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TRAUGOTT K. OESTERREICH
Die Werte

"Die Bereiche des Sittlichen und des Ästhetischen sind aber nicht die einzigen, innerhalb derer wir Werte vorfinden. Daneben stehen noch zwei andere Sphären mit ebenso Werte enthaltenden Ichzuständen. Es sind das die Gebiete des Religiösen und des Erkennens. Es ist nun allerdings Gewohnheit geworden, den Begriff des Wertes viel weiter auszudehnen. Wir finden ihn vor allem im Wirtschaftsleben und in der Nationalökonomie. Wert ist hier alles, was begehrt wird."

Als eine besondere Klasse der Erkenntnisgegenstände treten uns die Werte entgegen. Nirgends in der Philosophie haben wir vielleicht so sehr wie bei ihnen den Eindruck, uns noch in einem zurückgebliebenen Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung zu befinden.

Seit langem liegen zwei Richtungen miteinander im Kampf: der Objektivismus und der Relativismus. Der erste lehrt, daß es objektive Werte gibt; für den zweiten sind alle Werte subjektiver Natur.

Verhältnismäßig am einfachsten liegt das Wertproblem auf ethischem Gebiet. Der Relativismus identifiziert hier den ethischen Wert einer Handlung mit ihrer Eigenschaft, Lust zu gewähren, entweder dem Handelnden selbst oder anderen. Das kann jedoch individuelle sehr verschieden sein. Oder aber es wird darunter auch einfach die Tatsache verstanden, daß Handlungen geschätzt oder mißbilligt werden (was dann aber meistens wieder darauf zurückgeführt wird, daß sie Lust erregen). Gegen diese Auffassung haben sich alle wahrhaft ethisch bewegten Denker immer wieder gewendet, daß sie das Wesen des Sittlichen nicht trifft, sondern es vielmehr fälscht. In der Tat haben diese Angriffe in vollem Umfang recht. Wenn wir eine Handlung sittlich oder unsittlich nennen, so geschieht es nicht wegen der Lust oder Unlust, die sie mit sich führt. Es können auch unsittliche Handlungen Lust zur Folge haben und sittlich starke Unlust. Es ist sogar sehr fraglich, ob nicht im Durchschnitt das Verhältnis so ist, daß Unsittichkeit mehr Lust, Sittlichkeit mehr Unlust mit sich bringt. Das, was eine sittliche Handlung zur sittlichen und eine unsittliche zur unsittlichen macht, ist vielmehr etwas  an ihnen selbst,  nicht erst ihre Wirkung. Sagt man doch auch - mit Recht -, daß es auf die Gesinnung, nicht auf das Ergebnis ankommt. Wenn wir wissen wollen, ob eine Handlung ethischen Wert besitzt, so müssen wir die innere Verfassung des Handelnden während der Handlung betrachten. Ethische Ichzustände haben einen bestimmten Charakter: sie sind - ethisch. Unethische Ichzustände dagegen haben einen ganz entgegengesetzten Charakter an sich: sie sind - unethisch. Es sind das psychologische Eigenschaften an ihnen, die als soche an ihnen vorhanden sind, - so wie eine Farbe gesättigt oder ungesättigt ist. In allen ethischen Verfassungen fühlt sich das Ich in eigentümlicher Weise  "erhoben".  In unethischen Zuständen tritt dieses eigentümliche psychische Moment niemals auf, sondern ein entgegengesetztes. Dieses Faktum allein ist es, das den letzten Wesensunterschied zwischen gut und schlecht ausmacht.

Also auch nicht etwa der Umstand, daß wir eine Handlung instinktiv billigen. Will man die ethische Qualität einer Handlung zweifelsfrei kennen lernen, so bleibt nichts anderes übrig, als die innere Verfassung des Handelnden während der Tat uns ins Bewußtsein zu rufen. Das Wertprädikat rührt nicht erst von Gefühlen her, die die Handlungen, wenn wir sie auffassen, in uns hervorrufen. Sondern die Wertmomente sind bereits in den Ichzuständen selbst enthalten, aus denen die Handlungen hervorgehen. Wir haben es dabei mit Qualitäten der menschlichen Handlungen zu tun, die nicht durch die Sinne wahrgenommen werden. Mit den Augen sehen wir ja überhaupt nur den fremden menschlichen Körper sich bewegen. Andererseits sind es nicht Qualitäten "höherer Ordnung", sondern Eigenschaften erster Ordnung.

