ra-2 O. ConradH. CohnI. RubinT. Grigorovici    
 
NIKOLAI BUCHARIN
Das Elend der subjektiven Werttheorie
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"In Deutschland ist jetzt eine prinzipiell feindselige Stellung gegenüber jeder abstrakten Methode tonangebend. Dieser Gesichtspunkt ist eben das Ergebnis der Abneigung gegen jede Abstraktion; - ist doch in der Tat der Lebensprozeß der Gesellschaft ein einheitlicher Strom, existiert doch in Wirklichkeit nur eine Geschichte und nicht etwa mehrere Geschichten der Wirtschaft, des Rechts, der Sitte usw. Erst die wissenschaftliche Abstraktion zerlegt das an sich einheitliche Leben in Teile, indem sie künstlich verschiedene Erscheinungsreihen hervorhebt und nach bestimmten Merkmalen gruppiert. Logischerweise müßte deshalb derjenige, der gegen die Abstraktion ist, auch gegen die Trennung der Wirtschaft von Recht und Sittlichkeit sein. Doch ein derartiger Standpunkt wäre natürlich vollkommen unhaltbar."

"Es ist richtig, daß das soziale Leben eine Einheit bildet; doch darf man nicht vergessen, daß ohne Abstraktion überhaupt keine Erkenntnis möglich ist: schon der Begriff als solcher ist eine Abstraktion vom "Konkreten"; ebenso setzt jede Beschreibung eine gewisse Auswahl von Erscheinungen nach Merkmalen, die man aus irgendeinem Grund für wichtig hält, voraus, und so ist die Abstraktion ein nur notwendiges Attribut der Erkenntnistätigkeit; sie wird erst dann und nur dann unzulässig, wenn das Abstrahieren von konkreten Merkmalen die Abstraktion selbst völlig leer, d. h. für die Erkenntnis nutzlos macht."

