p-4cr-2G. TeichmüllerA. DyroffA. MartyO. A. FriedrichsO. A. FriedrichsCh. Schwandtke    
 
KARL GEBERT
Bemerkungen zur Theorie
des Existentialsatzes

[2/2]

"Der praktische Bestandteil des Urteils, die Anerkennung eines Wertes, im Existentialsatz beurteilt nicht eine Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, sondern die direkte Beziehung der Subjektsvorstellung zum Bewußtsein. Das Sein ist also ein Relationsprädikat."

"Ist Sein ein Setzen, Setzen aber ein Urteilen, so folgt, daß Sein nur im Urteilen, nicht im Vorstellen, sei es einer psychischen, sei es einer außerpsychischen Realität - liegen kann."


III.
Die Existenzarten

Wir haben oben das Sein als ein Beziehungsprädikat bezeichnet. Der sprachliche Gleichlaut  (S  ist oder  S  existiert), (19) welchen die Existentialurteile in der Regel aufweisen, könnte zu der irrigen Ansicht (20) verleiten, daß jene Beziehung zum Bewußtsein eine einförmige ist, sich stets gleichbleibt. Allein eine solche Annahme widerstreitet der Vielgliedrigkeit und dem normativen Charakter des Bewußtseins. Wenn Urteile den Zweck haben, Erkenntnis zu liefern, kann es sich im Existentialsatz nicht um eine tautologische Wiedergabe einer gegebenen Tatsache handeln; denn jeder Bekenntnisinhalt ist als solcher da und braucht nicht noch besonders konstatiert zu werden. Das erkenntnistheoretisch Wertvolle im Existentialsatz liegt vielmehr gerade darin, was er über die gegebene Vorstellung aussagt, d. h. in der Stelle, welche er derselben im erkennenden Bewußtsein zuerkennt. Es erscheint daher in der Natur der Sache begründet, wenn wir diesen Abschnitt, welcher über die erkenntnistheoretische Bedeutung des Existenzprädikats handelt, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, entsprechend den Stufen des theoretischen Bewußtseins, nach Existenzarten gliedern.


a) Das Sein als Beziehung
zur Wahrnehmung

Die gewöhnlichste, aber wegen der ihr innewohnenden "energeia" relativ selten im Existentialsatz auftretende Form der Beziehung ist diejenige zur Wahrnehmung. Bilden ja doch die Gegenstände der Wahrnehmung den Ausgangspunkt und das Material für die geistige Tätigkeit überhaupt, und es ist begreiflich, wenn auch manche Vertreter der Logik diese Beziehungsfunktion des Existentialsatzes für die einzige, oder wenigstens für die Beziehungsfunktion  kat exochen  [schlechthin - wp] angesehen wissen wollen.

Die reinste Form des Existentialsatzes dieser Rubrik ist die Aussage eines tatsächlichen Gegebenseins in der Wahrnehmungswelt. Es wird hierbei einfach behauptet, daß ein Erinnerungsbild in der Wahrnehmung ihr Korrelat hat, ohne daß sich der Sprechende um die räumliche oder zeitliche Konfiguration, in der dieses sinnliche Gegenbild erscheint, im geringsten kümmert. Zum Beispiel:  Es gibt Blumen.  In solchen Urteilen ist das Präsens, wenn nicht zeitlos, so doch unabhängig von aller Zeit gebraucht.

Hiervon zu unterscheiden sind solche Existentialsätze, in denen nicht das Wahrgenommensein bejaht oder verneint wird, nicht das Wahrgenommensein als Bewußtseinstatsache schlechthin den Gegenstand der Erkenntnis bildet, sondern vielmehr der gegenwärtige Zeitpunkt der Wahrnehmung, oder  dieser  Ort des wahrgenommenen Gegenstandes in Beziehung tritt zu einem früheren Zeitpunkt derselben Wahrnehmung bzw. zu einem anderen Ort desselben wahrgenommenen Gegenstandes. Wählen wir einige Beispiele! In dem Urteil "der alte Turm existiert noch" bildet die Voraussetzung die Vorstellung des alten Turmes, verbunden mit der Erinnerung der einstigen Wahrnehmbarkeit; ferner ist nicht zu unterschätzen der auf angenehmen oder unangenehmen Erlebnissen oder auf ästhetischen Motiven beruhende Anteil des Gemüts. Nicht Wahrnehmbarkeit ist es, was vom  Turm  ausgesagt werden soll; denn diese ist ja zu meinem festen psychischen Besitz geworden, indem mir das Wahrnehmungsbild stets vorschwebt. Vielmehr die zeitliche Differenz d. h. die Vergleichung der Wahrnehmung dieser Zeit mit jener der früheren Zeit ist Gegenstand der Aussage. Die Wahrnehmung dieser Zeit wird identifiziert mit der Wahrnehmung jener Zeit, und SIGWART nennt darum obiges Urteil mit Recht "in gewissem Sinne ein analytisches" (Impersonalien, Seite 65). Der Satz bildet die Korrektur der das Innere beschleichenden Unsicherheit in der Erwartung, jener Turm möge jetzt noch sein. Ein zeitlicher Gegensatz ist, der auf dem Weg der Assoziation dieses Urteil hervorgerufen hat. Bei demjenigen, welchem diese Motive des Urteilens abgehen, kommt es, falls er beim Ansichtigwerden des Gegenstandes sich überhaupt noch desselben erinnert, zu keiner Aussprache, er begnügt sich mit der wahrgenommenen Vorstellung. - Ähnlich verhält es sich mit dem Urteil "es gibt Erdbeeren in diesem Wald". Der Naturfreund, der mit seinen Gedanken beschäftigt durch den Wald geht, hört all die Urteile des ihn begleitenden Kindes über die herrlichen Dinge, die demselben begegnen, ohne seinerseits die Urteilsfunktion des Existentialsatzes zur Geltung kommen zu lassen. Ruft aber das Kind plötzlich aus "da sind Erdbeeren!" und weckt in ihm eine Vorstellung, deren sinnlichen Repräsentanten er nicht gewohnt ist oder nicht erwartete, an dieser Stelle zu finden, so regt sich in ihm ein empirisches Interesse, und er bestätigt den Ruf des Kindes etwa folgendermaßen: "Richtig, da sind Erdbeeren, hier hätte ich keine vermutet!" Beim ersteren Urteil ist die Eßbarkeit der Frucht, also eine Eigenschaft, beim letzteren der an  diese bestimmte Stelle  gebundene Genuß, in keinem von beiden Fällen also das Interesse an der Tatsache der Wahrnehmbarkeit der Vorstellung  Erdbeere  das treibende Motiv zur Urteilsbildung. Wie in dem vorhin behandelten Zeiturteil Jetzt und Einst, so ist in diesem Fall Hier und Dort der Gegensatz, um den sich das Urteil dreht (21). In keinem von beiden Fällen handelt es sich um Sein oder Nichtsein. - Wenn jemand beim Wiedereintreten in sein Zimmer bemerkt, daß vom Tisch ein Geldstück verschwunden ist, so wird er den im Zimmer allein anwesend gebliebenen Stromer mit Recht des Diebstahls bezichtigen. Die Überlegung, daß ein Gegenstand, der eben noch sichtbar dalag, nicht - unter den angegebenen Verhältnissen - im nächsten Augenblick auf normale Weise verschwunden sein könne, bildet den Beweggrund zur Beschuldigung des Zimmerinsassen, eingeleitet durch das Urteil: hier lag ein Geldstück. - Höre ich ein Geräusch vor der Tür, so gebe ich dieser Wahrnehmung den etwa noch im Zimmer Weilenden gegenüber in den Worten Ausdruck "es ist jemand vor der Tür!" Zweifeln gegenüber versichere ich kategorisch: "es ist jemand draußen, denn ich habe es gehört." Auch hier in diesem Exempel ist es nicht die Wahrnehmungstatsache schlechthin, auf welche der Sprechende sein Augenmerk richtet, sondern die mit der Gehörsempfindung implizit verbundene Lokalisation ihres Ausgangspunktes. Ich weiß, es gibt noch viele jemand, die mich momentan nicht interessieren; der eine aber interessiert mich, weil er vor der Türe steht, und meine Pflicht es erfordert, nach seinem Begehr zu fragen.

Alle diese aufgezählten Beispiele der zweiten Art von Existentialsätzen sind also zeitlich oder örtlich determinierte Wahrnehmungsurteile. Ähnlich zu beurteilen ist noch eine andere Klasse von Urteilen, zu deren Auffindung und Erörterung wir etwas weiter ausholen müssen.

Sätze wie "Maßhalten ist schwer", "Selbsthilfe ist verboten" übersetzt WILHELM JORDAN (Über die Zweideutigkeit der Kopula bei Stuart Mill, Stuttgarter Gymnasialprogramm, 1870, Seite 22): Es gibt Umstände, welche das Maßhalten erschweren, Gesetze, welche die Selbsthilfe verbieten, "um so den Existenzbegriff wenigstens für das Prädikat noch zu retten". Allein die Subjekte jener Urteile sind Eigenschaften von konkreten Lebewesen, die Vorstellung von letzteren ist also die stillschweigende Voraussetzung des Urteilsaktes. Die Allgemeinheit bzw. unbedingte Geltung dieser psychischen Eigenschaften oder Tätigkeiten erleidet durch das Prädikat eine quantitative und qualitative Einschränkung, bedingt im ersten Fall durch die menschliche Natur, im zweiten durch die Gesetze: Nicht alle können Maß halten und jedem fällt das Maßhalten schwer, Selbsthilfe, welche sozial und wirtschaftlich bis auf einen gewissen Grad geboten ist, ist staatlich-sozial-politisch im Interesse der Gesamtheit beschränkt, juristisch verboten.