Freilich ist es so, daß ethische Handlungen oft über andere - weniger für den Handelnden selbst - biologische lustvolle Existenzförderung bedeuten. Aber im eigentlichen Sinne ist eine Handlung gut nur wegen jener inneren Eigenschaft. Deshalb ist es auch sehr wohl möglich, daß wir eine Handlung wegen ihrer Folgen verdammen, aber nicht zugleich auch ihren Urheber als unsittlich bezeichnen. Das Strafgesetzbuch läßt wenigstens in manchen Fällen solcher Art eine Festungs- statt einer Gefängnishaft eintreten.

Wie zwischen den ästhetischen Gefühlserlebnissen ein  Rangverhältnis  festgestellt werden kann, so besteht ein solches auch zwischen den sittlichen, bzw. den unsittlichen Ichzuständen. Es ist das eine eigentümliche Relation, die sich nur bei den Ichzuständen findet. Die sittlichen Ichverfassungen stehen  über  den unsittlichen. Sie befinden sich in einem Rangverhältnis, das nicht von außen an die Zustände herangebracht wird, sondern das wieder in ihnen selbst gelegen ist. Dieses Rangverhältnis kann durch eine psychologische Analyse soforft festgestellt werden. Es ist keine Theorie oder Hypothese, auch kein bloßer Gedanke, daß die sittliche Gesinnung über unsittlichen steht, sondern eine einfache psychologische Erfahrungstatsache, und es wird die Aufgabe der Zukunft sein, die Rangbeziehungen zwischen den verschiedenen ethischen bzw. unethischen Zuständen genau zu ermittel.

Wesentlich verwickelter als auf ethischem Gebiet liegt das Wertproblem auf dem  ästhetischem Hier sind es zumeist nicht Handlungen, menschliche Verhaltensweisen,, sondern unseelische Gegenstände, denen gemeinhein Wert zugeschrieben wird.

Zunächst ist klar, daß die ästhetische Wertqualität eines Dings nicht eine Eigenschaft an ihm ist, die als eine wesensgleichartige zu den übrigen anschaulichen Eigenschaften noch hinzukommt. Es handelt sich um keinen neuen Sinnesinhalt, durch den sich etwa ein Kunstwerk von den Nicht-Kunstwerken unterscheidet. Es ist vielmehr seine Gestaltqualität, die es zum Kunstwerk macht, die Synthese der Töne, die Zusammenordnung von Gesichtseindrücken. Deshalb führt die Wahrnehmung auch erst in Verbindung mit ihrer Verarbeitung durch das Denken zur Erfassung der Kunstwerke. Aber beide allein genügen nicht dazu. Das zeigen gewisse pathologische Fälle, in denen diese Funktionen voll erhalten waren, aufs deutlicshte. Es muß noch etwas anderes hinzukommen: das Gefühlsleben. Nur durch das Gefühl kommen wir zu einem wirklichen Erleben des Kunstwerks seinem Kunstgehalt nach. Wer Bildwerke und Gemälde nur zu sehen, Musik nur zu hören vermag, dessen Gemüt dabei aber völlig stumpf bleibt, würde gar nicht wissen, was Kunst und Musik eigentlich für eine Bedeutung haben. Die völlig unkünstlerischen und unmusikalischen Naturen geben bereist eine Ahnung davon, obwohl die von uns gewöhnlich mit diesen Prädikaten bezeichneten Personen doch noch immer in gewissem Umfang gefühlsmäßig auf Kunst und Musik reagieren.

