesem Sinne der Charakter des Nichtbejahenswerten, des Nichtseinsollenden an. Besonders solche Täuschungen, die in einer Erhöhung des Gegenstandes nach irgendeiner Richtung, in einer optimistischen Steigerung bestehen, pflegt man "Jllusionen" zu nennen. Von einem sanguinischen Spekulanten, von einem unheilbar Kranken, der an seine baldige Genesung glaubt, vom mittelmäßigen Dichter, der sich für ein Genie hält, von einem utopistischen Staatsmann sagt man, daß sie in Jllusionen leben. Die Anwendung des Begriffs der Jllusion hat demnach das Eigentümliche, daß ihn auf einen bestimmten Fall nur derjenige anwenden kann, der die in diesem Fall vorliegende Täuschung bereits  kritisch  durchschaute. Wer dagegen gegenüber einem Gegenstand in der gekennzeichneten Bewußtseinsverfassung noch selbst drinnen steht, kann diese unmöglich als Jllusion anerkennen. Ich hebe dies ausdrücklich hervor, weil sich, wie wir sehen werden, mit "Jllusion" auch ein Sinn verhindet, bei dem es sich in dieser Hinsicht wesentlich anders verhält. Natürlich kann das kritische, die Täuschung durchschauende Bewußtsein auch derselben Person angehören, die der Täuschung verfallen war: nachher eben erkennt die Person ihren früheren Bewußtseinszustand ernüchtert und beschämt als Jllusion an.

Auch die Psychologie spricht von Jllusion im Sinne einer Täuschung. Nur liegt hier der Sachverhalt in zweierlei Hinsicht anders als in der Sprache des gewöhnlichen Lebens. Einmal fällt hier jene Nebenvorstellung erhöhender Art weg. Wenn ich infolge der Bemalung eine Pappschachtel für ein eisernes Kästchen halte, so empfinde ich beim Heben der Pappschachtel als bedeutend leichter, als sie mir unter gewöhnlichen Umständen erscheint. Den Eindruck der auffallenden Leichtigkeit bezeichnet die Psychologie als Jllusion. Man sieht: hier kan von einer optimistischen Steigerung nicht die Rede sein. Die Psychologie läßt hinsichtlich der Jllusion überhaupt den Gesichtspunkt beiseite, ob durch die Täuschung ein Mehr oder Minder, ein Höher oder Niedriger entspringt. Dagegen gibt die Psychologie dem Jllusionsbegriff nach einer anderen Seite eine bedeutende Einengung. Der Psychologe pflegt nur dort von Jllusion zu sprechen, wo eine Empfindung oder Wahrnehmung infolge einer irrigen Vorstellung eine sinnliche Änderung erfährt. Diese abweichende sinnliche Beschaffenheit ist, worin sich das In-Täuschung-Stehen der Empfindung oder Wahrnehmung äußert. Tritt an die Stelle der irrigen die richtige Vorstellung, so verschwindet die Abbiegung der Empfindung oder Wahrnehmung: ihre normale Beschaffenheit ist wiederhergestellt. Man glaubt in der Stille der Nacht ein starkes Brausen zu vernehmen; plötzlich wird man inne, daß ein Insekt im Zimmer herumschwirrt. Sofort hat der Eindruck seinen normalen Charakter gewonnen. Unter dem Einfluß der falschen Vorstellung, daß aus weiter Ferne ein Geräusch zu uns dringe, hatte die Wahrnehmung einen Täuschungscharakter angenommen. (1) Zweckmäßigerweise sollte man daher nur solche Sinnestäuschungen als Jllusion bezeichnen, die, sobald ein Durchschauen der irrigen Vorstellungen eintritt, ihren Täuschungscharakter verlieren (2).

Abgesehen von diesem besonderen Sprachgebrauch in der Psychologie, spricht die Philosophie von Jllusion auch in einem allgemeineren Sinn. Zwar nicht jedwede Täuschung pflegt die Philosophie Jllusion zu nennen. Dann würde jeder Irrtum als Jllusion zu bezeichnen sein. Sondern es handelt sich dabei um solche Vorstellungen, die einerseits  ihrem Wesen nach  auf Wirklichkeitsgeltung Anspruch erheben, andererseits, gleichfalls  ihrem Wesen nach,  diesen Anspruch nicht erfüllen. Wo der Täuschungscharakter von Vorstellungen in dieser wesenhaften Doppelseitigkeit begründet liegt, pflegt die Philosophie mit Betonung von Jllusion zu sprechen. Gemäß diesem Sprachgebrauch darf ich beispielsweise sagen: wer in der Religion bloße subjektive Überschwenglichkeitsgefühle erblickt, verwandelt die religiösen Vorstellungen in Jllusionen. Zugrunde liegt hierbei die Überzeugung, daß die religiösen Vorstellungen ihrem Wesen nach Wirklichkeitsgeltung beanspruchen, daß aber andererseits der subjektivistische Religionsphilosoph ihnen diese Geltung nimmt, und daß ich daher, falls dieser Philosoph recht hätte, mit meinen religiösen Vorstellungen in Täuschung stünde. Ebenso darf aber andererseits der subjektivistische Religionsphilosoph ihnen diese Geltung nimmt, und daß ich daher, falls dieser Philosoph recht hätte, mit meinen religiösen Vorstellungen in Täuschung stünde. Ebenso darf der atheistische Religionsphilosoph von  seinem  Standpunkt aus urteilen: die Vorstellungen aller geschichtlichen Religionen seien Jllusionen. Wer am Wirklichkeitscharakter der Vernunftideen festhält, darf sagen: die Kritik der reinen Vernunft löse die Ideen in Jllusionen auf. In der Richtung desselben Sprachgebrauchs liegt, wenn HARTMANN KANTs Phänomenalismus als "absoluten Jllusionismus" kennzeichnet, oder wenn ich von NIETZSCHE und VAIHINGER urteile, daß sie den Wahrheitsbegriff in Jllusion aufheben.