Einleitung
Die bürgerliche Nationalökonomie
nach Marx

Es sind bereits 30 Jahre verflossen, seit die flammenden Worte des großen Denkers des 19. Jahrhunderts, dessen Gedanken zum Hebel der proletarischen Bewegung in der ganzen Welt wurden, für immer verstummt sind; die ganze wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte - die tolle Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die Verdrängung des Kleinbetriebens auch in den entlegensten Winkeln, das Auftreten der mit goldenen Kronen gekrönten mächtigen Industriekönige einerseits, das Anwachsen der - wie MARX sagt - "durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse" andererseits - das alles bestätigt die Richtigkeit des ökonomischen Systems von MARX voll und ganz, der sich zum Ziel setzte, das wirtschaftliche Gesetz der Bewegung der heutigen kapitalistischen Gesellschaft zu entdecken. Die Prognose, die zuerst im "Kommunistischen Manifest" und dann in vollständigerer und entwickelterer Form im "Kapital" gestellt worden ist, hat sich zu neun Zehnteln glänzend bestätigt. Einer der wichtigsten Teile dieser Prognose, die Theorie von der Konzentration, ist nun Gemeingut geworden. Zwar wird sie gewöhnlich in einer anderen theoretischen Sauce gereicht, so daß sie ihre Einheitlichkeit, die für die MARXsche Theorie so charakteristisch ist, verliert. Aber die "ökonomische Romantik", die in dieser Theorie nur die Phantasie eines Utopisten sah, hatte jeden Boden verloren, als in der letzten Zeit die von MARX aufgedeckten und erklärten Tendenzen, so schnell und in solch grandiosem Umfang hervorgetreten sind, daß nur noch Blinden das siegreiche Fortschreiten des  Großbetriebes  unbemerkt bleiben konnte. Wenn einzelne gutgläubige Leute  in den Aktiengesellschaften  nur die "Demokratisierung des Kapitals" sahen und in ihrer Sentimentalität diese für eine Garantie des sozialen Friedens und des allgemeinen Wohlstandes hielten (und solche Leute gab es leider auch in den Reihen der Arbeiterklasse), so zerstört die "ökonomische Wirklichkeit" der Gegenwart dieses kleinbürgerliche Idyll in gröbster Weise. Denn das Aktienkapital ist zu einem mächtigen Mittel in den Händen eines Häufleins Usurpatoren geworden, um das Vorwärtsstreben des "vierten Standes" schonungslos zu unterdrücken. Schon das allein zeigt, was für ein wichtiges Erkenntnismittel die theoretische Konstruktion von MARX bildet. Aber auch die Erscheinungen der kapitalistischen Entwicklung, die erst jetzt aufgetreten sind, können nur mit Hilfe der MARXschen Analyse begriffen werden. (1) Die Bildung von mächtigen Unternehmerverbänden, von Syndikaten und Trusts, die Entstehung von nie dagewesenen Bankorganisationen, das Eindringen des Bankkapitals in die Industrie und die Hegemonie des Finanzkapitals im gesamten ökonomischen und politischen Leben der entwickelten kapitalistischen Länder - das alles bedeutet nur die weitere Entwicklung der von MARX schon konstatierten Tendenzen. Die Herrschaft des Finanzkapitals beschleunigt nur die Konzentrationsbewegung um das Vielfache und verwandelt die Produktion in eine gesellschaftliche Produktion, die reif ist, unter eine gesellschaftliche Kontrolle gestellt zu werden. Zwar haben die bürgerlichen Gelehrten unlängst erklärt, daß die Organisation der Unternehmer der Produktionsanarchie eine Ende machen und die Krisen beseitigen würde. Aber ach, der kapitalistische Organismus wird nach wie vor periodisch von Zuckungen heimgesucht und nur ganz naive Leute glauben noch daran, daß der Kapitalismus mit Hilfe von reformistischer Flickarbeit geheilt werden könnte. Die historische Mission der  Bourgeoisie  ist bereits in der ganzen Welt erfüllt und geht ihrem Ende entgegen. Es tritt eine Periode der großen Aktionen des  Proletariats  ein, wobei der Kampf schon jetzt die nationalen Grenzen des Staates überschritten hat, immer mehr die Formen eines Massendruckes auf die herrschenden Klassen annimmt und sich dem Endziel stark nähert. