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Die Tyrannei der Werte
NICOLAI HARTMANN

Wertkonkflikte gibt es zwischen allen Werten, nämlich in der konkreten Situation. Das bringt einfach die materiale Verschiedenheit mit sich. Wo es nun in der Struktur der Situation liegt, daß zwei verschiedene in ihr beteiligte Werte nicht gleichzeitig berücksichtigt werden können, da kann die Entscheidung nur dem einen folgen, den anderen aber verletzen. Liegen die beiden Werte in sehr verschiedenen Höhenlagen, so ist der Konflikt freilich kein sittlicher; dem höheren gebührt der Vorrang (nach dem Gesetz de Guten). Liegen sie aber auf annähernd gleicher, oder auch nur vergleichbarer Höhe, so ist der Wertkonflikt gegeben. Wertkonflikte dieser Art sind es, von denen das ganze Menschenleben durchzogen ist. Sie alle stellen den Menschen vor die Notwendigkeit der Entscheidung. Das heißt aber, prinzipiell gesprochen, daß in der konkreten Situation alle materiale Wertverschiedenheit antinomischen Charakter annehmen kann. Und gesetzt selbst, daß gerade hier vielleicht am wenigsten die voll befriedigenden Synthesen möglich sein sollten, so bleibt doch die sittliche Forderung bestehen, von Fall zu Fall nach ihnen auszuschauen.

Zweitens aber liegt in allen sittlichen Werten auch prinzipiell etwas vom Gegensatzcharakter. Man erkennt das sofort, wenn man die einzelnen Werte in ihrer Einseitigkeit zugespitzt nimmt, jeden in der ganzen Rigorosität seiner Idee. Das ist nicht ein Gedankenexperiment der Abstraktion. Es gibt im Leben den Rigorismus der einzelnen Werte. Er kann sich bis zum Fanatismus steigern. Jeder Wert hat - wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person - die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht material entgegengesetzt sind. Diese Tendenz haftet zwar nicht den Werten als solchen in ihrer idealen Seinssphäre an, wohl aber als bestimmenden Mächten im menschlichen Wertgefühl; sie ist eine Tendenz der Verdrängung anderer Werte aus dem Wertgefühl. Solche Tyrannei der Werte zeigt sich schon deutlich in den einseitigen Typen der geltenden Moral, in der bekannten Unduldsamkeit des Menschen (auch des sonst nachgiebigen) gegen fremdartige Moral; noch mehr im individuellen Erfaßtsein einer Person von einem einzigen Wert. So gibt es einen Fanatismus der Gerechtigkeit (fiat justitia pereat mundus [Gerechtigkeit soll herrschen, auch wenn die Welt untergeht. - wp]), der keineswegs bloß der Liebe, geschweige denn bloß der Nächstenliebe, ins Gesicht schlägt, sondern schlechterdings allen höheren Werten. Ebenso gibt es einen Fanatismus der Nächstenliebe, der bis zur Selbstpreisgabe, ja zur Selbstquälerei, gehen kann; er widerstreitet gleichfalls nicht nur der Gerechtigkeit, sondern den meisten sittlichen Werten, von den höchsten begonnen bis herab zum gesunden, lebensnotwendigen Egoismus. Ansich möglich ist auch ein Fanatismus der Fernstenliebe, wie wir ihn - wenigstens in der Theorie - bei NIETZSCHE kennen. Nicht weniger gefährlich ist der Fanatismus der Wahrhaftigkeit oder der Treue; ersterer ist imstande Freunde und Vaterland zu verraten um eines leeren Prinzips willen, letzterer geht eigensinnig durch Dick und Dünn mit einer Person, einer Partei, einem Prinzip, oder auch nur mit den Konsequenzen eines einmal begangenen Irrtums, blind für die bedenklichsten sittlichen Verirrungen. Ähnliches gilt von einseitiger Zuspitzung der Bescheidenheit (Selbstverkleinerung), der Demut (Selbsterniedrigung), der Distanz (Vornehmtuerei), des Stolzes (leicht gereiztes Ehrgefühl), ja sogar des Glaubens (Vertrauensseligkeit). Alle diese Werte sind in ihrer höchsten Steigerung gerade am meisten gefährdet. Am Vertrauen und Glauben dürfte das am sichtbarsten sein. Der "blinde Glaube" ist das größte moralische Wagnis; ob man ihn sich einem Menschen gegenüber zumuten darf, ist und bleibt immer die kritische Gewissensfrage.

In diesem Sinne läßt sich sagen, alle sittlichen Werte haben auch ihren Widerhaken - zwar nicht ansich, wohl aber für den Menschen -, eine Grenze, von der ab ihre Herrschaft im Wertbewußtsein aufhört wertvoll zu sein. Es kehrt damit ein axiologisches Motiv in ihnen wieder, das wir aus einer anderen Wertsphäre her genugsam kennen. Tätigkeit, Leiden, Freiheit, Vorsehung, Vorbestimmung sind nur in den Grenzen wertvoll, in denen der Mensch Tragkraft für sie hat.


LITERATUR, Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1962