Alle Werte werden von uns nur im Gefühl erlebt. In der emotionalen Erregung, die sich in uns angesichts einer Statue, eines Bildes oder beim Hören von Musik vollzieht, erleben wir das Kunstwerk als solches. Da sich das Kunstwerk ohne dieses Erleben von aller Nicht-Kunst gar nicht artmäßig unterscheiden würde. Auch Musik würde sich von einem bloßen Gewirr von Tönen nicht spezifisch scheiden lassen.

Die Frage ist nun, ob wir durch das Gefühl eine neue Eigenschaft der Kunstwerke erfassen, ob es gleihsam ein neuer Sinn für übersinnliche Qualitäten der Dinge ist. Nach der gewöhnlichen Bezeichnung von Kunstwerken als schön, anmutig, fein, kitschig, häßlich usw. sollte man das annehmen. Dennoch erheben sich gegen diese Auffassung schwere Bedenken. Zunächst sind die Urteile, die über diese Eigenschaften von verschiedenen Personen gefällt werden, zuweilen äußerst verschieden. Man bedenke etwa die entgegengesetzten Prädikate, die gegenwärtig der expressionistischen Kunst zuteil werden. Oder den völligen Umschwung, den die Bewertung BÖCKLINs und der Impressionisten durchgemacht hat. Es müßten dann also die Qualitäten, die verschiedene Peronen an Kunstwerken auf dem Gefühlsweg wahrnehmen, ganz verschieden sein. Das stände jedenfalls durchaus in Widerspruch zu den allgemeinen Erfahrungen auf den eigentlichen Sinnesgebieten. Es wäre höchstens an die großen Unterschiede der Weltwahrnehmung durch die verschiedenen Gruppen der Farbenblinden und die Normalsichtigen zu erinnern. Man könnte aber bei verschiedener Bewertung ganzer Kunstwerke darauf hinweisen, daß diese Wahrnehmung ja ein höchst komplizierter Vorgang und keine einfache Sinneswahrnehmung ist, so daß die verschiedenen Gefühlsprädikate bedingt sein könnten durch eine wirkliche Verschiedenheit der wahrgenommenen Objekte in den verschiedenen Bewußtseinen. Sind doch auch die Zeichnungen desselben Gegenstandes durch verschiedene Künstler, selbst wenn sie die vollste Naturtreue erstreben, stets sehr verschieden voneinander. Aber der Tatbestand wiederholt sich auch bei der ästhetischen Bewertung ganz einfacher Sinnesempfindungen. Derselbe einfache Farbeneindruck wird von verschiedenen Personen nicht selten durchaus verschieden bewertet. Die eine erklärt ihn für schön und wohlgefällig, die andere für abscheulich. Hinzu kommt, daß diese "Wertwahrnehmungen" selbst beim einzelnen Individuum schwanken. Wir hätten es mit Dingqualitäten zu tun, die höchst variabler Natur wären. Diese Schwierigkeiten geben Veranlassung zu großen Bedenken.

Es ist deshalb seit langem, schon seit dem 18. Jahrhundert eine Theorie hervorgetreten, die den Dingen keine neuen Qualitäten erster Ordnung zuerkennt, die durch das Gefühl wahrgenommen würden, sondern die in der Qualität "schön" lediglich die  Fähigkeit  des Objekts, in uns bestimmte  Gefühle auszulösen,  versteht. Schön ist nach dieser Auffassung ein Kunstwerk also, wenn es auf uns in bestmmter Weise wirkt. Ästhetisch nennen wir alles das, was in uns bestimmte Gefühle erzeugt, die wir als ästhetische Gefühle beschreiben. Schön, anmutig, häßlich usw. sind Relationseigenschaften bestimmter Objekte, also nicht Eigenschaften erster Ordnung, sondern Eigenschaften höherer Ordnung.

Die spezifische Eigenart der  ästhetischen Gefühle  steht selbst außer allem Zweifel. LIPPS hat von einem  "Schönheitsgefühl"  gesprochen. Alle Gefühle sind nun Ichzustände, und auch das Schönheitsgefühl muß ein solcher sein. Das Ich fühlt sich im Schönheitserlebnis selbst in einem schönen Zustand. Damit ist nicht gesagt, daß es sich selbst etwa als ein schönes Ich, eine schöne Seele empfindet. Diese ist aber nicht durch den Anblick seiner selbst bedingt, sondern durch das Kunstwerk, das es ansieht.