Die völlige Neutralität der Kopula der Existenzfrage gegenüber läßt es zu, daß nicht bloß auf unbestimmt viele Einzelwesen gehende Eigenschaften, sondern auch die Dingvorstellungen selbst im Attributivurteil eine Berichtigung erfahren. BRENTANO (Psychologie, Seite 287f, Anm.) nennt sehr richtig die ganze Gruppe von Prädikaten, welche den Inhalt des Subjektwortes nicht bereichern, sondern modifizieren, modifizierende Prädikate (vgl. auch den Begriff der berichtigenden Definitionen bei W. JORDAN, a. a. O., Seite 17). Er sucht die modifizierenden Urteile mit seiner Theorie der Verwandelbarkeit in Einklang zu bringen und wählt hierzu das Beispiel "ein Mensch ist tot". "Ein toter Mensch", führt er aus, "ist kein Mensch". So setzt dann der Satz "ein toter Mensch ist" nicht, um wahr zu sein, die Existenz eines Menschen, sondern nur die eines toten Menschen voraus". Wir müssen gestehen, daß uns diese Ausführung, so konsequent sie auch im Geist seiner Theorie gedacht ist, ebensowenig das Wesen der berichtigenden Urteile zu treffen scheint, wie seine Verwandlungslehre das Wesen des Attributivurteils überhapt. Denn nach seiner Interpretation ist ja die modifizierte Subjektsvorstellung bereits eine Voraussetzung des Urteils, so daß also das Prädikat die Subjektsvorstellung nicht mehr zu modifizieren braucht, vielmehr dessen Funktion nur darin bestehen würde, das in der Subjektsvorstellung enthaltene modifizierende Merkmal analytisch herauszuheben. Derartige Urteile sind wohl so zu erklären. Modifiziert wird die gewöhnliche Vorstellung vom Menschen als einem lebenden Wesen; diese bildet im Satz die Voraussetzung. Das Prädikat besagt: in der Vorstellung von diesem oder jenem Menschen mußt du das Merkmal "lebend" streichen. Begrifflich gefaßt allerdings ist ein toter Mensch kein Mensch. Aber in der Sinneswahrnehmung sind wir alle geborene Materialisten und nehmen ganz sensualistisch die äußere Erscheinung für die ausschlaggebende Wesensbestimmtheit, eine Tatsache, von der wir uns als Sinnenwesen nie ganz zu befreien vermögen. Da wir die Menschen auch nach dem Tod uns so vorstellen, wie sie unter uns gelebt haben, so sprechen wir ganz selbstverständlich von den Gräbern unserer Lieben, ohne uns dabei einer logischen Unrichtigkeit bewußt zu sein, ohne uns vergegenwärtigen zu wollen, welch schweren Tribut ihr Bild der Zeitlichkeit hat einrichten müssen.

Es liegt im Wesen des Prädikats "tot" im obigen Urteil, daß es ein letztes, aber nicht ganz zu Null gewordenes Stadium eines Veränderungsprozesses am Subjekt ausdrückt: sterben, gestorben - tot. Auch das Urteil "ein Mensch ist tot" ist ein zeitliches Wahrnehmungsurteil, unterscheidet sich abe von den zuletzt angeführten dadurch, daß der Sprechende nicht bloß äußerlich einen Zeitpunkt der Wahrnehmung zu einem andern in Beziehung bringt, sondern zugleich der inneren Veränderung gedenkt, welche der Inhalt der Subjektsvorstellung innerhalb der verflossenen Zeit erlitten hat. Ähnliche Beispiele, welche in der Regel der Kontrastwirkung einer neuen Vorstellung der alten gegenüber ihre Veranlassung verdanken, lassen sich leicht finden. Sage ich: hier ist ein Haus abgebrannt oder das Haus ist abgebrannt, so enthält das Subjektswort die mehr oder minder scharf umrissene Vorstellung eines Hauses. Den Fall gesetzt, ich begegne an einer einsamen Gebirgsstraße einem die Spuren eines Brandes aufzeigenden, wirr mit Kohlen besäten Platz, so werde ich nicht ohne Weiteres in das Urteil ausbrechen: hier ist ein Haus abgebrannt; denn der Vorstellungen bildenden Phantasie fehlt ja jeder sichere Anhaltspunkt. Es könnte ebensogut ein Holzstoß oder eine Heuhütte gewesen sein. Das ausgebrannte Gemäuer einer Stadt oder eines Dorfes wird dagegen wenig Zweifel übrig lassen; die Tatsache des Abgebranntseins modifiziert die Vorstellung vom Haus. Das eine Urteil involviert daher eigentlich deren zwei: Hier stand ein Haus, und: dieses Haus ist abgebrannt. Ein ähnliches Beispiel ist: Die Scheibe ist zerbrochen = Hier war eine Scheibe, sie ist jetzt in Stücke zerbrochen, als Scheibe nicht mehr da.

Die Veränderung, welche das Prädikat am Subjekt vornimmt, kann nun so bedeutend sein, daß sie nicht nur an der Auffassung einzelner Bestimmungen des Subjektsworts Modifikationen anbringt, sondern geradezu in dessen erkenntnistheoretischer Gesamtauffassung, in Bezug auf seine Seinsweise, eine Umwälzung hervorruft. Hier ist der Punkt, wo das Attributivurteil kraft seines Prädikats mit dem Existentialurteil zusammenfällt. Ein solches Urteil ist: der Pegasus ist eine mythologische Fiktion. Hier wird dem Subjektswort die Existenzart der Wahrnehmbarkeit abgesprochen und ihm die der bloßen Vorstellung angewiesen. Am radikalsten wirkt die Modifikation im Urteil "ein viereckiger Zirkel ist ein Widerspruch", welches freilich dem Charakter seiner Vorstellungen nach streng genommen nicht mehr hierher gehört. Hier wird der scheinbare Inhalt des Subjekts als etwas Nichtdenkbares, Nichtvorstellbares und damit schlechterdings Nichtseiendes bezeichnet. "Viereckiger Zirkel" ist ein inhaltsloses Wortgebilde, kann somit vom Bewußtsein in einem Existentialsatz schlechterdings nicht gewertet werden (22). Das ist der Sinn des Urteils.


b) Das Sein als Beziehung
zum erklärenden Denken

Wir bezeichneten eben Sätze wie "es gibt Blumen" als die reinste Form des Existentialsatzes der Wahrnehmung, und haben damit nicht sowohl die unmittelbare Einzelwahrnehmung als vielmehr die Allgemeinvorstellung, unter welche die einzelnen Wahrnehmungsakte fallen, als Gegenstand der Beurteilung betrachtet. In diesem Abschnitt nun wird sich zeigen, wie die Allgemeinvorstellung sich zu Begriffen verfeinert, die unmittelbare Wahrnehmung immer noch mehr in den Hintergrund treten läßt, ja oft sogar die begriffliche Form letztere zu ersetzen berufen ist.

Mit dieser unserer Auffassung scheinen wir zunächst in Widerspruch mit KANT zu geraten, der ja bei seiner Seinslehre immer von einem Gegenstand spricht, der zum Begriff hinzutreten muß. Doch bedenke man dabei Folgendes: KANT kommt in dieser Frage vermöge des historischen Zusammenhangs, in welchen sein Denken eingegliedert ist, vom Gottesbegriff, also von Vernunftwahrheiten her, und er ist der einseitigen Überspannung gegenüber, mit welcher der philosophische Dogmatismus die letzteren wertete, angelegentlich bemüht, den Gegensatz von immanentem und objektivem Sein möglichst scharf hervorzukehren, wobei andererseits naturgemäß der Gedanke, daß das anschauliche Sein schließlich nur eine andere Art der Beziehung desselben Bewußtseins ist, dem auch der Begriff angehört, zurücktreten mußte. Allein die Frage, um welche es sich  hier  handelt, betrifft nicht, wie bei KANT, den Gegensatz (23) von psychischer und außerpsychischer Realität, sondern es wird gefordert, daß die Welt der Dinge in ihrem Sein nicht nur der Beziehung zur Wahrnehmung, sondern auch den Kategorien des Verstandes entspricht. Andererseits macht KANT selbst darauf aufmerksam, daß den modalen Kategorien als solchen eine Beziehung zu den "Dingen", allerdings nicht zu gegenwärtigen, sondern zu Dingen einer "möglichen Erfahrung", zukommt. Wir erinnern an folgende Stellen aus den "Postulaten des empirischen Denkens": "Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich, daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dings schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstand fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar auch notwendig sei? Hierdurch werden keine Bestimmungen mehr im Objekt selbst gedacht, sondern es frägt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen) zum Verstand und dessen empirischem Gebrauch, zur empirischen Urteilskraft und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung) verhält?

Eben deswegen sind auch die Grundsätze der Modalität nichts weiter als Erklärungen der Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit in ihrem empirischen Gebrauch und hiermit zugleich Restriktionen aller Kategorien auf den bloß empirischen Gebrauch, ohne den transzendentalen zuzulassen oder zu erfordern. Denn wenn diese nicht eine bloß logische Bedeutung haben und die Form des Denkens analytisch ausdrücken sollen, sondern Dinge und deren Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit betreffen sollen, so müssen sie auf die mögliche Erfahrung und deren synthetische Einheit gehen, in welcher allein Gegenstände der Erkenntnis gegeben werden.

Das Postulat der Möglichkeit der Dinge fordert also, daß der Begriff derselben mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zusammenstimmt. Diese, nämlich die objektive Form der Erfahrung überhaupt, enthält aber alle Synthesis, welche zur Erkenntnis der Objekte erforderlich ist. Ein Begriff, der eine Synthesis in sich faßt, ist für leer zu halten und bezieht sich auf keinen Gegenstand, wenn diese Synthesis nicht zur Erfahrung gehört, entweder, als von ihr erborgt, und dann heißt er ein empirischer Begriff, oder als eine solche, auf der, als Bedingung a priori, Erfahrung überhaupt (die Form derselben) beruth, und dann ist es ein reiner Begriff, der dennoch zur Erfahrung gehört, weil sein Objekt nur in dieser angetroffen werden kann" (Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 202).

Unser Denken hat also von Haus aus eine Beziehung zur Welt der erfahrbaren Dinge (24); die Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit erscheinen als Spezialfälle dieses allgemeinen Grundverhältnisses. Der Existentialsatz kümmert sich als Ausfluß der Kategorien des Daseins oder des Grundsatzes der Wirklichkeit nicht um Möglickeit und Notwendigkeit. Auf der anderen Seite würde er sich aber seines modalen Charakters entheben, wenn er nur jenes Grundverhältnis, nicht auch eine Wertung desselben von Seiten des Bewußtseins ausdrücken würde. Gerade dieser letzte Punkt ist es, welchen auch eine Theorie des Existentialsatzes genügend berücksichtigen muß. Sie hat die verschiedenen Nuancen der Existenzaussage, die zwischen der Wahrnehmbarkeit eines bestimmten Dings und der bloßen Vorstellung dazwischen liegen,, einer Prüfung zu unterziehen.

Der gewöhnliche Weg, auf welchem das Bewußtsein zum Existentialsatz kommt, ist der umgekehrte des kantischen, nämlich der Weg von außen her. Gewöhnlich nicht dadurch, daß eine Forderung "des Bewußtseins überhaupt" in einer transzendenten Welt ihr Korrelat sucht, oder etwa gar fertige Begriffe einer erklärbaren Wirklichkeit das ihre in der Wahrnehmung - letzteres ist sogar unmöglic, denn Begriffe sind ja etwas Sekundäres, von den Dingen Abstrahiertes - entsteht der Existentialsatz, vielmehr Wahrnehmungsdaten sind es, welche zuerst zu Allgemeinvorstellungen verschmelzen; dann aber, je mehr der Wissenstrieb erstarkt, umso mehr strebt er danach, das lockere Band, welches die anschauliche Vorstellung mit dem Bewußtsein verknüpft, dadurch straffer zu gestalten, daß er dieselbe mit dem Sytem der Denkbeziehungen zusammenbringt. Vorstellungen der Anschauung sind das Gegebene, Begriffe das Aufgegebene. Zur Erläuterung folgendes Beispiel:

Der Nichtfachmann, welcher das Urteil ausspricht, "es gibt einzellige Organismen" will allerdings sagen und kann nur sagen wollen: es gibt in der Natur Wesen, welche so geartet sind, daß sie nur eine Zelle haben. Beim Fachmann tritt die Beziehung auf die Wahrnehmung zurück hinter ungleich wichtigeren begrifflichen Beziehung in seinem Denken.