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der die Voraussagung von MARX in Erfüllung gehen wird, daß die letzte Stunde des kapitalistischen Eigentums schlagen werde. Wie überzeugend die Tatsachen auch die Richtigkeit der MARXschen Konzeption bekunden, so ist dennoch ihr Erfolg unter den offiziellen Gelehrten nicht nur nicht gestiegen, sondern eher noch gesunken. Wenn früher in den rückständigen Ländern, beispielsweise in Rußland und zum Teil in Italien, sogar Universitätsprofessoren zuweilen mit MARX liebäugelten, wobei sie allerdings ihre größeren und kleineren "Korrekturen" einflochten, so führt nun die ganze soziale Entwicklung, die Zuspitzung der Klassengegensätze und die Konsolidierung aller Schattierungen der bürgerlichen Ideologie dazu, daß alle den Kampf gegen die Ideologie des Proletariats aufnehmen, indem die "Übergangstypen" ausgeschaltet werden und an ihre Stelle der "rein europäische", "moderne" Gelehrte im theoretischen Gewand nach der preußischen, österreichischen oder gar nach der neuesten anglo-amerikanischen Mode tritt. (2) Zwei  Haupt richtungen in der Volkswirtschaftslehre konnte die Bourgeoisie dem ehernen MARXschen System entgegenstellen: die sogenannte "historische Schule" (ROSCHER, HILDEBRANDT, KNIES, SCHMOLLER, K. BÜCHER u. a.) und die "österreichische Schule" (KARL MENGER, BÖHM-BAWERK und WIESER), die in der letzten Zeit eine gewaltige Verbreitung gefunden haben. Beide Richtungen bedeuten jedoch den  Bankrott  der bürgerlichen Ökonomie. Nur kommt dieser Bankrott in zwei völlig entgegengesetzten Formen zum Ausdruck. Während die erste Richtung der bürgerlichen Theorie Schiffbruch erlitt, indem sie eine negative Stellung gegenüber jeder abstrakten Theorie  überhaupt  einnahm, versuchte die andere Richtung eben bloß eine abstrakte Theorie zu konstruieren und kam dabei zu einer Reihe von sehr geschickt erdachten "scheinbaren Erklärungen", die sich aber gerade dort als untauglich erwiesen, wo die Theorie von MARX besonders stark ist, nämlich in den Fragen der  Dynamik  der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Die klassische Volkswirtschaftsschule suchte bekanntlich die allgemeinen, d. h. die "abstrakten" Gesetze des Wirtschaftslebens zu formulieren und ihr hervorragendster Vertreter, RICARDO, gab staunenswerte Beispiele für diese abstrakt-deduktive Forschung. Umgekehrt entstand die  "historische Schule"  als eine Reaktion gegen diesen "Kosmopolitismus" und "Personalismus der Klassiker (3). Dieser Unterschied hat seine tiefen sozial-wirtschaftlichen Wurzeln. die klassische Theorie mit ihrer Lehre vom Freihandel war trotz ihres "Kosmopolitismus" sogar sehr "national": sie war das notwendige theoretische Produkt der  englischen  Industrie. England, das infolge einer Reihe von Umständen die ausschließliche Herrschaft auf dem Weltmarkt erhielt, befürchtete keine Konkurrenz und hatte keine künstlichen, d. h. gesetzgebenden Maßnahmen nötig, um seinen Sieg über die Konkurrenten zu sichern. Deshalb hatte es die englische Industrie nicht nötig, sich auf die speziellen englischen Verhältnisse zu berufen, um irgendwelche Zollmauern zu rechtfertigen. Die Theoretiker der englischen Bourgeoisie brauchten darum auch nicht ihre Aufmerksamkeit auf die spezifischen  Besonderheiten  des englischen Kapitalismus zu richten: obschon sie die Interessen des  englischen  Kapitals zum Ausdruck brachten, sprachen sie von den  allgemeinen  Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung. Ein anderes Bild stellte die wirtschaftliche Entwicklung des europäischen Kontinents und Amerikas dar. (4)