Eine wirkliche Beschreibung der ästhetischen Gefühle ist freilich gar nicht möglich, denn wie sollte man letzte Erlebnisse beschreiben, sind doch alle unsere Worte lediglich Bezeichnungen für nicht weiter analysierbare Tatbestände.

Was wir allein tun können, ist: in Gedanken die ästhetischen Gefühle, die in uns auftreten, wenn wir Dinge schön, anmutig, hübsch, häßlich, geschmacklos, geschmackvoll usw. nennen, in uns Revue passieren zu lassen und zu prüfen, ob sie etwas untereinander gemeinsam haben, das erlaubt, sie sämtlich als ästhetisch zu bezeichnen. In der Tat ist ein solches gemeinsames Moment vorhanden. Man stelle diesen Gefühlen nur Gefühle wie die des Ärgers, der Verstimmung, der Unzufriedenheit, der Abneigung, des Mißmuts, des Überdrusses gegenüber, und es wird sofort ganz zweifelsfrei, daß zwischen den beiden Gruppen ein gewaltger Unterschied besteht. Man könnte die ästhetischen Gefühle auch als "Reflexionsgefühle" bezeichnen, da sie unzweifelhaft an die Reflexion erinnern. Es sind eben Gefühle, die bei der einfachen Betrachtung der Dinge in uns auftreten.

KANT hat die ästhetischen Gefühle als solche bezeichnet, die aus der uninteressierten Hingabe an ein Objekt entstehen. Selbst wenn diese Bestimmung völlig richtig wäre, was sie nicht ist, so würden dadurch natürlich die ästhetischen Gefühle nicht näher beschrieben sein, sondern es wäre lediglich angegeben, unter welchen Umständen sie auftreten.

In Wahrheit entstehen ästhetische Gefühle aber doch auch, wenn der Mensch ein Objekt sinnlich begehrt. Die meisten Besucher einer Kunstausstellung betrachten weibliche Aktbilder durchaus nicht uninteressiert, sondern unter mehr oder minder starken Phantasiebegehrungen. Dennoc wäre es unrichtig, wenn man sagen wollte, daß sie keine ästhetischen Gefühle, sondern lediglich außerästhetische Erlebnisse hätten. Die sexuellen Erregungen sind in ihnen vielmehr mit ästhetischen Gefühlen eng verbunden.

Das innere Leben des Menschen entzündet sich erst in der Anschauung der äußeren Welt. Diese ist das Mittel, durch das er zu höheren Zuständen emporsteigt.

Die ästhetischen Gefühle sind allein das Wesentliche. Wo immer wir Kunstwerke schätzen, geschieht es, weil von ihnen bestimmte Gefühlswirkungen ausgehen. Und auch wenn wir uns mit einer uns bisher nichtssagenden Kunstsphäre zu beschäftigen entschließen, so geschieht es, um durch Selbsterziehung zu jenen Gefühlsreaktionen zu gelangen, die sich für andere an diese Kunstwerke anschließen. Nirgends wird ein Kunstwerk geschätzt, von dem nicht auf irgendjemanden innere ästhetische Werterhebungen ausgehen.

Auch der Künstler schafft in der Erwartung, die eigene Erhebung auf andere übertragen zu können.