Da es sich zunächst nur um eine Feststellung der mit dem Wort "Jllusion" tatsächlich verbundenen Bedeutungen handelt, so sei hiermit zur Kennzeichnung derjenigen Bedeutung, gemäß welcher die Jllusion einfach unter den Begriff der Täuschung fällt, genug gesagt.

2. Doch verbindet sich mit dem Wort "Jllusion" oft auch eine wesentlich abweichende Bedeutung. Wenn man von einem Phantasiemenschen sagt, daß er in seinen Jllusionen lebe, so meint man nicht notwendig damit, daß sein Bewußtsein in den Täuschungen rein aufgeht. Sondern es kann der Fall auch so liegen, daß das Bewußtsein geteilt, zweischichtig, in sich gebrochen und dennoch auch einheitlich. Er glaubt an seine Jllusionen und glaubt doch auch wiederum nicht an sie. Sein Bewußtsein hat etwas Schwebendes. Er durchschaut im Untergrund seines Bewußtseins den Täuschungscharakter des Geglaubten und bejaht dies dennoch. Er ist weit entfernt davon, sich durch seine Jllusion als herabgewürdigt, als beschämt anzusehen. Seine Jllusion erscheint ihm als etwas Heilsames, nicht als etwas Nichtseinsollendes. Er liebt diese Geteiltheit seines Bewußtseins. Er gibt sich seinem schwebenden Bewußtsein as etwas Erhöhendem und Beglückendem hin. Ich will mit Rücksicht hierauf von  schwebender  Jllusion reden, während ich jene erste Art als  einfache  Jllusion oder als  Täuschungsillusion  bezeichnen will.

Schwebende Jllusion ist aber nicht etwa nur bei Phantasiemenschen zu finden. Wer, an seinem Buch schreibend, den ermutigenden Glauben hat: er werde die Leser überzeugen, er werde beim Publikum durchdringen, kann doch zugleich in einer unteren Schicht seines Bewußtseins das kritische Bewußtsein haben: aller Erfahrung nach werde sich die Einwirkung des Buches weit bescheidener gestalten. Trotzdem aber braucht durch diese kritische Gewißheit jener optimistische Glaube nicht gestört zu werden. Geteilten Bewußtseins bewegt sich der Schriftsteller in schwebender Jllusion. Er durchschaut die Selbsttäuschung und bricht doch nicht mit ihr. Oder man denke an das Reich der Geschlechtsliebe: hier ist nicht nur die einfache, sondern auch die schwebende Jllusion weit verbreitet. Wie oft liegt nicht der Fall hier so, daß den Liebenden im Untergrund seines Bewußtseins der Zweifel beunruhigt, ob die Leidenschaft nicht bald verflogen sein werde; ja dieser Zweifel kann sich aufgrund vielfältigen Selbsterlebens zur bangen Gewißheit steigern; und dennoch gibt er sich seiner Leidenschaft hin, als ob jener Zweifel nicht bestünde. Er  will  sich selbst täuschen und genießt seine Selbsttäuschung. Besonders oft ist diese Bewußtseinshaltung beim Eingehen solcher Liebesverhältnisse anzutreffen, die in der Mitte zwischen echter Leidenschaft und leichtfertiger Oberflächlichkeit liegen. Man denke etwa an SCHNITZLERs "Liebelei".

In seinem Buch über GOETHEs  Faust  hat VISCHER über die schwebende Jllusion (wenn er auch diesen Namen nicht gebraucht) gehaltvolle Worte gesagt. Die Geschlechtsliebe, so führt er aus, ist mit der Phantasietäuschung verknüpft; als wäre "dieser Mann der absolute Mann, dieses Weib das absolute Weib". Diesen Glauben soll man, so klar man ihn als Jllusion erkennt, dennoch festhalten. Alles Wirken führt ferner die Täuschung mit sich, "als ob wir mit dem Wirken mehr erreichten, als das in Wahrheit der Fall ist." Und dieser Täuschung, so fordert er, sollen wir uns mit Wissen hingeben. Wir brauchen die Jllusion; es ist vernünftig, sie zu hegen (3). Dieses Werturteil VISCHERs führe ich nur an, ohne Stellung zu ihm zu nehmen.


II. Die Täuschungs-Jllusion in den Künsten

3. Dem ästhetischen Gebiet mich zuwendend, sehe ich mich zunächst nach dem Vorkommen der Jllusion im  einfachen  Sinn um. Gibt es Kunstwerke, zu deren Zweck es gehört, Jllusion im Sinne der Täuschung zu erwecken? Ist es mit dem Wesen künstlerischen Schaffens verträglich, den Betrachter täuschen zu wollen?

Zunächst scheint kein Zweifel möglich zu sein, daß diese Frage schlechthin verneint werden muß. Will uns die Kunst Wirklichkeit vortäuschen, so unternimmt sie erstens etwas, was sie nicht leisten kann. Denn die Täuschung wird, wenn sie überhaupt zustande kommt, sehr bald durchschaut. Aber auch abgesehen davon kann es zweitens nicht zweifelhaft sein, daß sich auf Betrug kein ästhetischer Wert gründen läßt. Die Kunst versetzt uns ihrem Wesen nach in eine Welt, die uns echt und wahrhaft umfängt, in der wir fest und sicher stehen. Wäre die gekennzeichnete Jllusion der Zweck der Kunst, so wäre die Kunst ein Unternehmen mit dem Zweck, uns irre zu führen, uns zu betrügen. Die Kunst würde dann mit dem Wahrhaftigkeitsbedürfnis des Menschen in Widerspruch treten. Das Ideal eines Künstlers wäre dann der zu Täuschungszwecken arbeitende Verfertiger künstlicher Blumen, der Hersteller künstlicher Edelsteine oder jener Professor SPALZANI (in HOFFMANNs Erzählung vom  Sandmann ), in dessen Marionetten-Meisterwerk OLYMPIA sich NATHANAEL schwärmerisch verliebt.