Deutschland, die Wiege der "historischen Schule", war, im Vergleich zu England, rückständig und in der Hauptsache ein Agrarland. Die emporkommende deutsche Industrie litt ganz empfindlich unter der englischen Konkurrenz, insbesondere litt darunter die Schwerindustrie Deutschlands. Bedurfte auf diese Weise die englische Bourgeoisie keiner besonderen Betonung der nationalen Besonderheiten, so war es für die deutsche Bourgeoisie umgekehrt notwendig, doppelte Aufmerksamkeit eben der Eigenart und Selbständigkeit der deutschen Entwicklung zu widmen, mit ihnen theoretisch die Notwendigkeit der "Erziehungszölle" zu beweisen. Das theoretische Interesse konzentrierte sich eben auf die Klarstellung des historisch Konkreten und national Beschränkten; in der Theorie vollzog sich die Auswahl und das Hervorheben gerade dieser Seiten des wirtschaftlichen Lebens. Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet, war die  historische Schule  der ideologische Ausdruck dieses Wachstumsprozesses der deutschen Bourgeoisie, die die englische Konkurrenz fürchtete, deshalb den Schutz der nationalen Industrie forderte und daher die nationalen und historischen Besonderheiten Deutschlands und später - verallgemeinernd - auch die der anderen Länder, in den Vordergrund schob. Vom sozialgenetischen Standpunkt aus ist sowohl die klassische wie die historische Schule "national", da die eine wie die andere Richtung Produkt einer historisch und territorial beschränkten Entwicklung ist; vom logischen Standpunkt aus aber sind die Klassiker "kosmopolitisch", die Historiker "national". So war die deutsche  Schutzzollbewegung  die Wiege der historischen Schule. In ihrer weiteren Entwicklung brachte sie eine ganze Reihe Schattierungen hervor, deren wichtigste Richtung, mit GUSTAV SCHMOLLER an der Spitze (die sogenannte "jüngere historische" oder "historisch-ethische" Schule) eine  agrar- konservative Färbung annahm. Die Idealisierung der Übergangsform in der Produktion, insbesondere der "patriarchalischen" Verhältnisse zwischen den Agrariern und Landarbeitern, die Furcht vor der "Proletarier-Seuche" und der "roten Gefahr" stellen diese "objektiven" Professoren ständig bloß und zeigen die sozialen Wurzeln ihrer "reinen Wissenschaft". Aus dieser soziologischen Charakteristik ergibt sich nun auch die entsprechende logische Charakteristik der historischen Schule. (5)