Eine äußerst radikale Konsequenz dieser Lehre von der seelischen Immanenz des Ästhetischen ist der moderne  Futurismus,  die gegenstandslose Malerei. Voll des Bewußtseins, daß der psychische Zustand alles, das Objekt ansich nicht ist, suchen diese Künstler das Objekt überhaupt zu beseitigen. Bei den radikalsten von ihnen besteht darum das Gemälde nur noch aus Farbflecken, Linien, Kreisen, Quadraten usw., aus denen die Wahrnehmung keine Gestalt oder Landschaft mehr zu bilden imstande ist. Und wo sie den Gegenstand nicht ganz eliminieren, zerstören sie ihn doch in wesentlichen Teilen, indem sie ihn in einer mit aller Wirklichkeit unverträglichen Weise optisch verzerren und zerstückeln, um einen bestimmten Seelenzustand auszusprechen und im Beschauer zu erwecken. Dennoch wird das Urteil über diese neue Kunst negativ lauten: nicht, weil sie auf ein Objekt verzichtet, sondern, weil die Zustände, die sie ausdrückt, keine Erhebnung des Menschen auf eine höhere Stufe bedeuten. Entweder handelt es sich um eine prätentiöse [selbstgefällige - wp] snobistische seelische Verschrobenheit, oder im günstigsten Fall werden wir eingetaucht in ein mystisches, unklares Dämmern, ohne zugleich mit der Überzeugung erfüllt zu werden, daß aus dieser psychischen Dämmerung ein neuer Sonnentag geboren werden wird. Diese Kunst ist: intellektuelle Kunst ohne einen tieferen Gedanken, eine Pseudo-Geistigkeit ohne Gehalt, wie dann auch die literarische Selbstbesinung dieses Kunstkreises (z. B. BURGER) ein verworrenes und unverstandenes Spiel mit HUSSERLschen Termini darstellt. Nur  eine  Kunst gibt es, die wahrhaft gegenstandslos ist: die  Musik.  Allein die Töne sind ein Sinnesmittel, das zum unmittelbaren Ausdruck menschlicher Seelenzustände in grenzenlosem Umfang geeignet ist. -

Mit dieser Auffassung ist nun freilich alle Kunst herabgezogen auf das Niveau des Relativismus, da ihre ästhetischen Qualitäten bloße Relationseigenschaften sind, die nur in Bezug auf Subjekte da sind. Aber das gilt ja auch von allen sinnlichen Qualitäten! Übrigens sind sie nicht an das wirkliche Dasein von Subjekten gebunden. So wohnt den Landschaften des Mars zweifellos die Fähigkeit zur Hervorrufung gewisser Erlebnisse in uns inne, obwohl wir faktisch niemals in die Lage kommen werden, sie zu sehen. Aber andererseits ist die menschliche Reaktionsweise eben recht verschieden. Gewisse Grenzen scheinen freilich auch in Bezug auf die Gefühle zu bestehen. So hat doch wohl noch niemand von den Tanagra-Figuren den Eindruck der Erhabenheit oder von BEETHOVENs  Heroica  den den Niedlichen gehabt. Diese Grenzen der Variabiltät der ästhetischen Reaktion sind bisher nicht näher bekannt.

Aber auch sonst ist es nicht so, daß es in der Werterlebnisse Flucht überhaupt keinen festen Punkt gibt. Auf der Seite der Objekte ist er freilich bisher mit Sicherheit nicht zu finden. Wohl aber gibt es auf der Seite der subjektiven Gefühlszustände etwas wie "objektive Werte". Auch im ästhetischen Erleben fühlt der Mensch sich über das gewöhnliche Niveau des Lebens "erhoben". Es gibt auch hier echte  Rangunterschiede.  Das Schöne - als Gefühlsmoment - steht über dem Häßlichen, das Großartige über dem Niedlichen, das Erhebende über dem Komischen, das Tragische über dem Lustigen. Mit diesem Wort "über" bezeichnen wir ein spezfisches Verhältnis zwischen den verschiedenen Wertmomenten in sich schließenden Gefühlen. Dieses Verhältnis kommt zwischen reinen Begriffen oder zwischen Körpern nicht vor. Kein Dreieck steht über einer Linie, kein Molekül über einem anderen. Nur bei Ichzuständen gibt es eine solche Relation.

