ra-2William SternHeinrich CohnLotzes WertlehreHarald Höffding    
 
JONAS COHN
Beiträge zur Lehre
von den Wertungen

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"Die Evidenz gewinnt ja ihre wissenschaftliche Beweiskraft nicht aus dem Gefühl, sondern aus der Unmöglichkeit einer Bekämpfung. Wenn für nicht-logische Werte in eindeutiger Weise ein Gefühl spräche, so ergäbe das immer nur eine feststehende Tatsache, keinen logischen Beweis. Es ergibt sich also als Resultat unserer Betrachtung, daß erstens die innere Struktur eines Wert- oder Zwecksystems Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung sein kann, daß aber zweitens die letzten Normen eines nicht logischen Wertungsgebietes sich nie mit der Evidenz der logischen ableiten lassen. Wir haben erkannt, daß die Differenz der logischen und nicht logischen Gebiete darauf beruth, daß in der Logik das Denken sich selbst seine Werte festsetzt, daß es also nichts mehr zu denken, daher nicht einmal etwas zu bezweifeln gibt, wenn man diese letzten Gesetze antastet, daß aber auf allen anderen Gebieten das Denken einem ihm fremden Stoff gegenübersteht und hier von seinem souveränen Recht Gebrauch machen kann, alles Nichtbewiesene zu bezweifeln."

"Die letzte Entscheidung über Werte steht nicht bei der Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht wertgebend; selbst die logischen Werte gibt sie nicht, sondern empfängt sie."

Vorbemerkung

Die beiden Abhandlungen, die hier unter einem gemeinsamen Titel vereinigt sind, stehen nur insoern in einem engeren Zusammenhang, als die zweite einen kleinen Beitrag zur Verwirklichung des Programms zu bieten sucht, das die erste aufstellt. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage, welche Funktionen der Wissenschaft in Bezug auf das Werten oder Normieren zuzusprechen sind. Um den Boden für diese Diskussion vorzubereiten, war es nötig, einige bekannte Tatbestände und Zusammenhänge in schematischer Form darzustellen. Dies ist die Aufgabe des § 1. Die Notwendigkeit einer solchen Einführung ergibt sich aus dem Zustand sachlicher und terminologischer Uneinigkeit in der ethischen Literatur. Der zweite Teil soll einen formalen Grundunterschied allen Wertens durch die verschiedenen Modifikationen und Gebiete durchführen.


Erster Teil
Wert und Wissenschaft

§ 1. Schematisierung einiger Grundtatsachen
A. Die Stufen des Wertens

Jeder entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung in der Psychologie steht als größtes Hindernis im Weg, daß uns gerade das Einfache, Ursprüngliche niemals anders als nur hypothetisch bekannt wird. Wir müssen von unserem komplizierten Seelenleben ausgehen und aus dessen Erfahrung mit recht unbestimmter Analogie die uns bekannten Bewegungen der Tiere oder kleinen Kinder psychisch ausdeuten. Doch wird man kaum irren, wenn man die einfachsten seelischen Vorgänge schematisch so beschreibt, daß ein Empfundenes mit Lust- oder Unlustgefühlen verbunden ist, und daß diese Gefühle solche Bewegungen auslösen, welche zur Erhaltung bzw. Aneignung oder zur Entfernung bzw. Zerstörung des Empfundenen führen. Der psychologisch schwierigste und angreifbarste Punkt in dieser Beschreibung, die Vermittlung nämlich zwischen Gefühl und Bewegung, der Angelpunkt aller Willenstheorien, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Für unsere Aufgabe genügt die Feststellung, daß jedenfalls in jeden schematisch vorgestellten seelischen Vorgang ein Gefühl eingeht, welches zu einer positiven oder negativen Wertung eines Empfundenen führt.

Von einer Wertung im eigentlichen Sinne pflegt man erst dann zu sprechen, wenn die zunächst nur gefühlsmäßig erfaßte Bedeutung des Gewerteten sich zu einem Urteil verdichtet. (1) Man kann aber die bloß gefühlsmäßige Erfassung als Vorstufe des eigentlichen Wertens behandeln. Hier ist die Gefühlsbetonung noch unmittelbar an die Empfindung gebunden, während das Werten im engeren Sinne sich an ein Urteil über Existenz, Nützlichkeit etc. des Gewerteten anschließt. Durch diese Vermittlung erhält der Wert für das Bewußtsein des Wertenden leicht einen allgemeinen objektiven Charakter. Die bloße Gefühlsbetonung braucht diese Charakter noch nicht zu besitzen. Es sind Stufen geistigen Lebens mindestens denkbar, in denen die einzelnen Gefühlsverläufe unverbunden nebeneinander bestehen. Für den Beobachter eines solchen Lebens würde sich indessen doch ein Zusammenhang der einzelnen Handlungen offenbaren. Es würde sich z. B. zeigen, daß viele unter diesen der Erwerbung und Aufnahme von Nahrung dienten. Der Beobachter würde dann etwa sagen, das Tier besitzt einen "Ernährungstrieb". Dabei wäre es noch nicht nötig, daß sich im Bewußtsein des Tieres die einzelnen Fälle von Ernährung irgendwie verbinden.

Indessen wird es, falls wir das einfache Wesen als mit Gedächtnis begabt voraussetzen, auch innerhalb seines Geistes zu einer ähnlichen Verbindung der Werte und Unwerte (2) kommen. Ein höheres Tier faßt wohl jedenfalls das, was seinem Nahrungsbedürfnis dient, was ihm Schutz vor Kälte verspricht, was seinem Körper an Verwundung droht, in irgendeiner Weise zusammen. Es werden so Wertkategorien geschaffen. Es treten Fälle ein, in denen von zwei Werten nur einer erreicht werden kann, oder in denen ein Wert mit einem Unwert erkauft werden muß. Hier tritt ein Kampf der Motive ein; so bekämpfen sich der Wert der Nahrung und der Unwert der zu erwartenden Prügel im Hund beim Anblick der verbotenen Speise. Da der Mensch nun als ein reflektierendes Wesen mit Hilfe seiner Sprache abstrakte Begriffe bildet, faßt er die Entscheidungen der bei seinen komplizierteren Verhältnissen immer zahlreicher werdenden Motivkämpfe in allgemeine Regeln zusammen, welche Wertverhältnisse ausdrücken. Nicht nur der gegenwärtige Wert, auch der Wert, den ein Ding in zukünftigen Fällen haben könnte, wird dabei berechnet. Infolge der gedächtnismäßigen Verarbeitung behält ein Ding oder eine Handlung, die zu gewissen Zeiten unmittelbar Wertvolles schafft, auch dann ihren Wert, wenn das Bedürfnis, dem sie dient, augenblicklich gerade nicht vorhanden ist. Es tritt also in die Motivkämpfe nicht etwa nur das Wertverhältnis des Augenblicks oder einer kurzen leicht zu überschauenden Zukunft, sondern das ganze in der bisherigen Erfahrung aufgespeicherte Wertsystem auf. Wenn man sich dieses Tätigkeit vollendet denkt, bildet sich ein System aller Werte aus, welches das Handeln regelt.


B. Die geforderten Werte

Es tritt nun aber noch eine wesentliche Komplikation hinzu. Der Mensch kennt nicht nur Werte, welche das Handeln leiten, sondern auch solche, welche es leiten  sollten.  Hier und im folgenden wird ausschließlich vom Menschen die Rede sein. Inwieweit bei gewissen Tieren ähnliche Verhältnisse vorliegen, soll uns nicht beschäftigen. Bei Menschen also werden die Werte wiederum gewertet. Und zwar findet eine solche Wertung nicht etwa nur den Werten fremder Individuen gegenüber statt, sondern das handelnde Individuum selbst nimmt mit den seine eigenen Handlungen leitenden Motiven eine ähnliche Scheidung vor. Es wertet dieselben keineswegs nur nach ihrer Stärke. Vielmehr kann es deutlich empfinden, daß es in einem bestimmten Konfliktfall dem schwächeren Motiv, dem es nicht gefolgt ist, doch hätte folgen sollen. Es ergibt sich also außer dem tatsächlichen Wertsystem noch ein (oder mehrere) geforderte Wertsysteme. Diesen ganz allgemeinen Ausdruck "gefordert" (3) ziehe ich einem irgendwie bestimmteren etwa "moralisch" deshalb vor, weil jeder bestimmtere Ausdruck eine Anzahl Nebenbeziehungen in sich faßt, die nicht mit verstanden sein sollen. Jedenfalls sind diese Werte als überindividuelle zu bezeichnen. Denn das Individuum empfindet sich als durch sie verpflichtet. Sie sind nicht in sein Belieben gestellt, sondern sie sollten alle seine Sonderwünsche unbedingt zurückdrängen. Diese geforderten Werte können mehr oder weniger zu Systemen verarbeitet sein. In wenig entwickelten Geistern mögen sie sich als vereinzelte Regeln darstellen, die untereinander keinen Zusammenhang haben, über deren Begründung nicht weiter nachgedacht wird, die aber befolgt werden müssen. In anderen Fällen wird als diese Werte bestimmend ein höherer Wille gedacht werden. Dieser wird dann entweder in einem Menschen oder meist in übermenschlichen Wesen verkörpert gedacht. Oder es werden alle überindividuellen Werte in der Weise zusammengefaßt, daß ein höchster Wert oder Zweck vorgestellt wird, dem sie alle dienen. Es kann auch in demselben Individuum eine Reihe verschiedener überindividueller Wertnormen geben, die nicht oder nur unvollkommen miteinander in Zusammenhang gebracht worden sind. In gewissen Fällen mögen sie miteinander in Konflikt treten. Als Beispiel sei hier an die häufigen Konflikte religiöser und nationalpolitischer Ideale bei Katholiken erinnert. das tatsächliche Handeln eines Individuums wird sich meist als ein Kompromiß zwischen den rein individuellen Werten und dem oder den überindividuellen Wertsystemen darstellen.