Von der logischen Seite her sind die "Historiker" vor allem durch ihre negative Stellung zur abstrakten Theorie charakterisiert. Gegenüber derartigen Untersuchungen empfanden sie eine tiefe Abscheu; jede Möglichkeit, derartige Untersuchungen zu unternehmen, wurde ohne weiteres bezweifelt, mitunter überhaupt in Abrede gestellt; das Wort "abstrakt" bedeutete im Munde dieser Gelehrten "unsinnig"; manche dieser Gelehrten verhielten sich skeptisch sogar gegenüber dem wichtigsten Begriff jeder Wissenschaft - nämlich dem des "Gesetzes" - höchstens, daß sie nur die sogenannten "empirischen" Gesetze anerkannten, die mit Hilfe historisch-wirtschaftlicher und statistischer Forschungen aufgestellt werden. (6)

Und so bildete sich ein enger Empirismus aus, der vor jeglicher Verallgemeinerung zurückschreckte. Die extremen Vertreter dieser Schule machten die Sammlung von konkret-historischem Material zu ihrer Losung und verschoben die verallgemeinernde theoretische Arbeit auf unbestimmte Zeit. So charakterisiert SCHMOLLER, dieses anerkannte Haupt der historischen Schule, die "jüngere Generation" wie folgt: "Der Unterschied der jüngeren historischen Schule von ihm (d. h. ROSCHER - N. B.) ist der, daß sie weniger rasch generalisieren will, daß sie ein viel stärkeres Bedürfnis empfindet, von der polyhistorischen Datensammlung zur Spezialuntersuchung der einzelnen Epochen, Völker und Wirtschaftszustände überzugehen. Sie verlangt zunächst wirtschaftliche Monographien. Sie will lieber zunächst den Werdegang der einzelnen Wirtschaftsinstitutionen als den der ganzen Volkswirtschaft und der universellen Weltwirtschaft erklären. Sie knüpft an die strenge Methode rechtsgeschichtlicher Forschung an, sucht aber durch Reisen und eigenes Befragen das Bücherwissen zu ergänzen, die philosophische und psychologische Forschung heranzuziehen." (GUSTAV SCHMOLLER, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1908, Seite 119) Diese prinzipiell feindselige Stellung gegenüber jeder abstrakten Methode ist auch jetzt noch in Deutschland tonangebend. Noch im Jahre 1908 erklärte derselbe SCHMOLLER: "Wir stecken noch vielfach in der Vorbereitung und der Materialsammlung." (7)