KANTs Auffassung am nächsten kommt SIGWART. Er präzisiert seinen Standpunkt in dieser Frage folgendermaßen: "Die Möglichkeit, zur Frage nach der Existenz eines Dings zu kommen, ist wohl dann gegeben, wenn die gegenwärtige Anschauung fehlt, und nur ein inneres Erinnerungsbild, eine bloße Vorstellung vorhanden ist" (vgl. Impersonalien, Seite 51). "Die Existentialurteile kehren den Prozeß der Benennungsurteile um. Bei diesen ist der anschauliche einzelne Gegenstand gegeben, der als solcher ohne weiteres als existierend gedacht wird; die früher gewonnene und bekannte Vorstellung tritt hinzu und wird als übereinstimmend mit jener erkannt. Beim Existentialurteil ist die innere Vorstellung das erste; es fragt sich, ob ihr ein einzelnes wahrnehmbares Ding entspricht; bietet sich dieses der Anschauung dar, so sage ich: ein  A  ist vorhanden, findet sich, existiert" (a. a. O. Seite 53; vgl. auch Logik I, Seite 93f). "Für den, der auf eigene Wahrnehmung hin den Satz ausspricht: "der Turm steht noch", "das Dokument ist noch vorhanden", ist das Urteil sogar in gewissem Sinne ein analytisches, denn so wie das Subjekt desselben für sein Bewußtsein vorhanden ist, bleibt mit der Vorstellung des Gegenstandes die Vorstellung seiner wahrnehmbaren Existenz verknüpft, und er wird eben als ein wirklich Gesehenes, in der bestimmten Relation zu meinem Bewußtsein vorgestellt, ich kann nicht fragen, ob er existiert oder nicht" (a. a. O. Seite 65). Diese Sätze, welche die Auffassung SIGWARTs von der Existenzfrage überhaupt enthalten, könnten zunächst zu der Ansicht verleiten, als ob SIGWART das erklärende Denken von allem, was mit Existenz zusammenhängt, ausgeschlossen wissen will, zumal er hierbei, wenn von Begriffen die Rede ist, dieselben immer nur in der psychologischen Bedeutung der Allgemeinvorstellungen faßt (vgl. a. a. O. Seite 61 und 66). Allein vergleicht man damit folgende Stelle: "Ich überzeuge mich etwa durch Schlüsse, daß meine Vorstellung vom Turm zu Babel in der wirklichen Welt ihr Korrelat hat, daß die Berichte darüber nicht auf Fiktion, sondern zuletzt auf Wahrnehmung beruhen" (a. a. O. Seite 66), so wird ersichtlich, daß SIGWART auch das erklärende Denken herangezogen wissen will und zwar zu dem Zweck, die nicht unmittelbar gegebene Wahrnehmbarkeit zu ermitteln. SIGWART ist der offenbar richtigen Ansicht, daß in jedem Existentialsatz, mag derselbe durch Wahrnehmung oder durch einen immanenten Prozeß des Bewußtseins zustande gekommen sein, immer irgendeine Beziehung auf die Wahrnehmung ausgesprochen ist. Diese Beziehung auf die anschauliche Wahrnehmung ist in der Tat - es beruth dies, wie sich gleich näher zeigen wird, auf der natürlichen Beschaffenheit unseres Bewußtseins - das allen Existentialsätzen gemeinsame. Doch ist dieselbe keineswegs eine einfache und unzweideutige; wir wollen sie daher im Folgenden einer näheren Betrachtung unterziehen und SIGWARTs Lehre nach dieser Richtung hin ergänzen. Die tatsächliche Wahrnehmung kann als erledigt gelten: es bleibt also noch die Frage, in welcher Beziehung zur Wahrnehmung auch diejenigen Existentialsätze stehen, welche nicht auf unmittelbarer Wahrnemung beruhen.

Wir nennen zunächst einige Beispiele. Der Astronom schließt aus Störungen im Lauf der Gestirne auf das Vorhandensein eines Planeten und weiß dessen Standpunkt genau vorauszuberechnen. - Die Geschichtsforschung folgert aus dem Umstand, daß in glaubwürdigen Geschichtsquellen der zu Beginn des 14. Jahrhunderts gegründeten schweizerischen Eidgenossenschaft die Namen TELLs, STAUFFACHERs und anderer Helden der Sage nicht vorkommen, und ganz besonders und vor allem aus dem Widerstreit dieser Erzählungen mit beglaubigten Ereignissen mit Recht, daß die  Tellsage  jedes tatsächlichen Kerns entbehrt. - Wenn ein Fieberkranker behauptet, Schreckgestalten an der Wand zu sehen, so glauben wir ihm nicht, nicht nur weil wir dieselben nicht sehen, sondern vor allem, weil ihre Annahme mit den Gesetzen des natürlichen Geschehens im Widerspruch stehen würde. - "Sagt mir ein glaubwürdiger Zeuge", heißt es bei SIGWART in den  Impersonalien,  "daß er den geheimen Vertrag gesehen hat, so urteile ich jetzt, daß die Vorstellung, die ich gewonnen hatte, mit einem greifbaren Dokument übereinstimmt." Allein es ist hinzuzufügen, auch wenn der Vertrag verloren gegangen oder vernichtet, die Wahrnehmbarkeit also aufgehoben ist, werde ich doch nicht, vorausgesetzt, daß nicht eine rechtliche Nichtigkeitserklärung erfolgt, an der empirischen Realität desselben zweifeln. - Ebensowenig wird der Gläubiger das Vernichten der Schuldurkunde zugleich für die Vernichtung der empirischen Existenz der Schuld halten wollen. -

Wo liegt nun in diesen Beispielen die Beziehung auf die Wahrnehmung? Für die ersten zwei Beispiele liegt dieselbe offenbar nicht in der Wahrnehmung des Gegenstandes, sondern in derjenigen von den Wirkungen, welche er auf andere Gegenstände ausübt, bwz. ausüben müßte, im Beispiel vom Fieberkranken im gesetzmäßigen Weltzusammenhang überhaupt, in dem Fall mit dem geheimen Vertrag in einem völkerrechtlich geordneten Verkehr der Kontrahenten und schließlich im letzten Exempel einzig und allein - im Anspruch des denkenden Bewußtseins. Allerdings wird der Gläubiger zunächst den Rechtsweg betreten und die privatrechtlichen Bestimmungen als die empirische Welt betrachten, innerhalb deren sich auch die Schuldurkunde realisiert findet. Allein wenn er keine Zeugen vorzuweisen hat, der Schuldner leugnet und sich nicht bei unüberlegten entgegenstehenden Handlungen ertappen läßt, wird er den Beweis der außerphysischen Realität der Schuldurkunde nicht zu erbringen vermögen.

Diese Erörterung hat gezeigt, wie die Beziehung zur Wahrnehmung allmählich zusammenschmilzt, von der Gegenständlichkeit zu ihrer Wirkung, von dieser zum bloßen Rechtsanspruch, und sie illustriert von neuem - um mit SALOMON MAIMON zu sprechen - den Primat des vollkommenen Bewußtseins über das unvollkommene.

Allein die Sache geht noch weiter. Im letzten Beispiel ist wenigstens noch die subjektive Überzeugung einer Beziehung auf die unmittelbare Wahrnehmung vorhanden. Auch dieser letzte Rest ist geschwunden in folgenden Fällen. Sage ich "es gibt Freiheit, Tugend" und dgl., so bezeichnen die Sätze nicht etwa die Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] einer sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaft, vielmehr eines sittlichen Beurteilungsprädikats, also eines Normbegriffs, und die Beziehung zur Wahrnehmung besteht nur in der Fiktion, diese Begriffe seien ebenso wirklich wie die Menschen, welche ihre Bildung veranlaßt haben. Stoßen wir in der Geschichte der philosophischen Theorien auf Namen wie platonische Idee, Atome, Monaden, Realen usw., so sind dies lauter Abstraktionen, die als oberste Erklärungsprinzipien der Wirklichkeit gelten sollen. Weil aber das menschliche Bewußtsein die abstraktesten Begriffe, um sie überhaupt denken zu können, notgedrungen mit einem anschaulichen Inhalt füllt, sie nach der Kategorie der Substantialität denken muß, werden die Gedankendinge zu wirklichen Dingen, und man spricht nach Analogie der Sinnenwelt von einem "Teilhaben" der Ideen, von einem Zugrundeliegen der Atome und dgl. Ein Charakteristikum unseres Denkens also, welches uns als Sinnenwesen anhaftet, veranlaßt uns zu der Täuschung, Produkte des Denkens für Wesenheiten der Dinge zu halten, in denselben eine direkte Beziehung zur Wahrnehmung zu sehen.

Die Stufenreihe, in welcher sich bis jetzt das Verhältnis zur Wahrnehmung darstellte, war demnach eine vierfache: das der unmittelbaren Wahrnehmung des Gegenstandes, das seiner Wirkungen, das der bloß subjektiven Überzeugung und das der Täuschung. Allen diesen Arten gemeinsam ist der Anspruch irgendeiner Geltung in der Wahrnehmungswelt.


c) Das Sein als Beziehung zur
psychischen Realität

Jeder Existentialsatz enthält, weil er irgendein Objektives, vom Subjekt Verschiedenes zum Inhalt hat, irgendeine Beziehung zur Welt der Objekte, und zwar war diese in den im vorhergehenden Abschnitt behandelten Fällen eine direkte auf bestimmte Dinge.

Keine direkte Beziehung auf Gegenstände der Außenwelt beanspruchen die Phantasievorstellungen. Doch sind auch sie nicht rein immanente Gebilde ohne jede Verwandtschaft mit der Welt der Anschauung. Dies beweist schin ihre psychologische Genesis. Soweit sie sich nämlich auch von der realen Basis entfernen mögen, ihre Ausgangspunkte haben sie immer der umgebenden Welt zu verdanken. Alle haben eine "notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein." (Kant, Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 128, Anm.) Wie die phantastischen Figuren, mit welchen die antike Weltauffassung den Wald, die Wogen der blauen See, das Gestein des schaumbespritzten Gestades, die Welt des Gebirges bevölkerte, in ihrer Erscheinung dem ELement homogen waren, indem sie ihren Aufenthalt haben, so lieferte andererseits die Menschen- und Tierwelt die einfachen Ingredenzien, aus denen der Hexenkessel der Phantasie jene seine grotesken Bildungen schuf. Schon KANT macht darauf aufmerksam, daß die "Elemente" selbst von willkürlichen und ungereimten Erdichtungen zwar nicht von der Erfahrung entlehnt seien, jederzeit aber die reinen Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung und eines Gegenstandes derselben enthalten; "denn sonst würde nicht allein durch sie gar nichts gedacht werden, sondern sie selber würden ohne Data auch nicht einmal im Denken entstehen können" (Kr. d. r. V., KEHRBACH, Seite 113).