Erst eine Folge davon ist es, daß wir dann auch bei den Kunstwerken ein solches Verhältnis annehmen und sagen, die Tragödie steht über dem Schauspiel, das Epos über der Travestie, der Tempel über dem Landhaus, der Parthenon über dem Vestatempel. Wir wir zunächst die Gefühle als Eigenschaften der Dinge auffassen, so gilt das auch von diesen Relationseigenschaften zwischen den verschiedenen Ichzuständen. Doch sind auch sie nur Beziehungen zwischen den Gefühlen selbst. Wenn wir an die Tragödie denken, so treten erhabene Gefühle in unser Bewußtsein, während das Lustspiel nur seelisch leichte Zustände in uns anklingen läßt. Das Gefühl der Erhabenheit steht aber über dem Zustand des Lustigen, daher dann auch die Überordnung der Tragödie über die Komödie. Wo immer wir eine solhe Über- und Unterordnung zwischen den Dingen behaupten, wird dieses Verhältnis auf sie übertragen von den durch sie ausgelösten Gefühlen her.

Die Bereiche des Sittlichen und des Ästhetischen sind aber nicht die einzigen, innerhalb derer wir Werte vorfinden. Daneben stehen noch zwei andere Sphären mit ebenso Werte enthaltenden Ichzuständen. Es sind das die Gebiete des  Religiösen  und des  Erkennens

Man hat bisher das  religiöse Erleben  immer unter Gesichtspunkten betrachtet, die nicht den Kern treffen: unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis oder dem der Ethik. Man hat einmal gefragt nach den metaphysischen Lehren der Religion und andererseits nach ihrem Einfluß auf die Sittlichkeit. Beide Betrachtungsweisen sind zwar ansich durchaus gerechtfertigt, aber es ist über ihnen übersehen worden, was das Spezifische des religiösen Lebens ausmacht, obwohl doch schon SCHLEIERMACHER den richtigen Weg im Auge hatte.

Die intellektuelle Betrachtung der Religion trifft lediglich einen Bestandteil der Religion, der freilich von der größten Bedeutung ist und in keiner Religion fehlen darf. Ja er macht gewissermaßen das Gerippe ihres Lebens aus. Es gibt keine Religion, die nicht auf bestimmten Überzeugungen über das Weltganze und sein Verhältnis zu Gott beruth und die nicht in ihrem ganzen Wesen geändert würde, wenn man diese Überzeugungen in ihren wesentlichen Punkten erschüttern würde. Vom Christentum ist die Idee eines guten allwissenden Gottes unabtrennbar. Man kann sie nicht durch buddhistische oder Negermetaphysik ersetzen. Ebenso kann man in das Judentum nicht die Trinitätslehre und die Heiligenwelt des Katholizismus einfügen, ohne zugleich sein ganzes Wesen - nicht nur seinen Weltbegriff - zu ändern.

Aber die intellektuelle metaphysische Überzeugung allein ist noch keine Religiosität, wie ohne weiteres evident ist. Denn auch ein rein intellektuell vom Dasein Gottes etwa überzeugter Mensch hätte noch nicht die eigentlich religiöse innere Verfassung.

Ebenso greift aber auch die Betrachtung und Bewertung der Religionen rein unter einem ethischen Gesichtspunkt fehl. Nicht also ob die Religionen nicht die engste Beziehung zur Sittlichkeit haben. Es ist vielmehr keine Kulturreligiosität ohne Sittlichkeit möglich, aber auch die Sittlichkeit macht noch nicht das spezifische Merkmal der Religion aus; denn es ist Sittlichkeit mindestens der Idee nach auch ohne alle Religosität möglich. Es muß vielmehr zur Sittlichkeit noch etwas anderes hinzukommen, damit eine wirkliche Religiosität entsteht.

Das, was einen ethischen Menschen erst zum religiösen Menschen macht, sind die spezifischen Gefühle, die aus den metaphysischen Überzeugungen entspringen. Diese Gefühle schließen eine Moment spezifisch  religiöser Erhebung  in sich. JAMES hat ihnen ein Moment der  Feierlichkeit  zugeschrieben, auch das sicherlich mit Recht. Selbstverständlich sind solche Gefühle auch in den außerchristlichen Religionen enthalten, und zwar offenbar auch in den indischen Religionen, die des Gedankens einer persönlichen Gottheit größtenteils entbehren. An die metaphysischen Ideen aller Kulturreligionen schließen sich eigenartige Gefühlserlebnisse an, die sich außerhalb dieser metaphysischen Überzeugungen nicht im Menschen finden. Bei aller Verschiedenheit im einzelnen sind sie doch alle von einer und derselben Art: es sind eben religiöse oder, wie man auch sagen könnte, metaphysische Gefühle.

