ra-2William SternHeinrich CohnLotzes WertlehreHarald Höffding    
 
JONAS COHN
Beiträge zur Lehre
von den Wertungen

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"Die Evidenz gewinnt ja ihre wissenschaftliche Beweiskraft nicht aus dem Gefühl, sondern aus der Unmöglichkeit einer Bekämpfung. Wenn für nicht-logische Werte in eindeutiger Weise ein Gefühl spräche, so ergäbe das immer nur eine feststehende Tatsache, keinen logischen Beweis. Es ergibt sich also als Resultat unserer Betrachtung, daß erstens die innere Struktur eines Wert- oder Zwecksystems Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung sein kann, daß aber zweitens die letzten Normen eines nicht logischen Wertungsgebietes sich nie mit der Evidenz der logischen ableiten lassen. Wir haben erkannt, daß die Differenz der logischen und nicht logischen Gebiete darauf beruth, daß in der Logik das Denken sich selbst seine Werte festsetzt, daß es also nichts mehr zu denken, daher nicht einmal etwas zu bezweifeln gibt, wenn man diese letzten Gesetze antastet, daß aber auf allen anderen Gebieten das Denken einem ihm fremden Stoff gegenübersteht und hier von seinem souveränen Recht Gebrauch machen kann, alles Nichtbewiesene zu bezweifeln."

"Die letzte Entscheidung über Werte steht nicht bei der Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht wertgebend; selbst die logischen Werte gibt sie nicht, sondern empfängt sie."


Zweiter Teil
Intensive und konsekutive Wertung

Um die im ersten Teil gekennzeichneten Aufgaben einer Wertwissenschaft zu erreichen, ist eine Kenntnis der Werttatsachen unbedingt erforderlich. Abgesehen von einer psychologischen Elementaranalyse des Wertens gehört dazu auch eine Übersicht über die verschiedenen Arten des Wertens und ihre möglichen und wirklichen Verhältnisse. Eine Beschreibung der materiellen und formalen Wertverschiedenheiten könnte man als Morphologie der Werte bezeichnen. Sie führt aber sogleich weiter zu der Frage, unter welchen Umständen so oder so gewertet wird, also zu einer kausal erklärenden Wertwissenschaft. Einer solchen Morphologie kann in verschiedener Weise vorgearbeitet werden. Man kann vom Wertsystem eines Mannes oder einer Zeit ausgehen, man kann ein Wertgebiet zu durchforschen suchen, man kann eine formale oder materielle Eigenschaft des Wertens durch verschiedene Gebiete verfolgen. Es ist eine Aufgabe der letzten Art, die sich dieser zweite Teil stellt.


§ 1. Darlegung des Unterschiedes

Schon wiederholt haben wir die Zweckprinzipien als besondere formale Klasse der Wertnormen betrachtet. Eine Diskussion der Begriffe Wert und Zweck wird am besten die eigentliche Aufgabe dieses Kapitels vorbereiten. Der Zweck verhält sich zum Mittel als etwas Fremdes, Äußeres. Ich schreibe z. B. - dann sind die Schreibbewegungen bloße Mittel; worauf es mir ankommt, ist, daß diese Bewegungen Zeichen hervorbringen, die gelesen dieselben Gedankengänge auslösen, welche ich niederschreibend hatte. Anders diese Gedankengänge selbst. Während ich sie durchlebe, stelle ich mir kein ihnen fremdes Ziel vor, auf welches sie gerichtet wären. Sie haben ihren Wert in sich, während der Wert der Schreibbewegungen in dem ihnen äußerlichen Zweck liegt. Man hat für Dinge oder Handlungen, die ihren Wert in sich tragen, wohl auch das Wort "Selbstzweck" gebraucht. Doch scheint mir darin, ganz abgesehen vom Mißklang des Wortes, eine ungehörige Erweiterung des Zweckbegriffs zu liegen. Man wird sagen, daß der Mathematiker seine Begriffe ähnlich erweitert, aus einer bloßen Rechenforderung den Begriff der negativen Zahl gewinnt usw. Aber hier hat die Begriffserweiterung ihre Berechtigung darin, daß sie einfacher Ausdruck einer erweiterten Anwendung gewisser Regeln ist. Eine solche Bedeutung kann die Erweiterung des Zweckbegriffs nicht haben. Denn gerade das Charakteristische, der Hinweis auf das Mittel oder vom Mittel auf den Zweck, die Relationsnatur des Zweckbegriffs fehlt ganz, wenn man von Dingen redet, die ihren Zweck in sich haben. Zudem haben wir im Wort "Wert" eine gebräuchliche Bezeichnung, welche den unmittelbar gegebenen und den nur durch Eignung für einen äußeren Zweck vermittelten Wert gleichmäßig umspannt. Wir tun also gut, dem Wort "Zweck" seine engere präzise Bedeutung zu lassen. Es gibt, so werden wir sagen, unter den Dingen, die wir wertschätzen, einen Unterschied, je nachdem sie in sich selbst oder als Mittel zu einem Zweck wertvoll sind. Häufig läßt sich dasselbe Ding unter beiden Gesichtspunkten betrachten und wird je nach der Betrachtungsart eine verschiedene Wertung empfangen. Es gibt Menschen, welche zur einen, und solche, welche mehr zur anderen Art des Wertens neigen. Bei großen Wertgebieten, wie der Kunst oder der Wissenschaft, kann man beide Gesichtspunkte walten lassen. Es ergibt sich so ein formaler Grundunterschied allen Wertens. Formal nenne ich diesen Unterschied, weil er sich unter den größten inhaltlichen Verschiedenheiten wiederholt. Man könnte den Unterschied als den des Erlebens und des Erreichens bezeichnen. Damit würde man ausdrücken, daß der Wertmaßstab ein verschiedener ist. Im einen Fall nach seiner äußeren Beziehung zu gewissen Zwecken. Da es im ersten Fall stets die Intensität eines gefühlsmäßigen Ergreifens ist, welche bewertet wird, im zweiten Fall die konsekutive Beziehung auf etwas Fremdes, so kann ich den Unterschied auch als den der intensiven und konsekutiven Wertung bezeichnen. EHRENFELS hat dafür die Ausdrücke  Eigenwert  und  Wirkungswert  gebraucht, die die Sache gut treffen, aber die Unbequemlichkeit haben, keine Adjektive und Adverbien zuzulassen. (1)