Betrachten wir dann die Phantasievorstellung, wie sie sich im normalen Bewußtsein fertig vorfindet, so wird es allerdings noch seine guten Wege haben, bis das auf positivistischen Antrieben fußende Losungswort des modernen französischen Naturalismus allgemeine Geltung erlangt:  Voila ce qui existe, tachez de vous arranger!  [Sich das, was existiert, zurechtbiegen! - wp] Auf der anderen Seite aber ist es eine Tatsache, daß ein überraschender Sturz der Phantasie in einem prächtig leuchtenden Bild, ein kühner Sprung in die verborgenen Gründe der Dinge, dem der künstlerisch Genießende mit staunender Beistimmung folgt, oft mehr erklärt als spaltenlange Räsonnements. Gibt es eine erschöpfendere und wahrheitsgetreuere Schilderung der treibenden Mächte im Menschenleben, als sie GOETHEs Menschheitsträgödie FAUST bietet, oder etwa der kindlichen Unschuld, wie sie der geniale Maler mit einfachen Mitteln in ein Kindesauge zu bannen weiß! Und doch gilt das Wort SCHILLERs:
    Der Schein darf nie die Wirklichkeit erreichen,
    Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen.
Das Wechselspiel zwischen Sein und Bedeuten, welches für die Kunst so charakteristisch ist, zeigt sich besonders in der Tatsache des Symbols. Dies entspringt dem Hang des Menschen, Unsinnliches zu versinnlichen, um dann in einer weiteren Entwicklung das versinnlichende Bild als etwas selbständig Seiendes rückwärts auf sich wirken zu lassen. Was man dramatische Jllusion nennt, besteht ja in letzter Instanz darin, daß der Dramatiker die Charaktere und Handlungen so lebenswahr zu einem harmonischen ganzen zu gestalten weiß, daß der Leser oder Zuschauer sich in die Welt der Wirklichkeit versetzt glaubt. Aufgabe der mimischen Kunst des Schauspielers ist es, insbesondere durch eine Verlebendigung der Intentionen des Dichters dem genießenden Bewußtsein die Täuschung zu erleichtern. (25)

Betrachtet man im Gegensatz zur erhebenden Bedeutung des Seinsgehalts der Schöpfungen des künstlerischen Genius die theoretischen Wahngebilde, welche die Hexenprozesse zeitigten, die blutigen Ausgeburten des religiösen Fanatismus und dgl., so bilden auch diese Beispiele für den Doppelsinn der Seinsart der Phantasievorstellungen.

Die Existentialsätze der psychischen Realität haben sonach, dem Charakter ihrer Subjekte entsprechend, eine doppelte Beziehung. Einmal und hauptsächlich die immanente Beziehung des Bewußtseins, welche nicht von außen wahrnehmbar, sondern nur innerlich erlebbar ist und nur psychologisch beurteilt werden darf; daneben noch eine Beziehung zur Anschauung überhaupt, zur Anschauung als Typus, als Musterbild für eine unbestimmte Zahl Einzelanschauungen. Nur unter dem letzteren einschränkenden Gesichtspunkt darf man Urteile der dichterischen Phantasie wie "es war einmal ein König", "es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr" mit SIGWART zu den Existentialsätzen der Wahrnehmung rechnen; nur frägt man dabei vergebens nach dem "wirklich existierenden Objekt", auf welches nach SIGWART das logische Subjekt "es" hinweist, und welches durch die Benennung bezeichnet wird (Vgl. Impersonalien, Seite 66); man müßte denn das "wirklich existierende Objekt" ebenfalls typisch fassen. Bedingung ist nur, daß die Vorstellung von den in der Wirklichkeit existierenden Dingen nicht so sehr abweicht, daß sie nicht in jenen ihr Korrelat haben könnte. Gerade der Märchenanfang "es war einmal ..." zeigt so recht das Bestreben des Märchenerzählers, ohne Rücksicht auf bestimmte empirische Einzelgestalten als solche, der kindlichen Fassungskraft entsprechend, in behaglicher Breite ein Bild an das andere zu reihen (26).

An einem sehr schwachen Faden hängt diese Beziehung zur Anschauung in Vorstellungen, wie  Satyr, Pegasus  und dgl. Freilich eine Beziehung zu den "Elementen" und einer (allerdings geistigen) Tätigkeit ist auch hier vorhanden. Aber das fertige Bild dieser Phantasieschöpfung fehlt der Anschauungswelt. Daher das Urteil "der Pegasus existiert nur in der Vorstellung" = der Pegasus hat nur psychische Realität. Das beschränkende "Nur" zeigt, wie geläufig dem Bewußtsein in seinem Urteilen die Beziehung auf die Anschauungswelt ist; sie ist es in dem Grad, daß es das Fehlen derselben als einen Mangel empfindet. Wie lose jedoch diese Beziehung zur Wahrnehmung zum Teil auch sein mag, die Tatsache bleibt unausgefochten, daß in allen Existentialsätzen, deren Vorstellungen etwas Außerpsychisches zum Inhalt haben,  irgendeine  Beziehung zur Wahrnehmung vorhanden ist. Auf der anderen Seite ist ebenso sicher, daß wir, wie schon PLATON gesehen hat, nur dann von etwas reden können, wenn es Bewußtseinsinhalt geworden ist. In den Phantasievorstellungen verflüchtigt sich die Beziehung zur Welt der Dinge mehr und mehr zugunsten der letzteren Tatsache, und so bilden dieselben einen interessanten Übergang von den Existentialsätzen der äußeren Wahrnehmung zu denen der inneren, bei denen bloß psychische Realität in Betracht kommt, wie in dem Satz: mein Gefühl ist. Ein Ausfluß der inneren Wahrnehmung ist der umfassendere Existentialsatz "ich bin". Denn definieren wir versuchsweise das Ich in einer substantiellen Formung etwa als den einheitlichen Träger der Bewußtseinsfunktionen, so zerfließt bei näherer Betrachtung dieser Träger ebenfalls in Bewußtseinsfunktionen. Man wird somit genötigt, das Ich den einheitlichen Beziehungen des Bewußtseins selbst gleichzusetzen und diese sind sicher nur im Bewußtsein. Es ist übrigens zu bemerken, daß die Existenzaussage über das Ich außer in der Philosophie, wo ihr aber auch mehr der Charakter eines Problems als der eines Existentialurteils zukommt, oder etwa im Paradigma der Grammatik, wo die Anführung anderen Zwecken dient, in dieser einfachen Form im Leben kaum vorkommt. Das Ich bildet eben  so  sehr den  wesenthaften  Hintergrund und die oberste Voraussetzung aller menschlichen Tätigkeiten, daß sie nie zur Leugnung eine Veranlassung bietet. Daher die Beteuerungsformel "so wahr ich bin". Die Unumstößlichkeit der Existenz des Ich bildet für das Bewußtsein die letzte Instanz der Bürgschaft, welche ihm zur Versicherung irgendeiner Tätigkeit zu Gebote steht. Das Ich ist jedoch in dieser Formel nicht als theoretische Abstrakion, sondern in seinem empirischen Bestand zu fassen, und was LOTZE im Mikrokosmus gelegentlich von der menschlichen Persönlichkeit bemerkt, daß nämlich der empirische Inhalt derselben von unserer Erkenntnis nicht erschöpft werden kann, gilt auch vom Ich. Macht es die Mannigfaltigkeit der zusammenhängenden Beziehungen des Ichinhalts selbst einer wissenschaftlichen Analyse unmöglich, zu einem Ende zu gelangen, umso weniger kann es einem Produkt des Augenblicks, welches doch der Existentialsatz in obiger Formel darstellt, darauf ankommen, diesen Wert zu beanspruchen. Der Inhalt des Ich als eines unlösbaren Problems kümmert das Bewußtsein, welches jenen Satz ausspricht, gar nicht. Es begnügt sich damit, eine Seite des vielverzweigten Beziehungskomplexes zu betonen, welche gerade im vorliegenden Fall in der Geltung ihres Wertes bedroht erscheint, und ist geneigt, mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit hierfür einzutreten. "So wahr ich bin" ist dann je nach den Umständen soviel wie "so wahr ich ein wahrhaftiger Mensch bin", "so wahr ich ein sittlicher Mensch bin" usw. Der Existentialsatz "ich bin" ist der Resonanzboden, auf dem alle in den betrachteten Existentialsätzen angeschlagenen Töne widerklingen.


d) Das Sein als Beziehung
zum "Bewußtsein überhaupt"

Der Begriff des Seins legte sich nach dem Bisherigen auseinander in die Konstatierung eines notwendigen Beziehungsverhältnisses zur wahrnehmung und zur psychischen Realität. Die Beziehung zur Wahrnehmung war einerseits eine einfache und unmittelbare, andererseits gedanklich fundiert, bzw. geradezu ersetzt durch die Beziehung zum erklärenden Denken. Bezüglich der psychischen Realität war das Verhältnis zunächst geteilt zwischen der äußeren und inneren Wahrnehmung. Die Phantasievorstellungen, wenn auch, psychologisch betrachtet, ein Produkt einer frei schaffenden Individualität und wesentlich anderen als erkenntnistheoretischen Motiven entsprungen, erscheinen nicht bloß in Anbetracht der sie zusammensetzenden Elemente, sondern in der Regel auch in ihrer fertigen Gestalt in einer losen Beziehung zur außerpsychischen Wirklichkeit und verbreiten über manche für das theoretische Verständnis dunkle Seite der letzteren ein unerwartetes Licht. Nur bei den Tatsachen der inneren Wahrnehmung war eine Beziehung auf etwas Außerpsychisches ausgeschlossen, nur hier konnten wir uns damit begnügen, den Existenzbegriff in der Konstatierung einer sich uns aufdrängenden psychischen Tatsache aufgehen zu lassen. Die weitere Untersuchung wird lehren, daß hiermit die Reihe der Existentialsätze noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr im Anschluß an die schlechthinnige psychische Realität noch einer Ergänzug bedürftig ist. Vorerst wollen wir jedoch die sich selbst anschauende Tätigkeit des Bewußtseins an den bisherigen Resultaten noch einen Augenblick fortsetzen und fragen, welches ist in den abgehandelten, inhaltlich verschiedenen Existentialsätzen das Gemeinsame? Und dieses Gemeinsame wird dann einen letzten und entscheidenden Prüfstein abgeben für die unterscheidende Beurteilung von Existential- und Attributivurteil.