Im einzelnen sind die metaphysischen Gefühle in den verschiedenen Religionen sehr verschieden, und es entsteht hier die noch ungelöste Aufgabe einer allgemeinen Phänomenologie der religiösen Gefühle. Es muß sichtbar gemacht werden, ob und welche verschiedenen Richtungen es bei diesen Gefühlen gibt. Bisher sind die Religionenn immer ihrem intellektuellen metaphysischen Lehrgehalt nach unterschieden worden. Daß den verschiedenen Ideen auch verschiedene Gefühlserlebnisse entsprechen, ist den tieferen Forschern natürlich niemals zweifelhaft gewesen, aber sie haben diese Frage beseite liegen gelassen. Und doch ist sie von größter Wichtigkeit. Es muß festgestellt werden, welche Gefühle den verschiedenen intellektuellen Überzeugungen entsprechen.

Auch innerhalb der religiösen Erlebnisse selbst findet sich eine  Rangordnung.  Wenn wir eine Religion über irgendeine andere stellen, so ist die letzte Ursache dafür der Umstand, daß zwischen ihren Gefühlszuständen wieder jenes eigentümliche Verhältnis der Über- bzw. Unterordnung stattfindet.

Die Tatsache, daß das religiöse Leben spezifische Icherhebungen in sich einschließt, macht es auch für den in intellektueller Beziehung gegen die Religionen Skeptischen zu etwas im höchsten Maß Verehrungswürdigen. Dieser Wertgehalt ist die stärkste Apologie der Religion, die sich überhaupt für sie finden läßt. Allerdings schützt er sie nicht gegen den Vorwurf der Jllusion. Gegen diese vermögen nur rein intellektuelle Argumente etwas, die den religiösen Glauben als mindestens nicht widerlegbar und wenn möglich als wahrscheinlich zu erweisen suchen müssen. Eine Vertiefung der Apologetik mancher unbeweisbarer Sätze ist auch noch durch das metaphysische Argument möglich: es sei nicht denkbar, daß die Gedanken, die die höchsten inneren Erhebungen des Menschen mit sich bringen, rein illusionär sein sollten. Wenigstens würde das erfordern, daß die Welt vom Wertgesichtspunkt aus sinnlos ist. Sobald man aber an einem höheren Sinn der Wirklichkeit glaubt, können wir auch den Gedanken nicht preisgeben, daß das Maß von seelischer Erhebung, das sich mit metaphysischen Ideen verbindet, auch ihrem Wahrheitsgehalt entspricht, so daß wir an diesen Erhebungen gleichsam ein außerintellektuelles Kriterium für die metaphysischen Ideen haben, die unserem Verstand nicht erweisbar sind.

Der Wertcharakter der religiösen Zustände ist ganz unabhängig davon, ob man in manchen von ihnen darüber hinaus noch eine wirkliche Erfahrung einer transzendenten göttlichen Realität erblickt oder nicht.

Eine weitere selbstständige Wertsphäre ist das  Erkenntnisgebiet.  Auch der erkennende, um die Ergreifung der Wahrheit ernsthaft bemühte Mensch fühlt sich erhoben. Er befindet sich gegenüber dem nur auf die Erlangung materiellen Gewinns Ausgehenden in einem Verhältnis der Überordnung. Merkwürdigerweise entbehrt aber die Erkenntnissphäre der Vielfältigkeit der Werterlebnisse, die in den übrigen drei Sphären zutage tritt. Es gibt hier im Grunde nur ein einziges Werterlebnis: das im Streben nach Wahrheit enthalten ist. Es ist das gleiche auf allen Gebieten der Erkenntnis. Nur die Inhalte, auf die es sich bezieht, sind verschieden. Das Wahrheitsstreben ist in allen Fällen dasselbe. Das ist wohl auch der Grund, daß man es bisher übersehen hat, daß das Erkennen eine selbständige Wertsphäre darstellt. Psychologisch bemerkenswert ist, daß der Umkreis der Inhalte, auf die es sich bezieht, für die meisten Personen von vornherein ein engumschriebener zu sein pflegt. Die ästhetische Empfänglichkeit des einzelnen ist in der Regel eine weit mannigfaltigere. Die universalen wissenschaftlichen Geister dagegen sind überaus selten. Besonders auffallend ist die scharfe Trennung, die zumeist zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Interesse besteht.