Ehe an eine weitere Durchführung des Gegensatzes gegangen werden kann, gilt es, ein häufiges Mißverständnis noch ausdrücklich zurückzuweisen. Schon im Vorangehenden war oft genug von Wertprinzipien gesprochen worden, die keine Zweckprinzipien sind. Man tut indessen zuweilen so, als ob Werte sich nur unter dem Gesichtspunkt des Zweckes allgemein betrachten lassen, während rein intensive Werte stets unverbunden und vereinzelt bleiben. Man vergißt dabei, daß auch, wenn jedes einzelne Ergebnis als rein intensiv gewertet angesehen wird, die wertgebenden Eigenschaften größeren Gruppen gemeinsam sein können, daß schon die vorwissenschaftliche Betrachtung solche Gemeinsamkeiten in gemeinsamen Bezeichnungen vorahnt, und daß es dann Sache der Wissenschaft sein wird, sie begrifflich herauszugestalten. Besonders die Betrachtung der Kunst hat sehr darunter gelitten, daß man Zweckbeziehungen die einzige Möglichkeit sah, Gemeinsamkeiten in der Wertung festzustellen.

Es wird nun im folgenden unsere Aufgabe sein, den kurz charakterisierten Gegensatz gewissermaßen biologisch zu verfolgen, ihn dann in seiner Anwendung auf besonders wichtige Wertungsgebiete zu untersuchen, ferner zu zeigen, an wie verschiedenen Stellen die letzten intensiven Werte angenommen werden können. Gelegentlich wird sich einiges über den geistigen Habitus aussagen lassen, der mehr zur einen oder mehr zur anderen Art des Wertens geneigt macht. Und endlich werden sich uns auch die letzten großen Probleme allen Wertens d. h. allen Lebens, wird sich uns das Symbol dieser letzten Probleme in der Gestalt des FAUST unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes von intensiver und konsekutiver Wertung zeigen.


§ 2. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtung

Wenn man aus der Erscheinungsweise der Handlungen niederer Tiere einen Schluß wagen darf, so sind dieselben vom Augenblick allein abhängig und zwar umso mehr, je niedriger das Tier steht. Mit unfehlbarer Sicherheit kann man voraussagen, daß ein Protozoon einer bestimmten Art bestimmten chemischen oder elektrischen Reizen folgt, daß es sich dem Licht zu oder vom Licht abwendet. Über den Augenblick scheint sein Bewußtsein nicht hinaus zu gehen. Was es sucht, ist nur die Annehmlichkeit eines gegenwärtigen Erlebnisses. So wäre also das niedere Tier ein vollkommener Typus intensiver Wertung. Aber wenn man sich, anstatt in das Bewußtsein des Tieres, in die Anschauung seines ganzen Lebensganges oder gar in den Gang der Entwicklungstendenzen zu versenken sucht, so gewinnt man einen ganz anderen Eindruck. Dann ist die durch den Reiz und das Gefühl unmittelbar gegebene Handlungsweise selbst nur Mittel zu einem höheren Ziel, der Erhaltung des Individuums und der Gattung. SCHOPENHAUER sagt, daß die Liebe eine Überlistung des Individuums durch die Gattung sei. Man könnte das Wort noch auf manche andere Handlungsweisen des Tiers anwenden. Je nachdem wir also unseren Standpunkt im Bewußtsein des Tieres oder in der Betrachtung des gesamten Lebens nehmen, beurteilen wir die Handlungen eines niederen Tieres als intensiv oder als konsekutiv wertvoll. Diese verschiedene Betrachtungsweise drückt sich auch in zwei verschiedenen Arten von Triebbegriffen aus. Wenn wir von Bewegungstrieb sprechen, so verallgemeinern wir einfach die unmittelbare Lust des Tieres an der Bewegung; in Ausdrücken aber, wie Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungstrieb, beziehen wir die einzelnen Handlungen des Tieres auf einen aus der Gesamtbetrachtung des Lebens gewonnenen Zweck. Nun finden sich bei Tieren auch kompliziertere Handlungsweisen, die ihr Ziel augenscheinlich außerhalb ihrer selbst haben - dies sind die sogenannten Instinkthandlungen. Wenn die Biene ihre Jungen aufzieht, einige zu Königiinnen heranfüttert, die Drohnen tötet, die Leichname herausschafft, wenn der Vogel sein Nest, der Biber seine kunstvolle Hütte baut, so scheinen diese Handlungen ganz bestimmt vorgestellten Zwecken zu dienen. Bekanntlich herrscht Streit darüber, ob in inwieweit solche Ziele im Bewußtsein der Tiere gegenwärtig sind. Nach der einen Ansicht wertet das Tier rein intensiv, es empfindet die Neigung, Larven zu füttern, Drohnen zu töten, sein Nest zu bauen. Den Zweck sieht es dabei nicht, es vollzieht die Handlung, weil sie ihm als solche Befriedigung gewährt. Nach der anderen Ansicht hat es in mehr oder minder hohem Grade das Bewußtsein des Zwecks. Es wertet mindestens teilweise konsekutiv. Es tötet die Drohnen, um überflüssige Fresser zu beseitigen, es baut sein Nest, um sich und die Jungen zu schützen. Es wird sich sehr schwer entscheiden lassen, wie weit jede von diesen beiden Anschauungen in jedem einzelnen Fall recht hat. Das einzige Mittel, eine solche Entscheidung herbeizuführen, scheint der Nachweis zu sein, wieweit eine Instinkthandlung sich ungewöhnlichen Umständen anzupassen vermag.