Die Frage zu beantworten ist nicht schwer. Es handelt sich beim wahrnehmenden, erklärenden und vorstellenden Bewußtsein darum, die Konstatierung einer psychologisch notwendigen Tatsache für die Erkenntnis fruchtbar zu machen, ihren Wahrheitswert festzustellen, d. h. sie als seiende zu bezeichnen. Jene innere Nötigung ihrerseits ist aber ein Ergebnis des Besinnens des erkennenden Bewußtseins auf seinen Inhalt. Daraus ergibt sich zunächst die uns schon bekannte Tatsache, daß auch die Funktion des Existentialsatzes einen spontanen Charakter trägt, also eine Urteilsfunktion ist zwar die eines Reflexionsprädikats. Auf der anderen Seite setzt der Existentialsatz, als erkenntnistheoretische Wertung einer psychischen Tatsache, immer voraus, daß die Tatsache im  fait accompli  [vollendete Tatsache - wp], d. h. daß die Subjektsvorstellung unter den gegebenen psychologischen Voraussetzungen richtig gebildet ist. Der Sprechende stellt sich einen Bewußtseinsausschnitt, der für sich ein unbestrittenes und selbständiges Ganzes bildet, gegenständlich gegenüber, prüft den Wert desselben durch Besinnen auf seine psychologische Eigenart und drückt das Ergebnis der Prüfung ohne weiteres in einem Satz, dem Existentialsatz, aus. Die Behauptung einer notwendigen psychologischen Tatsache aber ist es, wofür im Existentialurteil eine logische Geltung verlangt wird, ohne daß der Urteilende auch nachträglich, um Gründe befragt, andere als rein psychologische (wie die Wahrnehmung usw.) anzuführen wüßte. Das Sein entspricht somit dem Begriff des "Setzens", und zwar in dem Sinne, in welchem derselbe von KANT und besonders von FICHTE in die Philosophie eingeführt worden ist. Der Begriff des Setzens fordert allgemein eine bindende Anerkennung einer psychologischen Tatsache. Wahrnehmenmüssen, Erklärenmüssen, Vorstellenmüssen und - wie sich zeigen wird - Denkenmüssen wird in den Existentialsätzen beansprucht; nur in diesen Prädikaten bewegt sich der eigentliche Existentialsatz; eine Verneinung der beanspruchten Geltung involviert somit immer die positive Geltung eines der übrigen Prädikate.

Als Produkt eines Besinnens auf Bewußtseinstatsachen schließt somit der Existentialsatz zwei Momente in sich, ein passives und ein aktives. Seine Grundlage bildet die schlechthin gegebene Vorstellung, welcher KANT in seinem "Existit" und in seiner Allgemeinbezeichnung "Gegenstand" etwas mehr zu sehr Rechnung trägt. Das ungleich wichtigere aktive Moment liegt in der existentialen Funktion, welche den psychologischen Bestand der Vorstellung brauchbar macht für den logischen Organismus des Denkens.

Das passive Moment, die Vorstellung, wurde eben als ein unbestrittenes und selbständiges Ganzes bezeichnet, und das ist der Punkt, auf welchen wir als auf ein zweites Charakteristikum der Existentialsätze die Aufmerksamkeit lenken möchten. In jedem Existentialsatz ist nämlich unverkennbar die Beziehung zum Substanzbegriff. Die Subjektsvorstellung muß mit allen und nicht bloß mit einigen Bestandteilen ihres Komplexes von Eigenschaften oder Merkmalen mit der Welt der Anschauung bzw. des Geistes in einem widerspruchslosen Zusammenhang stehen, sie muß sich als richtig geschautes Ding oder als richtig gedachter Begriff, also als selbständiges Einzelwesen vom Untergrund des Gesamtbewußtseins abheben. Weil bei den Orts- und Zeiturteilen der Substanzbegriff gewahrt erscheint, haben wir sie oben, wenn dabei auch ein Setzen nicht Frage kommen kann, doch aus der Reihe der Existentialsätze wenigstens nicht ausgeschlossen. Damit vergleiche man Folgendes: Man setze den Fall, ein Knabe werfe einem andern einen Stein an den Kopf, und die Folge ist eine klaffende Wunde; bei dem sich entspinnenden Rechtsstreit verlegt sich der böswillige Attentäter, da er den Wurf nicht in Abrede stellen kann, auf ein sophistisches Abschwächen seiner Angriffswaffe und will den Getroffenen mit einem Splitter morschen Holzes, das am Boden gelegen ist, geworfen haben. "Nur ein Stück  Holz  war da," ruft er aus. Trotz der existentialen Form ist diese Satz kein Existentialsatz. Denn davon sind beide Teile überzeugt, daß ein wahrnehmbarer harter Gegenstand, der die Wunde verursacht hat, vorhanden war und zwar an diesem Ort vorhanden war; es fehlt also diesem Satz sowohl der Charakter des Setzens als der einer örtlichen Determination. Ferner ist die Vorstellung  Holz  eine bestrittene; Holz und Stein, ein Gegenstand von geringerem Härtegrad und ein Gegenstand von größerem Härtegrad stehen einander gegenüber. Um das wichtige konstituierende Merkmal der Substanzen dreht sich der Streit. "Ein Stück Holz war da" ist also gleich dem Attributivurteil: der Gegenstand war nicht sehr hart; ihm entsprechend lautet das gegnerische Urteil: der Gegenstand war sehr hart. - Wenn es sich in einem Kriminalfall darum handelt, nachzuweisen, daß z. B. ein formloser Goldklumpen vorher eine Brosche war, so ist auch hier nicht von Existenz die Rede, sondern zwei Dinge streiten um die Ursprünglichkeit ihrer substantiellen Formung. Zwei zeitliche Attributivurteile stehen einander gegenüber. Nicht Sein in dieser Zeit und Sein in jener Zeit, wie beim existentialen Zeiturteil, lautet die Alternative, sondern früher Sosein und früher Anderssein, oder: identisch mit einem früheren Gegenstand und nicht identisch mit demselben.

Setzen einer unbestrittenen, psychologischen Tatsache also, mag diese Tatsache aus einer einzigen Empfindung, Eigenschaft oder Merkmal oder aus einer Mehrheit dieser Elemente bestehen, kurz Setzen einer Substanz war das gemeinsame Erkennungs- und Unterscheidungszeichen der Gesamtheit der behandelten Existentialsätze von der Gruppe der Attributivurteile. Allein mit dem Setzen der Tatsachen der Wahrnehmung, des erklärenden Denkens und der psychischen Realität ist der Umfang ihrer Funktion noch nicht erschöpft, weil der Inhalt des theoretischen Bewußtseins auf die angegebenen drei Stufen nicht beschränkt bleibt. Wie in Bezug auf die äußere Wahrnehmung im erklärenden Denken, so gibt sich der Mensch bezüglich der inneren Wahrnehmung Rechenschaft im reinen Denken. Es muß also als viertes psychologisches Spezialgebiet zu den vorigen das des "Bewußtseins überhaupt" hinzutreten.

Wenn FICHTE den Existentialsatz "ich bin" für den "Ausdruck einer Tathandlung, aber auch der einzig möglichen" (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Werke I, Seite 96) erklärt, so stimmen wir ihm insoweit bei, als dieser Existentialsatz ein Setzen des "reinen Ich" oder des "Bewußtseins überhaupt" behauptet; denn in diesem Fall ist tatsächlich das Ich "zugleich das Handelnde und das Produkt der Handlung, das Tätige und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird". Diese Identität von "Bewußtsein überhaupt" und "reines Ich" lehrt zweierlei. Einmal, daß die Existentialsätze des "Bewußtseins überhaupt" keinerlei Beziehung auf eine außerpsychische Realität haben oder beanspruchen (vgl. auch RICKERT, a. a. O., Seite 39). Ferner lehrt die Bezeichnung "reines Ich", daß bei dieser Existenzart das urteilende Subjekt nicht in seiner Eigenschaft als empirisches Ich, sondern als Repräsentant der denkenden Gattung Menschheit zu fassen ist. Mit der Abstreifung von allem Empirischen und Individuellen ist das "Bewußtsein überhaupt" dasjenige, "was von keinem Standpunkt aus Objekt werden kann" (RICKERT, a. a. O., Seite 80) Es ist also eine bloße Funktionsweise, welche erkenntnistheoretisch von allem Empirischen und Individuellen unabhängig ist, psychologisch jedoch einen gewissen Höhepunkt der Entwicklung des empirischen Individuums zur Voraussetzung hat. Der einzelne Mensch muß einen gewissen Grad geistiger Reife und geeigneter Schulung erreicht haben, um jene Denkweise des Normalmenschen sein eigen nennen zu können. Hat er die nötige Reife erlangt, dann funktioniert auch der Apparat des Denkenmüssens. Daraus folgt, daß die Tatsache, daß viele Menschen von manchen Existentialsätzen des "Bewußtseins überhaupt" keine Ahnung haben oder dieselben bestreiten, keine negative Instanz gegen deren Richtigkeit bildet (27).

Letzteres gilt besonders vom Existentialsatz: es gibt einen Gott. Denn da sich dabei örtliche Bestimmungen wie "im Himmel" oder "überall" erkenntnistheoretisch nicht rechtfertigen lassen, ist derselbe nur unter dieser Rubrik, welche jede Beziehung auf die Wahrnehmung ausschließt, zu behandeln. Und wenn SIGWART, von seinem Standpunkt aus gewiß mit Recht, jenen Satz als das denkbar ungeignetste Beispiel eines Existentialsatzes (Impersonalien, Seite 50) bezeichnet, so trifft dies für uns nicht mehr zu. Der einzelne Mensch ist zwar selten in der Lage, dem höchsten Wesen das Prädikat existierend ausdrücklich zuzuschreiben, weil dasselbe eben im Gesamtbewußtsein der Menschheit lebt. Und doch sind die psychologischen Vorbedingungen für die Erkenntnis der Existenz Gottes von der mannigfaltigsten Art, von den Bedürfnissen höchster philosophischer Spekulation absteigend zu denen der individuellsten Herzenssache. Während der aristotelische Gottesbegriff der  noesis noeseos  [Denken des Denkens - wp] nur zu verstehen ist als theoretische Konsequenz eines ganzen metaphysischen Systems, sind bei der Auffindung des Begriffs des Absoluten mancher anderen philosophischen Lehrgebäude religiöse Motive mitbestimmend gewesen, wobei letzteren bei den meisten Menschen die einzigen sind. Allein zu welchen verschiedenartigen Erwägungen der psychologische Tatbestand auch eine Veranlassung geben mag, das Entscheidende ist nur dies: Derjenige, der den Existentialsatz "es gibt einen Gott" ausspricht, will sagen: "Wenn ich das göttliche Wesen denke, muß ich dasselbe als notwendig existierend denken;" dasselbe ist, wenn nicht etwas objektiv Erkennbares, so doch subjektiv Denknotwendiges, mit anderen Worten: ein Postulat des Denkens. Wer das Dasein Gottes leugnet, gibt sich entweder, und zwar dann, wenn er sich auf wissenschaftliche Gründe beruft, einer Selbsttäuschung hin; denn auch der Atombegriff des Materialismus zeigt ja gerade die Richtigkeit dessen, was diese Theorie bestreitet: die Notwendigkeit der Annahme reiner Gedankendinge; oder aber dem Leugner war durch eine mangelhafte und verkehrte Herzensbildung die Möglichkeit genommen, den Glauben an die Existenz Gottes, wie ihn die Schule beigebracht hat, zur Überzeugung zu verfestigen; und der verfehlten Entwicklung vermochte der bloße Glaube daran nicht standzuhalten. Er würde die Nötigung zur Annahme des Daseins Gottes empfinden, wenn er ein anderer Mensch wäre.