Das geforderte Wertsystem ist nicht notwendigerweise, wohl aber zumeist ein einer Gruppe von Individuen gemeinsames, d. h. im weitesten Sinne des Wortes ein gesellschaftliches. Es ist nicht notwendig gesellschaftlich: dieser Satz scheint im Widerspruch mit dem anderen zu stehen, daß es notwendig überindividuell ist, aber  überindividuell  hieße hier ja nur: als über dem Belieben des Individuums stehend empfunden. Und nicht nur begrifflich ist beides "überindividuell" und "für eine Gruppe von Individuen gültig" zu unterscheiden. Es gibt auch in der Wirklichkeit Fälle, in denen ein Individuum in sich ein gefordertes Wertsystem findet, welches es selbst nicht als für andere Individuen bindend betrachtet (4). Man denke etwas an eine geniale Künstlernatur, die in sich die Forderung fühlt, ihr Leben an ihr Werk zu setzen, ohne irgendjemand anderem eine ähnliche Verpflichtung aufzuerlegen. Noch stärker tritt etwas Ähnliches bei einem religiösen Messias auf, der durch Taten und Opfer die ganze Menschheit erlösen will. Auch hier ist das geforderte Wertsystem überindividuell; denn es steht für das Bewußtsein des Individuums durchaus nicht in seinem Belieben, es anzuerkennen. Immerhin werden diese Fälle nicht häufig sein. Gewöhnlich werden sich, mindestens im Geist des wertenden Menschen, die für ihn geforderten Werte als auch für andere gültig darstellen. Sie haben dann ein Geltungsbereich, das eine größere oder kleinere Gruppe von Individuen oder auch alle menschlichen Individuen umfaßt. Dieser Geltungsbereich wird sich aber oft sehr verschieden darstellen für den, der das geforderte Wertsystem als gefordertes empfindet, und für den betrachtenden Geist, der fragt, in welcher Gruppe von Individuen die Werte als gefordert wirklich anerkant (ich sage ausdrücklich nicht: als Handlungsnormen befolgt) sind. Man kann den ersten Geltungsbereich den subjektiven, den zweiten einen objektiven nennen. Der Priester einer Religion fordert, sofern seine Kirche nicht national ist, sein religiöses Wertsystem ganz allgemein für alle Menschen; dem Betrachtenden ist die Gültigkeit des Wertsystems auf die Anhänger der betreffenden Religion beschränkt. Gesellschaftliche Zusammenhänge charakterisieren sich nun stets dadurch, daß für alle ihre Mitglieder gewisse Wertnormen einen objektiven Geltungsbereich haben. Jede Nation, jede Religion oder Sekte, jede Familie, ja jeder Verein stellt gewisse Forderungen und Gebote auf. Die einzelnen Individuen, welche sich als zu der Gruppe gehörend anerkennen, empfinden die betreffenden Wertnormen mindestens als gefordert, auch sofern sie nicht danach handeln. Nun ist aber zuweilen, besonders bei religiösen Gemeinschaften, das geforderte Wertsystem so beschaffen, daß keine oder nur außerordentlich seltene Menschen vollständig danach zu handeln vermögen. Der, welcher sich ihm ganz unterwirft, ist dann als das ideale Glied der Gruppe zu bezeichnen. In ihren Helden oder Heiligen sieht die politische oder religiöse Gruppe solche Ideale. Für das durchschnittliche Mitglied aber bildet sich ein Kompromiß zwischen den idealen Forderungen und der Wirklichkeit heraus. Das Wertsystem, welches in diesem Kompromiß als tatsächlich bindendes anerkannt wird, kann als das für die Gruppe normale bezeichnet werden.


C. Die Konstruktion der Wertsysteme

Der Übergang von vereinzelten Werten zu Wertgruppen, Wertregeln und schließlich Wertsystemen ist ein wesentlich intellektueller Vorgang. Es macht aber dabei einen sehr wesentlichen Unterschied aus, ob die Herausbildung des systematischen Zusammenhangs natürlich und allmählich im Verlauf einer individuellen oder gattungsmäßigen Entwicklung erfolgt, oder ob sie ausdrücklich von einem forschenden Geist unternommen wird. Im ersten Fall haben wir es einfach mit einer Verknüpfung der ähnlichen Vorgänge, mit einer allmählichen Herausbildung von Gemeinsamkeiten zu tun. Die nähere psychologische Analyse dieses Vorgangs bietet dann freilich dieselben Schwierigkeiten, wie die psychologische Theorie der natürlichen (vorwissenschaftlichen) Begriffsbildung überhaupt. In diesen natürlichen Prozeß greift sehr bald die bewußte Überlegung ein. Innerhalb der Ausbildung eines religiösen Wertsystems tut sie das z. B. mit Sicherheit überall da, wo sich ein eigener Priesterstand ausbildet. Innerhalb eines politisch-rechtlichen Zusammenhangs geschieht es, sobald die eigentliche Gesetzgebung beginnt. Es handelt sich dabei wesentlich um zweierlei. Einerseits muß zu den als vereinzelt durch Sitte und Tradition gegebenen Normen der gemeinsame Grund, der übergeordnete Zweck oder Wert gesucht werden, andererseits gilt es, neu auftretende Werte und Bedürfnisse in das alte System einzuordnen. Es können bei diesen Konstruktionen auch Fehler unterlaufen, insofern etwa ein nur mittelbar und zu gewissen Zwecken, also auch nur unter der Voraussetzung dieser Zwecke Wertvolles als allgemein wertvoll angesehen wird. Sind solche Fehler von autorativer Seite aus gemacht worden, so werden diese falschen Konstruktionen selbst wieder zu Motiven. Die Konstruktion hat durch ihre Fehler Werte geschaffen.

In allen solchen Fällen bleibt die ausdrücklich und willkürliche Konstruktion im Dienst der unmittelbaren praktischen Bedürfnisse. Sie setzt gewissermaßen nur das Werk der spontanen Neubildung und Ausbildung der Wertsysteme fort. Nun kann aber der forschend gewordene Geist die Aufsuchung der höheren Wertprinzipien zu einer theoretischen Aufgabe machen. Dies ist der Standpunkt des SOKRATES. Er ist fest davon überzeugt, daß den alltäglichen Wertungen seiner Landsleute ein allgemeines Prinzip und damit ein einheitliches System zugrunde liegt. Er ist ferner überzeugt, oder vielmehr er zieht nicht in Zweifel, daß dieses System das einzige und das richtige ist. Alle Fehler und Irrtümer beruhen nur darauf, daß die Klarheit nicht erlangt ist. Und auch das Böse wird so ein Irrtum, ein Nichtwissen, ein Denkfehler. Denn da alle Wertungen, die bloß individuellen so gut wie die geforderten, sich aus einem einzigen System ableiten lassen, muß dieses System, wenn erkannt, auch befolgt werden. Erkannt aber kann es werden, wenn man von Fällen allgemein anerkannter Wertung ausgeht und sich fragt, was mit dieser Anerkennung implizit gesetzt ist. Darum holt SOKRATES die Wahrheit aus seinen Zeitgenossen heraus, darum ist seine Kunst eine Hebammenkunst. Ähnliche Verfahrensarten sind von ähnlichen Voraussetzungen aus immer wieder in der Ethik geübt worden.