Die wesentlich intensive Wertung, welche wir beim Tier voraussetzen, findet sich nach dem Zeugnis der Sachkundigen auch beim unzivilisierten Menschen. Die Wilden folgen meist unmittelbar ihren augenblicklichen Antrieben, ihre Handlungsweise ist daher ohne Folgerichtigkeit. Am meisten soll dieser Charakterzug bei den Negern hervortreten. Dabei zeigen die Triebe selbst natürlich ebensogut wie bei den Tieren eine Beziehung auf das Gesamtwohl des Einzelnen und der Gemeinschaft. Aber die nur triebartige Regulierung genügt immer weniger. Schon beim höheren Tier zeigt sich ein vorbedenkendes Verhalten, ein sich Anpassen an veränderte Umstände, eine Überwindung starker Neigungen aus Furcht vor Schädigung. Alle Dressur beruth schließlich auf dieser Fähigkeit. Noch mehr lernt der Mensch allmählich für seine Zukunft sorgen. Nun ist der ursprüngliche Mensch nicht, wie eine falsche Theorie wollte, ein vereinzeltes Wesen. So gut wie seine nächsten tierischen Verwandten lebt er in Familien, Stämmen oder Horden. Naturgemäß bildet sich hier das Ziel des Stammeswohls. Und als stärkere Schutzwehr gegen die übermächtigen Antriebe des Augenblicks umgibt es sich mit der furchtbaren, geheimnisvollen Macht zwingender Autoritäten. Diese Autoritäten werden oft als übermenschlich gedacht. Ehre und Religion werden bestimmend für das Handeln des Menschen. Nordamerikanische Indianer leiden lautlos die höchsten Schmerzen; die Polynesier, sonst zügellose Menschen, unterwerfen sich den Bestimmungen eines komplizierten religiös-sozialen Systems. So bilden sich im Zusammenhang des Stammeslebens geforderte Werte. Sie erhalten durch die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung zunächst eine konsekutive Wertung. Indessen wenn man versucht, die höheren Wertsysteme aus der Entwicklung abzuleiten, so macht man damit über ihren eigenen und eigentümlichen Wert gar nichts aus. Weil sich ein Wert im Zusammenhang mit der primitiven Lebenserhaltung des Einzelnen oder des Stammes herausgebildet hat, zieht er seinen Wert noch nicht notwendig aus diesen einfachen Zielen. Er kann sich vielmehr als ein eigentümlicher ja als ein alles andere überwiegender Wert darstellen. Rückblickend wird man dann geneigt sein, die ganze Entwicklung, deren Produkt er ist, als auf ihn zielend zu betrachten. An diese Betrachtungsweise könnte eine wertende Weltauffassung anknüpfen. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Möglichkeiten hier weiter zu verfolgen. Man sieht aber jedenfalls schon so viel, daß die höheren Wertgebiete des Staates, der Sittlichkeit, der Kunst, der Wissenschaft entweder als Mittel gewertet werden können oder selbst intensive Werte auszumachen vermögen.


§ 3. Staat, Wissenschaft, Kunst.

Der Staat ist einem HOBBES nur ein allerdings höchst wichtiges Mittel, den Frieden zu erhalten, der streng liberalistischen Auffassung eine Schutzwehr für die gegenseitige größtmögliche Freiheit, einem PAUL de LAGARDE eine bloße Maschine. Dagegen sieht PLATO im Staat die Verwirklichung der höchsten Idee, HEGEL nennt ihn das Göttliche im Irdischen, LASSALLE stattet ihn mit dem höchsten souveränen Wert aus. Unter denen, welche dem Staat nur konsekutiven Wert zuschreiben, kann man wieder diejenigen unterscheiden, die allen intensiven Wert im einzelnen Individuum konzentrieren und in jeder sozialen Form nur ein Mittel erblicken, und diejenigen, die wie LAGARDE anderes soziale Formatiionen als die eigentlich wertvollen, den Staat nur als ihr Schutzmittel betrachten. Dieser letzteren Gruppe scheinen viele mittelalterliche Scholastiker anzugehören.