Sieht man indessen näher zu, so ist mit dieser prinzipiellen und unanfechtbaren Entscheidung die Frage noch keineswegs erledigt, ob "einfache" Jllusion (die "schwebende" Jllusion bleibt hier völlig aus dem Spiel) schlechthin aus der Kunst verbannt sei. Vielleicht gibt es wenigstens verschiedene Grade des künstlerisch Nichtseinsollenden, so daß um gewisser künstlerischer Vorzüge willen eine gewisse Täuschung innerhalb der Kunst nicht so geradezu abzuweisen wäre. Vielleicht gibt es Täuschungen verschiedenen Charakters, die nicht alle gleich stark dem Wesen der Kunst zuwiderlaufen.

Man bedenke zunächst: jene Entscheidung hat zur Voraussetzung, daß uns die Kunst  außerkünstlerische,  gewöhnliche Wirklichkeit vortäuschen will. Eine derartige Täuschungsabsict ist unzweifelhaft mit dem Wesen der Kunst unverträglich. Der Fall kann aber doch auch so liegen, daß uns eine Kunst eine  andere Kunst  vortäuscht. Dann vollzieht sich die Täuschung durchaus auf dem Boden der Kunst. Ein etwa der Malerei angehöriges Kunstwerk läßt im Betrachter den Glauben entspringen, daß ein der Baukunst oder der Bildnerei angehöriges Kunstwerk vorliegt. Das Gemalte wird täuschenderweise als körperhaft (als Gesimse, Sockel, Pfeiler usw. oder als ein Werk der Bildhauerkunst) angesehen. Vor allem die Geschichte der Ausstattung der Innenräume bietet zahlreiche Beispiele dar, und da sind es besonders wieder gemalte dekorative Bauformen, durch die der täuschende Eindruck der Körperhaftigkeit erweckt wird. Man denke nur an POZZO oder an TIEPOLO. Überhaupt aber ist die Kunst des Barock und Rokoko reich an Beispielen hierfür. Ich will diese durchaus auf dem Boden der Kunst verlaufende Täuschungsillusion als  kunstimmanente  oder  innenkünstlerische  Jllusion bezeichnen; diejenige Jllusion dagegen, die uns mit gewöhnlicher Wirklichkeit täuscht, mag außerkünstlerisch heißen. Es ist von vornherein zu vermuten, daß die innenkünstlerische Jllusion hinsichtlich ihres ästhetischen Wertes anders beurteilt werden muß als die außerkünstlerische.

Noch ein anderer Unterschied macht sich geltend - ein Unterschied, der sowohl die innen- wie die außerkünstlerische Täuschungsillusion angeht. Die Täuschung kommt  das eine Mal  völlig zustande. Der Betrachter steht einfach in der Täuschung. Der Erzeuger des künstlerischen Gebildes sieht seine Absicht erreicht.  Das andere Mal  weist die Bewußtseinsverfassung des Betrachters keine volle Täuschung auf; sondern es findet nur ein Heranstreifen an Täuschung statt. Das Bewußtsein des Betrachters ist zwar auch einen Wirklichkeitsglauben eingestellt; allein diese Einstellung gelangt nicht zur Verwirklichung. Es bleibt beim Ansatz, beim Anlauf. Das kritische Bewußtsein des Betrachters tritt hemmend dazwischen. Ich will im ersten Fall von  ungehemmter  (4), im zweiten dagegen von  gehemmter  Täuschungsillusion sprechen. Zweifellos hängt das Urteil über den ästhetischen Wert oder Unwert einer vorliegenden Täuschungsillusion davon ab, ob sie dem ungehemmten oder dem gehemmten Typus angehört.

Man sieht: auch innerhalb der "einfachen Jllusion" kann eine Geteiltheit des Bewußtseins eintreten. Alles es darf diese Geteiltheit nicht mit der "schwebenden Jllusion" verwechselt werden. Die Geteiltheit des Bewußtseins von der jetzt die Rede war, steht - stark ausgedrückt - unter dem Zeichen des Betruges. Das "Stehen in Täuschung" wie auch das bloße Eingestelltsein hierauf wird als etwas Nichtbejahenswertes gefühlt. In der schwebenden Jllusion dagegen gilt die Täuschung als etwas Gutes, Förderndes, Beglückendes.

4. Eine außerkünstlerische Täuschungsillusion wird beispielsweise im Wachsfigurenkabinett erzeugt. Der Verfertiger von Wachsfiguren will lebendige Wirklichkeit im höchstmöglichen Grad vortäuschen. Wenn der Betrachter durch die vor ihm stehende Gestalt zu dem Wahn gezwungen werden könnte, daß das dargestellte Individuum der lebendige Mensch selbst sei, so wäre dies der Triumpf des "Künstlers". Freilich kommt diese volle Täuschung wohl nur in allerseltensten Fällen zustande. Das Wissens des Betrachters von Ort, Zeit und Umständen läßt dies nicht zu; es tritt dem emporstrebenden Wirklichkeitsglauben hemmend in den Weg. Wenn jemand etwa FRIEDRICH den Großen als Wachsfigur vor sich sieht und den Eindruck hat, als ob der König leibhaftig vor ihm stünde, so ist sein Bewußtsein in die Richtung des Wirklichkeitsglaubens hineingezogen, aber eben nur  in die Richtung.  Er ist auf dem Sprung, dem König leibhaftige Gegenwart zu geben; aber das Wissen des Betrachters stellt sich dieser Bereitschaft entgegen. Wie sollte denn auch FRIEDRICH der Große heute in diesen Saal getreten sein? So liegt also hier eine gehemmte Täuschungsillusion vor. Wenn dagegen jemand ein in einem Park aufgestelltes Reh eine kurze Weile für ein lebendiges Reh hält, so ist eine außerkünstlerische Täuschungsillusion der ungehemmten Art vorhanden.