Rein theoretischer Natur sowohl bezüglich der psychologischen Erklärungsweise (28) ihres Daseins als auch des Endzwecks, dem sie dienen, sind die übrigen Existentialsätze des "Bewußtseins überhaupt", zunächst also die der reinen Mathematik. Allerdings ist man sich des rein formalen Charakters der mathematischen Wahrheit in der Geschichte der Philosophie nicht immer bewußt gewesen. Wie das naive Bewußtsein häufig das Ergebnis der auf dem Gesetz der großen Zahl beruhenden Wahrscheinlichkeitsrechnung anwendet auf ein bestimmtes empirisches Faktum (z. B. beim Würfelspiel) und so das formale mit dem erklärenden Denken verwechselt, so hat auch in der Philosophie die anschauliche Form der mathematischen Gebilde dazu verleitet, denselben eine gewisse selbstverständliche Beziehung auf die Welt der Anschauung zuzuschreiben, dieselbe auf  alle  Beziehungen des reinen Denkens auszudehnen, ja sogar, wie es bei SPINOZA geschah, die Welt der Anschauung aus den letzteren abzuleiten. Wirft diese Gepflogenheit des Denkens ein interessantes Licht auf Gedankenreihen, wie sie im ontologischen Gottesbeweis ANSELMs gipfeln (vgl. SCHOPENHAUER, Über die 4-fache Wurzel des Satzes vom Grunde, § 7 und § 39), so war es auf der anderen Seite KANT, welcher an demselben Beweis den Irrtum aufdeckte, in dem das Denken seiner philosophischen Vorgänger befangen war.

Die Wahrheiten der Mathematik sind, eben weil sie sich bis auf den letzten Rest in rationale Beziehungen auflösen lassen, von keinem vernünftigen Menschen bestritten. Daher sind mathematische Existentialsätze außer Laien oder Lernenden gegenüber bei Mathematikern selbst wenig im Gebrauch. Nicht ein Bestreiten, sondern ein Nichtanwendenkönnen der mathematischen Sätze ist dasjenige, was den Fortschritt des mathematischen Denkens hemmt; daher sind Sätze wie "denk an den binomischen Lehrsatz" in dieser Wissenschaft viel häufiger als Existentialsätze wie "es gibt einen binomischen Lehrsatz".

Das Gleiche trifft zu bei den Gesetzen der formalen Logik und den obersten Kategorien des erklärenden oder im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Denkens. Letztere kommen zwar dadurch zu Bewußtsein, daß wir die Dinge der Erfahrung denken, das Kriterium ihrer Wahrheit liegt aber wie bei den ersteren jenseits der Erfahrung, im denkenden Bewußtsein. Auch von ihnen gilt, wie von allen Existentialsätzen, die wir bis jetzt in diesem Abschnitt behandelt haben, das Wort GOETHEs: sie gelten ewig, denn sie sind. Bezüglich des Inhalts der Subjektsvorstellungen stimmen die Existentialsätze über die höchsten Prinzipien der formalen und erkenntnistheoretischen Logik darin überein, daß denselben nicht wie bei denen der mathematischen Wahrheit  Quanta sondern  Qualia  bilden.

Zwischen diesen höchsten Beziehungen des Denkens und der Beziehung auf die Wahrnehmung gibt es noch Zwischenstufen: die Ergebnisse der Anwendung jener auf diese. Es sind dies die Art- und Gattungsbegriffe der erfahrbaren Dinge (wir fassen dabei unter der Bezeichnung  Gattungsbegriff  sowohl die Gattungsbegriffe von Dingen als auch die von Veränderungen (die Naturgesetze) zusammen). Ihr Verhältnis zur Wahrnehmung wurden oben bereits besprochen; es bleibt nocht, einen prüfenden Blick auf ihren Wahrheitswert insofern zu werfen, als das Band, welches ihre Elemente umschlingt, ein logisches ist. Welches ist das Wertverhältnis - so stellt sich die Frage - der immanenten Beziehungen der empirischen Begriffe, verglichen mit den Anforderungen des "Bewußtseins überhaupt"? Ist ihr Sein auch ein unumschränktes, lassen sich auf dieselben auch die in unserem Sinne gedeuteten Wort SPINOZAs anwenden, daß jeder "aeternam et infinitam essentiam exprimit" [ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt - wp]?

Den Ausgangspunkt unserer Betrachtung bildet eine Stelle KANTs in seiner "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe": "Auf mehrere Gesetze als die auf denen die  Natur überhaupt,  als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruth, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht aus, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon  nicht vollständig abgeleitet  werden, obgleich sie alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere  überhaupt  kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung" (Kr. d. r. V., 2. Auflage, a. a. O., Seite 681). KANT unterscheidet also auch zwischen allgemeinen Gesetzen einer Natur überhaupt, den Kategorien, und besonderen Gesetzen der empirischen Erscheinungen, den abgeleiteten Begriffen. Diese letzteren können aber von ersteren "nicht vollständig abgeleitet werden", wenngleich sie Arten jener Gattungen sind. Welcher Art ist nun, näher betrachtet, jenes Moment, welches die vollständige Ableitung der Artbegriffe von jenen obersten Gattungsbegriffen, mit anderen Worten: der Begriffe des erklärenden Denkens von denen des "Bewußtseins überhaupt" verhindert? Wir wählen ein Beispiel. Ich sehe das Wasser in einem Glas, das vorher flüssig war, nach einiger Zeit zu einem festen Klumpen zusammengefroren; ich denke, diese Veränderung muß ihre Ursache haben und finde als solche eine Wärmeabnahme auf O°. Das Erkalten des Wassers bis zum Nullpunkt bildet die Ursache des Gefrierens. Die Kategorie der Ursächlichkeit gilt aber hier nicht absolut, sie ist vielmehr in ihrer Wirksamkeit gebunden an bestimmte empirische Bedingungen. Die letzteren bilden die Schranke, welche das notwendige Denken des "Bewußtseins überhaupt" als - man denke an die  vérités de fait  [Glaubenswahrheiten - wp] im Gegensatz zu den  vérités des raison  [Vernunftwahrheiten - wp] bei LEIBNIZ - zufällig gegeben hinzunehmen hat. Die Gesetze der "Natur überhaupt" würden in einem beschränkten Maße auch dann gelten, wenn die Träger ihrer Funktion auf einen anderen Planeten versetzt würden. Die speziellen Naturgesetze aber, wie ein solches der Begriff  Eis  darstellt, gelten nur für den Fall, daß das urteilende Individuum seinen Standpunkt in der ihm zugänglichen Welt der Erfahrung eingenommen hat.

Ungleich verwickelter, weil durchsetzt von wesentlich andersartigen Faktoren, zeigt sich jenes irrationale Moment bei den Begriffen eines Geschehens, welches nicht wie das Naturgeschehen, bloß mechanischen, unzweideutig vor Augen liegenden Gesetzen folgt, nämlich bei denjenigen des historischen Geschehens. Die historische Entwicklung stellt sich nicht dar als ein steter Gleichtakt im Eintreten toter Tatsachen, vielmehr ist ihr Träger die zweckbestimmte menschliche Persönlichkeit und daher die Entwicklung ebenso faltenreich wie der Begriff der Persönlichkeit selbst. Man vergleiche die antiken Theorien vom Staat mit denen von heute, und innerhalb der heutigen Zeit diejenigen von Juristen mit denen von Sozialpolitikern oder Kulturhistorikern. Die Vielgestaltigkeit der Aufgaben des Staates, als eines aus zwecktätigen Individuen bestehenden Ganzen, hat es bis jetzt zu einer allgemein anerkannten Begriffsbestimmung nicht kommen lassen. Ein abschließender, allen Zufälligkeiten historischen Gegebenseins enthobener Begriff wäre erst dann möglich, wenn uns nicht bloß der Sinn einzelner Perioden, sondern der Geschichte überhaupt bekannt wäre.

Fassen wir unser Urteil über die empirischen Begriffe im Vergleich zu denen des Bewußtseins überhaupt zusammen, so stimmen wir zunächst für beide Begriffsarten den Worten LOTZEs zu: "Wirklichkeit des Seins genießen sie (d. h. die Ideen oder Begriffe) freilich nur in dem Augenblick, in welchem sie als Gegenstände oder Erzeugnisse eines eben geschehenden Vorstellens Bestandteile dieser veränderlichen Welt des Seins und Geschehens werden; aber wir sind überzeugt, in diesem Augenblick, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt zu haben; auch als wir ihn nicht dachten, galt er und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl als auch von uns und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegenstand neuer Erkenntnis wird" (Logik, 2. Auflage, Seite 515; vgl. auch Seite 564f). Forscht man näher nach dem Sinn dieses "Geltens", frägt man: wo sind die gedachten Beziehungen der Begriffe dann, wenn sie nicht gedacht werden - denn mit der allgemeinen Antwort "im Bewußtsein" beruhigt man sich nicht - so sind wir, wenn wir nicht etwa die juristischen Begriffe, die Gesetze, dem Willen des Gesetzgebers oder des Staates inhärierend betrachten wollen, wodurch allerdings die Frage nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben würde, mit unserer Lokalisation bald am Ende. Sind sie etwa in wissenschaftlichen Werken niedergelegt? Mitnichten. Den die Buchstaben und Wörter eines Buches sind ja ein totes Gerippe, wenn sie nicht der lesende oder denkende Geist mit lebendigem Inhalt füllt. Es hat hier offenbar keinen Sinn, nach irgendeiner Existenzart außerhalb des Bewußtseins oder im Bewußtsein, sofern sie nicht gedacht sind, zu fragen. Die Begriffe sind lediglich Anforderungen an das Denken. Sie besagen, wenn du den und den Inhalt denken willst, mußt du ihn mit diesen Beziehungen denken; sie sind dem lebendigen Bewußtsein abgelauscht, dort nur ist ihr Sein zu suchen.