Auch die Wissenschaft wird von einer Grupe von Männern rein konsekutiv gewertet. BACON und HOBBES betrachten sie als Mittel zur Beherrschung der Natur und zur richtigen Behandlung der Menschen, die Stoiker sehen in ihr eine Vorbereitung zur Tugend, LUCRETIUS ein Mittel, sich quälender abergläubischer Furcht zu enthalten. Dagegen erscheint Männern wie PLATO oder SPINOZA das Erkennen selbst als hohes, zum Teil als höchstes Ziel, es wird rein intensiv gewertet. Es ist Aufgabe des Menschen, die Welt, die Ideen oder Gott zu erkennen. Ähnlich steht es mit der Kunst. PLATO wertet sie rein konsekutiv als Erziehungsmittel. Er schätzt sie relativ gering, wenn auch nicht ganz so gering, wie CAMPE, der von seinem Nützlichkeitsstandpunkt aus lieber die Braunschweiger Mumme [Biersorte - wp] erfunden als die  Ilias  geschrieben haben wollte. Der junge SCHILLER betrachtet die Schaubühne als moralische Anstalt. Aber in der Kunst liegt etwas, was ihre Verehrer von einer bloß konsekutiven Wertung abzieht. Sie ist allzusehr auf ein volles in sich befriedigtes Erleben gestellt, als daß sie ohne Zwang konsekutiv gewertet und doch hoch geschätzt werden könnte. Bei rein konsekutiver Wertung bekommt sie leicht den Anschein von etwas nur Geduldetem. So ging auch SCHILLER, dessen reflektiver Natur, dessen strebendem Charakter ein konsekutives Werten sonst nahe lag, später zur intensiven Wertung der Kunst über. Freilich sucht er diese intensiv wertvolle Betätigung durch den Gedanken einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts zur Humanität zugleich auch konsekutiv zu werten. Wie hier schon angedeutet, besteht zwischen der Kunst und der Wissenschaft ein entschiedener Gegensatz in ihrem Verhältnis zum intensiven Wert. Diese inneren Unterschiede beider Gebiete, die von der Gesamtwertung des Gebietes verschieden sind, gilt es jetzt zu betrachten.

Man kann diesen Unterschied so ausdrücken, daß man sagt, "die Wissenschaft" ist eine Realität, "die Kunst" nur ein Gemeinname. In jeder wissenschaftlichen Arbeit schätzen wir in erster Linie den Beitrag, den sie zum Gesamtwissen liefert. Der Ausdruck "Baustein" ist für uns dafür geläufig, und er ist ein ganz passendes Bild. Eine wissenschaftliche Arbeit ist also ein Teil, der für die Schätzung seiner Bedeutung über sich hinaus auf ein Ganzes weist. Ein Kunstwerk, das wir genießen, ist ein Ganzes in sich. Man kann ja Kunstwerke auch von anderen Gesichtspunkten aus betrachten, als von dem der Kunst. Wenn man aber den dem Gebiet innerlich eigenen Wertmaßstab anlegt, so wird man unmöglich den eigentlichen inneren Wert eines Kunstwerkes konsekutiv nennen können. Als höchste Stufe künstlerischen Genusses ist von jeher das völlige Aufgehen im Betrachten angesehen worden. Ein ästhetischer Wert ist durchaus ein Wert des Erlebens. Auch wenn man das ästhetische Erleben als Ganzes in den Dienst eines anders gearteten Ideals stellt, kann man sich dem nicht verschließen. Man würde dann etwa sagen, daß dieses intensiv in sich ruhende Miterleben im Geiste des Erlebenden gewisse wertvolle Tendenzen bestärken soll. Der für den Genießenden intensive Wert würde vom Standpunkt der Sittlichkeit her konsekutiv gewertet werden.

Mit diesem verschiedenen Wertmaßstab gewinnt auch der Begriff des Fortschrittes für die Gebiete der Wissenschaft und der Kunst einen ganz verschiedenen Sinn. In der Wissenschaft knüpft jede Arbeit an die Gesamtheit der vorhandenen Arbeiten an und sucht, über sie hinaus, das Gesamtwissen nach irgendeiner Richtung zu fördern. In der Kunst will jedes Werk als ein Ganzes für sich betrachet sein. Freilich ist darum nicht etwa auch der Künstler ein Mensch für sich. Er steht vielmehr so gut wie der Gelehrte mitten im Gesamtleben seiner Zeit, er ruht auf der Arbeit seiner Vorgänger, an der er sich gebildet hat. Insofern nun in unvollkommeneren Werken einer ähnlichen Strebensrichtung sich ein technischer Fortschritt angebahnt findet, den der vollendetere Künstler zu einem höheren Werk auszunutzen vermag, kann man wohl von ihm sagen, er schreite über seine Vorgänger fort. Es mag ganze Epochen geben, deren Werke die Fähigkeit nicht mehr haben, uns zu einem intensiven Mitleben anzuregen. Insofern solche Epochen dann doch gewisse Anregungen technischer und inhaltlicher Art ausgegeben haben, die für intensiv wertvolle Kunstwerke wegweisend geworden sind, kann man sie als Vorbereitungsepochen bezeichnen. Man vermag sich zu ihnen etwa nur noch "historisch" zu verhalten. So ist die Stellung vieler unter unseren Zeitgenossen zu KLOPSTOCKs Oden. Man kann sie nicht mehr genießen, aber man erkennt an, daß sie das Sprachgefühl gebildet, den reineren Ausdruck der Empfindungen verbreitet, den ins Spielerische sich verlierenden Neigungen des Rokoko entgegengearbeitet haben. Man bewertet sie dann also konsekutiv etwa im Hinblick auf GOETHE. Wo aber ein Kunstwerk unser Mitleben voll anzuregen vermag, da ist es ein Höchstes, da ist wohl ein anderes neben ihm, nie aber ein Höheres über ihm denkbar. Es erscheint lächerlich, zu sagen, SOPHOKLES sei über HOMER, oder GOETHE über SHAKESPEARE hinaus fortgeschritten. Wer sich in eine sogenannte Vorbereitunszeit tiefer versenkt, für den erhalten dann auch ihre Werke eigene Werte, die von den Werken der nächstfolgenden Zeit bei aller Größe und Fülle nicht ersetzt werden. Vielleicht, daß mancher, der KLOPSTOCKs Werken zunächst wegen ihrer historischen Bedeutung näher zu treten sucht, sie dadurch auch als eigentümlich wertvolle Kunstwerke lieben lernt. Dann wird ihm jene "historische" Stellungnahme dem vollen Mitleben gegenüber, zu dem er gelangt ist, als flach und äußerlich erscheinen. Ja, eine ganze Epoche kann für die Betrachtenden aus der Stellung eines Vorbereitungsalters in die einer in sich wertvollen Periode übergehen. So ist es in den letzten Jahrzehnten immer mehr mit der italienischen Kunst des 15. Jahrhunderts geschehen. NEWTONs Physik kann auch ein relativ unbedeutender Nachfolger hier und da überholen. Wissenschaftliche Werke werden als solche überwunden. Ein in sich großes Kunstwerk kann nie überwunden werden. Es können höchstens die subjektiven Vorbedingungen des Miterlebens verloren gehen.