Es gibt aber noch eine andere Art wissenschaftlicher Konstruktion von Wertsystemen, welche jener Voraussetzungen entbehrt. Da sie weniger voraussetzt, ist sie weniger naiv. Denn Naivität im Sinne der Wissenschaft ist stillschweigendes Voraussetzen nicht selbstverständlicher Dinge. Diese Konstruktion sucht von den einzelnen Wertungen eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen aus zu den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien als solche im Bewußtsein der betreffenden Person oder Gruppe wirklich vorhanden sind. Es ist schon erwähnt, daß der Begriff des Triebes vielfach einer solchen Konstruktion seinen Ursprung verdankt. Schon beim "Ernährungstrieb" wird es zweifelhaft bleiben dürfen, ob "Ernährung" irgendwie vom Tier vorgestellt wird, die weitesten Verallgemeinerungen des Triebbegriffs gar, Selbsterhaltungstrieb und Arterhaltungstrieb, offenbaren sofort ihre rein konstruktive Natur. Es werden in ihnen ganz sicherlich Fälle zusammengefaßt, die für das Bewußtsein des Handelnden keinen Zusammenhang haben. Es ist selbstverständlich dem sein Hungergefühl durch Nahrung befriedigenden Tier nicht bewußt, daß es dadurch sein Dasein erhält. Aber für den betrachtenden Geist wirken diese und viele andere Handlungen in oft merkwürdig feiner Anpassung zu diesem Zweck zusammen. In ganz entsprechender Weise geht die Konstruktion auch bei den menschlichen Wertungen vor. Hier wird es freilich noch eine besondere sehr schwierige und interessante Aufgabe sein, festzustellen, wie weit das Bewußtsein des Wertenden von seinen Normen reicht.


§ 2. Innere Struktur von Wertsystemen
als Aufgabe der Wissenschaft

Einst wurde alle Wissenschaft von Zweckbegriffen beherrscht. Man glaubte, die Vorgänge der organischen und der unorganischen Natur am besten zu verstehen, wenn man sie als gewissen Zwecken dienend, gewisse Werte verwirklichend dachte. LEIBNIZ war der große Vertreter eines solchen Strebens. Mehr und mehr wurde diese Auffassung verdrängt. Die Subjektivität und Unwissenschaftlichkeit des Hineintragens von Wertgedanken in die Natur, bei SPINOZA noch eine kühne Opposition, wurde ein allgemein angenommener Grundsatz. Zweck und Wert sind nur denkbar in einem sie setzenden geistigen Sein. Auch wenn wir als tiefstes Wesen der gesamten Natur ein solches annehmen, ist es uns jedenfalls nicht erkennbar. Was wir von der Natur erkennen können, sind äußere Relationen. Wir konstruieren ihre Gesetzmäßigkeiten, erforschen ihre Bedingngen, bringen sie unter allgemeine Begriffe. Das ist unser Naturforschung.

Für die Biologie erschien dieser Gesichtspunkt lange als unzureichend. DARWIN versuchte, auch hier die Zweckmäßigkeit rein kausal abzuleiten. Ob die von ihm gewählte Vermittlung zureichend ist oder nicht, sie hat jedenfalls die Möglichkeit rein kausaler Betrachtung auch für dieses Gebiet erwiesen. Es würde dann allerdings aus der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung der Begriff  Fortschritt wegzubleiben haben. Denn von Fortschritt kann nur da die Rede sein, wo ein Ziel oder eine Entwicklungsrichtung als wertvoll vorgestellt wird. An dieser Verbannung der Wertbegriffe aus der Naturwissenschaft würde auch der Umstand nichts ändern, daß sich die methodischen Postulate dieser Wissenschaften selbst auf Zweckrücksichten zurückführen ließen. Denn diese Prinzipien leiten die Forschung, bilden aber keinen integrierenden Teil der Wissenschaft. Wo es nun die Wissenschaft mit bewußten und wertenden Wesen zu tun hat, da wird das Werten für sie ein Gegenstand der Untersuchung. Doch ist ihr mit diesem neuen Gebiet noch keineswegs zugleich einen neue Aufgabe gegeben. Etwas anderes ist es, Werte zu untersuchen, etwas anderes, selbst Werte aufstellen. Für den rein untersuchenden Geist ist auch der wertende Mensch eine bloße Tatsache. Er wird fragen, unter welchen Verhältnissen der Mensch Werte bildet, wie er sie bildet, welche er bildet, wie er sie verändert usw. Das alles unterscheidet sich prinzipiell nicht von irgendeinem anderen wissenschaftlichen Verfahren, in welchem es sich darum handelt, tatsächliche Zusammenhänge allgemeinen Begriffen zu unterwerfen und sie dadurch zu beherrschen.

Indessen pflegt man nun doch den rein theoretischen Wissenschaften wertende oder normierende gegenzuüberstellen. Als solche werden besonders Ethik und Logik bezeichnet. Da nun die Ethik noch um ihre Grundlagen kämpft, so ist die Logik zur Orientierung geegneter. Bisher wurde sie fast stets als Lehre, wie gedacht werden soll, als Normallehre des Denkens oder ähnlich definiert. Im Prinzip ändert auch SIMMEL wenig an dieser alten Auffassung, wenn er sagt, die Logik zeigt uns, wie wir denken müssen, wenn unser Denken mit der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit der Dinge übereinstimmen soll. Denn auch in dieser Begriffsbestimmung bleibt dieses System der Logik von einem Zweckgedanken geleitet (5). Nur soll der Zweck, wie es scheint, von der Wissenschaft vorausgesetzt werden, seine Feststellung nicht irgendwie selbst zu ihren Aufgaben gehören. Ob das Ziel der Logik von SIMMEL richtig und unzweideutig bezeichnet worden ist, steht hier nicht zur Diskussion. Jedenfalls handelt es sich in der Logik auch für SIMMEL um die innere Struktur eines Zweckgebietes. Es sollen die zu einem Zweck führenden Mittel abgeleitet werden. Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß der leitende Wert sich nicht notwendig unter der speziellen Form eines einheitlichen Zwecks darzustellen braucht. Es könnte sich auch um das Teilhaben an gewissen wertvollen Eigenschaften handeln; das Wertvolle braucht nicht eine Wirkung des Gewerteten zu sein. Um auch diesen Fall mit in die Diskussion einzuschließen, wird es sich empfehlen, statt des Ausdrucks "Zweck" den Ausdruck "Wertprinzip" zu gebrauchen. Die Logik stellt sich also nach den herrschenden Anschauungen als eine Lehre vom Denken dar, sofern dies einem Wertprinzip unterworfen ist. Woher das Prinzip stammt, bleibt an dieser Stelle ebenso außerhalb der Erörterung, wie welcher Natur es ist.