In wesentlich derselben Weise wie hinsichtlich der Wachsfiguren würde von der Bewußtseinshaltung gegenüber dem Panorame zur urteilen sein. Nur liegt hier die Sache verwickelter, weil hier zur Erzeugung der Jllusion einerseits bemalte Flächen, andererseits körperhafte Dinge verschiedenster Art benutzt werden. EDUARD von HARTMANN hat über das Verhältnis des Panoramas zum Ästhetischen eingehende und lehrreiche Erörterungen gegeben. Er sieht mit Recht den Zweck des Panoramas in einer "außerästhetischen Jllusion" (5).

Was ich über die Bewußtseinshaltung des Betrachters in der außerkünstlerischen Täuschungsillusion gesagt habe, bedarf noch einer Ergänzung. Es wäre keine völlig zutreffende Beschreibung, wenn dabei stehen geblieben würde, daß ein Zusammen von aufstrebendem Wirklichkeitsglauben und hemmendem kritischen Wissen stattfindet. Eine solche Gespaltenheit deckt sich nicht mit dem tatsächlichen Bewußtseinsbefund. Wir entdecken zwar diese Geteiltheit in uns, wenn wir uns auf das besinnen, was wir angsichts einer Wachsfigur oder eines Panoramas erleben. Allein dieses Sichaufsichbesinnen bedeutet ein Hervorziehen aus dem  Hintergrund  unseres Bewußtseins; mit anderen Worten: wir verfahren  zergliedern,  indem wir jene beiden Komponenten (die Bewußtseinseinstellung und das hemmende Wissen) herausheben. Der  Vordergrund  des Bewußtseins weist eine solche Gespaltenheit nicht auf; vielmehr ist es ein einheitliches Sichgehaben des Bewußtseins, was wir  unmittelbar  in uns vorfinden. Dennoch besteht aber das Charakteristische und Wesenhafte unserer Bewußtseinsverfassung in jenem Gegeneinander der beiden Komponenten. Des Rätsels Lösung liegt offenbar darin, daß zugleich mit jenem Gegeneinander von Einstellung und Wirklichkeitsglauben und hemmendem Wissen eine aus diesem Gegeneinander erwachsene  einheitliche Bewußtseinsqualität  vorhanden ist und diese den Vordergrundscharakter des Bewußtseins bestimmt. Die beiden Komponenten gehen,  nebstdem,  daß sie als solche bestehen bleiben,' zu einer charakteristischen Gesamtqualität zusammen. Diese Gesamtqualität erhält ihr Charakteristisches von den beiden Komponenten, ohne doch selbst in sie zu zerfallen. Ihr Charakteristisches aber läßt sich vielleicht am besten dadurch bezeichnen, daß wir das gegenständliche Aussehen des Gebildes, dem gegenüber wir uns in dieser Bewußtseinsverfassung befinden, ins Auge fassen. Es ist das Aussehen des "Als ob". Uns sieht diese Figur so aus, "als ob" sie FRIEDRICH der Große wäre. Wir stehen in der Verfassung eines sich uns wie wirklich aufdrängenden Scheineindrucks. Die Wachsfigur erscheint unserem Sehen als mit einer eigentümlichen  gegenständlichen Gestaltqualität  ausgestattet. Jene gekennzeichnete Gesamtqualität des Bewußtseins erleben wir eben in Form dieser gegenständlichen Gestaltqualität.

5. Wenn ich mich jetzt der kunstimmanenten Täuschungsillusion zuwende und hiermit das Gebiet der eigentlichen Kunst betrete, so halte ich mir vor Augen, daß nicht nur zahlreiche, sondern auch höchst verwickelte Erscheinungen unter diesen Gesichtspunkt fallen. Namentlich die Wand- und Deckenmalerei und hier wieder vor allem die Kunst des Barock und Rokoko ist der Boden, wo sich eine innenkünstlerische Täuschungsillusion entfaltet. Ein genaueres Eingehen auf die hierhergehörigen Typen und deren Mischformen und Zwischenstufen würde tief in die Ästhetik der Malerei und Baukunst hineinführen. Dem Zweck der hier beabsichtigten Untersuchung gemäß kann es für mich nur darauf ankommen, die prinzipiellen Möglichkeiten herauszuheben.

Ich fasse zunächst die gemalte Architektur an den Wänden von Innenräumen (Kirchen, Festsälen, Treppenhäusern und dergleichen) ins Auge. Dienen die gemalten Bauglieder (Vorsprünge, Nischen, Pfeiler, Säulen, Gesimse, Bögen, Zierformen verschiedenster Art) lediglich zur Belebung und Ausfüllung der Fläche, so liegt grundsätzlich der gleiche Fall vor, wie wenn Blumen, Früchte, Kranzgewinde, Vögel, Tapetenmuster zum Wandflächenschmuck benutzt werden. Hier ist von Täuschungsillusion keine Rede; die Malerei bleibt hier innerhalb ihrer Sphäre. Die Bauglieder haben hier für die Malerei ausschließlich die Bedeutung eines besonderen  Gegenstandes.  Diese malerisch-gegenständliche Bedeutung gemalter Bauglieder lasse ich hier beiseite. In unserem Zusammenhang sind nur solche Fälle von Wichtigkeit, wo im Betrachter die Täuschung entsteht, daß die gemalten Bauformen Körperlichkeit haben. Unser Sehen gibt dann den flächenhaften Baugebilden körperhafte Wirklichkeit. Sie erscheinen als das Werk des Architekten, nicht des Malers. Und zwar liegt hier häufig nicht nur eine Einstellung auf einen Wirklichkeitsglauben vor, nicht bloß ein Anlaufnehmen; sondern es kann hier zu einem ungehemmtem Vollzug der Jllusion kommen. Wir dürfen dann in vollem Sinn von einer Jllusionsarchitektur sprechen.