Im Zusammenhang mit der Forderung nach Konkretem steht auch eine andere Besonderheit der "historischen" Richtung: das sozial-wirtschaftliche Leben wird von ihr ganz und gar nicht von den anderen Seiten des Lebensprozesses getrennt, besonders nicht von Recht und  Sitte,  trotzdem die Ziele der Erkenntnis eine derartige Trennung durchaus notwendig machen. (8) Dieser Gesichtspunkt ist eben das Ergebnis der Abneigung gegen jede Abstraktion; - ist doch in der Tat der Lebensprozeß der Gesellschaft ein  einheitlicher  Strom, existiert doch in Wirklichkeit nur  eine  Geschichte und nicht etwa mehrere Geschichten der Wirtschaft, des Rechts, der Sitte usw. Erst die wissenschaftliche Abstraktion zerlegt das an sich einheitliche Leben in Teile, indem sie künstlich verschiedene Erscheinungsreihen hervorhebt und nach bestimmten Merkmalen gruppiert. Logischerweise müßte deshalb derjenige, der gegen die Abstraktion ist, auch gegen die Trennung der Wirtschaft von Recht und Sittlichkeit sein. Doch ein derartiger Standpunkt ware natürlich vollkommen unhaltbar. Es ist richtig, daß das soziale Leben eine Einheit bildet; doch darf man nicht vergessen, daß ohne Abstraktion überhaupt  keine  Erkenntnis möglich ist: schon der  Begriff  als solcher ist eine Abstraktion vom "Konkreten"; ebenso setzt jede Beschreibung eine gewisse Auswahl von Erscheinungen nach Merkmalen, die man aus irgendeinem Grund für wichtig hält, voraus, und so ist die Abstraktion ein nur notwendiges Attribut der Erkenntnistätigkeit; sie wird erst dann und nur dann unzulässig, wenn das Abstrahieren von konkreten Merkmalen die Abstraktion selbst völlig leer, d. h. für die Erkenntnis nutzlos macht.

Die Erkenntnis  erfordert  die Zergliederung des einheitlichen Lebensprozesses. Dieser ist ansich so kompliziert, daß er zu seiner Erforschung in mehrere einzelne Erscheinungsreihen zerlegt werden muß. Wohin würde auch die Erforschung der Wirtschaft führen, wenn man z. B. versucht hätte, gleichzeitig Elemente in diese Forschung aufzunehmen, die den Gegenstand der philologischen Wissenschaft bilden - unter Berufung darauf, daß die Wirtschaft eben von Menschen gestaltet wird, die doch durch die Sprache miteinander verbunden sind? Es ist doch klar, daß jede gegebene Wissenschaft die Ergebnisse einer anderen benutzen darf, insofern diese zur Erforschung des betreffenden Gegenstandes der Wissenschaft beitragen können; dabei müssen jedoch diese fremden Elemente selbst vom Standpunkt gerade  dieser  Wissenschaft aus betrachtet werden; sie sind lediglich Hilfsmittel, sonst nichts.

Und so führt das Anhäufen von verschiedenartigem Material eher zur Erschwerung als zur Erleichterung der Erkenntnis. Hinzu kommt noch, daß die "psychologisch-sittliche Betrachtung" der "jüngeren Historiker" die Form moralischer Wertschätzungen und Belehrungen angenommen haben. In die Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, die  kausalen  Beziehungen aufzudecken, wird das nicht zur Sache gehörende Element der  ethischen  Normen hineingebracht; daher der Name dieser Schule: "historisch-ethisch". (9)

Als das Ergebnis der Tätigkeit der historischen Schule erschien eine Anzahl von beschreibend-historischen Arbeiten: die Geschichte der Preise, des Arbeitslohns, des Kredits, des Geldes usw.; doch dadurch kam die  Theorie  des Preises und des Wertes, die  Theorie  des Arbeitslohns, der Geldzirkulation auch nicht um einen Schritt weiter. Es muß für jeden klar sein, daß es sich hier um zwei gänzlich verschiedene Dinge handelt.  "Eine  Sache ist die Statistik der  Preise  auf den Märkten von Hamburg oder London während der letzten dreißig Jahre und eine andere - eine allgemeine  Wert- und Preistheorie wie sie in den Arbeiten von GALIANI, CONDILLAC, RICARDO enthalten ist." (10)

Gerade die Negation einer "allgemeinen Theorie" bedeutet die Negation der politischen Ökonomie als einer selbständigen theoretischen Disziplin, bedeutet deren Bankrotterklärung.

