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Wahrnehmung, Beobachtung und Sichtweise
A. F. J. THIBAUT

Es ist bekannt, daß unsere meisten deutlichen Wahrnehmungen allein durch die Vorstellungen eines Kontrastes oder einer Ähnlichkeit zu unserem Bewußtsein kommen; daß wir nur dann einen Gegenstand recht scharf ins Auge fassen, wenn wir finden, daß er uns bekannten Gegenständen gleicht, oder mit denselben in Widerstreit steht. Man setze nur den Fall: Jemand will Beobachtungen über die Erziehung anstellen. Er hat nie bei sich über dieses Thema nachgedacht, nie das System eines anderen gründlich studiert. Jetzt geht er unter die Menschen, um ihre Handlungsweise, ihre Maßregeln zu beobachten. Natürlich wird er vieles entdecken, es wird ihm vieles auffallen, vieles Stoff zum Nachdenken geben. Allein sein Talent sei auch so groß, wie es will: es wird ihm unendlich mehr entgehen, als er aufgefaßt hat; und wenn er sich die Beobachtung gar nicht zum Zweck vorsetzte, so würde alles tot und ungesehen vor seinen Augen vorüberziehen. Jetzt gebt ihm den  Emile  oder laßt ihn ein anderes Werk über die Erziehung einstudieren, und sich durch eigenes, reifes Nachdenken zu eigen machen. Er trete dann mit seinem System wieder in die Welt zurück. Wie neu, bemerkenswert und reich an Stoff für die Beobachtung wird ihm jetzt jeder Gegenstand kontrastiert, wird ihm klar und scharf in die Augen fallen; was mit demselben übereinstimmt, durch ein seltenes Interesse seine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jetzt fehlt es ihm nicht an Gesichtspunkten, an Fächern; alles hat für ihn Sinn und Bedeutung; er weiß jeder Beobachtung eine Beziehung zu geben, jeden Tatumstand an ein Ganzes zu knüpfen; nichts ist für ihn unbedeutend, der Wahrnehmung und Prüfung unwürdig.

Man nehme einen anderen Fall. Es setzt sich jemand vor, Menschenkenntnis zu sammeln. Mit diesem Vorsatz trete er in die Welt: - Was wird er sehen? Nichts als ein buntes Gemisch von Handlungen, welche nach Belieben so oder so ausgelegt werden können. Unzählige Eigenheiten der Menschen werden ihm ganz entgehen; viele wird er schief und oberflächlich beurteilen. Will er sich nicht verwirren, so trete er bei Zeiten zurück; er beobachte sein eigenes Herz, durchdenke die Bemerkungen anderer, und suche Vollständigkeit, Zusammenhang und Einheit in seine Begriffe zu bringen. Ist ihm dieser Versuch gelungen, auch nur zum Teil: so werden ihm gewissermaßen die Schuppen von den Augen fallen. Die Kontraste und Ähnlichkeiten drängen sich ihm jetzt fast wider Willen auf: jeder Tatumstand paßt für ihn in ein großes Ganzes; nirgendwo schweift sein Blick geistlos über den Gegenständen hinweg. Er bemächtigt sich überall des Guten, weil er findet, und er findet überall, weil er zu suchen weiß.

Wer hat nicht Erfahrungen dieser Art gemacht, auch im Kleinen, unwillkürlich, schon als bloßer Gelehrter? Man schreibe nur z. B. eine Abhandlung über einen beliebigen Gegenstand, ohne auszuschreiben, nach eigenen Ideen. Nach vollbrachter Arbeit lese man die Gedanken eines Anderen über denselben Gegenstand. Wie wird hier alles Gute aufgefaßt, jeder noch so feine Irrtum bemerkt, das Ganze gleichsam in Saft und Blut verwandelt werden! Und doch wäre vieles unverstanden und unbemerkt liegen geblieben, ohne eigenes vorhergeganges Nachdenken. Aus diesem Grund sind die Schriftsteller, besonders die Rechtsgelehrten, welche neue Theorien aufstellen, und ganze Lehre umschaffen, oft so glücklich (oder unglücklich), die aus den Schriften ihrer Vorgänger manchen einzelnen, mit ihren Resultaten übereinstimmenden Satz anführen, vielleicht ihre ganze Theorie durch mühsam zusammengelesene Autoritäten unterstützen zu können. Und doch ist das Neue nicht alt, weil das Alte vor dem Neuen unbemerkt da lag, und erst durch das Neue Leben erhielt.


LITERATUR - Anton Friedrich Justus Thibaut, Versuche über einzelne Teile der Theorie des Rechts, Neunte Abhandlung, Jena 1817