Gegen diese Auffassung hat LIPPS prinzipielle Einwände erhoben. Er sagt: man kann eine Normwissenschaft unmöglich in einen Gegensatz zu einer Tatsachenwissenschaft stellen. Denn die Frage, was man tun soll, damit ein Ziel erreicht wird, ist gleichbedeutend mit der anderen Frage, wie dieses Ziel tatsächlich erreicht wird. Wenn man ferner sagt, die Logik ist eine Lehre, wie man richtig denken soll, so ist auch diese Bestimmung überflüssig; denn Denken heißt ansich  richtig  denken. (6)
    "Wir denken richtig in einem materiellen Sinn, wenn wir die Dinge denken, wie sie sind. Aber die Dinge sind so oder so, sicher und unzweifelhaft, das heißt in unserem Mund, wir können sie der Natur unseres Geistes zufolge nicht anders als eben auf diese Weise denken. Denn es braucht ja nicht wiederholt zu werden, was oft genug gesagt worden ist, daß selbstverstänlich kein Ding, so wie es ist, abgesehen von Art, wie wir es denken müssen, von uns gedacht werden oder Gegenstand unseres Erkennens sein kann, daß also, wer seine Gedanken von den Dingen mit den Dingen selbst vergleicht, in der Tat nur sein zufälliges, von Gewohnheit, Tradition, Neigung und Abneigung beeinflußtes Denken an demjenigen Denken messen kann, das von seinen Einflüssen frei, keiner Stimme gehorcht, als der eigenen Gesetzmäßigkeit." (7)
Es werden also zwei Einwände gemacht: 1. Normwissenschaft ist ansich notwendig Tatsachenwissenschaft. 2. "Denken" ist identisch mit "richtig Denken". Beide Gründe scheinen nicht durchschlagend zu sein. Es ist ja durchaus zutreffend und oft genug anerkannt, daß das Mittel zum Zweck sich überall wie die Ursache zur Wirkung verhält. Deshalb ist es aber für die Aufgabe einer Wissenschaft noch keineswegs gleichgültig, ob in ihrer Anordnung das eine oder das andere Verhältnis herrscht. Geht man nämlich von der Ursache aus, so erscheint ein durch gewisse gemeinsame Eigenschaften oder Gesetze beherrschtes Gebiet als Gegenstand der Wissenschaft. es wird untersucht, welche Folgen innerhalb dieses Gebietes die verschiedenen möglichen Kombinationen der Ursachen haben können. Wenn dann einzelne dieser Folgen einem Zweck zu dienen vermögen, so ist das für den Standpunkt der Wissenschaft gewissermaßen zufällig. Bei einer von Zweckbegriffen ausgehenden wissenschaftlichen Betrachtung fragt man dagegen von vornherein, welche Kombinationen von Umständen geeignet erscheinen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Also besteht mindestens in der Umgrenzung des Gebietes und in dem als wichtig Hervorzuhebenden ein Unterschied. Nun ist es gewiß richtig, daß diese zweite Art der Betrachtung überall von der ersten ungemein viel gelernt hat. All denen gegenüber, die gar zu gern bei jeder Einzelforschung nach dem praktischen Zweck fragen möchten, ist es ganz recht, an den rein theoretischen Ursprung der wichtigsten praktischen Errungenschaften zu erinnern. Immerhin hat sich doch sogar auf dem Gebiet der Naturwissenschaft in den verschiedenen Technologien, zu denen auch die Therapie gehört, ein von Zweckrücksichten geleitetes Forschen und Darstellen vom rein theoretischen abgesondert. Trotzdem steht hier übrall die rein kausale Betrachtung als die innere, der Natur des Stoffs entsprungene, jener technologischen, deren Zweckbegriffe dem Stoff gegenüber äußerlich sind, voran. Anders wird dies, wo die zu untersuchenden Vorgänge selbst unter Zweckgesichtspunkten stehen. Und das ist in der Logik der Fall. Mit dieser letzten Behauptung stoßen wir nun allerdings auf LIPPS' zweiten Einwand. LIPPS identifiziert "Denken" und "richtig Denken". Er sagt, die Gesetze des richtigen Denkens sind nichts anderes als die Naturgesetze des Denkens selbst. Natürlich will er damit die Möglichkeit und Wirklichkeit des Irrtums nicht leugnen. Er leitet ihn nur daraus ab, daß zum reinen Denken fremde, störende Einflüsse hinzutreten. es wird also eigentlich nur das bewirkt, daß durch eine Definition, deren Zweckmäßigkeit hier nicht erörtert werden soll, der Wertbegriff "richtig" in den Begriff "Denken" hineingezogen wird. Wenn es sich nämlich schließlich darum handelt, die Gesetze des Denkens von jenen fremden Einflüssen rein abzusondern, so kann auch LIPPS nicht anders verfahren, als daß er im letzten Sinn sich auf die Erfahrung der Evidenz beruft. Darin liegt aber die Anerkennung eines geforderten Wertes als oberste logische Norm. Wenn man dann die letzten Forderungen, auf welche alle Logik zurückweist, und welche nicht weiter beweisbar sind, als "Natur des Denkens" bezeichnet, so hat man damit soviel gewiß richtig ausgedrückt, daß sie dem Denken nicht von einer äußeren Autorität diktiert sind, sondern daß es diejenigen Wertforderungen sind, welche das Denken selbst leiten. Man hat so den Wertbegriff in den Begriff des Denkens hineingezogen. Man braucht ihn nun natürlich in der Definition der Logik nicht mehr besonders auszudrücken. Man hat aber damit nicht bewiesen, daß die Logik von Wert- und Zweckbegriffen frei ist, sondern im Gegenteil gezeigt, wie innerlich notwendig ihr diese Begriffe anhängen.

Es bleibt also auch den Einwänden von LIPPS gegenüber dabei, daß die innere Struktur eines von Wert- oder Zwecknormen beherrschten Gebietes Gegenstand einer Wissenschaft werden kann. Denn man wird ja wohl der Logik, die doch immanente Voraussetzung aller Wissenschaft ist nicht selbst den Namen der Wissenschaft streitig machen wollen. Es fragt sich nun aber, wie sich die letzten Postulate eines solchen Systems eigentlich zur Wissenschaft verhalten.


§ 3. Die logische Beweisbarkeit oberster Wertprinzipien

So sehr man auch über die Kriterien der Wissenschaftlichkeit streiten mag, an einem pflegt man festzuhalten, nämlich an der Möglichkeit der Beweisführung. Ein wissenschaftlicher Satz oder eine wissenschaftliche Tatsache unterscheiden sich von einer bloßen Behauptung oder Meinung dadurch, daß sie sich beweisen lassen. Welcher Art diese Beweisführung ist, ist dem gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Der Beweis eines mathematischen Satzes ist gewiß ungemein verschieden vom Beweis einer historischen Tatsache. Und doch rechnen wir beides zur Wissenschaft, weil sich beides beweisen läßt. Natürlich ändert es an diesem Sachverhalt nichts, daß viele wissenschaftliche Beweise nur zu eine mehr oder minder hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gelangen. Es wird dann der Grad der Wahrscheinlichkeit selbst wiederum Gegenstand des Beweises. Nun weist aber jeder Beweis auf Unbeweisbares zurück. Das Gefühl der Evidenz, auf welches sich schließlich der ganze Bau stützt, ist selbst kein Beweis und keines Beweises fähig. RICKERT hat gezeigt, daß auch jede Anerkenung einer Tatsache im letzten Sinn auf dieses Gefühl der Evidenz als seinen Beweisgrund hindeutet. Das heißt also, es liegen aller Wissenschaft nicht weiter ableitbare Werte zugrunde, die sich als geforderte darstellen. (8) Diese Forderungen zwingen dadurch zu ihrer Annahme, daß auch der Streit gegen sie nur unter der Voraussetzung ihrer Gültigkeit möglich ist. Wer behauptet, es gibt keine Wahrheit, der kann im Ernst nicht einmal diesen Satz mehr verteidigen. (9) Man mag bei SEXTUS EMPIRICUS nachlesen, wie sich die antiken Skeptiker mit dieser Schwierigkeit abgequält und abgefunden haben.

Was die letzten logischen Normen gegen jeden Zweifel schützt, ist also der Umstand, daß der Zweifel selbst, indem er zweifelt, sie anerkennen muß. Diesen Grund der Evidenz können Wertnormen anderer Gebiete nicht für sich aufzeigen. Man betrachte etwa einen ganz allgemeinen formaln Grundsatz der Ethik. Formal muß ja ein solcher Satz sein, wenn er sich mit den formalen logischen Normen vergleichen lassen soll. Eine materielle Bestimmung aber muß er insofern enthalten, als er irgendein Gebiet der Wertung umschreiben muß. Ein solcher allgemeinster formaler Satz wäre für das Gebiet der Ethik: es gibt geforderte Werte für das menschliche Handeln. Dieser Satz enthält in der Tat die Regel für die Beurteilung der Moralität im Handeln eines Menschen. Ich kann die Handlungen nur an den Werten messen, die das Individuum als geforderte empfindet.