Die Wissenschaft im allgemeinen kann überhaupt zwei Ziele verfolgen: entweder sie beschreibt das, was zu einer gewissen Zeit und an einem bestimmten Ort wirklich war oder sie versucht, die  Gesetze  der Erscheinungen abzuleiten, die sich durch die Formel ausdrücken lassen: wenn  A, B, C  da sind, muß auch  D  eintreten. Im ersten Fall weist die Wissenschaft einen  ideographischen im zweiten - einen  nomologischen  Charakter auf. (11)

Es ist klar, daß die  Theorie  der politischen Ökonomie zum zweiten Typus der Wissenschaften gehört; sie verfolgt vor allem nomologische Aufgaben der Erkenntnis. Da aber die historische Schule es verschmäht, allgemeine Gesetze abzuleiten, vernichtet sie im Grunde genommen die politische Ökonomie als Wissenschaft schlechthin und ersetzt sich durch "reine Beschreibung" ideographischer Art, sie läßt sie in der Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsstatistik, dieser idiographischen Wissenschaft par excellence, aufgehen. Es war ihr versagt, ihre einzig richtige Idee, den Entwicklungsgedanken, in den Rahmen der  theoretischen  Forschung aufzunehmen und so erwies sie sich, gleich dem biblischen Feigenbaum, als unfruchtbar. Ihre positive Bedeutung besteht ausschließlich in der  Materialsammlung  für die theoretische Betrachtung und in diesem Sinne bilden die Arbeiten der historischen Schule etwas sehr Wertvolles. Es genügt, hier nur auf die hervorragenden Arbeiten hinzuweisen, die der "Verein für Sozialpolitik" über das Handwerk, den Kleinhandel sowie über das landwirtschaftliche Proletariat veröffentlicht hat. (12)
LITERATUR - Nikolai Bucharin, Das Elend der subjektiven Werttheorie oder die politische Ökonomie des Rentners, Wien/Berlin 1926
    Anmerkungen
    1) In diesem Zusammenhang ist das Werk RUDOLF HILFERDINGs "Das Finanzkapital" sehr hilfreich.
    2) Der Erfolg der "neuen" Theorien wurzelt somit in den veränderten Verhältnissen der sozialen Psychologie und keineswegs in der logischen Vollkommenheit dieser Theorien.  Eine  der Ursachen der Abneigung gegen die Arbeitswerttheorie seitens der Bourgeoisie besteht sicherlich in ihrer Abneigung gegen den Sozialismus. BÖHM-BAWERK gibt das zum Teil selber zu, indem er schreibt: "Zwar hat, wie ich glaube, die Arbeitswerttheorie zunächt noch durch einige Jahre, im Zusammenhang mit der Ausbreitung der sozialistischen Ideen, eher an Ausbreitung gewonnen, in der jüngsten Zeit aber in den theoretischen Kreisen aller Länder entschieden an Terrain verloren und zwar hauptsächlich zugunsten der immer mehr zum Durchbruch gelangenden Theorie des  Grenznutzens."  - BÖHM-BAWERK, Kapital und Kapitalzins I, 2. Auflage, Seite 444, Anm.
    3) Unter Kosmopolitismus versteht KNIES die Anschauung der Klassiker, daß die volkswirtschaftlichen Gesetze für jedes Land und Volk die gleichen sind; unter Perpetualismus - die analoge Anschauung der klassischen Schule in bezug auf die verschiedenen historischen Epochen - siehe KNIES, Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpunkt, 1883, Seite 24
    4) Als erster Theoretiker der historischen Schule kann FRIEDRICH LIST betrachtet werden, der eine protektionistische Politik forderte. Siehe "Das nationale System der politischen Ökonomie", 1841
    5) So zählt z. B. A. MICHAILOWSKY die "Taten" Professor SCHMOLLERs auf: "Er war bestrebt, die Einführung der staatlichen Arbeiterversicherung aufzuschieben, er war gegen die Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung auf die Arbeiter in ländlichen und handwerksmäßigen Betrieben ... Er hielt es für angebracht, das Strafgesetz bei einer Verletzung von Arbeitsverträgen auf die landwirtschaftlichen Arbeiter anzuwenden, er war gegen die Rechtsfähigkeit der Gewerkschaften und Arbeitervereien, er war für das Sozialistengesetz ..." (Die philosophischen, historischen und theoretischen Grundlagen der politischen Ökonomie des XIX. Jahrhundert, Jurjew 1909, Seite 578
    6) Einer der gemäßigsten Vertreter der historischen Schule, NEUMANN, meint z. B., daß "die Möglichkeit  exakter  Gesetze auf wirtschaftlichem Gebiet ausgeschlossen ist" (Naturgesetz und Wirtschaftsgesetz, Zeitschrift für die gesamte Sozialwissenschaft, 1892, Jhg. 48, Seite 435) über den Begriff des "Typischen" äußert sich derselbe Autor: "Dort (d. h. in den Naturwissenschaften - N. B.)  besteht  Typisches, aus dem wieder Typisches hervorgehen und als Typisches erforscht werden kann. Hier (in den Gesellschaftswissenschaften - N. B.) soll das Wort Typisches gedacht, d. h.  fingiert  werden." (a. a. O. Seite 442)
    7) GUSTAV SCHMOLLER, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1908, Seite 123
    8) SCHMOLLER hebt drei "Grundgedanken" der historischen Schule hervor: "1. Die Anerkennung des Entwicklungsgedankens... 2. eine psychologisch-sittliche Betrachtung ... 3. ein kritisches Verhalten gegenüber der individualistischen Naturlehre wie gegen den Sozialismus" (Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1908, Seite 123).
    9) Sehr treffend bemerkt hierzu H. DIETZEL: "Genau ebenso gut wie von einer "ethischen" Wirtschafts theorie  oder Wirtschafts geschichte,  könnte man von einer "ethischen" Anthropologie, Physiologie usw. sprechen" (Theoretische Sozialökonomie, Seite 31). Vgl. auch E. SAX: "Das Wesen und die Aufgaben der Nationalöknomie", Wien 1884, Seite 53. Ebenso verspottet auch LÉON WALRAS die "Moral" in der Theorie und vergleicht dieses Verfahren mit dem Versuch "spiritualiser la géometrie". (LÉON WALRAS, Etudés d'économie sociale. Theorie de la repartition de la richesse sociale, Lausanne-Paris 1896, Seite 40)
    10) LUIGI COSSA, Introduzione allo Studio dell' Economica Politica, Milano 1892, Seite 15
    11) Die Terminologie stammt von A. A. TSCHUPROW dem Jüngeren, siehe seine "Grundzüge einer Theorie der Statistik", St. Petersburg 1909. In etwas anderer Bedeutung werden diese Termini bei RICKERT und WINDELBAND gebraucht.
    12) Besonders eingehend ist das Handwerk untersucht worden. Den Grund dafür finden wir in einer Erläuterung von SCHMOLLER: "Nur die Erhaltung eines ... Mittelstandes kann ... uns davor bewahren, in letzter Instanz einer politischen Entwicklung entgegenzugehen, die in einer abwechselnden Herrschaft der Geldinteressen und des vierten Standes bestehen wird ... nur sie (die soziale Reform - N. B.) erhält die Aristokratie der Bildung und des Geistes an der Spitze des Staates" (GUSTAV SCHMOLLER, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre", Leipzig 1898, Seite 5 und 6