Damit sind, wie es scheint, die Gebiete der höheren Werte erschöpft, wenn wir die Erlebnisse von Liebe, Freundschaft, Verwandtschaft usw. einstweilen zum sittlichen Gebiet rechnen. (Man könnte sie vielleicht als eine besondere Wertsphäre auffassen.)

Von Werten im eigentlichen Sinn dürfen wir überall da, aber auch nur da sprechen, wo der Mensch "höhere" Ichzustände erfährt, wo er auf eine gewisse Höhe emporsteigt und zu anderen Verhaltensweisen in die spezifische Relation des "Höherstehens" tritt.

Die verschiedenen Wertsphären stehen auch untereinander in gewissen Wertrelationen. Das Sittliche nimmt den höchsten Rang ein, es steht jedenfalls höher als das Ästhetische und das Intellektuelle. Kein bestimmtes Rangverhältnis besteht zwischen dem Sittlichen und dem Religiösen, wie übrigens auch das Ästhetische und das Intellektuelle sich miteinander auf gleicher Werthöhe befinden. Der Künstler und der Gelehrte stehen nicht irgendwie über-, sondern nebeneinander. Wenn nicht alles täuscht, gehen freilich alle Werterlebnisse von einer gewissen Werthöhe an in einen noch höheren Wertzustand über, den des  Göttlichen.  Nicht nur auf den Höhen der eigentlichen Religiosität, sondern auch im Sittlichen, Künstlerischen und im Reich des Erkennens kann der Wert des Göttlichen erfahren werden.

Die gegebene Einteilung der Wertsphäre stimmt völlig überein mit der Gliederung der höheren Kulturgebiete. Sie nehmen eben aus diesen verschiedenen Wertbereichen ihren Ursprung und sind nichts weiter als das Sichemporarbeiten des Menschen in den verschiedenen Werterlebnissphären.

Es ist nun allerdings Gewohnheit geworden, den Begriff des Wertes viel weiter auszudehnen. Wir finden ihn vor allem im  Wirtschaftsleben  und in der  Nationalökonomie.  Wert ist hier alles, was begehrt wird. Das ist eine durchaus andere Verwendung des Wortes, die mit der obigen nur sehr wenig zu tun hat. Innerhalb der echten Wertsphären wird etwas begehrt, weil es Wert hat, das heißt, weil es den Menschen auf eine höhere Stufe emporhebt. Hier ist es umgekehrt, eine Sache wird als wertvoll bezeichnet, weil sie begehrt wird. Daher läßt sich im ökonomischen Leben der Wert jeder Sache in Geld bestimmen ("Geldwert"), während sich echter Wert überhaupt nicht in Geld bestimmen läßt. Es ist unsinnig, den ästhetischen Wert einer Landschaft oder eines Kunstwerks oder den Wert der Erkenntnis oder den Wert einer guten Handlung in Geld angeben zu wollen. Das gesamte ökonomische Leben hat überhaupt keine spezifischen "ökonomischen" Werte in sich. Es gibt keine derartigen Werte. Selbstverständlich besteht aber oft ein Parallelismus zwischen dem Handelswert eines Kunstwerks und seinem ästhetischen Wert, denn das Maß seines Begehrtwerdens hängt zum wesentlichen Teil von seiner ästhetischen Qualität ab.
LITERATUR Traugott Konstantin Oesterreich, Das Weltbild der Gegenwart, Berlin 1920