Wenn die Moralität eines Menschen beurteilt wird, so wird dabei vorausgesetzt, daß er moralische Werte kennt. Es muß aber auch zugleich festgestellt werden, wieviel oder besser gesagt wie wenig dieser Satz aussagt. Er sagt zunächst nichts aus über die Art der geforderten Werte. Er sagt nicht, ob sich diese Werte unter der speziellen Form eines Zwecks darstellen. Er sagt ferner durchaus nicht aus, daß diese Werte für alle, oder auch nur für eine Mehrzahl von Menschen dieselben sein müssen. Dies ist hervorzuheben, damit nicht durch eine Erschleichung ein solche Postulat in diesem allgemeinsten Satz mitgedacht wird. Es wäre ansich möglich, daß jeder Mensch verschiedene geforderte Werte hätte. Überindividuell in dem Sinne, daß sie nicht vom Willen des Individuums abhängen, wären diese Werte deshalb doch. Man könnte sich etwa denken, daß die geforderten Werte alle in einen transzendenten Plan hinein gehörten, der den Handelnden völlig unbekannt wäre. Jeder einzelne wüßte nur von seiner eigenen Aufgabe, und er wüßte von ihr nur durch jene innere Forderung. Es dürfte allerdings eine tiefere Bedeutung haben, daß auch bei einer solchen Voraussetzung man fast notwendig zur Annahme einer hypothetischen, transzendenten und unbekannten Einheit fortgetrieben würde. Es ist natürlich nicht meine Absicht, eine solche Anschauung als wahrscheinlich oder auch nur als mit den Tatsachen vereinbar darzustellen. Ich führe sie nur an, um zu zeigen, daß auch sie mit jenem allgemeinsten Satz verträglich wäre. Es wäre also für den Inhalt der moralischen Normen nichts aus diesem Satz zu schließen, und doch könnte er von Wichtigkeit sein, indem er wenigstens ein allgemeinstes formales Kriterium gäbe. Aber ist jener formale Satz selbst gegen Einwände geschützt? Er beruth auf einer Unterscheidung, auf einer Aussonderung einer gewissen Gruppe von Werten. Die Besiegung der diesen Werten entsprungenen Motive durch andere ist möglich, wird aber vom handelnden Individuum selbst als Unrecht empfunden. Daß dergleichen stattfindet, wird niemand bestreiten. Als historische Tatsache steht es fest. Ob aber diese Tatsache allgemein ist, für alle Menschen galt, gilt und gelten wird, kann gefragt werden. Es könnte jemand die Wirklichkeit geforderter Werte in sich selbst leugnen. Er könnte deren Wirklichkeit in anderen Menschen auf bloße äußere Autorität zurückführen. Wenn diesen Einwänden gegenüber erwidert wird: ja Menschen, die überhaupt geforderte Werte nicht in sich fühlen, stehen unterhalb und außerhalb der Moral, so würde diese Erwiderung einfach durch einen Machtspruch das festsetzen, was sie zu beweisen hätte. Oder wenn etwa der Gegner auf sein eigenes Inneres verwiesen würde, wenn man ihm sagte: sieh nur zu, du hast diese geforderten Werte in dir, so wäre das zwar eine berechtigte Aufforderung zu einer tatsächlichen Kontrolle, aber den Einwand selbst könnte es nicht entkräften. Denn wenn er die Tatsache leugnete, so wäre nichts mehr wider ihn zu sagen; er könnte aber sogar einen gewissen Rest eines entsprechenden tatsächlichen Verhaltens in sich anerkennen und diesen Rest auf die allen Gründen widerstehende Macht der Gewohnheit und Autorität zurückführen, die ihn wie seine Umgebung einst beherrschte. Keineswegs würde der, welcher jede ethische Norm bekämpft, sich selbst die Möglichkeit der Diskussion abschneiden, wie dies derjenige täte, der die letzten logischen Normen leugnete. Was sich gegen die hier versuchsweise aufgestellte Form einer allgemeinsten ethischen Norm einwenden läßt, das läßt sich gegen jede andere Formulierung ebenfalls einwenden. Denn die Gründe liegen nicht in der speziellen Form begründet, sondern darin, daß überhaupt eine in sich evidente letzte Norm für ein nicht logisches Gebiet gesucht wird. (10) Man könnte vielleicht meinen, daß es Normen nicht logischer Art gibt, die mit demselben Gefühl der Evidenz begleitet sind, wie die logischen. Aber die Evidenz gewinnt ja ihre wissenschaftliche Beweiskraft nicht aus dem Gefühl, sondern aus der Unmöglichkeit einer Bekämpfung. Wenn für nicht-logische Werte in eindeutiger Weise ein Gefühl spräche, so ergäbe das immer nur eine feststehende Tatsache, keinen logischen Beweis.

Es ergibt sich also bisher als Resultat unserer Betrachtung, daß erstens die innere Struktur eines Wert- oder Zwecksystems Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung sein kann, daß aber zweitens die letzten Normen eines nicht logischen Wertungsgebietes sich nie mit der Evidenz der logischen ableiten lassen. Wir haben erkannt, daß die Differenz der logischen und nicht logischen Gebiete darauf beruth, daß in der Logik das Denken sich selbst seine Werte festsetzt, daß es also nichts mehr zu denken, daher nicht einmal etwas zu bezweifeln gibt, wenn man diese letzten Gesetze antastet, daß aber auf allen anderen Gebieten das Denken einem ihm fremden Stoff gegenübersteht und hier von seinem souveränen Recht Gebrauch machen kann, alles Nichtbewiesene zu bezweifeln. Nun gibt es aber für alles Denken allerdings noch einen Zwang außer dem Zwang seiner eigenen Gesetze: das ist der Zwang der Tatsache. Es fragt sich also, wie sich Wertnormen in ihrer Gültigkeit aus den Tatsachen des Wertens ableiten lassen. Im letzten Sinn wird hier die Frage erhoben werden müssen, ob und unter welchen Bedingungen die Anerkennung einer Tatsache zur Anerkennung der Gültigkeit eines Wertprinzips zwingen kann. Man sieht, daß es sich hier nur um geforderte Wertprinzipien handelt. Daß im übrigen der Nachweis eines Bedürfnisses genügt, um die Mittel zu seiner Befriediung zum Gegenstand der Forschung zu machen, ist selbstverständlich. Die Therapie gibt an, wie der Kranke gesund werden kann unter der Voraussetzung, daß er gesund werden will. Diesen Willen setzt sie voraus und kann ihn nicht erzwingen. Wenn sie nun aber vom Arzt fordert, daß er die Gesundheit seiner Mitmenschen erstreben soll, so greift sie allerdings in das Gebiet der geforderten Werte über.


§ 4. Kritik von Wertprinzipien aus den Tatsachen

Es fragt sich, ob geforderte Wertprinzipien aus den Tatsachen heraus bewiesen werden können. Man wird geneigt sein, eine solche Möglichkeit  a priori  abzulehnen. Daß aus einer Tatsache eine Forderung niemals logisch gefolgert werden kann, ist selbstverständlich. Es gibt keine Möglichkeit, einen Schlß von der Form: "Bisher wurde dies als gefordert anerkant, also solle es weiter als gefordert anerkannt werden", oder irgendeinen ähnlichen zu vollziehen. Es fehlt hier notwendig das Mittelglied (11). Trotzdem sucht man sich stets bei der Kritik gegebener wie bei der Ableitung neuer Wertprinzipien zunächst an den Tatsachen zu orientieren. Was kann das bedeuten? Vielleicht eine Art Wahrscheinlichkeitsbeweis? Oder nur eine Selbsttäuschung? Oder sollten zu Schlüssen wie dem oben genannten die Mittelglieder von anderswoher gegeben sein? Vielleicht wenigstens als wahrscheinliche Hypothesen? Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, wird es sich empfehlen, zunächst zu untersuchen, was die Kritik eines irgendwie gegebenen Wertsystems aus den Tatsachen bedeuten kann. Die Untersuchung soll anhand eines Beispiels ausgeführt werden.

Besonders der Historiker wird oft in die Lage kommen, die Prinzipien eines Wertsystems mit Hilfe der Tatsachen durchzuprüfen. So kritisiert TAINE (12) das Programm der Jakobiner. Das höchste Ziel dieses Programms besteht darin, den Menschen in den ihm natürlichen Zustand der Freiheit und Güte zurückzuführen. Aus diesem Zustand ist er durch die soziale Ungleichheit und die falsche Religion entfernt worden. Nur durch eine Sprengung dieser Fesseln kann er regeneriert werden. In dem dann wiederhergestellten natürlichen Zustand folgt jeder nur seiner Vernunft, befreit von allen Vorurteilen. Jeder ist dann dem andern gleich, und diese natürliche Gleichheit wird auch in allen Verträgen gewahrt. Wie im Altertum, das dem natürlichen Glück weit näher war als die neuere Zeit, wird sich dann jeder einzelne ganz der Gesamtheit hingeben. Die Möglichkeit, eine Rückkehr zur Natur herbeizuführen, ist gegeben durch die Allmacht der Gesellschaft über den einzelnen. Diese Allmacht ist begründet auf den Satz ROUSSEAUs, daß der Gesellschaftsvertrag die vollständige Auslieferung jedes Individuums mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft bedeutet. Daher hat der Staat die vollkommene Verfügung über das Eigentum, die Person und sogar über den Glauben jedes Menschen. Von seiner Gewalt soll der Staat nun rücksichtslos Gebrauch machen, Die schlimmsten Feinde des natürlichen Glücks sind die falsche Religion und der ungezügelte, dem Ganzen widerstrebende Egoismus des einzelnen und der engeren Gruppen, der Familien, Stände, Vereinigungen. Diese Gegner müssen rücksichtslos vernichtet werden.

Wie widerlegt nun TAINE dieses System? Er zeigt, daß es anstatt mit Menschen mit Schemen arbeitet, und daß díese Schemen insbesondere mit den Franzosen von 1793 gar keine Ähnlichkeit haben. Der ganze Begriff des Naturzustandes ist eine reine Fiktion, ebenso der Gesellschaftsvertrag, durch den sich der Mensch rückhaltlos dem Staat ausgeliefert haben soll. Insbesondere widerspricht das Programm durchaus jenen Triebfedern, welche in modernen Menschen alles Wertvolle angeregt und hervorgebracht haben: der Ehre und dem Gewissen. Denn beide, Ehre und Gewissen, Produkte des ritterlichen und des christlichen Ideals, beruhen auf einer eigenen Stellungnahme des Individuums, auf einer Selbstprüfung im Handeln und Glauben. Gerade diese innere Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit wird durch die jakobinische Staatsallmacht zerstört. Was TAINE sonst noch anführt, richtet sich mehr gegen die Ausführung als gegen das System. Dahin gehört die Unangemessenheit der Mittel für den Zweck, die Heuchelei, mit welcher das Programm oft als reiner Vorwand benützt wird, usw. All das ist nicht notwendig mit dem System als solchem verbunden.