POZZOs und TIEPOLOs Kunst ist überreich an Ausbeute hierfür. Im Chor von  San Ignazio  in Rom hat POZZO wirkliche und gemalte Bauglieder zu einer berauschenden Gesamtwirkung vereinigt. Ebenso meisterhaft beherrschte TIEPOLO die Behandlung der gemalten Stuckornamentik. Man hat sich hierbei überhaupt daran zu erinnern, daß, während die frühere Zeit "die schwere, gefährliche und kostbare Stuckornamentierung und Kassettierung" körperhaft ausführte, man in der Zeit TIEPOLOs den billigeren und ungefährlichen Weg vorzog, den Deckenstuck nur zu malen. Das Treppenhaus wie auf der Kaisersaal im Würzburger Residenzschloß sind reich an Beispielen für das Zusammenwirken von körperhafter und gemalter Stuckornamentik. Im Palalzzo  Labia  in Venedig überzieht eine "fabelhaft gut gemalte Scheinarchitektur" die Wände des Saales und gibt zwischen den gemalten Pilastern (Durchblicke in einen Festraum hier und auf eine Reede dort mit einer täuschenden panoramaartigen Wirkung". (6) Die in diesem Beispiel infolge ihrer Verquickung mit der gemalten Architektur mit herangezogenen gemalten Menschengestalten gehen uns im gegenwärtigen Zusammenhang noch nichts an. Noch mag die Außenseite des Bamberger Rathauses erwähnt sein: sie zeigt uns gemalte Säulen, zwischen ihnen einen gemalten Vorhang, der, ins Körperhafte übergehend, ein wirkliches Fenster zu einem Teil wirklich verdeckt und von einem rundplastischen Engel gehalten wird. Der Künstler wollte offenbar beweisen, wie sehr er durch seine Malerei täuschen könne (7).

Wie es denn nun dieses Vortäuschen körperhafter Bauformen ästhetisch zu bewerten? Keinesfalls liegt hier dieselbe grobe Täuschung vor wie etwa dort, wo jemand, an den Schaufenstern eines modernen Warenhauses vorübereilend, eine dort aufgestellte Gruppe von Herren und Damen einen Augenblick für eine lebendige Wirklichkeit hält. Dort gehört die vorgetäuschte Wirklichkeit der  gewöhnlichen Lebenswirklichkeit  an, während in unseren Fällen die vorgetäuschte Wirklichkeit selbst wieder eine  Kunstwirklichkeit  ist. Eine Kunst - die Malerei - täuscht mir eine einer anderen Kunst - der Baukunst - angehörende Wirklichkeitsweise vor. Ich werde also durch den Künstler nicht aus der Kunstsphäre hinausgetäuscht. Es liegt eben eine kunstimmanente Täuschungsillusion vor. Einem Betrug, stark ausgedrückt, stehe ich freilich auch hier gegenüber. Aber dieser Betrug spielt sich doch durchaus auf dem Boden der Kunst ab. Daher ist diese Täuschungsillusion viel leichter zu ertragen, als es der Fall wäre, wenn der Betrachter über die Grenze der Kunst hinausgetäuscht würde. Aber auch diese innenkünstlerische Täuschungsillusion läuft doch wider den Charakter der reinen, strengen Kunst. Auf einen Betrug läßt sich, und seien die angewandten Mittel noch so künstlerisch, unter keinen Umständen ein vollkommen künstlerischer Wert aufbauen.

Es versteht sich von selbst: wo gemalte Architektur an Wand oder Decke  als gemalt  wirkt, also das Auge nur  zu der Art  von Tiefensehen aufgefordert wird, wie wir es gegenüber jedem Gemälde ausüben, dort ist überhaupt von Täuschungsillusion nichts vorhanden. So gehört beispielsweise das reiche architektonische Scheingerüst, das MICHELANGELO der ungegliederten Decke der Sixtinischen Kapelle gab, überhaupt nicht hierher.

Dagegen sind solche Fälle, wo gemalte menschliche Gestalten wie Werke der Skulptur wirken wollen, ähnlich zu beurteilen wie Wand- und Deckenmalereien, die als wirkliche Architektur genommen sein wollen. Hier bringt der Maler vor allem durch die Wahl der Farben den Eindruck des Marmornen oder Bronzenen in einem solchen Grad hervor, daß sich der Betrachter geformtem wirklichen Stein oder Metall gegenüber zu befinden glaubt. Ungehemmt freilich wird hier die Täuschung wohl schwerlich jemals zustande kommen. Die kritische Gewißheit stellt sich hier sofort mit Entschiedenheit ein. Das Bewußtsein des Betrachters wird hier nur in die Richtung auf eine Einstellung im Sinne des Wirklichkeitsglaubens gebracht. Die grau in grau gemalten Flügel des Genter Altars stellen Steinbilder, in gemalten Nischen auf gemaltem Sockel stehend, dar. "Der Beschauer soll glauben, er habe wirkliche Sandsteingebilde vor sich." (8) Hiermit kann nur gemeint sein, daß im Beschauer ansatzweise der Wirklichkeitsglaube angerecht wird, aber sofort am kritischen Wissen des Beschauers eine Hemmung erfährt. Im Gegensatz hierzu haben die gemalten Marmor- und Bronzefiguren von nackten Männern und Kindern, durch die MICHELANGELO die Umrahmungen seiner Bilder an der Decke der Sixtinischen Kapelle belebt hat (9), nichts mit Täuschungsillusion zu schaffen. Sie wollen einfach als Werke der Malerei gesehen werden.