Natürlich kann man wissenschaftliche Werke auch künstlerisch werten. Der Forscher arbeitet ja an seinem Werk als ganze Persönlichkeit. Und sofern er bedeutend war, wird es reizvoll sein, seine Gedanken in seinem Geiste mitzuerleben. Es wird sicherlich dieses Zurückgehen auf die schöpferischen Denker auch für die weitere Forschung von höchstem Nutzen sein. Nicht nur wird die eigentümliche Methode des Denkens und Darstellens, die einen Mann zu seinen Erfolgen geführt hat, so am besten erkannt werden, auch die Gedanken selbst werden in ihrer Bedeutung voller gewürdigt werden können, ganz abgesehen davon, daß sich in den Werken hervorragender Forscher Anknüpfungspunkte finden mögen, die von den Nachfolgern übersehen worden sind. Aber das alles ändert nichts daran, daß die Arbeiten selbst als wissenschaftliche veraltet und überholt sind. Natürlich ist das anders, sofern sich die Arbeiten ihrer Natur nach teilweise künstlerische Ziele vorsetzen, wie dies besonders von historischen Darstellungen gilt. Wenn wir die Wissenschaft so als ein großes Ganzes betrachten, an dem jeder mitarbeitet, ohne jedoch den ganzen Plan zu übersehen, so scheint die allgemeine Schwierigkeit alles konsekutiven Wertens, die Frage nach dem letzten Ziel, hier besonders brennend zu sein. Und in der Tat wird gerade der wissenschaftlich Arbeitende dies empfinden. Zum Teil mag ihm der intensive Wert des Arbeitens als solchem Befriedigung verschaffen. Aber er wird sich doch auch sehnen, vom Ganzen, an dem er mitarbeitet, einen Überblick zu gewinnen. Hier liegt einer unter den Anknüpfungspunkten der Philosophie.

Das philosophische System dient einem jeweiligen Bedürfnis nach einer Vollendung des Erkennens. Insofern es dies tut, vollendet es die konsekutiv auf andere Zeiten verweisende Arbeit der Einzelforschung zu einem vorläufigen intensiven Wert. Die Philosophie teilt diese relative Intension mit allen umfassenderen Theoriebildungen. Wie sehr freilich auch das Weiterarbeiten der Einzelforschung oft durch eine derartige Zusammenfassung und Vorwegnahme gefördert worden ist, ist bekannt und braucht hier nicht mehr angeführt zu werden. Soweit es sich in der Philosophie um besondere Einzelprobleme handelt, läßt sie den Begriff des Fortschritts so gut zu, wie jede andere Wissenschaft auch. Auch die Systeme als Ganze lassen sich in eine fortschreitende Reihe ordnen. Aber jene Umstände, welche hervorragenden älteren Werken auch dann noch Wert verleihen, wenn sie überwunden sind, treten in der Philosophie besonders stark hervor. Als abschließende Konstruktion und Kritik des Weltbildes einer bestimmten Zeit und eines produktiven Geistes behält sie zudem eine Art künstlerischen Wert für jeden, der sich in sie hinein zu denken vermag.

Eine solche Bewertung der Philosophie setzt allerdings voraus, daß man dem Erkennen als solchem einen intensiven Wert beimißt. Wird die Wissenschaft überhaupt nur konsekutiv gewertet, so kann der Abschluß des Erkennens auch nur insofern Wert haben, als er anderen Zwecken dient, etwa das ethische Handeln fördert oder dem Aberglauben entgegensteuert.