Inwiefern treffen nun jene erstgenannten Vorwürfe das System selbst? Daß das Programm ein Schea anstelle des wirklichen Menschen setzt, ist insofern ein Vorwurf, als von jenem Schema direkt auf den Menschen, wie er ist, geschlossen wird. Der Jakobiner meint, daß nach der Beseitigung gewisser Vorurteile der Mensch von selbst so dastehen wird, wie er ihn ausmalt. Er setzt also eine Tatsache voraus, die falsch ist. Insoweit sich sein System auf diese Tatsache stützt, ist es damit widerlegt. Gesetzt nun aber, ein Verteidiger dieses oder eines verwandten Wertsystems ginge von der Behauptung dieser Tatsache und vom ganzen Begriff des Naturzustandes ab, er sagte, der Mensch ist nicht so, aber er soll so sein, und wir wollen ihn so machen, so würde dieser Einwand gegen ihn nicht mehr stichhaltig sein. Es bliebe freilich die Frage übrig, ob und wie es möglich ist, den Menschen im Sinne jenes Ideals umzugestalten. In Bezug auf einen wichtigen Punkt, die völlige Unterwerfung des Einzelnen unter die Gesamtheit, scheint TAINE diese Möglichkeit nicht zu bestreiten, da er eine entsprechende Wirklichkeit in gewissen antiken Staaten annimmt. Aber, wenn die Erreichung jenes Ideals auch möglich wäre, könnte TAINE auch diesem neuen Verteidiger erwidern, so wäre sie doch nicht wünschenswert. Denn das aufgestellte Ideal streitet gegen Ehre und Gewissen, wie sie sich als höchst wichtige und einflußreiche Motivgruppen, als Stützen jeder uneigennützigen und wertvollen Betätigung, herausgebildet haben. Dieses Argument ist sicherlich durchschlagend für alle, die an jenen Triebfedern als an Werten festhalten. Wenn nun aber jemand sie als Unwerte, oder höchstens von einem niedrigen Standpunkt aus als Werte betrachtet, während sie vom Standpunkt seines Ideals gesehen als überflüssig erscheinen? Einem solchen würde jener Einwand nichts anhaben.

Man sieht, es sind zwei Formen von Gegengründen bei TAINE vorhanden. Die erste richtet sich gegen Tatsachen, die in einem Wertsystem mitbehauptet werden. Sofern ein System Tatsachen voraussetzt, können diese natürlich wissenschaftlich geprüft und gegebenenfalls widerlegt werden. Es wird besonders der Punkt der Ausführbarkeit sein, an welchen eine solche Prüfung sich anknüpfen läßt. Denn ein ideales System soll doch nich reine Forderung bleiben, sondern irgendwie Handeln und Leben beherrschen. Die zweite Art von Einwänden zeigt, daß das aufgestellte Wertsystem mit gewissen anderen Werten unverträglich ist. Diese Beweisführung ist für alle triftig, welche jene Werte anerkennen und ihre Erhaltung wünschen. So wird sehr häufig angewendet, ja sie ist im Kampf der Wertungen, der uns umgiebt, eine der gebräuchlichsten Waffen. So wird gegen das sozialdemokratische Ideal angeführt, daß es die Kunst, gegen das katholische, daß es die Wissenschaft ausschließt. Es ist dem Anhänger des angegriffenen Systems dann immer eine doppelte Art der Verteidigung möglich, und in den beiden erwähnten Fällen werden beide Möglichkeiten verwendet. Entweder nämlich kann die Berechtigung des als Gegengrund angeführten Wertes anerkannt werden. Dann muß der Einwand sachlich widerlegt werden. Oder das Wertgebiet wird nicht oder nur in einem untergeordneten Maß anerkannt. Wer das Streben nach Wissen für sündhaft erklärt, der Wissenschaft höchstens untergeordnete Nützlichkeitsaufgaben stellt, den wird die Unverträglichkeit eines Systems mit dem Gedeihen der Wissenschaft wenig stören. Entsprechend ist es mit der Kunst, wenn man sie für ein wertloses Luxusprodukt hält. Damit sind dann diese Einwände einfach abgeschlagen, sie treffen nicht mehr; d. h. freilich nur, sie treffen nicht mehr logisch. Denn insofern etwa in den Kreisen, in welchen jenes Ideal sich durchsetzen will, eine hohe Wertung der betreffenden Gebiete vorhanden ist, werden diese Argumente immer eindrucksvoll sein. Sie bilden dann für den Anhänger des Ideals keinen Grund, sein Ideal zugunsten von Werten, die er nicht anerkennt, aufzugeben, aber sie bilden für die Anhänger jener Werte einen Grund, das Ideal nicht anzunehmen.

§ 5. Ableitung von Wertprinzipien
aus den Tatsachen

Bisher haben wir uns die Frage nach der wissenschaftlichen Beweisbarkeit von Werten so gestellt, daß letzte Wertnormen irgendwoher gegeben waren, und daß deren Prüfung und Kritik in Frage stand. Aber vielleicht ist diese Fragestellung nicht die naturgemäße. Sie drängt sich allerdings stark auf, einerseits weil überhaupt die Ableitung vom Allgemeinen her in methodologischen Untersuchungen viel Bequemlichkeit bietet, andererseits weil so mannigfaltige Wert- und Zwecksysteme aufgestellt sind, daß es schwierig ist, ohne ihr Dazwischentreten an die einzelnen Tatsachen selbst zu gelangen. Doch wird es notwendig sein, jetzt den Weg der Ableitung von den Tatsachen her zu beschreiten.

Ehe von diesem veränderten Gesichtspunkt aus die Frage der Beweisbarkeit geforderter Werte gestellt werden kann, wird allgemein erörtert werden müssen, was es heißt, Wertprinzipien aus den Tatsachen zu konstruieren. Dabei muß auf die in § 1 versuchte schematische Darstellung des Tatbestandes zurückverwiesen werden. Es war schon dort darauf hingewiesen worde, daß die Werte zunächst vereinzelt, in ihrer Wirkung als besondere Motive, gegeben sind, daß die Zusammenfassung der gleichgerichteten Motive zu Normen vorwissenschaftlich beginnt und vom wissenschaftlichen Denken fortgesetzt wird. Es ist hier noch auf eine andere Eigenschaft der einzelnen Wertungen aufmerksam zu machen. Das Bewertete ist ein Komplex. Es ist zunächst in der Tatsache der Bewertung irgendeines Komplexes nicht mit gegeben, welche Teilinhalte oder Kompositionsformen eigentlich gewertet werden, oder ob vielleicht der Wert an einer dem ganzen Komplex äußerlichen Zweckbeziehung hängt. Hier führt eine Art experimentierenden Verfahrens zum Ziel. Man denke sich den Komplex abgeändert und frage, unter welchen Verhältnissen der Abänderung der Wert bestehen bleibt, unter welchen er sich vermehrt, vermindert oder verschwindet. Nebenbei bemerkt, beruth das einzige im engeren Sinne experimentelle Verfahren, zu welchem eine Wertwissenschaft bisher gelangt ist, das Verfahren der experimentellen Ästhetik, eigentlich auf dieser Überlegung. Es wird hier ein sinnlich Gegebenes, eine Form, Farbe usw. abgeändert, und die Versuchsperson gefragt, unter welchen Verhältnissen sie der Kombination den größeren oder größten Gefühlswert beimißt.

Es sind natürlich in allen solchen Konstruktionen der bei einem bewerteten Komplex wertvollen Elemente Täuschungen möglich. Da dann ferner das von der Theorie für wertvoll Ausgegebene selbst Wert gewinnt,, so können solche falschen Konstruktionen auf die tatsächliche Ausbildung eines Wertgebietes zurückwirken. Ein merkwürdiges Beispiel dafür liefert die Geschichte der bildenden Kunst. Die neuere Zeit ist hier zu wiederholten Malen auf die Antike zurückgegangen, weil sie in den aus dieser erhaltenen Werken eine besonders wertvolle und mächtige Ausbildung sah. Diese Überbleibsel waren farblos erhalten. Es schien also die Farblosigkeit in jenen Wertkomplex hinein zu gehören. Die farbenfrohe Zeit der Renaissance hatte instinktiv diesem Glauben ihr eigenes Farbengefühl entgegengestellt. Aber die Männer, welche im letzten Drittel des vorigen und im Anfang dieses Jahrhunderts auf die Antike zurückgriffen, glaubten in der Farblosigkeit ein wesentliches Merkmal und zwar ein im höchsten Grad wertvolles Merkmal jener Kunst erfaßt zu haben. Sie stellten das Ideal der Farblosigkeit für Architektur und Plastik auf und kamen sogar bis zur Forderung einer farblosen Malerei. Man erinnere sich, daß noch gegen ANSELM FEUERBACH die Bezeichnung "Kolorist" als eine Art Schimpfwort gebraucht wurde. Durch neue Funde hat sich immer entschiedener herausgestell, daß die Griechen und ihre römischen Nachahmer himmelweit von jener behaupteten Farblosigkeit entfernt waren. Da aber den Urhebern einer Kunst zuzutrauen ist, daß sie ein richtiges Gefühl für deren Bedingungen hatten, so ist rein historisch der Glaube an jene Farblosigkeit erschüttert, die historische Erkenntnis ist dem natürlichen Farbensinn zu Hilfe gekommen, und wir stehen vor dem seltsamen Ereignis, daß ein Stück Kunstentwicklung, von einem Wert mitgeleitet worden ist, dessen Forderung auf einem historischen Irrtum ruhte. Der Fehler liegt in diesem Fall darin, daß in einem wertvollen Komplex ein Faktor gewertet wurde, der ihm nur zufällig (infolge der Zerstörung der Farbe durch die Zeit) angehörte (13)