Also Denknotwendigkeit charakterisiert beide Begriffsarten, die Begriffe des erklärenden, wie die des reinen Denkens. Allein läßt die Denknotwendigkeit der letzteren sich rein auflösen in eine organische Summe immanenter Beziehungen, so ist dieselbe bei den ersteren unlösbar verknüpft mit der für den freien Flug des Denkens zufälligen Erfahrungstatsache. Gedacht mit den Beziehungen des "Bewußtseins überhaupt" ist doch der Inhalt der empirischen Begriffe nicht wie derjenige der Begrife des "Bewußtseins überhaupt" von jenen Beziehungen erzeugt, sondern als gegeben vorgefunden. Ich werde genötigt, eine bestimmte Tatsache oder einen bestimmten Vorgang auf bestimmte Weise zu denken; weshalb aber diese Tatsache oder dieser Vorgang gerade diesen Inhalt hat, ist unbegreiflich, denn es wäre auch denkbar, daß sie einen anderen Inhalt hätten. Diese Inkongruenz der empirischen Tatsachen mit den Anforderungen des reinen Denkens bildet für dieses den steten Impuls durch eine Erforschung der gesamten Erfahrungswelt alle Phasen der Denkmöglichkeit zu durchlaufen. Wäre dieses Endziel der Forschung erreicht, was freilich stets ein unerreichtes Ideal bleiben wird, dann wäre jener freie Flug des Denkens an seinem Ruhepunkt angelangt, das "Bewußtsein überhaupt" hätte sich selbst in der empirischen Welt vollauf wiedergefunden, die empirische Natur wäre zur "Natur überhaupt" geworden. Daher können wir RICKERT beistimmen, wenn er sagt: "Die Wirklichkeit erkennen wollen, heißt Bewußtsein überhaupt werden wollen" (a. a. O. Seite 83). Erst dann wenn dieses letzte Ziel erreicht wäre; wenn jede Tatsache nicht bloß ihrer Form sondern auch ihrem Inhalt nach im Reich der Wirklichkeit ihre denknotwendige Stelle hätte, wenn alle Teile des Weltalls und die Perioden seiner Veränderung, alle Glieder der historischen Entwicklung des Menschenlebens begrifflich festgestellt vor Augen lägen, dann wären die Bedingungen für die Möglichkeit der "Herleitung" der empirischen Wirklichkeit aus den obersten Prinzipien, d. h. die Bedingungen für eine abschließende Natur- und Geschichtsphilosophie gegeben. LOTZE spricht einmal von den mannigfachen Beziehungen der sprachlich uniformen Kopula als von "Nebengedanken, welche wir uns über die Art der Verknüpfung des Subjekts mit dem Prädikat machen" (a. a. O. Seite 59). Wir wollen nun nicht sagen, daß jeder der die Existenz eines empirischen Begriffs in einem Urteil ausspricht, tatsächlich mit behauptet, sondern nur sich bewußt bleiben soll, daß derselbe eben wegen seiner immanenten Beziehung  und  seiner Beziehung zur Wahrnehmung ein abgerissenes Stück eines unbekannten Ganzen ist. Das Bewußtsein überhaupt ist im Besitz dieses Ganzen, das empirische Bewußtsein arbeitet am Bau desselben; auf die Tätigkeit des letzteren läßt sich daher ein Apercu [geistreiche Bemerkung - wp] ANZENGRUBERs deuten: "Die Welt wurde nicht, die Welt wird" (Werke, Bd. V, Aphorismen)

Welche Besonderheiten den einzelnen Existentialsätzen in Folge der Verschiedenheit der Beziehungen des Subjektsbegriffs auch anhaften mögen, allen gemeinsam bleibt: daß sie das Setzen einer notwendigen psychologischen Beziehung darstellen, und diese beiden Begriffe - das Setzen und die Beziehung - sind es, an welche wir einige teils positive teils negative Folgerungen prinzipieller Natur knüpfen wollen.

Ist Sein ein Setzen, Setzen aber ein Urteilen, so folgt, daß Sein nur im Urteilen, nicht im Vorstellen, sei es einer psychischen, sei es einer außerpsychischen Realität - liegen kann. Dies hat RICKERT so ausgedrückt, daß er von der "Urteilsnotwendigkeit" als "einer Art von Seinsnotwendigkeit" spricht (a. a. O. Seite 88). Es fällt somit von hier aus ein interessantes Licht auf eine Stelle bei SCHOPENHAUER, wobei sich dieser eine Stelle EULERs in LICHTENBERGs vermischten Schriften zu eigen macht: "Mir kommt es immer vor, als wenn der Begriff  Sein  etwas von unserem Denken Erborgtes wäre, und wenn es keine empfindenden und denkenden Geschöpfe mehr gibt, dann ist auch nichts mehr". (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Kap. I, Anm.)

Der Begriff des  Setzens  als eines  Urteilens  verbietet es mit SIGWART anzunehmen, daß "jedem einzelnen Existentialurteil der mich immer begleitende Gedanke einer mich umgebenden wirklichen Welt vorausgesetzt ist" (Logik I, Seite 95). Und wenn SIGWART sagt: Das Existierende steht nicht bloß in der Beziehung zu mir, "sondern zu allem anderen Seienden, nimmt zwischen anderen Objekten seinen Raum ein", so verlangt der Begriff des Seins als des Setzens einer  psychologischen  Tatsache, die Funktion der Existentialsätze nicht einzuschränken auf das Gebiet der Wahrnehmbarkeit, sondern dieselbe auch wirksam sein zu lassen auf dem Gebiet der rein immanenten Tatsachen. Aus dem Begriff der Konstatierung einer  notwendigen psychischen  Funktion folgt schließlich, daß das Individuum, welches einen Existentialsatz ausspricht, von den anderen Individuen nichts verlangt als die Anerkennung seines psychologischen Zustandes. Zweifeln gegenüber kann der "Beweis" der Existenz nur darauf ausgehen, in anderen Individuen den gleichen psychologischen Zustand zu erzeugen, denselben das Geständnis abzuringen, daß das Urteil nicht bloß für das sprechende, sondern für alle Individuen gilt. Die Verschiedenartigkeit dieser psychologischen Zustände gebietet es, sich stets über die Art der Beziehung klar zu werden, um nicht - wie es im ontologischen Argument für das Dasein Gottes geschah - eine mit einer andern zu verwechseln.

Ist das Sein eine Beziehung zum Bewußtsein, so muß eine entgegengesetzte Theorie, welche diese Beziehung leugnet, unhaltbar sein. HERBART ist es, der darauf ausgeht, das Sein als ein beziehungsloses, unbedingt gesetztes zu beweisen, in seiner Lehre von der absoluten Position und dieselbe zur Grundlage seines Systems macht (vgl. HERBART, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Werke Bd 1, §§ 53, 63, 132f, Ausgabe HARTENSTEIN; DROBISCH, Neue Darstellung der Logik, Leipzig 1863, Seite 59f). KANT hatte das Sein "die Position eines Dings" genannt und den Satz aufgestellt, daß die Kopula das Prädikat "beziehungsweise" auf das Subjekt setzt (vgl. Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 472). Indem nun HERBART diesen letzteren Gedanken nach rückwärts verfolgt, gelangt er etwa zu folgender Überlegung: Je weiter der Umfang des Subjektsbegrifs eines Urteils ist, umso weniger bedingt ist die Setzung des Prädikats; denn der Begriff von weiterem Umfang hat einen kleineren Inhalt, daher auch weniger Bedingungen seiner Geltung. HERBART illustriert dieses hypothetisch abstufbare Relationsverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat durch einen Satz, dessen Prädikat "verdunstet" lautet und dessen Subjekte der Reihe nach "kochendes Wasser", "Wasser", "Flüssigkeit" bilden. Ist in diesem Urteil "kochendes Wasser verdunstet" die Geltungssphäre des Begriffs "verdunsten" eine beschränkte, hat sie sich in dem Urteil "Flüssigkeit verdunstet" in Folge des umfangreicheren Subjektsbegriffs wesentlich erweitert. Verschwindet der Inhalt des Subjektsbegriffs ganz, so hat die freie Stellung des Prädikats im Urteil ihr Maximum erreicht: das Prädikat wird unbeschränkt, unbedingt aufgestellt. Dieser Hergang zeigt sich im letzten Stadium bei den Impersonalien und besonders bei den Existentialsätzen. Bei diesen letzteren ist die Form "es ist P" aus "S ist P" entstanden. Das Sein ist demnach kein Prädikat; die Kopula wird zu dessen Zeichen, zum Zeichen der absoluten Position, wenn für ein Prädikat das Subjekt fehlt. Soweit HERBART. Fragen wir zunächst nach dem Weg, der HERBART zu dieser absoluten Position geführt hat, so ist derselbe aus dem Gesagten klar ersichtlich. Ein empirisch wahrnehmbarer Gegenstand als Subjekt, also eine Beziehung zur Wahrnehmung ist der Ausgangspunkt, und von hier aus meint HERBART durch eine fortgesetzte Abstraktion zum absolut beziehungslosen Subjektisbegriff zu gelangen, dem, eben weil er selbst beziehungslos ist, auch keine beschränkende Beziehung zum Prädikatsbegriff mehr innewohnt.

Nicht so evident, wie das, was HERBART erreichen  wollte,  ist das was er tatsächlich erreicht hat. Denn bilde ich vom Begriff "kochendes Wasser" zur Gattung aufsteigend den Begriff "Flüssigkeit", so gilt derselbe einmal als ein von der Wirklichkeit Abstrahiertes insofern, als es wahrnehmbare Dinge (Wasser, Wein und dgl.) gibt, die unter ihn fallen, zweitens als Begriff, insofern er uns nötigt, all die verschiedenartigen Dinge der Wahrnehmung unter einer bestimmten Form und an bestimmter Stelle im vielmaschigen Netz des Gedankensystems zu denken. Gelange ich schließlich zu dem äußersten Begriff, zu welchem HERBARTs formelles Verfahren führen kann (vgl. auch DROBISCH, a. a. O., Seite 61), zu dem des "Irgendetwas", so kann ich mir unter diesem, weil er als oberster Gattungsbegrif die äußerste Grenze aller Beziehungen nach oben darstellt, allerdings nichts mehr denken (er ist inhaltsleer), aber - nach einem bekannten Satz - umso mehr vorstellen, nämlich eine beliebige Anzahl von Einzeldingen. Seine Allgemeinheit, die Leere seiner begrifflichen Beziehung macht es dem Denken unmöglich, seinen "Inhalt" nach Gruppen, Gattungen und Arten zu gliedern. Auf der anderen Seite kann er seine Herkunft so wenig verleugnen, daß er zur Welt der Wahrnehmung als seinem natürlichen Komplement stets hinstrebt. Es bleibt ihm also als praktisch ausführbar die andere Funktion, welche hier darin besteht, die ordnungslose Summe des Mannigfaltigen mit einem gemeinsamen Namen zu bezeichnen; er ist somit das äußerste und lockerste, leicht verschiebbare Band zwischen den Einzeldingen. Wie der erste Meteor für das erklärende Bewußtsein auf den ersten Blick etwas Rätselhaftes war, sich sogleich aber auch ein Beziehungspunkt zum Weltall ergab, zeigt umgekehrt auch der abstrakteste und unbestimmteste Begrif bei genauerer Betrachtung Berührungspunkte mit der Erfahrung.