§ 4. Die Stellung der intensiven Werte

Es ist eine allbekannte Tatsache, daß Dinge oder Handlungen, die anfangs nur als Mittel gewertet werden, allmählich einen eigenen intensiven Wert erlangen. Das klassische Beispiel dafür liefert der Geizige. Als eine Analogie dazu läßt es sich bezeichnen, wenn die für das Bewußtsein des wertenden Individuums intensiven Werte sich unter dem Gesichtspunkt der Gesamtentwicklung als konsekutiv zeigen. Die Entstehung des konsekutiven Zusammenhangs pflegt man dann der natürlichen Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein zuzuschreiben. (2) Es ist also möglich, daß Werte, die dem Wertenden intensiv erscheinen, doch als konsekutiv betrachtet werden. Wenn man fragt, wo eigentlich die wahrhaft intensiven Werte zu finden sind, so muß man dabei an die Möglichkeit einer solchen Umwandlung denken. An der Tatsache, daß von irgendeinem Menschen irgendein rein individueller oder geforderter Wert als intensiv empfunden wird, ist natürlich nichts weiter zu diskutieren. Es handelt sich immer nur darum, ob sich nicht dieser intensive Wert als lediglich deshalb wertvoll ergibt, weil er einem Zweck dient. Eine solche Erkenntnis kann auch praktische Folgen nach sich ziehen. Ein konsekutiver Wert ist nur insoweit wertvoll, als er geeignet erscheint, zur Erreichung seines Zwecks zu dienen. Wird er subjektiv zum intensiven Wert umgeschaffen, so kann sich leicht eine Überschreitung dieser Grenze herausstellen. Die Erkenntnis dieses Umstands kann dann zur Wiedererlangung der richtigen Grenze benutzt werden. Hier ist aber auch die entgegengesetzte Täuschung möglich. Das verbindende Denken neigt dazu, teleologische Verbindungen zu suchen. Es mag dabei den intensiven Wert auch dort in einen konsekutiven verwandeln, wo dieser Verwandlung ein inneres Recht nicht zuzusprechen ist. Eine solche Neigung tritt nicht erst in der Wissenschaft hervor, sondern schon im vorwissenschaftlichen Denken, in Religion, Sprache und Sitte. Es kann wohl sein, daß hier Werte mit Zwecken in Verbindung gesetzt werden, mit denen sie nichts zu tun oder nur eine gelegentliche Berührung haben. Dieses Verhalten steht in vollster Analogie zu den sogenannten Volksetymologien. Die Möglichkeit derartiger Täuschungen zeigt, daß es möglich ist, ganze Wertgebiete unter einem konsekutiven und unter einem intensiven Gesichtspunkt zu betrachten. In ganzen Lebensanschauungen kann der eine oder der andere Gesichtspunkt in verschiedenem Grad vorwalten. Verschiedene Geister oder Geisteszustände disponieren mehr zum einen oder zum andern. Im weiteren Ausbau verwickeln sich beide in eigentümlichhe Schwierigkeiten. Wer das intensive Moment sehr stark betont, etwa alle Werte auf die unmittelbar empfundene Lust zurückführt, der kann Wertunterschiede und Wertforderungen nur von Quantitätsdifferenzen dieses unmittelbaren Wertes herleiten. Man sieht, wie hier, ähnlich wie bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, eine Zurückführung aller qualitativen Unterschiede auf quantitative erstrebt werden müßte. Wo umgekehrt ein konsekutiver Zug das Werten beherrscht, da droht infolge der Neigung, den Wert hinauszuschieben, der Wert selbst verloren zu gehen. Es soll versucht werden, diese Verhältnisse dadurch etwas genauer kennenzulernen, daß wir den Ort betrachten, an welchen die intensiven Werte verlegt werden können. Es wird dabei der Habitus, der zu einem gewissen Wert disponiert, ebenso beachtet werden müssen, wie die Motive, die zur Hinausverlegung des Wertvollen anreizen. Daß wir mit dieser schematischen Aufstellung keine Entwicklungsgeschichte geben wollen, ist klar. Es handelt sich um ein begriffliches Schema. Die entwicklungsgeschichtliche Seite wird nur gelegentlich berührt werden.

Zunächst kann der einzelne Moment des Menschenlebens als sein eigenes Ziel erscheinen. So ist es beim spielenden Kind, dem sein Spiel die ganze Welt einschließt. Annähernd so ist es beim Wilden, der über den Augenblick nicht hinaus sieht. Aber auch alles Spiel des erwachsenen Kulturmenschen steht zunächst unter diesem Gesichtspunkt. Gerade das unterscheidet das Spiel und die Arbeit, daß im Spiel nichts weiter erstrebt wird, als der Reiz des Spiels selbst. Eben dasselbe gilt, wie schon oben gezeigt wurde, von aller Kunst. In dieser Gleichheit der Wertungsweise scheint ein wesentlicher Grund dafür zu liegen, daß Kunst und Spiel so oft einander begrifflich nahe gebracht worden sind. Es sei nochmals hervorgehoben, daß diese Wertung für das individuelle Bewußtsein auch dann gilt, wenn man im letzten Sinne Kunst und Spiel selbst konsekutiv wertet. Auch dann darf man damit nicht das innere intensive Werten zerstören wollen. Denn das hieße, Spiel und Kunst selbst zu zerstören. Intensiv werten auch manche Leidenschaften den einzelnen Moment. "Ein Augenblick gelebt im Paradies ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt." Aber während das Kind und der Spielende von Augenblick zu Augenblick seine Werte ändert, bleibt dem Leidenschaftlichen der  eine  intensive Wert stets derselbe. Der Wert eines bestimmten Augenblicks wird ihm Ziel. Alles andere sinkt zum bloßen Mittel herab. Jedoch nicht nur unmittelbar, reflexionslos ergibt sich vielfach die intensive Wertung des einzelnen Lebensmomentes, auch von der höchsten Stufe menschlicher Reflexion kehrt mancher zu einem vertieften Genuß des Augenblicks zurück. Verschiedene Motive können dazu treiben: zunächst das Gefühl, daß die Werte immer mehr entschlüpfen, daß die zwecksetzende Konstruktion Wert zerstörend wirkt, dann die Unsicherheit aller Zukunft, endlich die Erschütterung alter konsekutiver Traditionen. So haben gegenüber dem Hasten nach entfernten Zielen Männer, deren Wertungen zum Teil auch anderen Stufen angehören, auf das unverlierbare Recht jedes einzelnen Lebensmomentes verwiesen. Mit seiner eigentümlichen warmen Begeisterung nahm sich ROUSSEAU der Freuden der Kindheit an, jenen Erziehern gegenüber, welche die Kinderjahre lediglich als Mittel zur Ausbildung eines Erwachsehen betrachten. Er wies darauf hin, daß jene Ziele dem Kind selbst völlig unverständlich sind, daß sie auch bei der großen Zahl jung sterbender Kinder niemals erreicht werden können, daß endlich der höhere Wert der späteren Lebensabschnitte eine Art tyrannischer Behauptung des Erwachsenen sei. JEAN PAUL und BÖRNE sind ihm hierin gefolgt. Als echter Schüler ROUSSEAUs sucht JEAN PAUL auch jeden anderen Moment des Lebens mit kleinen Freudenblumen zu schmücken, wie er jeden Satz seiner Schriften mit Gedanken und Gefühlen überlädt. Die Unsicherheit der Zukunft führt vielfach zu einer intensiven Wertung des Moments. Man denke an die wilden Ausschweifungen in Zeiten der Pest oder beim Glauben an einen nahenden Weltuntergang. Aber man denke auch an das ruhig resignierende Wort: "Morgen können wir nicht mehr, darum laßt uns heute leben." Eine solche Beschränkung auf den Moment, eine Flucht gleichsam vor den nutzlosen Leiden weiter ausschauender Pläne, wie sie besonders bei HORAZ hervortritt, ist sehr verschieden von einem vollen unbekümmerten Auskosten alles Einzelnen, wie es GOETHE und GOTTFRIED KELLER preisen. In diesen beiden letzten Fällen ist aber augenscheinlich der Wert schon in etwas anderes gelegt als in die Lust oder den Genuß. Es handelt sich hier um ein Ausleben jeder Kraft, um eine Herausgestaltung möglichst reichen Inhalts.