6) Erheblich anders ist zu urteilen, wo Wand- oder Deckenmalerei durch die starke Entwicklung des Tiefensehens, zu dem der Betrachter veranlaßt wird, den Eindruck erweckt, als ob uns keine starre Wand oder Decke gegenüberstünde, sondern statt dessen für das Auge eine freie weite Erstreckung in die Tiefe vorhanden wäre, und also ob dieser Tiefe die vom Maler flächenhaft vorgetragenen menschlichen und sonstigen Gestalten körperhaft angehörten. Auch hier ist es eine andere Art von Wirklichkeit, die uns vom Maler vorgetäuscht wird. Nur ist es nicht ganz leicht, diese vorgetäuschte Wirklichkeit zu charakterisieren.

Zunächst fallen hierbei jedermann die pompejanischen und römischen Wandgemälde ein. Und zwar wird besonders an die Wandgemälde des sogenannten zweiten Stils zu denken sein. Die ganze Wand erscheint als in landschaftliche Ausblicke verwandelt. Oder man sieht etwa durch ein in der gemalten MIttelnische angebrachtes gemaltes Fenster in eine offene, von mythologischen Gestalten belebte Gegend oder in eine enge Straße. Aber auch der sogenannte vierte Stil kommt in Frage: das Gesamtwandbild "mit seinen vielfachen Gründen, zahllosen dünnen Stützen, Perspektiven und Durchblicken soll den Eindruck eines unendlichen Raumes machen" (10). Aus der neueren Kunst bietet die profane und kirchliche Deckenmalerei des Rokoko und wieder vor allem TIEPOLO zahlreiche überraschende Beispiele dar. Nicht die begrenzende Decke glaubt das Auge wahrzunehmen, sondern zu Wolken und Himmelshöhen wird der Blick emporgetragen. Das Deckenbild in der Kirche della Pietà in Venedig zeigt, mit welchem Gewimmel und Taumel schwebender, stützender, die kühnsten Luftsprünge wagender Gestalten er den Himmelsraum bevölkerte. "Der Zuschauer sollte jetzt wirklich glauben, daß statt Kuppel und Decke der Himmel über ihm lachte und seine Herrlichkeiten enthüllte." Oder es verwandelt sich die Wand für ein naives Beschauerauge in eine Festhalle mit einer an einem Tisch sitzenden Hofgesellschaft (11). Im Gegensatz hierzu mag man an die Fresken GIOTTOs, MANTEGNAs, PINTURICCHIOs, del SARTOs denken: sie werden lediglich mit demjenigen Tiefensehen aufgefaßt, wie es auch jedem Tafelgemälde gegenüber in Wirksamkeit tritt. Ein interessanter mittlerer Fall scheint mir in RAFFAELs Amor- und Psyche-Fresken in der  Farnesia  vorzuliegen. Wenn hier das Auge in den blauen Himmel hinaufzusehen glaubt, so ist dies eine Tiefenwirkung, die über die Leistung eines Tafelbildes fühlbar hinausgeht, ohne indessen noch an die Tiefenillusion der Deckenmalereien des Barock heranzukommen.

Es kann sich für mich nicht darum handeln, zu ermitteln, in welcher Bewußtseinsverfassung sich der altrömische Betrachter oder der Zeitgenosse TIEPOLOs vor solchen Malereien befand. Ebensowenig will ich untersuchen, was der künstlerisch ungeübte, mit den bildenden Künsten in keiner Fühlung stehende Mensch in solchen Fälle sieht oder zu sehen glaubt. Hier interessiert mich (wie auch schon in allen bisher betrachteten Fällen der von Künstlern hervorgerufenen Täuschungsillusion) allein die Frage, wie sich der künstlerisch gebildet, künstlerisch gereifte moderne Betrachter in solchen Fällen verhält.

Ein vollkommenes Stehen in Täuschung wird wohl nur in seltenen Fällen und auch da nur für kurze Zeit eintreten. In der Regel kommt es nur, mehr oder minder, zu einem Einstellen des Bewußtseins auf einen Wirklichkeitsglauben. Seien die malerischen Mittel der Täuschung auch noch so erfinderisch gewählt und auch noch so geschickt gehandhabt (wie etwa bei TIEPOLO), so ist doch das kritische Wissen von so aufdringlicher Art, daß sich die Einstellung des Bewußtseins auf einen Wirklichkeitsglauben unmöglich verwirklichen kann. Konkret gesprochen: dem Betrachter gilt es beispielsweise schlechthin für unmöglich, daß die wirkliche Jungfrau MARIA dort oben auf Wolken thront, oder daß sich dort eine Landschaft mit mythologischen Gestalten, etwa mit JO und ARGUS, ausdehnt. Hieran scheitert die Tendenz auf einen Wirklichkeitsglauben.