Es läßt sich also als wissenschaftliche Aufgabe bezeichnen, zu untersuchen, an welchen Teilinhalten, Kompositionsformen oder Zweckbeziehungen eines Komplexes der diesem zugesprochene Wert hängt. Selbst wenn die Gesamtwertung ganz an die individuelle Kompositionsform, an die höchst komplexe Gesamtgestalt, geknüpft ist, wie dies auf dem Gebiet der Kunst der Fall sein dürfte, ist es möglich, innerhalb des Komplexes einzelne wertgebende Faktoren auszusondern. Der Fehler würde erst da beginnen, wo man glaubte, in den Faktoren bereits den eigentlichen Gesamtwert zu haben. Auf diesem Irrtum beruhen im Grunde  alle Versuche, der Kunst Rezepte zu geben. Übrigens hängt die ganze Ableitung der wertgebenden Teilinhalte an der Tatsache. daß jener Komplex bewertet wird. Wenn diese Bewertung nicht allgemein ist, sondern nur unter gewissen Voraussetzungen erfolgt, so sind diese Voraussetzungen selbst ein integrierender Bestandteil des Wertkomplexes. Mit den nötigen Änderungen lassen sich diese Betrachtungen auch auf den Fall übertragen, wo der Wert des Komplexes daran hängt, daß er als Ganzes oder durch einzelne Teilinhalte Ursache eigentlich wertvoller Ergebnisse wird.

Bisher haben wir von Werten und Wertnormen im allgemeinen gesprochen. Es fragt sich nun, wie sich das Problem auf dem Gebiet der geforderten Wertnormen verhält. Die Isolierung der wertgebenden Faktoren oder Beziehungen ist hier im wesentlichen dieselbe, wie anderwärts. Wie aber läßt sich die Forderung als solche begründen? Gibt es eine Möglichkeit, von den Tatsachen ausgehend die Gültigkeit einer Forderung zu beweisen? Wären die geforderten Werte überall gleichartig und eindeutig als solche gegeben, so würde eine einfache tatsächliche Erforschung derselben genügen. Es wäre natürlich nicht aus irgendwelchen Tatsachen abzuleiten, daß sie gefordert sind, aber es wäre möglich, diesen Umstand einfach unter die tatsächlichen Grundlagen aufzunehmen. Aber schon die bisher besprochenen Eigenschaften, welche die geforderten Werte mit allen übrigen teilen, verhindern eine so einfache Behandlung. Die vorwissenschaftlich begonnene Zusammenfassung des Vereinzelten hat auf dem Gebiet der geforderten Werte eine noch größere Bedeutung als sonst. Ja, die Anerkennung von Werten als geforderten dürfte schon eine gewisse Zusammenfassung voraussetzen. Denn in der Forderung scheint das Bewußtsein einer Regel zu liegen. Es ist natürlich hier nicht der Ort, die ungeheuer schwierigen Fragen nach dem Ursprung geforderter Werte zu diskutieren. Es sollte nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Funktion der Zusammenfassung hier besonders wichtig wird. Ähnliches gilt von der zweiten Funktion, die die Wissenschaft vom vorwissenschaftlichen Denken überliefert erhält, von der Herausarbeitung der wertvollen Eigenschaften oder Zweckbeziehungen aus den bewerteten Komplexen. Gerade infolge ihrer besonderen Stellung haben die geforderten Werte von jeher das Nachdenken besonders auf sich gelenkt. Jene Irrungen, deren Möglichkeit und Bedeutung wir bereits im allgemeinen betrachteten, müssen hier besonders stark eingewirkt haben. ES kann so zu irrtümlich geforderten Werten kommen. Diese Behauptung scheint der anderen zu widersprechen, daß die Forderung der Werte als Gegebenheit anzusehen ist. Aber sie scheint es auch nur. Denn der Irrtum entsteht hier eben dadurch, daß die Gegebenheiten bereits vorwissenschaftlich bearbeitet sind. Er ist insofern mit den Sinnestäuschungen zu vergleichen, als auch diese nicht in den Empfindungen, sondern in deren Deutung und Verarbeitung ruhen. Aber mit all dem ist erst der geringste Teil der Schwierigkeiten bezeichnet. Die geforderten Werte sind weder in demselben Individuum zu verschiedener Zeit, noch in verschiedenen Individuen dieselben. Ja, innerhalb desselben Menschen können sich gleichzeitig verschiedene Gruppen geforderter Werte bekämpfen (Konflikt der Pflichten). Es fragt sich nun ob es möglich ist, ein all diesen Veränderungen und Konflikten überlegenes allgemeines Prinzip der geforderten Werte aufzustellen. Ansich wäre das Vorhandensein eines solchen unveränderlichen Wertes mit der tatsächlichen Änderung aller einzelnen Normen wohl vereinbar. Denn die Lebensverhältnisse, unter welchen jener letzte Werte sich durchsetzen muß, ändern sich ja und verlangen veränderte Mittel. Unter vollständig bekannten Bedingungen müßte dann freilich jeder Pflichtenkonflikt lösbar sein. Das Begehren nach einer - wenngleich nur idealen - Lösbarkeit jedes ethischen Einzelproblems ist es auch, welches dem Suchen nach einer letzten allgemein gültigen Zusammenfassung aller geforderten Werte jene eigentümliche Wärme und Dringlichkeit gibt. Aber beweisbar wird diese Einheit darum noch nicht. Es ist ansich wohl denkbar, daß sich nicht nur die Begleitumstände und mit ihnen die abgeleiteten Werte, sondern auch die letzten Forderungen selbst ändern. Freilich wäre mit der Anerkennung dieser Änderung kein letztes Resultat, sondern nur eine neue Aufgabe gegeben, nämlich die Richtung jener Veränderung zu erkennen. Es sei erlaubt, für die Erläuterung der hier allgemein dargestellten Unterschiede auf die biologische Analogie zu verweisen. Wenn man den Entwicklungsprozeß des Lebens lediglich als eine Anpassung bezeichnet, so setzt man einen gleichmäßig geforderten Wert (Gattungserhaltung) voraus. Man darf dann aber nicht vergessen, daß Amöbe, Bandwurm und Mensch gleich gut ihren Bedingungen angepaßt sind. die Überlegenheit des Menschen in Bezug auf Anpassung läßt sich wohl den Säugetieren gegenüber behaupten, die er zurückdrängt, vernichtet oder unterwirft, nicht aber gegenüber den ihm gleichgültigen Meerestieren, den ihm oft überlegenen Insekten und Schmarotzern. In der Tat sieht man in biologischen Theorien öfters außer der Anpassung noch einen Richtung gebenden Faktor aufgestellt. Begriffe wie "Lebensmehrung" "reichere oder vollkommenere Organisation", zeigen das Hineinspielen des Gedankes daß eine bestimmte Richtung in der Entwicklung wertvoll ist. Nur unter dieser Voraussetzung hat es einen Sinn, von Rückbildungen bei Schmarotzern usw. zu sprechen. Als Anpassungsvorgänge betrachtet, stehen diese Entwicklungen den sogenannten fortschreitenden vollkommen gleich.