Betrachtet man dagegen den Augenblick als Mittel, wertet man ihn wesentlich konsekutiv, so stellt sich als nächstes Ziel das Wohl des gesamten Lebens dar. Man wird sagen, daß damit eigentlich nichts geändert sei, da ja das ganze Leben doch nur aus seinen einzelnen Momenten besteht. Aber die Reflexion auf das Ganze ergibt doch einen ganz anderen Typus. Der flüchtige Moment wird der Zukunft untergeordnet: Es ist der Standpunkt der Lebensklugheit, welcher sich der Leidenschaft oder dem Leichtsinn entgegensetzt. ARISTIPPUS, der freudesuchend von Stadt zu Stadt zieht, sein Geld mit vollen Händen ausstreut, jeden Genuß auskostet und die Gefahr nicht achtet, wertet den Augenblick intensiv. Die Zukunft ist ungewiß, Genuß der Gegenwart das einzige Gut. Wie anders stellt sich der besonnene eudämonistische Erbe des Hedonismus, EPIKUR, dar! In seinem Garten seinen Studien lebend, durch geistigen Genuß und freundschaftlichen Verkehr schweres, körperliches Leiden überwindend, sucht er sein Leben als Ganzes möglichst glücklich und leidlos zu gestalten. Er sucht die Ruhe, wie ARISTIPPUS die Aufregung suchte; denn den vollen Genuß, die stürmende Leidenschaft, aber auch die ungeteilte Hingabe, kurz jedes ungebrochene Gefühl fürchtet er wegen seiner Folgen.

Wenn die Gesamtheit des individuellen Menschenlebens intensiv gewertet wird, so kann es sich wiederum entweder um ein bloßes Lustmaximum oder um das volle Ausgestalten aller im Menschen liegenden Keime handeln. Wenn man sich jedoch diese letztere Gruppe von Idealbildungen näher ansieht, so wird es sich zeigen, daß das Ausbilden  aller  Keime nicht eigentlich der richtige Ausdruck für das erstrebte Ziel zu sein pflegt. Es handelt sich vielmehr in erster Linie um die Ausbildung  gewisser  Keime und Kräfte. In dem so gesetzten Wertunterschied zeigt sich ein überindividuelles Ziel. Dieses stellt sich häufig, aber nicht notwendig, als das Wohl einer menschlichen Gesamtheit dar, wobei die Weite dieser Gesamtheit alle Stufen von der Familie und dem Stamm, bis zur ganzen Menschheit durchmessen kann. Dabei kann das Leben des einzelnen entweder als Glied und Abbild dieser Gesamtheit in sich wertvoll bleiben, oder es kann von der Größe des Ziels gleichsam zermalmt in seiner kleinen Einzelheit, in seines Nichts durchbohrendem Gefühl nur noch konsekutiv als Mittel zum Wohl des Ganzen bewertet werden. In dieser zweiten Möglichkeit scheint freilich ein Widerspruch zu liegen, da doch die Gesamtheit nur aus den Einzelnen besteht. Aber es wiederholt sich eben hier ein ähnliches Verhältnis, wie wir es schon beim Lebensganzen im Vergleich zu den einzelnen Lebensmomenten angetroffen haben. Durch die Einordnung des Einzelnen in einen großen Zusammenhang scheint es so klein und nichtig zu werden, daß es allen eigentümlichen Wert verliert.