Die Gegenstände der Wahrnehmung, die HERBART bei der Theorie seiner Realen aus der einen Tür hinauswirft, kommen bei der andern nur umso reichlicher wieder herein. Allein bereits LOTZE hat darauf aufmerksam gemacht, daß es psychologisch begreiflich erscheint, wie ein Denker sich der Täuschung hingeben kann, "als läge in der Absicht und dem guten Willen eine schöpferische Kraft, welche, wenn sie auf kein bestimmtes Prädikat gerichtet ist, sondern schlechthin ausgeübt wird, dieses allgemeine und reine Sein erzeugt, das allem bestimmten Sein zugrunde liegt" (Metaphysik, 2. Auflage, Seite 38). Wir wollen dieser Täuschung im Folgenden noch etwas näher nachgehen. Man nennt das erkennende Denken manchmal das Gerüst, welches der Geist um die Wirklichkeit der Dinge schlägt. Keine Metapher ist falscher als diese, aber gerade der Nachweis ihrer Falschheit dient zur Jllustration des Irrtums, dem HERBART verfallen ist. Die Objekte der Anschauung und die Denkbeziehungen sind nicht etwa realiter getrennte oder trennbare Faktoren, so wie Bau und Gerüst in der Anschauung deutlich unterscheidbar sind; sie bilden vielmehr eine  unitas simplicitas,  welche nur in der Abstraktion trennbar ist. Aber auch in der Abstraktion deckt sich bei genauerer Betrachtung das Bild nicht in allen Teilen mit der Sache. Halten sich bei einem werdenden Bau das von der menschlichen Intelligenz geordnete Baumaterial und das Gerüst in der Höhe und bis zu einem gewissen Grad auch in der Gestaltung gleichen Schritt, so bleibt im erkennenden Bewußtsein die empirische Anschauung als  indigesta moles  [unverdaulicher Ausdruck - wp] dem fortschreitenden Denken gegenüber zurück, und eine Kette von immer farbloser werdenden Zwischengliedern verbindet erstere mit der Höhe der Abstraktion. Die freie Bewegung des Denkens kann sich in ungehinderter Selbständigkeit bis zur ungeahnten Höhe der Spekulation emporschwingen, die Wahrnehmung bleibt immer, wie der Ausgangspunkt, so das Fundament, auf welchem das ganze Gebäude ruht. Aber gerade die weite Entfernung der Resultate des spekulativen Denkes von der konkreten Anschauungswelt läßt es begreiflich erscheinen, wie jenes für sich das vermeintliche Recht beanspruchen kann, aller Beziehungen auf die Anschauungen bar zu sein.

Glatter hätte sich diese Theorie der absoluten Position abwickeln lassen, wenn HERBART mit der Anwendung eines umgekehrten formal-logischen Prozesses die absolute Geltung des Existentialsatzes von der Form "S ist" zu beweisen versucht hätte. Aber jedenfalls würde dabei die Erklärung für das gänzliche Verschwinden des Prädikats Schwierigkeiten gemacht haben, wie ja auch die sukzessiv eintretende Verarmung des Subjektsbegriffs schließlich bei "irgendetwas", also immer noch bei einem Begrif, nicht etwa erst bei dem nichtssagenden oder dunklen Es-Wort Halt machen mußte, und der Sinn dieser Lehre hätte sich deshalb nicht geändert. Auch dann würden sich die Worte LOTZEs anwenden lassen: "Man kann nicht etwas schlechthin, sondern nur den Inhalt eines Satzes bejahen, nicht ein Subjekt, sondern nur an einem Subjekt sein Prädikat", d. h. also eine Beziehung. Das Bewußtsein ist eben keine Summe von selbständigen, beziehungslosen Elementen, aus deren zufälliger Anhäufung sich - man weiß nicht wie - die Wirklichkeit zusammensetzt. Es bildet vielmehr eine "Einheit des Mannigfaltigen". Es besteht aus den Daten der Wahrnehmung und den Funktionen des Denkens, wobei letzteres die Tatsachen der äußeren, wie die der inneren Wahrnehmung im Urteil in eine einheitliche Beziehung setzt. Der Existentialsatz in Sonderheit hat die Aufgabe, gerade dieses psychologische Grundverhältnis dem Gesamtbewußtsein zur Orientierung über den Wahrheitswert der einzelnen Funktionen vor Augen zu stellen. Ein Begrif, der wie derjenige der HERBART'schen Realen die Erfahrungswelt erklären soll und doch jede Beziehung auf dieselbe leugnet, erscheint somit als ein Denkakt, welcher dem Denken selbst Gewalt antut. HERBARTs Theorie gleicht dem Machtspruch eines Fürsten in einem fremden Land, wo ihm die Landeshoheit abgeht und ist zu vergleichen mit Philosophemen, welche umgekehrt ebenso logisch gewaltsam Anforderungen des reinen Denkens eine Beziehung zur Wahrnehmungswelt, ja sogar eine Kraftwirkung auf dieselbe zuschrieben. Und wenn wir zusehen, wie HERBART mit diesen seinen "beziehungslosen" Realen die Wirklichkeit zu erklären sucht und ihn von einem Kommen und Gehen im intelligiblen Raum - man denkt hierbei unwillkürlich an die  methexis  [Teilnahme - wp] und die  parousia  [Gegenwart - wp] der platonischen Ideen - reden hören, so wird HORAZ' Wort vom "Hinaustreiben der Natur" auch in unserem Sinne wahr.

LITERATUR: Karl Gebert, Bemerkungen zur Theorie des Existentialsatzes, Straßburg 1893
    Anmerkungen
    19) Vgl. auch die Ausdrücke "Das Dasein des Menschen" und "Das Dasein Gottes" (vgl. unten)
    20) Was z. B. KERN, Die deutsche Staatslehre, vertritt, ohne sie jedoch im einzelnen aufrechterhalten zu können (vgl. SIGWART Logik, Seite 123). Das  proton pseudos  [erste Lüge - wp] der Lehre KERNs liegt eben in einem Mangel der Unterscheidung der Begriffe "psychische Realität" und "modales Sein".
    21) Wenn jemand, durch die Fluren gehend, das Gespräch mit seinem Begleiter plötzlich mit den Worten unterbricht: "ein Reh!" oder "dort ist ein Reh!" so wird es vom Verhältnis des Sprechenden zum beurteilten Gegenstand und dessen Aufenthaltsort abhängen, ob mehr ersterer selbst oder letzterer zum Urteil die Veranlassung gab. - Ähnlich zu beurteilen sind  Aufzählungen,  welche in existentialer Form auftreten. Soll jemand ein anschauliches Bild von der bunten Musterkarte der Nationalitäten Österreich-Ungarns bekommen, so beginne ich: Da gibt es Deutsche, Magyaren, Tschechen etc. Auch hier ist es nicht etwa ein Zweifeln an der Existenz dieser Völkerschaften, weder im einzelnen noch in ihrer Gesamtheit, welches das Urteil provoziert, sondern vielmehr die seltene Tatsache, daß ein so buntes Völkergemisch zu  einem  politischen Ganzen vereinigt ist.
    22) Anders verhält es sich mit dem Urteil "Hexenglaube ist ein Hirngespinst". Dieses leugnet ähnlich wie das Urteil "der Pegasus ist eine mythologische Fiktion" die Beziehung des Subjektsbegriffs auf eine vom Bewußtsein unabhängige Realität und spricht ihm den Charakter einer Vorstellung zu, freilich einer törichten. Der Unterschied besteht also nur darin, daß die neue Prädikation noch eine Kritik erfährt, wobei letztere aber nicht so einschneidend ist, daß sie erstere aufhebt.
    23) Wie er etwa auch im Verhältnis der reinen und angewandten Mathematik hervortritt, weshalb SCHOPENHAUER von den mathematischen Gebilden als von "Normalanschauungen" spricht, die "für alle Erscheinung gesetzgebend sind" (Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde, § 39). - Vor der umgekehrten Form dieser  metabasis  ein allo genos' [Übergriff in ein anderes Gebiet - wp] warnt, von LEIBNIZ herkommend, LESSING: "Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden", in der theologischen Streitschrift "Über den Beweis des Geistes und der Kraft" (Werke, Bd. VI, Seite 241; vgl. auch D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet, 2. Auflage, Seite 11 und 620).
    24) Überlegungen ähnlicher Art sind es, welche die Anhänger der "negativen Theologie" veranlaßten, sich über das transzendente Wesen Gottes jeder Prädikation zu enthalten, dasselbe als  apoion  [wesenlos, untätig - wp] zu erklären.
    25) Die Eigentümlichkeit des Menschen, Gebilde seines Innern mit beliebiger äußerer Form als seiend zu bezeichnen, welche sich vornehmlich bei der Kunst in ihrem Wert zeigt, tritt gerade in dieser ihrer psychologischen Allgemeinmenschlichkeit beim Spiel der Kindert zutage. Der Knabe, welcher beim Räuberspiel von sich sagt: ich bin Hauptmann, oder, vom Bolzen des Gegners getroffen, ausruft: ich bin tot, sagt von sich - wenn auch im letzteren Fall seine kindliche Ungeschicklichkeit ihn Lügen straft - dasselbe, was der künstlerisch veranlagte Schauspieler von der Jllusion seiner Zuhörer erwartet.
    26) Das Übergewicht der typischen Anschauung über das erklärende Denken zeigt sich auch sonst noch in der Poesie. Man denke an die Dichterstellen: "Da stoßet kein Nachen vom sicheren Strand", und "kein Baum verstreut Schatten = es waren Nachen vorhanden, aber keiner stoßet vom sicheren Strand, und: es ist kein Baum da, der Schatten verstreut.
    27) Ein unmittelbares  verpflichtendes  Hereinragen der Gattungsvernunft in das individuelle Leben zeigt sich bei jenen Begriffen, die nicht ein Sein sondern ein Handeln zum Inhalt haben, also bei den ethischen und juristischen. Die ethischen Vorschriften und die juristischen Gesetze wollen von allen normalen Individuen befolgt sein; ihre Nichtbefolgung hat sittliche Verachtung, bzw. noch dazu physische Strafe zur Folge. Mangel an Einsicht in die Notwendigkeit dieser oder jener Bestimmung des Rechtskodex, ja selbst Unkenntnis des tatsächlichen Inhaltes derselben schützt vor Strafe nicht. - - - Einen interessanten Übergang aus der Sphäre des Geltens (vgl. unten) in die des empirisch wahrnehmbaren Seins lassen die verschiedenen statuarischen Bestimmungen über das Papiergeld - das Wort im allgemeinsten Sinne verstanden - erkennen. Eine Banknote, als bloße Anweisung an eine Bank, braucht das einzelne Individuum nicht in Zahlung anzunehmen. Bei Papiergeld mit Zwangskurs in einem Land mit Papierwährung kommt das Individuum nur als wahrnehmendes in Betracht, der Papierschein ist in diesem Fall die darauf genannte Summe.
    28) Ob man sich dem Empirismus oder Nativismus anschließt, ist für unsere Frage gleichgültig; nicht minder irrelevant ist die Entscheidung darüber, ob die Mathematik eine synthetische oder analystische Wissenschaft ist, d. h. ob man der kantischen Auffassung (vgl. besonders dessen Methodenlehre in der Kr. d. r. V., Seite 548f) zustimmt, wonach die Beziehung zur "Anschauung überhaupt" (vgl. Transzendentale Deduktion der reinen Verstandeskategorien, nach der 2. Auflage, Ausgabe KEHRBACH, Seite 678) zu den Begriffen notwendig  hinzukommt,  ich also "vom Begriff zu der ihm korrespondierenden reinen Anschauung" (a. a. O. Seite 554) übergehen muß, oder ob man mit HUME, wie neuerdings BERGMANN (Grundprobleme, Seite 111f), die Anschauung den Begriffen ihrer Natur nach implizit notwendig  innewohnend  betrachtet.