Was ist es nun für eine Wirklichkeitsweise, die wir meinen, wenn wir den Eindruck erhalten: dieses Decken- oder Wandbild sieht wie die Wirklichkeit aus? Sehen wir diese Tische, Wolken, Menschen, Heiligen, Engel in der Tat wie leibhaftig-wirklich, wie außerkünstlerisch-wirklich, wie dem prosaischen Wirklichkeitsboden zugehörig an? Ich glaube nicht, daß damit die Bewußtseinsverfassung eines künstlerisch gebildeten modernen Betrachters richtig wiedergegeben wäre. Wir fühlen uns durch die Wirklichkeitsweise, mit der uns die Gestalten der pompejanischen Wandgemälde oder des TIEPOLO gegenübertreten, keineswegs aus dem Rahmen der Kunst hinausgeworfen, keineswegs auf den Boden der außerkünstlerischen Existenz verwiesen. So verhält es sich beim Betrachten von künstlichen Blumen, Gartenfiguren, Automaten, Wachsfiguren. Hier dagegen fühlen wir uns, so körperhaft auch Tische, Wolken, Menschen, Engel erscheinen mögen, doch immer noch als umfangen von der Kunstsphäre. Aus der Erscheinungsweise der Malerei freilich sind wir hinausversetzt; die Malerei täuscht uns eine außermalerische Wirklichkeitsweise vor. Aber diese außermalerische Wirklichkeitsweise gehört doch immer noch irgendwie dem Bereich der Kunst an. Es ist eine andere Kunstwirklichkeit, die uns die pompejanischen Wandgemäld und TIEPOLO vortäuschen. Ich glaube, das Richtige zu treffen, wenn ich die andere Kunstwirklichkeit, die uns durch die gekennzeichneten Malereien vorgetäuscht wird, als verwandt der Theater- oder Bühnenwirklichkeit bezeichne. In dem früher betrachteten Fall täuschte die Malerei uns körperhafte Bauformen, also Architekturwirklichkeit vor; hier sind es Bühnenbilder, oder genauer: es ist eine auf derselben Wirklichkeitsstufe mit den Bühnenbildern stehende Wirklichkeit, was uns durch die Malerei vorgetäuscht wird. Auch hier also handelt es sich um kunstimmanente Täuschungsillusion. Im Kaisersaal der Würzburger Residenz sieht man hinter einem hochgenommenen, in Stuck geformten Vorhang ein die Hochzeit BARBAROSSAs darstellendes Fresko: die Gestalten erscheinen uns wie ein lebendes Bild auf einer Bühne (12).

Anders liegt natürlich die Sache, wenn ein künstlerisch ungebildetes und unvorbereitetes Individuum zum ersten Mal etwa vor die Wandgemälde im Palazzo  Labia  in Venedig tritt: hier kann es, wenn auch nur für wenige Augenblicke, zu einem vollen "Stehen in der Täuschung" kommen. Hier läge eine außerkünstlerische Täuschungsillusion vor.

7. Auch die Bühnenmalerei scheint in den hier betrachteten Zusammenhang hineinzufallen. Der Hintergrund der Bühne zeigt uns den Ausblick auf Hügel oder hohe Berge, auf ein Dorf oder eine Stadt, auf das Meer und dergleichen. Wir sehen hier in die Tiefe hinein: nicht so wie angesichts eines Tafelgemäldes, sondern mit körperhafter Ausgestaltung des sich vor uns in die Tiefe erstreckenden Raumes. Das Tafelgemälde hält, bei noch so gelungener Perspektive, doch als Fläche vor unseren Augen stand. Sitzen wir dagegen im Theater, so löst sich die Hinterwand der Bühne völlig in eine mehr oder weniger gestaltenerfüllt Tiefe auf. Der Theatermaler, so scheint es, täuscht uns eine körperhafte Wirklichkeit vor, ähnlich wie Wandgemälde der pompejanischen Künstler oder TIEPOLOs.

Ja, bei oberflächlicher Betrachtung scheint in der Bühnenmalerei noch ein gröberer Betrug vorzuliegen. Denn jenen Wandgemälden gegenüber kommt es bei einem künstlerisch gebildeten Betrachter nur bis zu einem Ansatz auf den Wirklichkeitsglauben hin; die kritische Gewißheit tritt hemmend dazwischen. Der Zuschauer im Theater dagegen gibt sich ununterbrochen dem Glauben an die Tiefenerstreckung der im Hintergrund der Bühne gesehenen Hügel, Häuser usw. hin. Das Geschehen auf der vollkörperlichen Bühne findet für den Zuschauer nicht etwa eine harte Grenze an einer Hinterwandsfläche, sondern die Raumgestaltung, in der dieses Bühnengeschehen verläuft, setzt sich in einem stetigem Übergang mit den tatsächlich unwirklichen, aber für wirklich gehaltenen Tiefenerstreckungen des Hintergrundes zu  einem  zusammenhängenden Raumganzen zusammen. Hiernach scheint die Bühnenmalerei den Zuschauer in eine weit gröbere Wirklichkeitstäuschung zu versetzen als etwa pompejanische Wandlandschaften.

Bei genauerer Unterscheidung indessen stellt sich die Sachlage wesentlich anders dar. Man hat zu bedenken: die Theatermalerei gehört nicht zur Malerei in dem Sinne, daß sie sich lediglich durch die Gliederung der Malerei ergäbe, wie dies der Fall ist, wenn die Malerei in die Zweige der Landschafts-, Stilleben-, Sittenbild-, Bildnismalerei und dergleichen eingeteilt wird. Vielmehr ist die Theatermalerei ein organisches Glied der Bühnenkunst, und diese darf als eine besondere Kunst gelten. Und so empfindet dann auch der Zuschauer das, was er als Hintergrund der Bühne sieht, unwillkürlich als zur Bühnendarbietung gehörig, nicht aber als eine eigentliche Malerei. Er fühlt daher auch die Körperhaftigkeit des Hintergrundes nicht wie eine Überschreitung der künstlerischen Grenze, nicht wie ein im Widerspruch mit der vorliegenden Kunst Vorgetäuschtes; sondern er bejaht die Tiefenerstreckung des Hintergrundes als etwas, was künstlerisch in Ordnung ist, als etwas im Wesen der Bühnenkunst Liegendes. In der Bewußtseinshaltung des Zuschauers findet sich daher auch nichts von einer kritischen Einstellung gegen etwas künstlerisch Ungehöriges, nichts von Auflehnung, wie sie gegenüber einem Getäuschtwerden durch den Künstler stattfindet. Und taucht im Bewußtsein des Zuschauers der Gedanke auf: in Wahrheit existiert das Bühnendorf, das Bühnenmeer, die Bühnenferne doch nur als Fläche, so empfindet er vielmehr diesen Gedanken als etwas Ungehöriges und sucht ihn zu verdrängen.