In der Art, wie das Wohl der Gesamtheit vorgestellt wird, zeigt sich wieder derselbe Gegensatz. Bald denkt man es sich so, daß jeder Moment in sich seinen vollen Wert hat, daß es darauf ankommt, etwa die größtmögliche Menge an Lust für die Gesamtheit in jedem Augenblick zu verwirklichen. Der Idealzustand wird dann leicht als ein einigermaßen ruhiger gedacht. Dabei macht es aber einen bedeutenden Unterschied, ob man sich vorstellt, daß dieser ideale Zustand wesentlich erreicht sei, und es nur gelte, ihn zu erhalten, höchstens veränderten Bedingungen anzupassen, oder ob vorgestellt wird, der günstige Zustand sei durchaus nicht erreicht. In diesem zweiten Fall tritt eine intensive Wertung erst in der Zukunft ein, das Gegenwärtige wird wesentlich als konsekutiv im Hinblick auf die Zukunft gewertet. Als Ideal aber erscheint leicht in beiden Fällen ein Zustand der Ruhe, der Stabilität. Man denke daran, wie oft chinesische Verhältnisse Staatslehrern des vorigen Jahrhunderts als eine Art Ideal vorgeschwebt haben. Im Gegensatz zu all diesen Auffassungen kann der eigentliche Wert des Lebens menschlicher Gemeinschaften nicht in einem ruhenden Zustand, sondern in einem angespannten Streben gesehen werden. In diesem Fall denkt man sich etwa eine Reihe immer höher fortschreitender Idealbildungen. Man sieht, daß in solchen Fällen einer stark konsekutiven Gesamtwertung Lust oder Glück nicht mehr den einzigen Wertmaßstab abgeben können. Im höchsten Fall könnten sie hier als eine Art Zeichen für eine richtig gerichtete Bewegung genommen werden. Dann wird aber auch der Ausdruck "Wohl der Gesamtheit" eigentlich unpassend. Es handelt sich zwar um ein überindividuelles Ziel, aber dieses Überindividuelle stellt sich nicht als Wohl einer Mehrheit von Individuen dar. Vielleicht kommt es auf die Herausbildung bestimmter Wertkategorien an. Eine erhöhte Erkenntnis ist in diesem Fall als Ideal aufgestellt worden. Vielleicht handelt es sich auch um die Herausbildung eines immer höheren Typus des Menschen. Die neueste Opposition gegen das ruhende Pflanzenglück, gegen das erbärmliche Behagen, welches jeder Ruhezustand einschließt, die Philosophie NIETZSCHEs hat diesen Weg genommen. Man sieht übrigens, daß hier von der Gesamtheit zum Individuum zurückgewiesen wird. Zu beachten ist, daß der Begriff des höheren Typus ansich ein ganz inhaltsloser ist, der seinen Inhalt erst durch die bestimmte Bewertung gewisser Entwicklungsrichtungen empfängt. Einen gewaltigen Versuch, solche Richtungen zu konstruieren, sehen wir in LESSINGs "Erziehung des Menschengeschlechts". Indem hier wohl höhere und höhere, nie aber letzte Typen auftreten, scheint man nun in der Tat an der Klippe gescheitert zu sein, welche der konsequenten Durchführung konsekutiver Wertnormen drohte. Das Gegenwärtige, das Leben selbst, scheint zugunsten eines unendlichen im Nichts liegenden Zieles entwertet. LESSING und wohl auch NIETZSCHE suchen diese Konsequenz zu vermeiden, indem sie dem Streben selbst einen eigentümlichen Wert zuerteilen. Hier ist es wesentlich die kämpfende, vorwärtsdrängende, ruhelose Natur dieser Geister, die zu solchen Idealbildungen hinführt.

Eine andere Gruppe von Idealbildungen, vertreten durch viele Religionen, setzt das Ziel über das gesamte irdische Leben hinaus. Alles Irdische wird hier nur Mittel, um ein Überirdisches zu erreichen. Auch diese Jenseitigkeitsideale können als den ersehnten Zustand entweder einen solchen der Ruhe, des Genusses, des Friedens oder einen Prozeß fortwährender Läuterung mit immer zunehmendem Glück ansetzen. Am konsequentesten hat wohl KANT gelegentlich die zweite Ansicht vertreten (3). Das unendlich ferne Ziel der Heiligkeit und Seligkeit wird auch im Jenseits nie erreicht; es ist nur möglich, sich ihm unendlich zu nähern. Unter den christlichen Jenseitsvorstellungen nähert sich dem die Annahme des Fegefeuers. Sie setzt zwar den ruhenden Idealzustand voraus, aber sie schiebt ihn in weitere Fernen. Ähnlich steht es mit dem brahmanischen und buddhistischen Läuterungsgedanken.

So kämpft überall im Menschen ein Sehnen nach dem Besitz eines ruhenden Ideals mit der Notwendigkeit des Kampfes, mit der Bewertung des Strebens, der Ruhelosigkeit, der Tätigkeit. Jedes Ziel ist wieder nur als Streben zu denken, und jedes Streben setzt sich ein neues Ziel. Ob die Menschen immer und überall diesen Gegensatz gefühlt haben, oder ob er, wie manche wollen, eine Eigentümlichkeit unserer rastlosen abendländischen Kulturarbeit ist, das mag dahingestellt bleiben. Für uns aber bleibt jenes gewaltige Dilemma bestehen. Darum ist GOETHEs  Faust  das Weltgedicht unserer Zeit, vielleicht das Weltgedicht der Menschheit. Durch alle Stufen menschlichen Arbeitens und Genießens, Handelns und Leidens, verfolgt der Dichter jenen Gegensatz. Das volle Aufgehen im Augenblick sucht FAUST, und doch erscheint ihm befriedigtes Genießen als unwürdig, als gemein; er will dem Teufel verfallen, sobald er nicht mehr über den Moment hinausstrebt. Wie hier vom Dichter, wie von den verschiedenen Philosophien eine Ausgleichung gesucht worden ist, das darzulegen überschreitet die Grenzen dieser Arbeit. Es muß hier die Andeutung genügen, daß auch der dargelegte Wertungsgegensatz auf die tiefsten Probleme der Lebensauffassung hinführt.
LITERATUR Jonas Cohn, Beiträge zur Lehre von den Wertungen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 110, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) CHRISTIAN von EHRENFELS, System der Werttheorie, Bd. 1, Seite 77
    2) Der ganze Vorgang ist von EHRENFELS als Wertbewegung nach abwärts beschrieben worden. (System der Werttheorie I, Seite 134 - 137)
    3) Vgl. meine Geschichte des Unendlichkeitsproblems, Leipzig 1896, Seite 243.