Die Veränderung der geforderten Werte wird klar bei der Betrachtung historischer Zusammenhänge. Wie verhält sich nun der Geschichtsschreiber dem gegenüber bei der Beurteilung der Ereignisse? (14)

Wenn der Historiker die Handlung eines Menschen beurteilt, d. h. an geforderten Werten mißt, so besteht eine doppelte Möglichkeit. Entweder er fragt wie sie sich zu den von jenem Menschen als gefordert anerkannten Werten verhält, oder er vergleicht sie mit den von ihm, dem Historiker, geforderten Werten. Die sogenannte historische Unparteilichkeit besteht in der Anwendung des ersten Maßstabes. In der tat ist bei unvermittelter Anwendung der zweiten Art von Beurteilung ein inneres Verständnis von vornherein ausgeschlossen. Es wird damit in den handelnden Menschen etwas hineingetragen, bei ihm etwas vorausgesetzt, was ihm fehlte. Dagegen erscheint es als ein nicht abzuweisendes Unternehmen, die geforderten Werte eines Menschen oder eines Kulturkreises selbst an den eigenen geforderten Werten zu messen. Insbesondere wird sich nur so bei einer Wertänderung entscheiden lassen, ob sie als Fortschritt oder Rückschritt aufzufassen ist. Wer an einen Fortschritt glaubt, könnte sich dann als von der höheren Stufe aus die niederen beurteilend denken. Er müßte dabei zugeben, daß eine noch höhere Stufe seine Urteile ändern könnte, während eine richtig vollzogene Konstruktion aus den Wertprinzipien des Handelnden heraus von aller Veränderung unberührt bliebe. Wie man sieht, hört auch hier die wissenschaftliche Beweisbarkeit mit der Heranbringung eines Wertmaßstabes auf. Natürlich nur für diesen Wertmaßstab selbst. Denn unter der Voraussetzung des Wertmaßstabes ist die Beurteilung im idealen Sinn beweisbar. Die praktischen Schwierigkeiten solcher Unternehmungen werden in diesem Zusammenhang, wo es sich lediglich um die Prinzipien handelt, natürlich nicht berücksichtigt. Unser tatsächliches Verhalten gegenüber historischen Darstellungen entspricht dem aufgestellten Schema. Wir empfinden es nicht als gewaltsam, wenn man von einem sittlichen Verfall der Römer zur Zeit der Bürgerkriege spricht. Denn wir nehmen an, daß sie die Handlungsweise ihrer Vorfahren als gefordert anerkannten, ohne ihr zu folgen. Ja, aus ihren Reden und Schriften können wir das beweisen. Gewaltsam aber erscheint uns die Bewertung der Handlung eines Naturvolkes vom Standpunkt der christlichen Sittlichkeit aus. Ebenso die Beurteilung der Hexenprozesse, also ob die Richter die Nichtwirklichkeit der Hexerei gekannt hätten. Dagegen würde man wenig einwenden, wenn der Historiker unseren sittlichen Standpunkt gegenüber dem eines Naturvolkes als einen fortgeschrittenen bezeichnete.

Man könnte nun versuchen, aus der Kenntnis der Entwicklung der geforderten Werte Forderungen für die Zukunft abzuleiten. Nimmt man eine gleichbleibende oberste Wertnorm an und schreib die Verschiedenheit nur den veränderten Verhältnissen zu, so ist diese Voraussage einfach von der Kenntnis der zukünftigen Veränderungen in den Lebensbedingungen abhängig. Glaubt man aber an eine Änderung der Forderung, so könnte man die Änderungsrichtung zu bestimmen suchen. Freilich führt hier so wenig wie sonst ein logischer Schluß einfach von den Tatsachen zur Forderung hinüber. Die Änderung der geforderten Werte kann im beurteilenden Bewußtsein auch als schlecht bekämpft werden. Man könnte denken, daß ein plausibles aber unbeweisbares Axiom etwa von der Form, daß in den großen, säkularen, nicht hin und her schwankenden Änderungen geforderter Werte sich ein Fortschritt der Forderung offenbare, hier die Vermittlung übernimmt. Ein solches Axiom wird wohl vielen Versuchen, aus Tatsachen Forderungen abzuleiten, zugrunde liegen. Doch ist es in seiner rein formalen Natur gegenüber unserer Unkenntnis der Entwicklung kaum ausreichend. Vielmehr werden meist bestimmte Wünsche schon an die Ausdeutung der Tatsachen herangebracht. Immerhin wird sich, unter Hinzunahme dieses oder eines verwandten Axioms, einer Entwicklungsgeschichte der geforderten Werte ein gewisser regulativer Wert für die Aufstellung neuer Wertforderungen nicht abstreiten lassen. (15)

Erinnern wir uns nochmals der Hauptereignisse unseres bisherigen Gedankenganges. daß ein nicht logisches Wertprinzip die Evidenz eines logischen habe, war als unmöglich nachewiesen. Ebenso unmöglich ist die logisch genügende Ableitung eines Wertprinzips aus Tatsachen. Wir hatten dann gefragt, ob die Gegebenheiten etwa von so einfacher Art wären, daß man die Forderung selbst und einen gewissen Inhalt der Forderung einfach als Gegebenheit hinnehmen könne. Es hatte sich gezeigt, daß dies nicht der Fall war. Dagegen wär längst zweierlei als möglich erwiesen. Einerseits die tatsächliche Untersuchung aller Wertgebiete, welche eine konstruktive Ergänzung überall fordert, andererseits unter Voraussetzung irgendeines Prinzips die Konstruktion eines Wert- oder Zwecksystems, welches die Anwendung dieses Prinzips auf irgendwelche gegebenen Bedingungen lehrt. Wir sehen also, daß die letzte Entscheidung über Werte nicht bei der Wissenschaft steht. Wissenschaft ist nicht wertgebend; selbst die logischen Werte gibt sie nicht, sondern empfängt sie (16). Falsch aber wäre es zu sagen, die Wissenschaft habe bei Werten keine Bedeutung. Im Gegenteil hat sie hier eine dreifache Funktion. Sie wirkt konstruktiv, regulativ und kritisch. Sie wirkt konstruktiv sowohl in deduktiver Richtung von hypothetisch angenommenen oder irgendwoher gegebenen obersten Prinzipien her, als auch in induktiver Richtung, aus den Einzelwerten eines Mannes, eines Kulturkreises, eines Wertgebietes die Prinzipien ableitend. Sie wirkt regulativ besonders im Hinblick auf Wertänderungen; denn sie erlaubt nach Wahrscheinlichkeitsschlüssen und leider oft unbestimmten Analogien aus vergangenen Änderungen auf die Richtung künftiger zu schließen. Sie würde dies wenigstens erlauben, wenn wir Entwicklungsgeschichte und Entwicklungsgesetze der Werte besäßen. Sie wirkt kritisch, indem sie aufgestellte Wertungen und Wertsysteme auf ihren inneren Zusammenhang, auf ihre Widerspruchslosigkeit prüft. Sofern Wertsysteme, wie dies meist der Fall sein wird, darauf Anspruch erheben, irgendwelche geforderten oder nicht geforderten wirklichen Werte abzuleiten oder zu umfassen, ist es die wissenschaftliche Aufgabe, diesen Anspruch zu prüfen. Eine weitere tatsächliche Prüfung hat an die in Wertsystemen mitbehaupteten Tatsachen anzuknüpfen, die Ausführbarkeit des durch ein Wertsystem Geforderten für einen bestimmten Kulturkreis zu untersuchen. Eine Fülle von Aufgaben, deren Aufstellung beim gegenwärtigen Stand des Wissens fast schon utopisch erscheint.
LITERATUR Jonas Cohn, Beiträge zur Lehre von den Wertungen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 110, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) ALEXIUS MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Festschrift der K. K. Karl-Franzens-Universität, Graz 1894, Seite 20f
    2) Diesen sehr zweckmäßigen Terminus entlehne ich: EHRENFELS, Werttheorie und Ethik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 17, 1893, Seite 104. "Unwert oder negativen Wert sprechen wir allen Objekten zu, deren Nichtexistenz wir begehren."
    3) CHRISTIAN von EHRENFELS, System der Werttheorie, Bd. 1, Leipzig 1897, Seite 69, braucht dafür den Ausdruck "imperativischer Wert".
    4) GEORG SIMMEL, Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. II, Berlin 1893, Seite 22
    5) SIMMEL, Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1892, Seite 319
    6) THEODOR LIPPS, Grundzüge der Logik, Hamburg und Leipzig 1893, Seite 1
    7) LIPPS, Die Aufgabe der Erkenntnistheorie und die Wundt'sche Logik, Philosophische Monatshefte, Bd. 16, 1880, Seite 530
    8) HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis, Freiburg i. Br. 1892, Seite 63f
    9) RICKERT, Gegenstand, Seite 74-75
    10) In einem anderen Zusammenhang entwickelt SIGWART, Logik I, zweite Auflage, § 33, 6, Seite 261 ähnliche Anschauungen.
    11) SIMMEL, Einleitung in die Moralwissenschaft I, Seite 12 und 72
    12) Les origines de la France contemporaine, Bd. IV (II. la revolution Bd. III), Livre II, Seite 69f, Paris 1885
    13) Auf diese Fehlermöglichkeit macht auch MEINONG, a. a. O. Seite 77 - 78 (unter Nr. 3) aufmerksam.
    14) Vgl. zum folgenden WUNDT, Logik, 2. Auflage, II. Methodenlehre, 2. Abteilung, Seite 427f, Stuttgart 1895
    15) Ein solcher Versuch z. B. bei Ehrenfels, System der Werttheorie, Seite 171 - 174.
    16) Wie nun eigentlich die wertgebende Funktion näher zu bestimmen ist, soll hier nicht untersucht werden.