Ich habe immer nur vom Hintergrund der Bühne gesprochen. Das gleiche gilt selbstverständlich auch hinsichtlich der im Vorder- und Mittelgrund der Bühne vorkommenden Malereien, soweit sie den Eindruck machen, sich körperhaft in den Bühnenraum einzugliedern. Es gibt ja auch Malereien auf der Bühne, die nicht diese Aufgabe haben: wie etwa Bilder, die das Bühnenzimmer schmücken, oder Tapetenmust an seinen Wänden.

Soll das Verhältnis der Bühnenmalerei zum Jllusionsbegrif völlig klargestellt werden, so ist noch folgendes zu erwägen. Der vollkörperliche Bühnenraum mit seinen vollkörperlichen Dingen ist selbst schon als  Kunstwirklichkeit  anzusehen. Die Wirklichkeit des Bühnenkunstwerks fällt jeweilig mit einem Stück prosaischen WIrklichkeitsraumes zusammen. Dieser außerästhetische Wirklichkeitsraum wandelt sich hierdurch in eine ästhetische Wirklichkeit. Die ästhetische Wirklichkeit des Bühnenraums steht zwar in der außerästhetischen, gewöhnlichen Raumwelt mitten drin; aber sie berührt sich mit dieser nicht. Berührungslos, weder störend noch selbst gestört, geht die vollkörperliche Wirklichkeit des Bühnenkunstwerks durch die prosaische Wirklichkeit der Dingwelt hindurch. Obwohl sie einen Ausschnitt aus der gewöhnlichen Raum- und Dingwelt bildet, schneidet sie sich doch nicht mit dieser. In diese mitten hineingestellt, ist sie doch eine gänzlich andere Raum- und Dingwirklichkeit. Auch die sprechenden und sich bewegenden Schauspieler gehören der ideellen ästhetischen Wirklichkeit an. Sie stehen in ihrem Verhältnis zur gewöhnlichen Wirklichkeit prinzipiell auf der Stufe des marmornen oder bronzenen Feldherrn. Sie sind Glieder eines sie räumlich umfangenden Kunstwerkes.

Was ich sonach sagen will, ist dies: die Scheintiefe der Hinterwand setzt  nicht  etwa eine  außerästhetische  vollkörperliche Wirklichkeit fort, sondern eine selbst schon  als ästhetische Wirklichkeit existierende  vollkörperliche Raum- und Dingwelt. Die Scheintiefe des Hintergrundes ist aus der ästhetischen Wirklichkeit des Bühnenkunstwerks wesensgesetzlich herausgeboren.

Sonach ist klar: der körperhafte Eindruck der Bühnenmalerei fällt überhaupt nicht unter den Begriff der Täuschungsillusion. Was hier vorliegt, gehört nicht in ein und dieselbe Reihe mit wirklichkeitvortäuschenden Wand- oder Deckengemälden. Und wendet man trotzdem auf die Bühnenmalerei den Namen "Jllusionsmalerei" an, so liegt die Gefahr von Mißverständnissen nur allzu nahe.
LITERATUR Johannes Volkelt, Jllusion und ästhetische Wirklichkeit, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 13, Stuttgart 1919
    Anmerkungen
    1) Die beiden Beispiele sind den "Grundzügen der Psychologie" von HERMANN EBBINGHAUS (1913, Bd. 2, Seite 18 und 20) entnommen.
    2) Ich möchte daher, um der Reinlichkeit der Begriffe willen, auf das ZÖLLNER'sche, HERING'sche, MÜLLER-LYER'sche Muster und ähnliche Fälle von Sinnestäuschung nicht die Bezeichnung "Jllusion" anwenden.
    3) FRIEDRICH VISCHER, Goethes Faust, Neue Beiträge zur Kritik des Gedichts, 1875, Seite 287-303. VISCHER nennt die Jllusion "das Gut der Güter". "Ein Narr, wer sie sich zerstört!" - auch ich habe mich, durch VISCHER angeregt, in einem Jugendaufsatz (Glück und Wert der Jllusion; in der Zeitschrift "Im neuen Reich" 1876, Bd. 2, Seite 175f) in der Lobpreisung der Jllusion ergangen.
    4) Nur von der ungehemmten Täuschungsillusion gilt also, was JULIUS PAP ganz allgemein sagt: "Die eigentliche Jllusion durchleben wir naiv, gedankenlos" (Kunst und Jllusion, 1914, Seite 6).
    5) EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Schönen 1887, Seite 647f.
    6) FRANZ HERMANN MEISSNER,  Tiepolo,  1897, Seite 35f und 40f.
    7) Vgl. FRIEDRICH LEITSCHUH, Bamber 1914 (Berühmte Kunststätten, Nr. 63), Seite 188
    8) LUDWIG KAEMMERER, Hubert und Jan van Eyck, 1898, Seite 23
    9) ANTON SPRINGER, Handbuch der Kunstgeschichte, 9. Auflage, Bd. 3 (bearbeitet von ADOLF PHILIPP) 1913, Seite 223. Vgl. ANTON SPRINGER, Raffael und Michelangelo, 2. Auflage, 1883, Bd. 2, Seite 162f.
    10) Vgl. SPRINGER, Handbuch, Bd. 1, 8. Auflage (bearbeitet von ADOLF MICHAELIS) 1907, Seite 304, 323, 403f, 432f.
    11) MEISSNER, Tiepolo, Seite 26 und 41.
    12) Wie grob-naiv bei TIEPOLO Malerei und Wirklich-Körperhaftes ineinander übergehen, zeigt sich in der Würzburger Residenz darin, daß sich mehrfach ein gemalter Menschenleib fortsetzt in ein körperhaftes Bein oder einen körperhaften Arm oder gemalten Figuren körperhafte Dinge (z. B. eine Lanze oder ein Musikinstrument) in die Hand gegeben werden.